ISBN:
3463404273
Language:
German
Pages:
300 Seiten
Year of publication:
2002
Abstract:
Dieses Tagebuch hat einen langen Weg nehmen müssen. Mascha Rolnikaité hat es als Vierzehnjährige begonnen, sie schrieb es nieder mit achtzehn Jahren, gleich nach der Befreiung, aus ihrem Kopf schrieb sie es ab. Zwanzig Jahre später, 1965, wurde das Tagebuch in der UdSSR erstmals veröffentlicht - allerdings zensiert. In der DDR brachte 1967 der Leipziger Union Verlag eine deutsche Übersetzung dieser russischen Fassung heraus. Jetzt hat Kindler die erste unzensierte Ausgabe vorgelegt. "Direkt übersetzt aus dem Jiddischen", betont der Verlag. Ideal wäre es gewesen, das Tagebuch sowohl in der deutschen Übersetzung wie auf Jiddisch (in lateinischen Buchstaben) zu veröffentlichen, Seite um Seite im Gegenüber. Viel mehr noch von der Sprachkraft dieser jiddischen Schriftstellerin wäre sogar den deutschen Lesern deutlich geworden, die meinen, Jiddisch nicht verstehen zu können. Aber gut, es gibt auch so Grund genug, sich über das Erscheinen zu freuen. Sich zu freuen, ist nicht unpassend. Es ist so viel abgerissen und verloren gegangen mit den Menschen, doch mit den Büchern der Überlebenden, mit ihrem Erinnern, kommen Lebendigkeit, Kultur und Wissen in veränderter Form auf uns zurück. Hier schreibt ein junges jüdisches Mädchen aus Wilne, Wilna, Vilnius, dem "Jeruschalajim de Lite". Alfred Döblin fand 1924 über die ganze Stadt verbreitet neben der polnischen Sprache auf Straßenschildern, Kinoplakaten, Läden, das Jiddisch in hebräischen Lettern. "Scheint eine große oder sehr mutige Judenschaft hier zu wohnen", notierte er. "Geht niemand im Kaftan! Gehen alle europäisch und - sprechen doch nicht polnisch. Das ist ein anderer Schlag Juden als in Warschau." Mascha Rolnikaité war dreizehn, als sie 1940 mit ihren Eltern und drei Geschwistern nach Wilna zog. Ein Jahr später, am 22. Juni 1941, ist Krieg. Die Deutschen kommen. Sieben Kilometer südlich von Wilna liegt Ponar, das die Nazis zum Massengrab machen. Maschas Vater verschwindet, ist vielleicht tot, vielleicht bei der Roten Armee, die Mutter mit ihren vier Kindern muß ins Ghetto ziehen. Mascha Rolnikaité wird zur Chronistin des Wilnaer Ghettos, und daß hier kein junger Mann schreibt, sondern ein junges Mädchen, macht dieses Tagebuch einzigartig. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem täglichen Geschehen im Ghetto, sie ist die Schwester, die sich um die jüngeren Geschwister kümmern muß, um Rajele und Ruwele, sieben und fünf Jahre alt, sie ist die Vertraute der Mutter, nachdem Mira, die Älteste, aus dem Ghetto entkommen konnte. Mascha ist noch so jung, daß manche lebensbedrohlichen Ereignisse im Hochgefühl des bestandenen Abenteuers berichtet werden. Sie beobachtet die Männer im Ghetto, Deutsche und Juden, Nazis und Ghettopolizei, Lagerkommandant und Judenrat, wie sie befehlen und wie sie folgen. Sie möchte eine Dichterin sein, sie gibt sich Mühe beim Schreiben, sie schreibt auf Papierfetzen, im Dunkeln, hungrig, sie ist aufmerksam auch für das Licht der Sonne, hoch über den Mauern, für das Blühen der Natur draußen und für die brutal durchorganisierte deutsche Ödnis im Ghetto, das Gegenstück zur deutschen Gemütlichkeit. Mascha Rolnikaité lebt heute als Schriftstellerin in St. Petersburg. Tauba Rolnikene, ihre Mutter, und Rajele und Ruwele haben nicht überlebt. Marianna Butenschön hat in einem ausführlichen Vorwort den historischen Rahmen gegeben. Sie schreibt an einer Stelle: "Mit fortschreitender Lektüre will man einfach wissen, wie sie überlebt hat, und liest und liest ..." (von Viola Roggenkamp)
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