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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 29, 2023

Vom vergeblichen und vergänglichen Leben. Es sei denn, andere schreiben darüber. Was Hinko Gottlieb über Lavoslav Schick (und sich selbst) 1934 schrieb

Of a Futile and Ephemeral Life. Unless Others Write about It. What Hinko Gottlieb Wrote about Lavoslav Schick (and Himself) in 1934
  • Marija Vulesica EMAIL logo
From the journal Aschkenas

Abstract

In his poem »Memento«, Hinko Gottlieb (1886–1948) – a lawyer and a poet – portrayed a trait of his contemporary and companion Lavoslav Schick (1881–1941) – a historian and a lawyer too – with wit and humor. His approach is biographically, at the same time he uses irony to make fun of Schick’s own biographical approaches to other Croatian Jews. As a result of the analysis of this commemorative poem, published in 1934, questions are raised about the source value of a satirical poem. Likewise, about the meaning, form and about (political) intentions of biographical depictions in general. For the contemporaries, but also for today’s researches.

Ein Kolumnist und seine Kolumne

Zwischen 1933 und 1935 veröffentlichte der jüdisch-kroatische Rechtsanwalt und Schriftsteller Hinko Gottlieb (1886–1948) regelmäßig eine Kolumne in der wichtigsten zionistischen Zeitschrift des Landes, im »Židov«.[1] Was im »Židov« stand, wurde von einem Großteil der jugoslawischen Jüdinnen und Juden rezipiert. Obwohl explizit ein zionistisches Organ, wollten seine Redakteure allen Belangen des Judentums ein Forum bieten. So berichteten sie über religiöse Feierlichkeiten, Sportveranstaltungen, über Kunst und Kultur, druckten Romane und andere literarische Arbeiten ab, ebenso Werbe- oder Familienanzeigen, und bisweilen erschien in der Zeitschrift auch eine Frauenbeilage. Den »Židov« zu abonnieren und zu lesen, gehörte zum jüdischen Alltagsleben im Königreich Jugoslawien. Kein anderes jugoslawisch-jüdisches Blatt hatte die öffentliche Meinung und Kommunikation dermaßen bestimmt und geprägt wie der wöchentlich erscheinende »Židov«. Hier fand auch Gottliebs außergewöhnliche Kolumne Platz. In satirischen Gedichten äußerte er seine Meinung zu aktuellen Themen, Fragen und Ereignissen, manches Mal auch über seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, seine Weggefährtinnen und Weggefährten. Am Rande der Seite fünf oder sieben verlieh er den vielen ernsten Themen seiner Zeit eine Prise Witz und Humor. Mit der lyrischen Form zwang er sich, präzise und knapp zu formulieren, zugleich nahmen sowohl die Form als auch der humorvolle Ton den beschriebenen Ereignissen und Entwicklungen oft ihren Schrecken. Zeitgenössische Leserinnen und Leser mögen sicherlich geschmunzelt, sich an dem Entlarven und Schmälern, an der Preisgabe manch einer Haltung, politischen Entscheidung oder eines Ereignisses der Lächerlichkeit erfreut haben. Diejenigen, die wollten, konnten bereits damals aus seinem Humor, aus seinem Witz, die Tragik herauslesen, die die europäischen Jüdinnen und Juden beobachteten und erlebten. In der historischen Retrospektive erscheinen seine Gedichte als Spiegel (s)einer Haltung und als Ausdruck des künstlerisch-politischen Umgangs mit den Themen seiner Zeit. Sie sind also auch eine wertvolle Quelle, wenn es um Hinko Gottlieb selbst geht. Sie zeigen, wie er die Welt wahrnahm, wie er sich mit ihr auseinandersetze, womit er sich beschäftigte, welche Mittel und Worte er suchte, um seine Umwelt zu beschreiben, zu kritisieren, zu hinterfragen. Die in den Gedichten verarbeiteten Themen reflektieren die Gedanken, Gefühle und Haltungen des Autors und erlauben uns, den nicht-zeitgenössischen Leserinnen und Lesern, Forscherinnen und Forschern, uns seiner Persönlichkeit, seinem Leben, ja seiner Biographie anzunähern.

Gottlieb veröffentlichte seine Kolumne nach 1935 nur noch in unregelmäßigen Abständen. In den 1930er Jahren verfasste er zudem zahlreiche weitere literarische Texte, die unter anderem in der von ihm mitbegründeten und redigierten zionistischen Kulturzeitschrift »Omanut« erschienen.[2] Sowohl in seinem literarischen Werk als auch in den politisch-satirischen Gedichten verarbeitete er immer wieder die Ausmaße und Folgen des NS-Regimes, die Entrechtung und Flucht der Jüdinnen und Juden, ihre Angst, Ratlosigkeit und kritisierte bisweilen ihre vermeintliche Passivität. Er beschrieb menschliches Verhalten, nicht ohne diesem eine allgemeinere, gesellschaftspolitische Dimension zu verleihen. Hatte auch sein Gedicht »Memento« solch eine Dimension? Was wollte Gottlieb herausstellen, unterstreichen oder kritisieren? In jedem Fall entlarvt das Gedicht die politischen Motive und Ziele des Porträtierten, die Gottlieb selbst wiederum als Biograph ebenfalls verfolgte.

»Memento« – ein Gedicht über …

Das Gedicht »Memento« erschien am 16. Februar 1934 im »Židov«. Auf Seite sieben konnten die Leserinnen und Leser folgende Verse finden:[3]

Cijeli ti je život vanitas vana

Dein ganzes Leben ist vergeblich und vergänglich

Ne vrijedi ništa. Ni lule duvana.

Es ist nichts wert. Nicht eine Pfeife Tabak.

Guraš i turaš i premećeš breme

Du schiebst und stößt und drehst die Bürde

Dok ti ne isteče zemaljsko vrijeme,

Bis deine irdische Zeit abgelaufen,

Dok ti se nemirno srce ne stiša,

Bis dein unruhiges Herz sich beruhigt,

Dok te ne sahrani Hevra kadiša!!!

Bis dich die Chevra Kadischa beigesetzt!!!

Ali kad vlažna te prekrije gruda,

Doch wenn dich die feuchte Erde bedeckt,

Onda će Lavoslav (Arje Jehuda)

Dann wird Lavoslav (Arje Jehuda)

Pisat u »Židovu« što si sve bio:

Im »Židov« schreiben, was du alles warst:

Dobar i vrijedan i pošten i mio,

Gut und fleißig und gerecht und liebenswert,

Pa će ti toliko odati časti,

Er wird dir so viel Ehr’ erweisen,

Da ćeš se u grobu topit od slasti.

Dass du im Grabe vor Wonne dahinschmelzen wirst.

Hinko Gottlieb wählte seine wöchentliche Kolumne, ein spöttisches Gedicht, um aus dem Leben jüdischer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu erzählen. »Bedenke«, weist er die Leserschaft bereits im Titel an, der wiederum unverkennbar das aus dem antiken Rom stammende Mantra der Vergänglichkeit und menschlichen Sterblichkeit zitiert. In nur wenigen Versen beschreibt er in der ersten Strophe das alltägliche, unaufgeregte Leben und Sterben eines scheinbar nicht näher bekannten Menschen. In der zweiten Strophe hält er hingegen eine konkrete Person, eine entschiedene Haltung und Leistung einer realen und ihm bekannten zeitgenössischen Biographie fest. Wer ist diese ihm offenbar vertraute Person? Was verhandelt Gottlieb eigentlich in seinem Gedicht? Und hat dieser Quellentypus überhaupt Potenzial, etwas über ein historisch nachweisbares Leben preiszugeben?

In der ersten Strophe scheint Gottlieb über kein bestimmtes jüdisches Leben zu schreiben, sondern über ein allgemeines. Es ist ein Leben ohne besondere Vorkommnisse, eines, das vor sich hin vergeht, in Mühe und Arbeit, in Unruhe und Aufregung. »Es ist nichts wert« bedeutet sicherlich nicht das, was wir aus historischer Perspektive mit der späteren Erfahrung der Schoah assoziieren, sondern es ist als ein ironischer Seitenhieb gegen das zu Lebzeiten Nicht-Gesehen, Nicht-Geschätzt-Werden zu lesen. Der Satz sollte – insbesondere, wenn wir die zweite Strophe in die Analyse aufnehmen – jene Wahrnehmung und Haltung überprüfen und entlarven, die ein (jüdisches) Leben erst posthum würdigt und feiert. »Es ist nichts wert«, schreibt Gottlieb ironisch, es ist vergänglich, es sei denn, ein Biograph beschreibt es und verleiht dem vergangenen Leben posthum Sinn. Und wie geschieht das? Hier bringt Gottlieb seinen Kollegen und Weggefährten Lavoslav Schick ins Spiel. Dieser werde – sobald ein unbekanntes jüdisches Leben zu Ende gehe – seine Feder spitzen und in der bekanntesten jüdischen Zeitschrift des Landes dieses Leben beschreiben, loben, aufwerten und bejubeln. Er werde der Biograph werden, der die Verdienste benenne, die Charakterstärken preise, sodass der nun im Grab Liegende seine Freuden an dem Bejubelt-Werden haben werde. Mit unverkennbarer Ironie deutet Gottlieb auf die eigentliche Problematik biographischer Beschreibungen hin, wenn sie mit posthumen Würdigungen und Lobgesängen einhergehen. Denn »vor Wonne dahinschmelzen« werde der Tote nicht mehr können. Wer erfreut sich also an der Darstellung und Huldigung eines vergangenen Lebens? Wem nutzt das Schreiben über andere? Wem nutzen Biographien?

Gottlieb über Schick und über sich selbst

Auch wenn Gottlieb nur den Vornamen Lavoslav und das von Schick selbst gewählte Pseudonym Arje Jehuda in Klammern nannte, wussten alle Leserinnen und Leser des »Židov« genau, um wen es sich in dem Gedicht eigentlich handelte, wen Gottlieb auf die Schippe nahm. Lavoslav Schick[4] (1881–1941) war zweifelsohne einer der erfolgreichsten und prominentesten Anwälte des Landes. Er war auch Journalist, Historiker, Judaist, zeitweiliger Vizepräsident der Zagreber Gemeinde und seit früher Jugend glühender Zionist. Er begründete die erste jüdische Bibliothek der Stadt, die zwar in seinem Hause untergebracht war, aber allen Interessierten offenstand. Geboren in Wien, zog er doch bereits als Kind mit seiner verwitweten Mutter, seinem Bruder und dem Stiefvater Anfang der 1890er nach Zagreb um. Als Schüler initiierte er – mit Unterstützung des Zagreber Oberrabbiners Hosea Jacobi (1841–1924) – die »Literarischen Zusammenkünfte jüdischer Hochschüler«, eine der ersten zionistischen Vereinigungen des damals zum Habsburgerreich gehörenden Kronlandes Kroatien.[5]

Hinko Gottlieb war nur einige Jahre jünger als Schick, geboren in einer Kleinstadt etwa 100 Kilometer östlich von Zagreb, und als Jugendlicher bereits Mitglied der »Literarischen Zusammenkünfte«. Die beiden (jungen) Männer lernten sich bereits dort oder spätestens als Studierende der Rechtswissenschaften in Zagreb kennen. Im Jahre 1934 kannten sie sich also seit etwa 30 Jahren. Sie kämpften beide für die Ziele der zionistischen Politik; sie standen für ein selbstbewusstes Judentum ein; sie waren Mitglieder derselben Vereine und Vereinigungen; sie lasen die veröffentlichten Texte und Arbeiten des anderen und standen sich möglicherweise auch als Kontrahenten in Gerichtssälen gegenüber.[6] Aus dieser Bekanntschaft, vielleicht sogar Freundschaft oder gar Konkurrenz, erwuchs in Gottlieb das Verlangen, Schicks biographisches Schreiben über andere einerseits herauszustellen, andererseits darüber zu spotten. Während er selbst also über Schick schrieb, sich mit der Darstellung eines seiner Wesensmerkmale beschäftigte und sich ihm somit biographisch näherte, war es zugleich Schicks eigene literarisch-wissenschaftliche Annäherung an andere, fremde Leben, die Gottliebs Aufmerksamkeit erregt und eine Art inneres Kopfschütteln hervorgerufen hatte.

Anlass für die Kolumne vom 16. Februar 1934 war Schicks Artikel »Sieben Generationen einer Zagreber jüdischen Familie. In Memoriam Ottonis Stern«, der genau eine Woche zuvor direkt neben Gottliebs Kolumne im »Židov« auf Seite fünf erschienen war.[7] Über Otto Stern selbst erfuhren die Leserinnen und Leser, dass er einer wohlhabenden Familie entstammte, erfolgreicher Geschäftsmann war, den Bau der Synagoge und die Jugoslawische Akademie der Künste (JAZU) großzügig unterstützt hatte, dass er Mitglied der Handelskammer, einiger Bankvereine gewesen war und sogar für ein politisches Amt kandidiert hatte. Er sei »gebildet, reich, zugänglich, freundlich [gewesen] und trug stets ein Lächeln.«[8] Das Geburts- und Sterbejahr lässt Schick allerdings aus. Mit Otto Stern verband ihn, dass jener als Vizepräsident der Zagreber Gemeinde Anfang der 1920er Jahre Schicks direkter Vorgänger war. In seiner Zeit als Vizepräsident habe Stern in einem Streit mit den damals noch in Opposition stehenden Zionisten erklärt, auch sie – die Nicht-Zionisten – hätten ihre Väter und Ahnen nicht vergessen. Diesen vermeintlich authentischen Ausspruch nahm nun Schick zum Anlass, über Otto Sterns Vorfahren und ihre Geschichte seit ihrer Ansiedlung in Zagreb um 1789 zu schreiben. Schick präsentierte Auszüge aus dem Zagreber Kirchenregister, wo Angaben über Sterns Vorfahren – wie Geburtsjahr, Ankunftsjahr in Zagreb oder allgemeine Bemerkungen über die ankommenden Jüdinnen und Juden – zu finden waren. In dieser Zusammenstellung biographischer Daten und lebensgeschichtlicher Beschreibungen über Otto Stern ging es Schick auch darum, Sterns Versäumnis, die Sache der Zionistinnen und Zionisten nicht unterstützt zu haben, herauszustellen. Während er also Sterns Verdienste und seine Stellung innerhalb der Wirtschaft und Gemeinde betonte, schrieb er im nächsten Absatz, dass dieser zwar die JAZU, aber nicht wissenschaftliche Publikationen zur Geschichte der Juden gefördert habe, dass er zwar auf die jüdischen Väter und Ahnen verwiesen habe, vom Ausbau und der Besiedlung Palästinas aber nichts habe wissen wollen.[9] Schick erinnerte also an Otto Stern, er wandte sich ihm und seiner Familie biographisch zu, um einerseits Erkenntnisse über die jüdische Geschichte der Stadt und Region zu präsentieren, um ein Bewusstsein für diese Geschichte zu wecken und zu pflegen, die – seiner Überzeugung nach – das jüdische Selbstbewusstsein stärken sollten. Andererseits erwähnte er bestimmte biographische Details, um seiner eigenen politischen Agenda Nachdruck zu verleihen, nämlich der zionistischen Forderung und Ausrichtung.

Mit Sicherheit las Hinko Gottlieb Schicks Artikel. Vielleicht hielt er selbst nicht so viel von Otto Stern, betrachtete ihn als eine nicht besonders herausragende Figur im Leben der Zagreber Gemeinde. Vielleicht war Stern nur einer von vielen, der aber – wenn »Lavoslav (Arje Jehuda)« über ihn im »Židov« schreibt – eine historische Aufwertung erhält, über die er nun im Grabe »dahinschmelzen« dürfte. Möglicherweise war der lebende Mensch – Otto Stern nämlich – gar nicht so »gebildet« und »zugänglich« und »freundlich«, doch solch eine posthume Beschreibung seines Wesens und Lebens verwandelt ihn retroaktiv in eine herausragende Persönlichkeit. Statt Vergänglichkeit und Vergeblichkeit scheint sein Leben nun Beständigkeit, Sinn und Bedeutung zu erhalten. Können wir Gottliebs satirisches Gedicht als eine grundlegende Kritik am biographischen Schreiben interpretieren? Bleibt das gelebte Leben eines Menschen ohne den dazugehörenden Biographen, der das »vergebliche« und »vergangene« Leben durch sein Schreiben erst zur Bedeutung bringe, schlichtweg vergangen, beerdigt, sinnlos und »wertlos«? Und könnte jedes noch so »unbedeutende« Leben durch eine Biographie zu einer historischen Bedeutung gelangen?

Die biographische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen oder historischen Akteurinnen und Akteuren verfolgt stets mehrere Zwecke und Ziele. So dient sie etwa der Aufklärung über vergangene Zeiten, sie dient der Bildung, dem emotional geleiteten Widerstand gegen das Vergessen und Vergehen, und sie dient der politischen Mobilisierung. Biographien sind also in erster Linie der Biographin/dem Biographen und deren Absichten und Zielen nützlich. Biographien mögen das Leben, die Verdienste und Leistungen eines historisch nachweisbaren Lebens posthum bekannt(er) machen, aufwerten oder kritisch hinterfragen, sie sind aber auch stets eine perspektivierte Dokumentation und Sammlung vergangener Lebensereignisse und der sie umgebenden Kontexte. Gottlieb mag Otto Sterns ›Biographiewürdigkeit‹ in Frage gestellt haben, ebenso Schicks Eifer beim biographischen Schreiben, aber den lebensgeschichtlichen Zugang und die damit oft einhergehende politische Absicht kann er nicht per se abgelehnt haben. Er selbst wusste nämlich sehr genau um die Bedeutung der Biographie als Ausdrucksform und der biographischen Hinwendung zu politischen Akteurinnen und Akteuren, wenn es um die Verbreitung und Durchsetzung politischer Ideen ging. Im Juli 1934 etwa organisierte der Zagreber Jüdische Nationalverein eine Gedenkfeier aus Anlass von Theodor Herzls dreißigstem Todestag. Hinko Gottlieb, Vizepräsident dieses Vereins, erörterte in seiner Gedenkrede Auszüge aus Herzls Tagebüchern. Gottliebs Redemanuskript ist nicht erhalten, aber aus der Berichterstattung des »Židov« über diesen Abend erfahren wir, dass Gottlieb anhand selektiver Tagebucheinträge Herzls geistige und intellektuelle Schaffenskraft dem Publikum näher bringen wollte.[10] Nicht nur, dass der Referent bei dieser Veranstaltung eine historische Persönlichkeit in den Vordergrund stellte und würdigte, sondern er versuchte sich auch anhand der erhaltenen – und vom Biographierten selbst geschaffenen – Quellen darin, Herzls Wesen und den Motor seiner politischen Arbeit zu erforschen. Gottlieb deutete dieses vergangene Leben und transferierte dessen Leistungen in ihren gegenwärtigen politischen Kontext, als er nämlich explizit über Herzls Eintragungen zu den ihm um 1897 zugesandten Briefen aus den südslawischen Regionen referierte.[11] Ziel dieses Transfers war also die Vergegenwärtigung von Herzls Leben und Vermächtnis, es sollte auf die Zuhörerinnen und Zuhörer identitätsstiftend und mobilisierend wirken.

Einige Monate später, im Februar 1935, veröffentlichte Gottlieb – wieder in Gedenken an einen zionistischen Vorkämpfer – sein Gedicht »Trumpeldor«. Zu Ehren von Josef Trumpeldor (1880–1920), der 1920 in Palästina im Kampf gefallen war, besang er den heldenhaften Mut »des einarmigen Mannes« – Trumpeldor verlor im Russisch-Japanischen Krieg 1904 als russischer Soldat seinen linken Arm – und seinen Einsatz für Palästina.[12] Nur drei Wochen später, Anfang März 1935, hielt Gottlieb eine Rede anlässlich des fünfundachtzigsten Geburtstags von Tomáš G. Masaryk (1850–1937), wieder in den Räumen des Jüdischen Nationalvereins. Gottlieb konzentrierte sich in seiner Rede – der Berichterstattung des »Židov« zufolge – auf Masaryks politische Haltung zum Judentum und zum Zionismus in Europa seit der Hilsner-Affäre 1899/1900.[13] Seinen Vortrag schloss er mit der Bemerkung ab, er habe »bewusst keine systematische Biographie« vortragen, sondern nur »flüchtig« auf einige Phasen in Masaryks Leben eingehen wollen.[14] Aber auch diese Phasen, Lebensstationen oder getroffenen Entscheidungen und Handlungen sind Bestandteile eines Lebens, einer Biographie. Masaryks Engagement für den verurteilten Hilsner, für die Belange und Forderungen der Zionistinnen und Zionisten in Folge des Ersten Weltkrieges, waren wichtige Marker seiner politischen Laufbahn; sie entsprangen seiner intellektuellen und emotionalen Überzeugung, Haltung und Arbeit. Sie waren folglich Teile seiner Biographie. Gottlieb wusste das genau. Es war kein Zufall, dass sich ein überzeugter Zionist, wie er einer war, Persönlichkeiten zuwandte, um die politischen Verdienste ihrer jeweiligen Leben zu betonen. Mit dem Rekurs auf prominente zionistische Biographien – wie diejenigen von Herzl oder Trumpeldor – oder auf Nicht-Juden, die sich für den jüdischen politischen Kampf verdient gemacht hatten, wollte er Identifikationsfiguren kreieren, Vorbilder schaffen. Ihre (heldenhaften) Lebenswege sollten der zionistischen Bewegung und ihren Zielen dienen, sie sollten die Jüdinnen und Juden mobilisieren und motivieren.[15] Gab er deshalb Schicks Artikel über Otto Stern und seine nicht-zionistische Familie der Lächerlichkeit preis? Nahm er Schick auf die Schippe, weil dieser – ein ebenfalls überzeugter und aktiver Zionist – sich nun einem ausgewiesenen Nicht-Zionisten zugewandt und ihn mit Lob und Verdiensten überschüttet hatte? Welches Ziel hätte dann sein Artikel verfolgen können und sollen?

Lavoslav Schick schrieb und veröffentlichte Aufsätze, Artikel und Monographien seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus hielt er zahlreiche Referate, Vorträge und Reden bei verschiedenen Gelegenheiten, häufig bei Gedenkveranstaltungen oder im Rahmen gesellschaftlicher Zusammenkünfte.[16] Sehr häufig ging es in seinen Arbeiten oder Vorträgen um Themen aus der jüdischen Geschichte. Schick forschte, las und trug unermüdlich Daten und Informationen über die Geschichte der Jüdinnen und Juden in den südslawischen Ländern zusammen. Eine umfassende und systematische Bibliographie seiner Arbeiten ist bisher noch nicht erstellt worden, aber sie würde gewiss Werke zu sephardischen Juden in Dalmatien und Bosnien, zur Geschichte mitteleuropäisch-kroatischer Familien und der jüdischen Familiennamen sowie zu einigen jüdischen Individuen enthalten.[17] Mit dieser auffälligen Hingabe für Themen aus der jüdischen Geschichte, für die er im Übrigen bei Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bereits bekannt war, verfolgte auch er das Ziel der politischen Mobilisierung und Sensibilisierung der kroatischen, später jugoslawischen, Judenheit(en).[18] Schon Anfang des 20. Jahrhunderts erkannten führende kroatisch-jüdische politische Akteurinnen und Akteure die Bedeutung der jüdischen Geschichte in dieser Region. Sie sahen die Notwendigkeit ihrer Erforschung und Kodifizierung, wollten jüdisches Selbstbewusstsein stärken und einen jüdischen Nationalstolz generieren.[19] Die eigene Geschichte zu kennen, sich zu dieser zu bekennen, war eine politische Forderung der Zionistinnen und Zionisten, der sich Schick längst angeschlossen hatte. In diesem Zusammenhang entstand seine biographische Darstellung der Familie Stern, ebenso wie die nur eine Woche zuvor veröffentlichte Arbeit über die Herkunft jüdischer Nachnamen.[20]

Dass die Stern-Familie nicht den Zionismus unterstützte, Otto Stern kein Zionist war, mag Hinko Gottlieb irritiert haben oder nicht. In jedem Fall wusste aber auch er, dass die jüdische Geschichte weit mehr war, als »nur« die Geschichte der Zionistinnen und Zionisten. Und er wusste ebenfalls um die wissenschaftlichen Verdienste von Lavoslav Schick, auch wenn er sie auf die Schippe nahm. Um seine Verdienste und um seinen Ruf wusste auch Schick selbst. Er begann nämlich einige Jahre zuvor, manche seiner Texte unter dem Namen Arje Jehuda, also mit einem Pseudonym, zu veröffentlichen. In einem Brief an den Wiener Journalisten Josef Fränkel erklärte Schick 1937, dass er diesen Namenszusatz als Reminiszenz an seinen Großvater väterlicherseits gewählt habe.[21] Ich vermute jedoch, dass er diesen Namen auch in Anlehnung an den jüdischen Gelehrten Leone da Modena (1571–1648) führte, der seinerseits den Beinamen Jehuda Arje di Modena getragen hatte. Schick betrachtete sich selbst nämlich als einen Gelehrten der jüdischen Geschichte, und dass Gottlieb nun Schicks selbstgewählten Namenszusatz in seinem Gedicht »Memento« explizit nennt, ihn in Klammern setzt, damit als vermeintlich nebensächlich, doch sichtbar kennzeichnet, weist darauf hin, dass er Schicks Arbeiten und dessen Selbstdarstellung gut kannte. Er kannte sie als Zeitgenosse und Weggefährte, er kannte sie auch als Biograph. In seinem satirischen Gedicht erzählt – und spottet – Gottlieb also über den Biographen Schick, während er selbst ihn biographisch porträtiert. Und damit dieser nicht erst nach seinem Tode ob der vielen Lobpreisungen und möglicherweise nicht ganz korrekten Zuschreibungen »vor Wonne dahinschmelze«, lässt er ihn an seinem ironischen Witz schon zu Lebzeiten teilhaben. Aus den wenigen erhaltenen Erinnerungen an Schick geht hervor, dass dieser eine ordentliche Portion Humor hatte.[22] Wahrscheinlich lachte er also über Gottliebs Gedicht und den Spiegel, den dieser ihm vorgehalten hatte.

Gottlieb erzählt in seinem Gedicht aber auch etwas über sich selbst. Er war ein Autor, der mit Satire und Ironie umgehen konnte und der sie als stilistisches Mittel gewählt hatte, um öffentlich seine Meinung zu äußern. Er konnte also spotten, kritisieren, überspitzen und sich zugleich hinter zweideutigen Versen in Deckung bringen. Sein Spott und sein Witz legten den Finger in die Wunde, entlarvten pointiert, trugen jedoch nie bösartige oder schmähende Züge.

Über das historiographische Potential des Gedichts »Memento«

Sowohl das Gedicht »Memento« als auch Schicks Artikel über Otto Sterns Familie entstanden in der Gegenwart der Protagonisten im Winter 1934. Die Besonderheit lag also darin, dass die Biographen und die Biographierten Zeitgenossen waren, Bekannte, Kollegen und Weggefährten. Dennoch verarbeiteten sie beide – sowohl Schick im Artikel über die Stern-Familie als auch Gottlieb im Gedicht über Schick – Elemente aus der Vergangenheit der jeweiligen Lebensgeschichte und brachten sie in eine Erzählordnung. Mit ihren stilistisch völlig unterschiedlichen Texten verfolgten sie ferner gesellschaftspolitische Ziele und äußerten Ansichten, die in ihrer Gegenwart, aber auch in die (jüdische) Zukunft hineinwirken sollten. Das Gedicht »Memento« ist gewiss keine kohärente biographische Darstellung. Es ist höchstens ein biographischer Ausschnitt, zudem ein satirischer. Es ist eine Momentaufnahme, in der ein Zeitzeuge, ein Beobachter und politischer Autor den Blick auf einen anderen Zeitgenossen richtet, das Gesehene konserviert und durch ein literarisches Medium repräsentiert. Das Gedicht gibt zudem Aufschluss über die allgemeinere Wahrnehmung des historisch nachweisbaren Lebens, denn die wenigen Verse über »Lavoslav (Arje Jehuda)« konnten von den Leserinnen und Lesern schnell und sicher gedeutet werden. In den wenigen Zeilen hielt Gottlieb Verhaltensweisen und Wesenszüge, aber auch eine Außenwirkung fest, die zweifelsohne zur Biographie Lavoslav Schicks gehörten. Die zeitgenössischen Lesenden schmunzelten womöglich über das Gedicht, auch weil sie den Biographierten darin erkannten. Vielleicht provozierte es bei einigen eine kritische Reflexion – nicht nur über Schicks Auftritte und Arbeiten, sondern über das »vergängliche« jüdische Leben an sich. Ganz sicher aber dient das Gedicht der nachgeborenen Biographin als Quelle, die unterschiedliche, doch miteinander in Verbindung stehende Akteure zusammenführt. Der Text transportiert biographische Elemente sowohl des Autors als auch der von ihm biographisch erfassten Person. Er öffnet ein Fenster in eine Zeit, in der ein jüdischer Dichter seinen jüdischen Weggefährten mit Witz und Ironie porträtieren konnte, ohne auch nur zu ahnen, welches Schicksal ihnen beiden drohte: Schick wurde 1941 in dem kroatischen Konzentrationslager Jasenovac ermordet, Gottlieb überlebte die Schoah. In seinen nach 1945 entstandenen Arbeiten lässt sich kaum noch Ironie, kein Spott mehr für die jüdischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen finden. Nur Trauer und Verzweiflung. Kam ihm beim Schreiben nach 1945 je wieder »Lavoslav (Arje Jehuda)« in den Sinn?

Published Online: 2023-11-29
Published in Print: 2023-11-28

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 27.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/asch-2023-2015/html
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