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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 29, 2023

Biographische Darstellungen jüdischer Autorinnen im 19. Jahrhundert. Ludwig Geigers Arbeiten zu Dorothea Schlegel und Fanny Lewald

Biographical Representations of Female Jewish Authors in the 19th Century. Ludwig Geiger’s Works on Dorothea Schlegel and Fanny Lewald
  • Ulrike Schneider EMAIL logo
From the journal Aschkenas

Abstract

In 1896, the literary scholar Ludwig Geiger published the volume »Dichter und Frauen«. Two articles in the volume were devoted to the female writers Dorothea Schlegel and Fanny Lewald. The essays are characterized by the literary-historical attempt to bring together life and work as well as the inclusion of first-person documents such as letters or diary entries. The relation between Geiger and his biographical ›objects‹ is based on the discrimination they experienced as Jews. In his contributions to the two authors, Geiger emphasizes their patriotic attitude, which he himself, as a German citizen of Jewish faith, strove to fulfill with his research.

Biographische Darstellungen zu unterschiedlichen Persönlichkeiten, von der Renaissance bis in das 19. Jahrhundert, verbunden mit kultur- und sozialgeschichtlichen Abhandlungen, bildeten ein Forschungsgebiet des Literaturhistorikers und Privatgelehrten Ludwig Geiger (1848–1919), Sohn des berühmten Reformrabbiners und Mitbegründers der Wissenschaft des Judentums Abraham Geiger, zu dem er ebenfalls eine Biographie vorlegte.[1] Daneben wirkte Geiger als Herausgeber der »Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland« (1886–1891) und der »Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte und Renaissance-Litteratur« (1885–1891). Er übernahm ferner von 1909 bis 1919 als Nachfolger von Gustav Karpeles die Herausgeberschaft der renommierten »Allgemeinen Zeitung des Judentums«. Eines seiner wichtigsten Projekte stellte die 33-jährige Edition des von ihm gegründeten Goethe-Jahrbuchs (1880–1913) dar. Die Goethe-Emphase, die er mit etlichen, vor allem auch jüdischen Germanisten Ende des 19. Jahrhunderts teilte, beeinflusste auch seine biographischen Arbeiten, in denen er nicht selten Verbindungen zwischen Goethe und den von ihm behandelten Personen herstellte und hervorhob. Zugleich lässt sich an der Auswahl seiner biographischen ›Objekte‹ eine Reaktion auf die von ihm erfahrene Diskriminierung erkennen: Da Geiger sich geweigert hatte, zum Christentum zu konvertieren, blieb ihm eine reguläre Professur an einer deutschen Universität versagt.[2] Sein wiederholtes Eintreten für die »Gleichberechtigung jüdischer Gelehrter«[3] innerhalb des Wissenschaftsbetriebs verband sich mit Arbeiten zu randständigen Forschungsbereichen. Dies umfasste zum einen Studien zu einer deutschen Literatur jüdischer Autoren, gründend auf Geigers Überzeugung von der Existenz einer deutsch-jüdischen Symbiose, womit ein überhöhtes und idealisiertes Verständnis einer deutschen Literatur einherging. Zum anderen wandte er sich dem Werk jüdischer und nichtjüdischer Autorinnen zu, denen durch die Erwähnung in Literaturgeschichten zwar partiell Aufmerksamkeit zukam, eine breitere wissenschaftliche Beschäftigung mit ihren Werken in der damaligen Germanistik aber kaum erfolgt war.

Spuren schreibender Frauen in den Arbeiten Geigers

Bereits in der 1871 im Auftrag der Berliner jüdischen Gemeinde verfassten, bis heute breit rezipierten »Geschichte der Juden in Berlin« finden sich Porträts von Henriette Herz und Rahel Levin, die Geiger retrospektiv als bedeutende Repräsentantinnen Berlins um 1800 einordnet. Deren Lebensläufe begreift er als exemplarisch für ihre Generation, einerseits hinsichtlich der sozialen Herkunft und des Bildungsstandes, andererseits in Bezug auf ihre Loslösung vom Judentum, die er kritisch kommentiert. Insbesondere Rahel Levin beschreibt er als »ideale[] Gestalt«[4], deren »überirdisches«[5] Wesen die Berliner Gesellschaft durchdrungen habe und deren Briefe sich durch »geistvolle[n] Ernst, […] sprühende[n], zündende[n] Witz«[6] auszeichneten. In seiner Studie über »Die jüdische Gesellschaft Berlins im 18. Jahrhundert«, die 1898 erschien, erweitert er seine Beschreibungen zu Herz und Levin um eine Schilderung von Dorothea Schlegel, einer »patriotische[n] Deutsche[n]« und ebenso »geistreiche[n] Frau«.[7] Der Exkurs zu dem weiblichen Dreigestirn des jüdischen Berlins sticht insofern aus dem historischen Abriss heraus, da es die einzige Passage in dem Artikel ist, die er jüdischen Frauen widmet.[8]

In seinen 1910 unter dem Titel »Die deutsche Literatur und die Juden«[9] veröffentlichten Aufsätzen ist indes weder einer dieser drei Frauen noch anderen jüdischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, z. B. der erfolgreichen Autorin Fanny Lewald, ein eigenständiger Beitrag vorbehalten. Ihre Namen werden nur im Zusammenhang mit Schriftstellern wie Ludwig Börne, Berthold Auerbach oder Johann Wolfgang von Goethe erwähnt. Die Frage, ob nicht auch sie mit ihren Briefen, Erinnerungen oder Romanen – ihrem Werk – an einer ›deutsch-jüdischen‹ Literatur mitgewirkt haben, bleibt von Geiger in diesem Band unbeantwortet, er setzt ihre Marginalisierung als Frauen und Autorinnen damit ein Stück weit fort. Implizit verhandelt er diese Frage jedoch in Artikeln, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Im Folgenden sollen daher zwei Arbeiten Geigers zu den Autorinnen Dorothea Schlegel und Fanny Lewald näher untersucht werden. Die Auswahl ergibt sich aus der Aufnahme der Artikel in dem 1896 im Verlag der Gebrüder Paetel erschienenen Band »Dichter und Frauen«,[10] in dem Geiger »Vorträge und Abhandlungen«, wie es im Untertitel heißt, versammelte, die zuvor bereits in Zeitschriften abgedruckt worden waren. Die Beiträge zu Schlegel und Lewald stehen hier neben Arbeiten zu Charlotte von Schiller, Karoline von Günderrode, Bettina von Arnim oder Charlotte Stieglitz.

Die Aufsätze zeichnet der literaturhistorische Versuch einer Zusammenführung von Leben, u. a. durch die Berücksichtigung von Egodokumenten wie Briefen oder Tagebuchaufzeichnungen, und Werk aus. Die Offenlegung und Präsentation des Quellenmaterials, das Geiger aus unterschiedlichen Archiven, Nachlässen oder privaten Sammlungen zusammenstellte, verweist zugleich auf das Selbstverständnis des Verfassers: Über den Abdruck der Materialien sollte der Objektivitätsanspruch des Positivisten eingelöst, zugleich aber auch die Bedeutung als Literaturhistoriker, der neue Quellen erkundet, erfasst und bereitstellt, hervorgehoben werden. Aus der Existenz der Quellen zu den beiden Schriftstellerinnen Schlegel und Lewald resultiert zudem deren ›Biographiewürdigkeit‹, denn »um als biographisches Objekt infrage zu kommen, müssen Quellen vorhanden sein«, müsse es »Spuren in Archiven« geben.[11] Die Ausweisung dieses Quellenmaterials zu schreibenden Frauen und der sich daraus sowie aus ihrem Werk ergebenden Bedeutung für die Literatur des 19. Jahrhunderts enthält noch einen zweiten Aspekt: Gegenüber der Dominanz von männlichen Biographien, die die »große Popularität […] der Gattung«[12] im 19. Jahrhundert begründeten, stellen Geigers Abhandlungen zu Autorinnen eine Erweiterung der zeitgenössischen Biographik dar.[13] Der Rückgriff auf diesen Gegenstand lässt sich auch im Zusammenhang mit Geigers bereits angesprochener eigener Position verstehen: Als ein im literaturwissenschaftlichen Mehrheitsdiskurs auf eine Randposition verwiesener Wissenschaftler forschte er innerhalb der Germanistik und Kulturgeschichte zu nachrangigen Themen.

Ein Charakterbild von Dorothea Schlegel

Den Band »Dichter und Frauen«, auf den 1899 ein zweiter Band gleichen Titels als Fortsetzung folgte, adressierte Geiger an einen »weiten Kreis gebildeter Leser«,[14] der sich, aufgrund des Verlagsortes, dem Verlag der Gebrüder Paetel, nicht auf ein innerjüdisches Publikum beschränkte. Den Artikel über Dorothea Schlegel, der wie ein Großteil der abgedruckten Abhandlungen nur mit dem Namen der Autorin betitelt ist und keinen Hinweis auf eine Genrezuordnung enthält, hatte Geiger erstmals 1882 in der Zeitschrift »Aus allen Zeiten und Landen« publiziert, allerdings in gekürzter Form, wie er in der Anmerkung zum Text festhielt.[15] Inhaltlich lässt sich der Beitrag in drei thematische Felder gliedern: eine sozialgeschichtliche Skizze (des jüdischen) Berlins um 1800, eine Darstellung weiblicher Rollenbilder bezogen auf Dorothea Schlegel und die Verhandlung weiblicher Autorschaft. Geigers Intentionen, die er bei der Anfertigung des Beitrages verfolgte, erschließen sich aus den einleitenden Vorbemerkungen. So gelte es, die »mächtig wirkenden Verhältnisse[]« offenzulegen, die auf Dorothea Schlegel einwirkten und aus denen sich ihre »Handlungen« ergaben.[16] Dabei gehe es ihm nicht um eine »Rechtfertigung« ihrer Handlungen, womit die Konversion und die Scheidung von Simon Veit angesprochen sind, sondern um eine »Erklärung« derselben.[17] Über die Erschließung ihrer Lebensverhältnisse und deren Kontextualisierung und über die Aufnahme von Selbstaussagen aus Briefen möchte Geiger ein anderes Bild von Schlegel entwerfen, das sich nicht in »Vorwürfen«[18] erschöpfe. Dabei baut er die Lebenserzählung auf dem Grundmuster der Buße auf, die er als prägend für die ältere Dorothea Schlegel ausweist.

Geigers kurze Darlegung der allgemeinen Lebensverhältnisse der jüdischen wirtschaftlich höher gestellten Bevölkerungsschicht in seiner historischen Skizze ist aus zweierlei Gründen interessant. Zum einen gewährt er einem nichtjüdischen Lesepublikum Einblick in die beginnenden emanzipatorischen Bestrebungen sowie die jüdisch-christlichen Beziehungen, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts ausbildeten. Zum anderen weist er auf die eingeschränkten Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten jüdischer, vor allem junger Frauen hin sowie auf die Wirkungskraft, die von der damaligen Literatur, Kunst und Philosophie ausging. Aus der ideellen und realen Eröffnung anderer Lebensmöglichkeiten, obwohl diese aufgrund der fehlenden rechtlichen Gleichstellung prekär blieben, ergab sich eine Loslösung der Frauen von den traditionellen Elternhäusern, wofür Dorothea Schlegel Geiger als Beispiel dient. Neben das Exemplarische stellt Geiger dann aber das Spezifische, indem er Schlegels Ausbruch aus der Ehe auf die Verführungskraft von Friedrich Schlegel zurückführt, der sie sich »ergab«[19]. Damit verbunden ist die kontrastierende Gegenüberstellung des verlassenen jüdischen Ehemannes Simon Veit, der als »eifriger Jude«, »hochsinniger Mensch«[20], »treu besorgte[r] Vater«[21] und als Ideal eines treuen Ehepartners charakterisiert wird, und Friedrich Schlegels, der allein mit pejorativem Vokabular beschrieben wird und seiner späteren Ehefrau Dorothea Schlegel kaum Anerkennung gezollt haben soll. Mittels dieser unterschiedlichen Charakterisierungen wird zudem das Element der Buße eingeführt, die bei Dorothea Schlegel nach Geigers Dafürhalten auch aus dem Erkennen der Sittlichkeit des ersten Ehemanns resultierte.

Den zweiten Schwerpunkt von Geigers Interesse bildet die Betrachtung von Dorothea Schlegel in ihren Rollen als Ehefrau und als Mutter – ein im Beitrag zentrales Thema. Bereits mit Schlegels Einführung zu Beginn des Textes gehen Zuordnungen einher, zum einen über den Doppelnamen Veit-Schlegel, den Geiger verwendet und der auf die beiden Ehemänner hinweist, zum anderen über ihre Bestimmung als »älteste Tochter des jüdischen Popularphilosophen Mendelssohn«,[22] womit ihre bedeutende Familienherkunft angezeigt ist. Die Herausarbeitung ihres tugendhaften Charakters, trotz ihres Verstoßes gegen die geltenden Konventionen nicht allein der jüdischen Gemeinschaft, unternimmt Geiger über das Motiv der Mutterschaft und der Bestimmung als Ehefrau. Während in der Ehe mit Simon Veit eine oktroyierte Pflichterfüllung bestanden habe, habe sie diese in der Ehe mit Friedrich Schlegel aus einer freiwilligen Selbstaufopferung und unbedingten Liebe heraus vollzogen. Benennt Geiger zuvor die diffizilen Lebenssituationen jüdischer Frauen, folgt er bei Schlegels Rollenbestimmung traditionellen und patriarchalisch begründeten Geschlechterbildern. Basierend auf einzelnen Zitaten Schlegels, unterstützt durch eine ihr bescheinigte Umkehr zu einem auf Religiosität und Aufopferungsbereitschaft gründenden Leben, attestiert er ihr eine Unterordnung unter eine »geistige Superiorität«[23] des Mannes sowie den Rückzug ins Private: »[A]ls Aufgabe der Frau erschien ihr, die Herrschaft im Hause zu üben und Interesse, ja Theilnahme an den Gesprächen des Mannes zu zeigen«.[24] Ergänzend hebt er ihre Mutterschaft hervor, so habe sie ihre Söhne zu unbedingter Vaterlandsliebe erzogen. In Geigers Charakterbild verkörpert Schlegel so die grundlegenden Eigenschaften des tradierten bürgerlichen Frauenbildes des 19. Jahrhunderts.

Die von Geiger mehrfach bekräftigte Umkehr Schlegels, ihre Reue über die Verletzung »heilige[r] Institutionen [wie der Ehe und der Familie, U. S.]«,[25] die zugleich ein zentrales Erzählelement der Lebensgeschichte darstellt, ermöglicht es ihm, sie als vorbildhaft zu präsentieren, da auf die unkontrollierte Leidenschaft die Vernunft des Herzens, eine tiefe Gläubigkeit im Katholizismus und eine Pflichterfüllung für die Familie gefolgt sei. Die Betonung von Gläubigkeit, Mutterschaft und Ehe sowie die ebenfalls von Geiger konstatierte Vaterlandsliebe Schlegels lösen normative Ansprüche der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein. Der Rekurs auf die damaligen gesellschaftlichen Werte erhellt weniger die »Zeit de[r] Biographierten«, sondern nimmt vielmehr Bezug auf die Schreibgegenwart des Biographen.[26] Geigers Maßstab bürgerlich-nationaler Wertvorstellungen, die er dem Charakterbild zugrunde legte und mittels derer er Schlegel rehabilitierte, da sie für diese eingestanden sei, beschränkt sich nicht auf das geschilderte Leben. Sie gelten gleichermaßen für ihn selbst. Über ihre Bewahrung und Umsetzung – die Mutterschaft wird durch die am Beispiel von Simon Veit vorbildhaft demonstrierte Vaterschaft ersetzt – weist er sich als Staatsbürger der deutschen Nation, als Kämpfer für das Vaterland aus, wobei sich seine Religiosität im Judentum begründete und er es als gleichberechtigte Religion neben dem Christentum verstand.

Als dritten Punkt erörtert Geiger die Frage von Schlegels Autorschaft. Neben ihrer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit weist er auf ihre Mitarbeit an den literarischen Projekten ihres Mannes Friedrich Schlegel hin, die u. a. das Vorbereiten von Druckmanuskripten und Übersetzungstätigkeiten umfasste.[27] Ihrem einzigen Roman »Florentin«, der 1801 unter der Herausgeberschaft von Friedrich Schlegel gedruckt wurde, lässt Geiger eine ausführliche Vorstellung zukommen, da dieser »selten recht gewürdigt worden« sei.[28] Das abschließende Urteil fällt zwiespältig aus: Während er den Inhalt als zu »dürftig« einordnet, betont er die gelungene »Charakterschilderung« und die Sprachgestaltung.[29] Aus Geigers Untersuchung des Romans und dessen Bewertung durch die zeitgenössische Leserschaft – hier führt er neben Friedrich Schiller die Aussagen von Caroline Schlegel und Charlotte Schiller ins Feld, womit er zwei weiblichen Stimmen Gehör verschafft – können einige seiner Anforderungen an eine weibliche Autorschaft um 1800 abgeleitet werden. Die Themenzuordnung weist Geiger klar aus – das Sujet Liebe sei zu behandeln. Ebenso eindeutig ist für ihn die zu wählende Gestaltung und Ausdrucksform, bei der jegliche Art von »Frivolität«,[30] wie es Dorothea Schlegel in dem Roman zuweilen unternehme, zu vermeiden sei. Auch die Literaturgattungen bestimmt er genau und essentialistisch: Briefe und Tagebücher seien die weiblichen Schreibformen, da es den »Frauen jener Zeit […] ein Bedürfnis« gewesen sei, »Briefe zu schreiben«.[31] Keine Berücksichtigung finden hingegen Fragen zu den Schreib- und Veröffentlichungsbedingungen, die für Schriftstellerinnen nur bedingt vorhanden und insbesondere mit den Ansprüchen an sie als Mütter und Ehefrauen kaum vereinbar waren. Während Geiger mit seiner Klassifikation auf Merkmalsbestimmungen eines ›weiblichen Schreibens‹ seit Ende des 18. Jahrhunderts rekurriert und diesem dabei ein enges, auf die männliche Autorschaft ausgerichtetes Literaturverständnis zugrunde legt, verweist er gleichzeitig auf das Werk Schlegels in seiner Breite, da es neben dem Roman ebenso aus zahlreichen Briefen besteht. Um die Veröffentlichung und Edition einiger dieser Briefe machte sich Geiger selbst verdient, indem er sie u. a. in dem zweiten Band »Dichter und Frauen« abdruckte.

Fanny Lewald als Mitarbeiterin an der Kulturnation

Geiger verfasste den von ihm als »Skizze« benannten Text über Fanny Lewald ursprünglich für die von Karl Emil Franzos herausgegebene Zeitschrift »Deutsche Dichtung«, deren Novemberheft 1889 der im August desselben Jahres verstorbenen Schriftstellerin gewidmet war. Den ungekürzten Beitrag nahm er in den Sammelband »Dichter und Frauen« auf,[32] er ist durch die Zeitgenossenschaft Geigers in besonderer Weise geprägt. Sie tritt nicht allein durch den Anlass des Textes hervor, den Tod von Fanny Lewald, sondern sie zeigt sich auch in der mehrfach erwähnten Bekanntschaft mit Lewald, die sich als Leitmotiv durch den Text zieht. Im Unterschied zu der Abhandlung über Dorothea Schlegel resultiert die Legitimation zur biographischen Verfasserschaft nun nicht im ausgewiesenen Quellenmaterial. Sie ergibt sich vielmehr aus einem vermeintlichen Authentizitätsanspruch, der mehrmals von Geiger erhoben wird, indem er Zitate aus Gesprächen mit Lewald in direkter oder indirekter Rede in seine Darstellung einfließen lässt. Geiger inszeniert sich so als Lewalds Zeitgenosse und Vertrauter und intendiert eine Nähe, die sich vor allem aus der gemeinsamen Goethe-Verehrung speist. Diese fungiert nämlich als das prägende Erzählmuster des Textes: Leben und Werk der Autorin werden vor dem Hintergrund von Goethes Wirkungsmacht erzählt, da der Dichter sie »zum vollen Menschen und zur Schriftstellerin« habe reifen lassen und »gar Manches […] in ihrer Art […] an den Altmeister«[33] erinnere. Geiger verbindet dabei Lewalds eigene Goethe-Emphase mit einem von ihm forcierten Goethe-Vergleich. Als Gemeinsamkeiten gelten ihm die Vorbild- und Ratgeberfunktion, die beide für die jüngeren Generationen gehabt hätten, der männliche Geist, der das jeweilige Schreiben geprägt habe,[34] sowie die grundlegende Verpflichtung beider zu »Wahrheit und Aufrichtigkeit«.[35]

Goethes Werk bildet Geiger zufolge zudem den Maßstab für Lewalds eigenes schriftstellerisches Schaffen. Der Rückgriff auf dieses offenbare sich in den impliziten und expliziten Verweisen, die Lewalds Romane, Reiseberichte und vor allem ihre Autobiographie »Meine Lebensgeschichte« durchzögen. Das »bewußte Goethisieren«[36] beschränke sich dabei nicht auf die Aufnahme von Motti und Zitaten, sondern bestehe bei ihrer Autobiographie ebenso in der inhaltlichen und formalen Nachahmung. Er entwirft damit ein Bild der Schriftstellerin als Jüngerin Goethes, grenzt ihr schriftstellerisches Werk hinsichtlich der Qualität jedoch deutlich von dem Goethes ab, denn sie sei trotz ihrer großen Popularität »keine große Dichterin«[37] gewesen. Die für ihre schriftstellerische Tätigkeit verwendeten Attribute wie »fleißig«, »sorgfältig« oder »tüchtig«[38] beschreiben eher ein Handwerk als einen künstlerischen Prozess und stehen im Gegensatz zu Geigers hymnischer Beurteilung von Goethes Œuvre. Zudem kritisiert er Lewalds vermeintliche Tendenz zu einem ausufernden Erzählen und zu oberflächlichen Figurenzeichnungen, die sich oftmals in zu allgemeinen Typendarstellungen zeigten. Insgesamt fällt das ästhetische Urteil über ihre Texte damit eher schwach aus. In Differenz zu den angeführten Kriterien ›weiblichen Schreibens‹ bei Dorothea Schlegel attestiert er Lewald indessen kaum entsprechende Merkmale.

Neben der unterschiedlichen literarischen Wertigkeit von Goethes und Lewalds Werk führt er drei weitere Unterscheidungskriterien ins Feld, über die charakteristische Inhalte ihrer Prosa und ihrer Position als Schriftstellerin entfaltet werden. Im Unterschied zu Goethe, dessen Autorschaft außer Frage stand, verweist Geiger auf die »erkämpften«[39] Bedingungen einer weiblichen Autorschaft bei Lewald. Dass sich dies nicht allein auf die Veröffentlichung unter eigenem Namen beschränkte – ihre ersten Romane veröffentlichte Lewald anonym aus Rücksicht auf die Familie –, sondern auch die Begründung einer selbstständigen Existenz als Schriftstellerin sowie die Behauptung gegenüber den »männlichen schriftstellernden Collegen«[40] bedeutete, hebt er unmissverständlich hervor. Denn bereits zu ihren Lebzeiten galt Lewald, deren Œuvre 26 Romane, 36 Novellen und 40 Feuilletons einschloss,[41] als eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, die auch während ihrer Ehe mit Adolf Stahr ihren eigenen Lebensunterhalt verdiente.[42]

Als zweiten Punkt verhandelt Geiger die Themenschwerpunkte im Frühwerk Lewalds, in dem sie sich mit ihren ersten Romanen der Frauen- und Judenemanzipation zuwandte. Ihren Kampf für die gesellschaftliche Gleichberechtigung beider diskriminierter Gruppen stellt er dabei ebenso heraus, wie ihre trotz der erfolgten Konversion, die er als »äußerliche«[43] Angleichung an eine säkulare Lebenshaltung beschreibt, zeitlebens bestandene Verbundenheit mit dem Judentum. Für das Gesamtwerk konstatiert er eine Fokussierung auf Ereignisse der preußischen Geschichte, wie die Befreiungskriege, die sie insbesondere in den Romanen »Prinz Louis Ferdinand«, »Von Geschlecht zu Geschlecht« und »Haus Darner« verfolgt habe.[44]

Als dritten Aspekt führt er ihre Verteidigung liberaler Ideen an, die aus ihrer Königsberger Herkunft resultiere. Die positive Akzentuierung der thematischen Aspekte steht dabei im Gegensatz zu der angeführten kritischen Bewertung des ästhetischen Wertes ihres Werkes.

Die von Geiger ausführlich dargelegten Inhalte von Lewalds Werk erlauben Rückschlüsse auf sein Geschichts- und Literaturverständnis. Zum einen betont er in seiner Darstellung eine Traditionslinie, die an seine Beschreibung des jüdischen Berlins um 1800 anknüpft. Im Anschluss an Henriette Herz und vor allem Rahel Levin, in deren Nachfolge Lewald sich selbst sah, habe sie eine spezifische Form der Geselligkeit fortgeführt. Ebenso wie bei Rahel Levin umfasst dies die Bekanntschaft mit wichtigen Persönlichkeiten der Zeit, denen Lewald mit dem Band »Zwölf Bilder aus dem Leben. Erinnerungen« auch Porträts widmete. Die Analogie zeigt sich laut Geiger jedoch vor allem in biographischen Ereignissen wie der Konversion, die nicht aus einem religiösen Bedürfnis heraus erfolgt sei, sondern um eine gesellschaftliche Gleichstellung zu erringen. Weiterhin verhandelt er die Frage jüdischer Figurengestaltungen in Lewalds Romanen. Dass sie hier nicht auf eine vorher von ihm konstatierte Typisierung abhebe, sondern differenziere und »treffliche Menschen«[45] abseits gängiger Stereotypsierungen zeichne, wird von ihm als ein wesentliches Merkmal ihres Schreibens akzentuiert. Es finden sich sowohl in der Darlegung des Traditionsbezuges zu Rahel Levin als auch in der Betrachtung der jüdischen Figurengestaltung Parallelen zu der einige Jahre später von Geiger angestellten Untersuchung zur Frage des Beitrages jüdischer Autoren zur deutschen Literatur. Obgleich Lewalds Werk, wie bereits konstatiert, keinen Eingang in den Band »Die deutsche Literatur und die Juden« fand, wird anhand der von Geiger angeführten Aspekte evident, dass ihre Schriften gleichwohl als Bestandteil einer ›deutsch-jüdischen‹ Literatur verstanden werden können bzw. sie als jüdische Autorin deutscher Literatur nach Geigers Kriterien zu begreifen ist, da sie in ihrem Gesamtwerk spezifisch jüdische Themen behandelte und diese in die deutsche Literatur einführte. Damit leistete sie nach Geigers Verständnis einen jüdischen Beitrag zur deutschen Kulturnation. Sichtbar wird dieser Beitrag jedoch noch stärker in ihrer Auseinandersetzung mit der jüngeren preußischen Geschichte in ihren Romanen sowie in ihren Porträts preußischer Persönlichkeiten. Mit beiden wirkte sie, wie es Geiger auch für sich in Anspruch nahm, an der Stärkung der deutschen Kulturnation ebenso mit wie an der Schaffung eines Kulturerbes. Höhepunkt dessen ist die von Geiger hervorgehobene Mitarbeit Lewalds an der Institutionalisierung Goethes, die sich auch in ihrem Werk widerspiegelte, indem sie ihn als Vorbild ihres eigenen Schreibens benannte. Während Lewalds Ehemann Adolf Stahr die Gründung einer Goethe-Stiftung vorschwebte, setzte Geiger dies als Mitbegründer der Goethe-Gesellschaft um, deren »treues«[46] Mitglied auch Fanny Lewald war.

Fazit

Die Relation zwischen Geiger und seinen biographischen ›Objekten‹ begründet sich aus einer gemeinsamen Erfahrung als Minorität. Gilt dies für die von ihm biographierten Autorinnen Dorothea Schlegel und Fanny Lewald hinsichtlich ihrer dreifachen Marginalisierung als Frauen und Schriftstellerinnen, neben der Herkunft als Jüdinnen,[47] so besteht dies für Geiger in seiner wissenschaftlichen Außenseiterposition. Die Anerkennung der weiblichen Autorschaft Schlegels und Lewalds trotz kritischer Kommentierungen geht mit einer Ausweisung seiner eigenen Leistung als Literaturhistoriker einher, indem er bei Schlegel die von ihm erschlossenen Archivdokumente als Quellenmaterial ausstellt, bei Lewald seine Tätigkeit innerhalb der sich neu etablierenden Goetheforschung unterstreicht, anhand derer zugleich eine prägende Gemeinsamkeit mit der Autorin, die Goethe-Verehrung, aufgezeigt wird. Weiterhin beschränken sich die Begriffe »Deutschthum, Freiheit, Humanität«,[48] die Geiger zur Beschreibung von Lewalds Werk verwendet, nicht auf dieses, sondern sie weisen ebenso seine eigene Haltung als auch die seiner Protagonistinnen aus. In seinen Beiträgen zu den beiden Autorinnen bezeugt er deren patriotische Einstellung, mit der sie eine »nationale Pflichterfüllung«[49] eingelöst hätten, die er selbst, als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, mit seiner Forschung zu erfüllen bestrebt war. Die Mitarbeit an einem deutschen Kulturerbe, in dem für ihn der jüdische Beitrag einen integralen Bestandteil bildete, vollzog er über das Aufspüren und Freilegen weitreichender Archivalien zu jüdischen und nichtjüdischen Philosophen, Künstlern sowie Autoren und Autorinnen. Dadurch unterstützte er die nationalen Kanonisierungsprozesse (im Fall von Goethe), unterlief bzw. erweiterte diese allerdings ebenso (im Fall jüdischer Autorinnen und Autoren, wie z. B. Ludwig Börne). In seinen Arbeiten zu schreibenden Frauen blieb Geiger gleichwohl den ästhetischen und normativen Auffassungen seiner Zeit verhaftet. Eine weibliche Autorschaft erkannte er durchaus an und wirkte an der Sichtbarmachung der Autorinnen mit. Ihre Schriften verstand Geiger jedoch, zumindest bei den beiden Autorinnen Schlegel und Lewald, als eine Literatur, die zu unterhalten hatte – es war keine Hochliteratur wie diejenige der »Dichter«.

Published Online: 2023-11-29
Published in Print: 2023-11-28

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 27.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/asch-2023-2012/html
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