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Publicly Available Published by De Gruyter November 29, 2023

»Ein Bild von ihm … wird immer belehrend und erquickend bleiben. Sein Leben lehrte.« David Friedländers biographische Fragmente über Moses Mendelssohn

»A picture of him … will always remain educational and refreshing. His life was instructing.« David Friedländer’s Biographical Fragments on Moses Mendelssohn
  • Uta Lohmann

    https://www.igdj-hh.de/igdj/team/dr-ut

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From the journal Aschkenas

Abstract

A few years after Moses Mendelssohn’s death (1786) David Friedländer wrote life-history descriptions in which he took a fragmentary look at Mendelssohn’s personality and emphasized that he had succeeded in approaching moral perfection as a human being and as a merchant to a high degree. With the virtuous perfection pattern Moses Mendelssohn (Vollkommenheitsmuster Moses Mendelssohn) designed by him, Friedländer initially pursued two intentions: on the one hand, he established a modern Jewish educational ideal, and on the other hand, his image of Mendelssohn served him to combat prejudice among non-Jews. Three decades later, Friedländer published further biographical fragments about Mendelssohn, this time appearing in a distinctly educational context, and again presenting Mendelssohn as an educational ideal. The article analyzes Friedländer’s ›Platonic‹ mode of presenting Mendelssohn and questions the significance of his parallelization of Mendelssohn with Socrates. In addition, it examines Friedländer’s choice of the fragment as a descriptive category and form of biographical representation, with which he functionalizes Mendelssohn for his pedagogical aims.

In den ersten Jahren nach dem Tod des jüdischen Aufklärers, Kaufmanns und Philosophen Moses Mendelssohn im Januar 1786 entstanden zahlreiche Nachrufe und Biographien jüdischer und nichtjüdischer Autoren.[1] Auf eine ihm eigene Art trug auch David Friedländer (1750–1834) zu dieser Erinnerungsliteratur bei. Seine Mendelssohn gewidmeten Texte sind als biographische Erinnerungsfragmente gestaltet, die bruchstückhaft Einblicke in dessen Persönlichkeit und Handlungsweise geben. Auch wenn Friedländer dazu aufgefordert wurde, distanzierte er sich zeitlebens von der Idee, eine umfassende Biographie Mendelssohns zu verfassen.[2] Er sah sich vielmehr in der Rolle eines Vermittlers von Mendelssohns Ideen und war bemüht, seine Person für eigene Bildungszwecke fruchtbar zu machen. So trug er maßgeblich dazu bei, das Bild Mendelssohns als vollkommene moralische Persönlichkeit zu formen. Ein hervorstechendes Merkmal seines lebensgeschichtlichen Erzählens ist die Parallele zwischen Mendelssohn und Sokrates,[3] die er zwar nicht allein initiierte, aber durch Wiederholungen stabilisierte. Wie sich zeigen wird, übertrug Friedländer durch seine biographischen Fragmente eine pädagogische, zukunftsweisende Funktion auf das von ihm gestaltete Bild Mendelssohns.

Adressaten, Kontexte und Intention der frühen Biographie-Fragmente

Seine »Briefe über die Moral des Handels«, die 1790 im »Lesebuch für alle Stände« erschienen,[4] adressierte Friedländer an seinen Neffen Samuel Friedländer (1764–1828), den ältesten Sohn seines Bruders Wulff in Königsberg. Ende 1782 gehörte dieser zu den Gründern der Königsberger Gesellschaft hebräischer Literaturfreunde (חברת דורשי לשון עבר), die 1787 in Berlin unter dem Namen Gesellschaft der Beförderer des Edlen und Guten (חברת שוחרי הטוב והתושיה) eine Tochtergesellschaft einrichtete.[5] Die Mitglieder dieser jüdischen Aufklärungsvereine waren Friedländers direkte Adressaten. In seinem einleitenden Schreiben an Johann Friedrich Zöllner, den Herausgeber des »Lesebuchs für alle Stände«, das den programmatischen Untertitel »Zur Beförderung edler Grundsätze, ächten Geschmacks und nützlicher Kenntnisse« führte, benennt Friedländer außerdem einen wesentlich weiter gefassten Adressatenkreis. Er spricht von einer »dritte[n] Classe«, einem »Mittelschlag von Menschen«,[6] der sich keineswegs auf ein bestimmtes Religionsbekenntnis reduzieren lasse und prozentual den größten Anteil aller Juden und Christen ausmache. Diese große, überregionale und überkonfessionelle Gruppe möchte Friedländer zur Stärkung ihrer Moralität anleiten. Er wählte die Zeitschrift also zielorientiert als Publikationsort, da die Kaufleute eine besondere Adressatengruppe des »Lesebuchs für alle Stände« bildeten. Er platzierte seine »Briefe« als Gegendarstellung zu früheren Beiträgen des Periodikums, in denen jüdische Kaufleute mit antijüdischen Ressentiments geschildert wurden.

Am 9. Januar 1791 hielt Friedländer einen Vortrag vor der Gesellschaft der Beförderer des Edlen und Guten im Rahmen »eine[r] außerordentliche[n] öffentliche[n] Session«, die Mendelssohn anlässlich seines fünften Todestages gewidmet worden war.[7] Neben Friedländer trugen vier weitere Maskilim zu unterschiedlichen Themen vor, darunter Marcus Herz (1747–1803) über »den Charakter des Sokrates aus Mendelssohns Phädon«, wobei auch er »auf die Aehnlichkeit in den Charakteren des griechischen und jüdischen Philosophen aufmerksam« machte.[8] Friedländers Vortrag wurde unter dem Titel »Vorlesung bey der erneuten Todesfeyer Mendelssohns« sowohl einzeln als auch als Artikel in der »Deutschen Monatsschrift« veröffentlicht.[9] Zur Programmatik dieses Periodikums zählte eine allgemeine »Menschenbesserung« sowie der Wunsch, »jedem verdienten Deutschen, und noch mehr, jedem verdienten Mann unsers nähern Vaterlandes, in unsrer Monatsschrift ein Denkmal setzen zu können«.[10] Friedländers »Vorlesung« passte insofern zum Programm der Zeitschrift, als er Mendelssohn ein in der literarischen Öffentlichkeit weithin wahrnehmbares »Denkmal« setzte.

Dass er für die »Vorlesung« und die »Briefe über die Moral« das »Lesebuch für alle Stände« und die »Deutsche Monatsschrift« wählte, dürfte neben der populären Ausrichtung dieser Periodika vor allem in deren weiten Adressatenkreisen begründet sein. Ihnen erbrachte Friedländer mit seiner Beschreibung Mendelssohns insbesondere den Erweis, dass »jeder Mensch, auch der unbedeutendste Judenknabe«, die Fähigkeit besitze, »sich zum aufgeklärtesten und kultivirtesten Bürger, zum Lehrer und zum Muster seiner Nebenmenschen« zu entwickeln.[11] Mit dem von ihm entworfenen tugendhaften Vollkommenheitsmuster Moses Mendelssohn verfolgte Friedländer damit zwei Intentionen: Zum einen etablierte er ein modernes jüdisches Bildungsideal als Alternative zum traditionellen Ideal des Talmudgelehrten. Zum anderen diente ihm das Vollkommenheitsmuster Moses Mendelssohn zur Vorurteilsbekämpfung unter den Nichtjuden. Damit verdeutlichte Friedländer seine eigenen Interessen im Hinblick auf Mendelssohns Biographie, anhand seiner Persönlichkeit gestalterisch auf die zukünftige Bildung der Juden (und Jüdinnen) einzuwirken.

Friedländers frühe biographische Fragmente. Tugendhaftes Vollkommenheitsmuster Mendelssohn

In seinen »Briefen über die Moral des Handels« widmete sich Friedländer dem Thema sittlicher Bildung. Er hob die Bedeutung von Erziehung und tugendhaftem Vorbild für die Ausbildung moralischer Grundsätze und guter Gesinnungen hervor. Es sei Aufgabe der Erzieher, »ein allgemeines Ideal der höchstmöglichen Vollkommenheit zum Muster« aufzustellen.[12] Friedländer gelangte zu dem bildungstheoretisch bedeutsamen Schluss, dass alle Menschen über ein nicht generell definierbares moralisches Potential verfügten. Wer könne es wagen, »die moralische Höhe zu bestimmen, die der Mensch erreichen kann? Alle Steinmetzen sind freilich nicht Socratesse, alle Kaufleute nicht Mendelssohne: aber daß sie es sein können, ist doch nicht absolut – unmöglich«.[13] Wie der antike Moralphilosoph Platon seinen Lehrer Sokrates zum »Muster« stilisierte, so führte der moderne »Moralist« Friedländer seinen Lehrer Moses Mendelssohn als Vorbild ein. Friedländer sprach von einem »der besten und tugendhaftesten Männer unserer Zeit und unseres Glaubens«.[14] Dies belegend, stellte er seinen »Briefen über die Moral des Handels« das Beispiel eines Konflikts zwischen zwei Kaufleuten voran und veranschaulichte, wie der um Rat gefragte Mendelssohn in diesem »Gewissensfall im Handel« auf ›sokratische‹ Art und Weise entschied.[15]

Was in den »Briefen über die Moral des Handels« nur angedeutet ist, gestaltete Friedländer wenig später detailliert aus. In seiner »Vorlesung bey der erneuten Todesfeyer Mendelssohns« beschrieb Friedländer die Vollkommenheit aller »Eigenschaften dieses großen Mannes«.[16] Dass er über Mendelssohn sprach, legitimierte Friedländer damit, dass er »das Glück genossen« habe, »sein vieljähriger Freund und Schüler zu seyn«.[17] Er präsentierte sich als Zeuge der Handlungsweise Mendelssohns, wodurch er die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen festigte und sich als dessen Biograph auswies. In Parallele zu Platons Schriften über Sokrates, zeichnete er mit der Beschreibung Mendelssohns ein idealisiertes Bild mit gegenwärtiger und künftiger Strahlkraft: »Er ist uns noch, was er uns in seinem Leben war, was er noch spät unsern Enkeln sein wird: Muster und Vorbild«.[18] Mit der von Friedländer herausgestellten vorgelebten Moralität und Sittlichkeit Mendelssohns erhielt dieser einen Status der Einzigartigkeit: Mendelssohns Charakter sei tadel- und makellos gewesen. Im öffentlichen und privaten Leben, als Mensch, Bürger, Familienvater, Ehemann, Lehrer und Freund habe sich Mendelssohn immer »musterhaft« gezeigt, »überall gleich groß, gleich liebenswürdig«.[19] Mendelssohn erhielt in Friedländers Beschreibung klassische Züge: Seine Seele sei »griechisch schön« gebildet, er habe »[a]ttische Sitten« besessen.[20] Sein Leben sei exemplarisch, denn angesichts Mendelssohns Bildung, die von höchstem kulturellem Rang gewesen sei, könnten alle Juden »Ansprüche auf einen Platz unter den kultivirtesten Nationen, besonders in Absicht der Moralität« geltend machen.[21] Damit konstruierte Friedländer ein modernes Bildungsideal, das die griechische Klassik aktualisierte und gleichzeitig erweiterte. In der Person Mendelssohns lieferte er ein analoges jüdisches Modell.

Adressaten, Kontexte und Intention der späten Biographie-Fragmente

Fast dreißig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung erschienen die »Briefe über die Moral des Handels« 1817 erneut, sowohl als Sonderdruck als auch in der Zeitschrift »Jedidja«. Dieses von Jeremias Heinemann (1778–1855) herausgegebene »religiöse, moralische und pädagogische« Periodikum war mehr als drei Jahrzehnte nach Mendelssohns Tod auch der Veröffentlichungsort weiterer biographischer Texte David Friedländers. Die Zeitschrift bot unter der Rubrik »Allgemeine Menschenbildung« eine Vielzahl an religiösen und allgemeinbildenden Themen: Religion und Moral, Pädagogik, Ästhetik, Poetik und Rhetorik, Literatur und Geschichte, Kritik wissenschaftlicher Werke sowie Berichte und Nachrichten aus aller Welt. Unter dieser Rubrik wurden auch Friedländers biographische Mendelssohn-Fragmente publiziert. Jeremias Heinemann nutzte »Jedidja« aber vor allem zur Veröffentlichung der Schulprogrammschriften seiner Lehranstalten für jüdische Knaben und für jüdische Mädchen, die er 1816 und 1818 eröffnete. Friedländers Mendelssohn-Biographien standen also in einem ausgeprägt erzieherischen Kontext und adressierten zunächst das Lehrpersonal der Schulen, aber auch die Schüler selbst.[22] Mit Blick auf die Subskribentenlisten der Zeitschrift lässt sich außerdem ein beträchtlicher lokaler und überregionaler Adressatenkreis feststellen. Neben namhaften Persönlichkeiten aus Kirche, Politik und Kultur richtete sich »Jedidja« hauptsächlich an eine reformorientierte, gebildete jüdische Leserschaft und verfolgte dabei den Wunsch, die Werte der Aufklärung am Leben zu erhalten und sie einer von zunehmender Intoleranz und ideologischer Verklärung geprägten Zeit entgegenzuhalten. Dazu diente auch das idealisierte Bild Moses Mendelssohns. Wie Friedländer an Heinemann schreibt, teile er mit ihm das Verlangen, »alles, was sich von unsrem weisen Mendelssohn noch auffinden läßt, zu sammeln und in Ihre Zeitschrift niederzulegen«.[23] Seine Textsammlung möchte er vorrangig »zur Kenntniß der heranwachsenden israelitischen Jugend« bringen, wobei er sich vor allem an diejenigen Schüler richtet, »deren Beruf und Bestimmung seyn soll, sich selbst auszubilden, und dadurch sich zu Erziehern der Jugend und Volkslehrer geschickt zu machen«.[24] Ihnen soll Mendelssohns Lebensbild Anleitung zur Gestaltung ihres eigenen künftigen Lebens sein; Friedländer führt vor Augen in welcher Hinsicht:

Wahl der Materie, Schönheit der Sprache, Richtigkeit des Ausdrucks, vorzüglich aber Frömmigkeit der Gesinnungen und jene nachahmungswürdige Bescheidenheit, die aus allen seinen Vorträgen, wie der Geruch der Veilchen sich sanft verbreitet. Nirgends anmaßender Ton; immer will er nur mit uns lernen, mit uns forschen, mit uns denken; niemals seine Ansicht ohne Gründe, auf Authorität aufdringen, als Lehrer, seine Meinung geltend machen.[25]

Späte Biographie-Fragmente. ›Platonische‹ Erinnerung an Mendelssohns sokratische Gesprächskultur

1818 erschienen in der »Jedidja« drei Erinnerungsfragmente unter der Überschrift »Unterhaltung mit Mendelssohn, aus der Erinnerung niedergeschrieben«,[26] eingebettet in sechs weitere Texte von und über Mendelssohn. Das erste Fragment beginnt mit einer anthropologischen Betrachtung und verfolgt die Frage nach dem richtigen Umgang mit Vorurteilen. Im Zentrum dieses Textes, in dem weder Mendelssohn noch andere Personen genannt werden, steht das Bibelstudium und die Einzigartigkeit der Lehren des Judentums. Nur aus dem Verfassernamen und dem Titel geht hervor, dass Friedländer (vorgeblich) Mendelssohns Gedanken referiert, sich zu seinem Sprachrohr macht.

Die beiden folgenden biographischen Mendelssohn-Erinnerungen gehören thematisch zusammen und bilden den Kern der Textsammlung. Anders als im ersten Fragment erscheint Friedländer dem Lesepublikum ausdrücklich als Augenzeuge der Begebenheiten, womit er sich als legitimer Biograph Mendelssohns präsentiert. Am Anfang des zweiten Erinnerungsfragments »Ueber Mendelssohn, seinen Charakter, seinen Wirkungskreis und seine Verdienste um die Israeliten« greift der Autor wieder das Bild Mendelssohns als Sittlichkeitsmuster auf und spricht von seinem »fleckenlosen Charakter«.[27] Noch deutlicher als in seinen frühen Texten stellt er eine ideelle Verbindung zwischen Mendelssohn und Sokrates her und knüpft damit an Marcus Herz’ Vortrag von 1791 an. Wie Mendelssohn im »Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele« Sokrates’ Charakter beschrieb, so beschreibt Friedländer Mendelssohns Charakter als auf platonische Weise vorbildlich: »Ein Bild von ihm […] wird immer belehrend und erquickend bleiben. Sein Leben lehrte«.[28] Fragmentarisch bleibt seine biographische Darstellung, denn ausdrücklich macht er nicht zum Thema, womit Mendelssohn »äußerlich in der großen Welt geglänzt; was er, als deutscher Schriftsteller, als Mitbildner der Literatur, als Schöpfer der wahren Kritik geleistet« habe.[29] Friedländer möchte vielmehr erörtern, »[w]ie und wie viel« Mendelssohn auf die Juden wirkte und was ihm aus ihrer Sicht zu verdanken sei.[30] Diese Leistung sei vor allem in einer von Mendelssohn veranlassten »Umwälzung der Ideen« zu sehen, denn diese seien »das Hauptwerkzeug des moralischen Erwachens der Israeliten« gewesen.[31] Dass er über Mendelssohns Einzigartigkeit und den »Edelmuthe seines Wandels« urteilen könne, legitimierte Friedländer erneut mit seiner Zeitzeugenschaft.[32] Er sprach aus der Perspektive der »wenigen Eingeweiheten«,[33] mit der er rechtfertigte, über Mendelssohns »ächte Religiosität«,[34] über seine tiefen Emotionen und über seine Handlungsweise zu berichten.[35] In den Schluss des Textes lässt er nochmals einfließen, Schüler eines »unvergeßlichen« Lehrers und Freundes gewesen zu sein, »der seinen Umgang funfzehn volle Jahre fast täglich genossen« habe.[36] Mit dieser Aussage suggeriert Friedländer seinem Publikum eine Authentizität seiner Augenzeugenschaft, die zugleich eine autobiographische Dimension erhält: Als Zeuge spricht Friedländer indirekt auch von sich selbst und verknüpft mit seinen bewusst auswählend-fragmentarisch gestalteten biographischen Erinnerungen seine eigenen Interessen an der Bildung der künftigen jüdischen Generationen.

Das Schüler-Freundschaft-Thema diente Friedländer nicht nur zur Legitimation seines biographischen Schreibens, sondern auch als Überleitung zu dem sich direkt anschließenden dritten Fragment, das wieder unter der Überschrift »Unterhaltung mit Mendelssohn, aus der Erinnerung nieder geschrieben« erschien.[37] Zentral ist nun nicht mehr die platonische Charakterisierung Mendelssohns, sondern die Darstellung seiner sokratischen Lehrweise, womit er nun als idealer Lehrer gezeichnet wird. Zunächst geht Friedländer darauf ein, dass Mendelssohn zwar »Schüler, im gewöhnlichen Sinn des Worts« nicht gehabt habe. Dennoch seien insbesondere an den Sabbatabenden und an Feiertagen »junge Männer von seinen Religionsgenossen zu ihm ins Haus« gekommen, »mit der bestimmten Absicht, sich zu bilden und zu belehren. Auch ältere Freunde und verheiratete junge Männer« seien anwesend gewesen.[38] Daher sei es gerechtfertigt, zu behaupten, dass »er eine Menge Schüler hatte«.[39] Für alle sei die Unterhaltung mit Mendelssohn »angenehm, anziehend und lehrreich« gewesen, wie »überhaupt die mündliche Belehrung eines hochsittlichen Weisen von der kalten Buchgelehrsamkeit, die man in einsamer Kammer erwirbt«, ganz verschieden sei.[40] Mit dieser Aussage knüpfte Friedländer an Mendelssohns eigene Kritik am Lernen ausschließlich anhand von Büchern an, analog zu Platons skeptischer Haltung gegenüber Geschriebenem,[41] und gab der mündlichen Unterweisung einen deutlichen Vorzug.[42] Mendelssohn habe es besonders gerne gesehen, wenn er sich mit jungen jüdischen Privatlehrern über »Erziehungs- und Bildungsanstalten« sowie über »Verbesserung des Unterrichts und Empfehlung der deutschen Muttersprache« austauschen konnte.[43] Diese Gesprächssituationen in Mendelssohns Haus in Erinnerung rufend, gibt Friedländer anschließend nähere Auskunft über dessen mündliche Lehrweise. Dabei hebt er typische Merkmale sokratischer Dialoge hervor, wie etwa das undogmatische Entwickeln der Gesprächsthemen ohne vorherbestimmte inhaltliche Vorgaben; Schlussfolgerungen seien wie zum Selbstzweck (scheinbar) ohne vorher festgelegte Absicht aus sich selbst heraus entstanden. Dieses Gesprächskonzept leitet Friedländer von Mendelssohns dialogischer Schrift »Phädon« ab, für die Platons sokratischer Dialog »Phaidon« als Vorlage diente, der von Mendelssohn aber zeitgemäß aktualisiert wurde.

Mit »Phädon« legte Mendelssohn nicht nur ein popularphilosophisches Werk vor, mit dem er Beweise für grundlegende religiöse Prinzipien lieferte, sondern er präsentierte damit auch ein gelungenes Beispiel für Erkenntnisprozesse, die aus Rede und Gegenrede und einer beständigen Infragestellung des Gesagten entstehen. Dieser pädagogischen Zielsetzung wegen sah Friedländer, der sich seit seiner Mitgründung der Berliner jüdischen Freischule (1778) intensiv mit Erziehungsfragen auseinandersetzte, in Mendelssohns Werk ein Lehrbuch. Es zeichnete sich dadurch aus, dass es die dialogisch entfalteten Gedanken und Einstellungsveränderungen der Gesprächsteilnehmer epistemologisch nachvollziehbar machte.[44] Friedländers Beschreibung der zurückhaltenden Gesprächsführung Mendelssohns gleicht auf frappierende Weise der von Platon überlieferten sokratischen Methode des Erkenntnisgewinns: Mendelssohn habe wie kaum ein anderer »die Kunst, ein Gespräch zu leiten«, beherrscht. Zwar forderte er zum Diskutieren auf, sei aber nur selten »mit entscheidendem Urtheil« selbst dazwischengetreten:[45]

Oft befeuerte er den entflohenen Muth durch ein plötzliches Aufsehen oder durch einen einsilbigen Aufruf, oft belohnte er durch lächelnden Beifall. – Ein schnelles Niedersehen, ein verneinendes Kopfschütteln galt, ohne ein lautes Wort für bedeutenden Tadel. – Wenn dieses nicht wirkte, wenn der Gegner auf wohlgegründete Einwürfe sich nicht ergab; wenn lauteres Sprechen entscheidend werden wollte; oder wenn endlich Reden und Gegenreden sich durchkreuzten, verwirrten, in Dunkelheiten sich verloren: so stand er wohl von seinem Sitze auf, trat in die Mitte der Streitenden, und schien liebreich um Gehör zu bitten. – Dann erfolgte ein ehrerbietiges Stillschweigen. – Nun nahm er den Faden des Gesprächs auf, entwickelte die Streitfrage, stellte Satz und Gegensatz mit einer ihm eigenthümlichen Klarheit und Kürze gegen einander, und ließ die Streitenden die Vergleichungspunkte selbst finden, ohne des einen oder andern Parthei geradezu zu nehmen.[46]

Wie von Platons Sokrates-Überlieferungen, so kann auch von Friedländers Beschreibung gesagt werden, dass sie »nicht nur die Erwartung und Hochschätzung erkennen« lässt, die Mendelssohn »von seinen Freunden entgegengebracht wird«.[47] In dieser Passage wird zudem »die Wirkung beschrieben und analysiert, welche seine außergewöhnliche Persönlichkeit auf seine Freunde ausübt«.[48]

Weiterhin geht Friedländer auf die Methode ein, mit der Mendelssohn zum Nachdenken anregte und neue Erkenntnisse aus den Gesprächspartnern hervorzurufen wusste. Dabei stilisiert er den Philosophen zu einer leitenden Figur, einem »Meister«. In seiner Erinnerung steuert Mendelssohn auf nahezu unmerkliche Weise die Gesprächsverläufe zwischen seinen Schülern und Freunden. Er gibt Hilfestellung bei der Entwicklung ihrer eigenen Ideen und Vorstellungen, wodurch Gedankengänge und Handlungsweisen nachvollziehbar werden, sich aber auch als veränderbar und damit als undogmatisch erweisen. Auf dieselbe Weise unterstützte Sokrates in der Beschreibung Platons seine jungen Gesprächspartner dabei, durch Fragen eigene Thesen zu entwickeln und sie im Gespräch nach ihrer Schlüssigkeit zu überprüfen. Es ging dabei nicht um Resultate oder die Präsentation von Wissen, sondern um das Aufzeigen von Argumentationsstrategien und Fragetechniken, die geeignet waren, Scheinwissen zu hinterfragen und sich so der Erkenntnis tieferer Wahrheit anzunähern. Dass Friedländer in der Beschreibung Mendelssohns daran anknüpft, ist unverkennbar. Diese narrative Ausrichtung zielte auf eine künftig im Bildungsprozess zu wählende Unterweisungsmethode, mit der Lernende befähigt werden sollten, tradiertes Wissen kritisch zu hinterfragen und selbstreflexiv zu korrigieren.

Im dritten Erinnerungsfragment malt Friedländer das Bild seines Meisters der dialogischen Unterweisung nicht nur detailliert aus, sondern berichtet auch von Mendelssohns Reflexionen über eine in seinem Haus geführte Kontroverse. Der von Friedländer beschriebene Disput über die Auslegungsweise der Schöpfungsgeschichte fand zwischen einem jüngeren und einem älteren jüdischen Aufklärer statt. Letzterer habe »den Vortheil der größern talmudischen Gelehrsamkeit« besessen, der erste »übertraf seinen Gegner an Fertigkeit des Ausdrucks und an Gewandtheit der Dialektik«.[49] Friedländer zufolge äußerte sich Mendelssohn über die Auseinandersetzung in einer vorgeblich exklusiv mit ihm geführten Unterredung.[50] Die von Friedländer hervorgehobene Nähe legitimiert diesen erneut als Biographen seines Freundes. Bei den nun folgenden Reflexionen ist allerdings nicht mehr deutlich, ob es sich um Überlegungen Mendelssohns oder Friedländers handelt. Vielmehr scheinen hier Gedanken des letzteren in die biographische Erzählung eingeflochten zu sein. Im Augenblick des Erzählens über den vergangenen »Streit« wurde Friedländer dazu veranlasst, die Unterhaltung »als eine ununterbrochene Rede des Weltweisen« mitzuteilen,[51] die er aber dazu verwendete, seine eigenen Interessen hervorzuheben und für die Zukunft nutzbar zu machen. Inhaltlich knüpft dieses vertraute Gespräch »unter vier Augen« an Friedländers erstes Erinnerungsfragment an.[52] Es geht um die Aufklärung von Vorurteilen, um die richtige Vorgehensweise, Andersdenkenden zu begegnen, um die Wichtigkeit, Gemeinsamkeiten hervorzuheben, um Gründe für die Schriftlichkeitskritik, um die notwendig sinnliche und menschliche Ausdrucksweise Gottes in den heiligen Schriften,[53] um die »Unzulänglichkeit der Sprache, die sich auf die Eingeschränktheit unsres Verstandes gründet«,[54] um Dinge, die außerhalb des Denkvermögens liegen und daher in keine »anschauliche[n] Begriffe« gefasst werden können,[55] um biblische »Bildschrift« und die Namen Gottes, die für die »Einbildungskraft« oder den »Verstand« gewählt worden seien.[56] Schließlich endet Friedländer mit Mendelssohns (oder seiner eigenen?) Schlussfolgerung, dass »der Streit über Verschiedenheiten […], wenn man sich gehörig verständigt, ein bloßer Wortstreit wird: in der Sache selbst ist man sich einig«.[57]

Fazit. Der platonische Friedländer und seine biographischen Erinnerungsfragmente

Der Charakter des platonischen Sokrates und die Merkmale seiner Gesprächsführung weisen deutliche Parallelen mit dem Friedländer’schen Mendelssohn auf. Beide fungieren mit ihren tugendhaften Eigenschaften als sittliche Vorbilder für die Jugend. Sowohl der antike griechische als auch der moderne jüdische Philosoph scharen einen Kreis von lernbegierigen Freunden um sich. In den Gesprächen herrscht sowohl bei Platons Sokrates als auch bei Friedländers Mendelssohn die Skepsis gegenüber Scheinwissen vor, jedoch ohne dass sie von Platon und Friedländer als dogmatisch dargestellt werden. Vielmehr werden sie so beschrieben, dass sie ihr eigenes Urteil zurückhalten und auf eine belehrende Haltung verzichten. Für die Neubegründung von Erkenntnissen ist ihnen, laut der Biographen, der Zweifel an scheinbar gesichertem Wissen eine grundlegende Methode, wobei sie selbst nicht behaupten, im Besitz des wahren Wissens zu sein. Vielmehr sind sie bemüht, im Gespräch mit ihren Schülern zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Diese Analogien machen deutlich, dass Friedländer in seinen fragmentarischen Beschreibungen Mendelssohns in eine platonische Rolle tritt. Er selbst wird sichtbar, etwa wenn er davor warnt, Geschriebenes zu wörtlich auszulegen, »weil uns dieser Mißgriff zu den ärgsten Irrthümern verleiten würde«.[58] Auch wenn von Mendelssohns Freude über Debatten seiner »Schüler« über »Erziehungs- und Bildungsanstalten« sowie über »Verbesserung des Unterrichts und Empfehlung der deutschen Muttersprache« gesprochen wird,[59] scheint Friedländer selbst durch seine biographische Darstellung hindurch. Diese Themen entsprachen seinen eigenen Interessen als Schulgründer, als jüdischer Aufklärer und als Reformpolitiker.[60] Mit seiner gezielten Auswahl an Motiven aus Mendelssohns Leben und Persönlichkeit machte Friedländer diesen zu seinem eigenen Sprachrohr im Interesse gegenwärtiger und auf künftige Generationen wirkender Bildungsbestrebungen.

Wie Platon seinem Lehrer Sokrates mit seinen Dialogen ein dauerhaftes Denkmal setzte, so schuf auch Friedländer mit seiner Schilderung der Gespräche mit Mendelssohn eine bleibende, rezeptionssteuernde Erinnerung. In seiner Begrifflichkeit war es ein »Bild«, das er von Mendelssohn malte. Mit seiner Bezeichnung der makellosen Sitten Mendelssohns als »attisch« wurde sein Bild zu einem antiken Bildnis, das wie die Überreste der griechischen Kunstwerke auch in ihrer bruchstückhaften Überlieferung den Betrachter ihre Vollkommenheit erkennen lassen. Friedländers Wahl des biographischen Fragments als Beschreibungskategorie und Darstellungsform entsprach zum einen seinem ästhetischen Empfinden.[61] Das Fragmentarische gab ihm zum anderen aber auch die Möglichkeit, Mendelssohn auf eine Stufe mit denjenigen Texten der jüdischen Antike zu erheben, denen er sich in Übersetzungen widmete: den Schriften der Hebräischen Bibel. Die »Beschäftigung mit diesen ehrwürdigen Denkmählern«, wie Friedländer sie bezeichnete,[62] erregte bei ihm ähnliche Emotionen wie die Vergegenwärtigung Mendelssohns – »der Eindruck der Originale« sei »von ungewöhnlicher Wirkung« und müsse stärker sein, »als ihn irgend ein andres Werk der Redekunst hervor zu bringen« vermöge.[63] Friedländer sprach von seinem »unwillkürlichen Ausbruch der Empfindungen bey der lebhaften Erinnerung eines dankbaren Schülers an einen unvergeßlichen Lehrer und Freund«.[64] Auch einige der biblischen, »aus dem Meere der Zeit geretteten Meisterwerke« übersetzte Friedländer nur fragmentarisch,[65] sich dessen bewusst, dass sie auch als Bruchstücke den Wert eines ästhetisch vollkommenen Kunstwerks behielten. Hier wird die Bedeutung deutlich, die Friedländer der Gestaltung biographischer Fragmente beimaß: Von allem anderen Beiwerk befreit, erstrahlt der Biographierte wie ein Kunstwerk in seiner vollen sittlich-moralischen Schönheit und wird in dieser unverdeckt zum Vorbild geformt.

Die fragmentarische Gestalt – sei es die der antiken »Dichtkunst« oder die des Ethos Mendelssohns – veranlasst durch ihre Offenheit und Unabgeschlossenheit zum Nachdenken und weist damit über den Horizont der Vergangenheit und der Gegenwart hinaus. Denn gerade, weil Friedländers Mendelssohn-Biographien nicht alles enthalten, sind sie nicht selbstgenügsam. Sie regen vielmehr zur Reflexion an, was gerade im schulischen Kontext der Fragmente von besonderer Bedeutung ist, sollten die Schüler doch zum Selbstdenken und Vernunftgebrauch erzogen werden. Mit den pädagogischen Ambitionen verknüpft ist auch Friedländers Darstellung von Mendelssohns sokratischer Methode der Kenntnisvermittlung bzw. seiner sokratischen Weise, das Denkvermögen seiner »Schüler« zu aktivieren, damit sie das Wissen aus sich heraus generieren können. Mit seiner Präferenz der dialogischen Unterrichtsgestaltung zielte Friedländer hauptsächlich auf die Lehrer unter seinen Adressaten. Sein Interesse an den gegenwärtigen Erziehungsfragen bestimmte die inhaltliche Auswahl seiner biographischen Darstellungen. Dies führte sowohl zum Vergleich zwischen Mendelssohn und Sokrates als auch zur Wahl des Fragments als Genre der Lebensbeschreibung. Friedländers biographische Erinnerungsfragmente zentrierten sich um die Darstellung einer historischen Leitfigur im Kontext pädagogischer Zielsetzungen: Moses Mendelssohn, interpretiert als Bildungsideal und Identifikationsmodell für die heranwachsende jüdische Jugend. So erhielt der Philosoph durch seinen Biographen eine didaktisch-exemplarische Funktion im Kontext der Erziehungsanstalten Jeremias Heinemanns, nachdem ihn Friedländer schon in seinen frühen Schriften zum Träger aufklärerischer Bildungsideologie stilisiert hatte.

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Uta Lohmann

https://www.igdj-hh.de/igdj/team/dr-ut

Published Online: 2023-11-29
Published in Print: 2023-11-28

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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