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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter May 12, 2023

Zur Einleitung: Fraktalität und die Dynamik jüdischer Lebensformen im Süden des Alten Reichs im 17. und 18. Jahrhundert

Fractality and the Dynamics of Jewish Existence in the Southern Parts of the Holy Roman Empire during the Seventeenth and Eighteenth Centuries
  • Michaela Schmölz-Häberlein EMAIL logo and Sabine Ullmann EMAIL logo
From the journal Aschkenas

Im Jahre 1782 wandte sich die Jüdin Scheffala Ellinger (PID 17454)[1] aus Hirschaid an den Bamberger Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal mit der Bitte, ihren siebenjährigen Sohn (PID 17372), der von ihrem geschiedenen Mann Bonum Moses Feist (PID 17284) entführt worden war, um ihn taufen zu lassen, wieder in ihre Obhut zu geben. Der Sohn sei von seinem Vater aus der Kost in Hirschaid geholt worden, um ihn in der »christkatholischen glaubens lehre«« unterrichten zu lassen. Sie bat Erthal um Unterstützung, ihren Sohn zurückzuerhalten und argumentierte, dass sie diesen »mit meinen sauren Verdienst« und Unterstützung ihrer vermögenden Verwandtschaft in Baiersdorf, Fürth und Regensburg sowie an weiteren Ortschaften im Markgraftum Ansbach »in Kost und Kleydung unterhalten« habe. Der Vater des Jungen habe sich entschlossen, zur »verhaltung ferneren müssigen unterhaltes« zu konvertieren. Bislang habe er »blatterdings in sündhafften müssiggang zum abscheu seiner freunde die tage hiengebracht«. Scheffala thematisierte in ihrer Supplik sowohl das ihr zugefügte Unrecht sowie das Verhalten ihres geschiedenen Mannes. Gleichzeitig warnte sie die christliche Obrigkeit vor dessen Absichten und unterstellte ihm einen »lediglichen brodglauben«.[2] Auch wenn Scheffala das Interesse des Fürstbischofs an der Konversion des Kindes bewusst war, argumentierte sie mit den falschen Absichten des Kindsvaters. Sie betonte hingegen ihren guten Leumund und verwies auf die Familienangehörigen, die in die Erziehung des Kindes involviert waren. Damit bringt sie zugleich die Interessen weiterer Obrigkeiten ins Spiel.

Angesprochen werden hier neben der religiösen Grenzüberschreitung der Taufe und den damit verbundenen innerfamiliären Konflikten die über verschiedene Orte und Schutzherrschaften verteilten verwandtschaftlichen Netzwerke sowie die unterschiedlichen obrigkeitlichen Zugehörigkeiten, die das jüdische Leben im Alten Reich definierten. Der Ort Hirschaid, wo mehrere Obrigkeiten und Institutionen Rechte ausübten, gehörte zum Herrschaftsgebiet des Fürstbischofs von Bamberg, unter dessen Schutz die Jüdin Scheffala stand, während die Familienangehörigen der Frau sich weiträumig auf dem Gebiet des Markgraftum Ansbach verteilten. Die Verwandten in Regensburg nahmen zusätzlich eine Sonderstellung ein. Ihre Anwesenheit war an die Funktion der Grafen von Pappenheim als Reichserbmarschälle beim Immerwährenden Reichstag gebunden. Daraus konnten die Grafen ein Privileg ableiten, mit dem sie Schutzjuden in der Stadt Regensburg ansiedelten, um die Versorgung des Reichstags zu gewährleisten – obwohl die jüdische Gemeinde 1519 vertrieben worden war.[3]

Die Supplik zeigt exemplarisch die für die jüdische Siedlungsweise im Alten Reich hohe Relevanz der territorialen Kleinkammerung sowie der Vielschichtigkeit obrigkeitlicher Verhältnisse, auf die in den Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte in den letzten Jahrzehnten vielfach verwiesen wurde.[4] Die jüdischen Gemeinden verteilten sich im frühneuzeitlichen Reich keineswegs gleichmäßig, sondern konzentrierten sich in bestimmten Kernregionen: beispielsweise im Elsass und im Oberrheingebiet, in der Pfalz, im fränkischen Raum, im bayerischen Schwaben, in Teilen des heutigen Württemberg, auf dem Gebiet des heutigen Bundeslands Hessen sowie in Thüringen. Diese bevorzugten Siedlungsregionen wiesen signifikante gemeinsame Strukturmerkmale auf. Meist handelte es sich um Herrschaftsgebiete, die vergleichsweise kleinräumig oder nicht räumlich geschlossen waren und in denen sich Regierungs- und Verwaltungsstrukturen durch eine hohe Komplexität auf verschiedenen Herrschaftsebenen auszeichneten. Diejenigen Herrschaftsträger, die Juden bevorzugt Schutz gewährten, mussten daher oft ihren Anspruch auf territoriale Hoheit mit benachbarten Konkurrenten teilen bzw. gegenüber diesen durchsetzen. Zugleich bedingte das Zusammentreffen konkurrierender Herrschaftsansprüche ein besonders dynamisches Handeln der politischen Akteure. Konflikte um territoriale Souveränitätsansprüche sind daher gerade hier ein häufig anzutreffendes Phänomen.[5] Die territoriale Kleinkammerung evozierte auch eine gemischtkonfessionelle Struktur dieser historischen Landschaften. Die Konfessionalisierung führte hier nicht zu homogenen Konfessionsstaaten, sondern vielmehr zu grenzübergreifenden bi- und trikonfessionellen Räumen, die als Erfahrungs- und Konflikträume von fremdkonfessioneller Nachbarschaft zu begreifen sind. Neben territorialen Grenzen beeinflussten daher vielfache konfessionelle Grenzziehungen die alltäglichen Interaktionen. Die Klärung und Vergewisserung der eigenen konfessionellen Identität erfolgte vor dem Hintergrund der stets präsenten Alterität.[6] Wenn Formen religiöser bzw. konfessioneller Koexistenz eher den Normalfall der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit darstellten als die Ausnahme,[7] so trifft dies insbesondere auf die jüdischen Siedlungsräume zu.

In einem von der DFG von 2020 bis 2023 geförderten Projekt zu ›Fraktalität und Dynamiken jüdischer Lebensformen im Süden des Alten Reichs im 17. und 18. Jahrhundert‹[8] wurden diese Befunde zu den Siedlungsräumen jüdischer Gemeinden zum Ausgangspunkt genommen, um gezielt nach den Zusammenhängen und Wechselwirkungen von jüdischen Siedlungen und nichtjüdischen Herrschaftsstrukturen im frühneuzeitlichen Reich zu fragen. Dazu wurde auf die von Christophe Duhamelle und Falk Bretschneider entwickelten Ansätze zur Beschreibung der politischen Struktur des Alten Reiches über den Begriff des ›Fraktals‹ zurückgegriffen. Sie verweisen zum besseren Verständnis des Heiligen Römischen Reichs auf dessen diverse nicht abgeschlossenen Staatlichkeiten[9] und die hier institutionalisierten multipolaren Netzwerke, die dem Einzelnen einen weiten Spielraum an vielfältigen Möglichkeiten für sein Handeln eröffneten.[10] Zugleich werden zentrale Merkmale von fraktalen Gebilden für das Reich aufgezeigt: Diese sind Selbstähnlichkeit (d. h. die einzelnen Teile gleichen dem Ganzen), Strukturanalogie (d. h. alle Teile sind über verschiedene Ebenen hinweg miteinander verbunden) sowie das Fehlen eines organisierenden Mittelpunkts. Für die Beschreibung des Alten Reichs bietet sich die Metapher des Fraktals insofern an, als die institutionellen Formen, Strukturen und Verfahren auf den verschiedenen Ebenen des Reichs einander glichen oder zumindest ähnelten. Dies gilt etwa für die Reichs-, Kreis-, Land- und Rittertage sowie für die Reichs-, Hof-, Land-, Standes- und Territorialgerichte. Kennzeichnend ist ferner das Fehlen einer klaren hierarchischen Ordnung sowie einer zentralen Entscheidungsinstanz. Vielmehr waren hier quasi permanente »zirkuläre Interaktionen« sowie die »Fluidität zwischen allen Ebenen« entscheidende Faktoren. Daran knüpfen sie schließlich den Vorschlag an, »das Alte Reich als einen sich über mehrere Ebenen erstreckenden gemeinsamen Handlungs- und Erfahrungsraum seiner Akteure zu verstehen«.[11] Damit verbinden sie erstmals methodisch-konzeptionell »Raumgeschichte und soziales Handeln im Alten Reich« – so der programmatische Untertitel eines Aufsatzes aus dem Jahr 2016 – und eröffnen Perspektiven für eine Verbindung von strukturgeschichtlichen mit akteurs- und handlungszentrierten Vorgehensweisen.[12]

Dieser Zugriff erweitert nicht nur das Verständnis des Reiches und seiner Territorialverfassungen, sondern eröffnet auch einen vertieften Blick auf die Rahmenbedingungen jüdischen Lebens. Als weiterführend könnten sich dabei insbesondere die multiskalaren und dezentralen politischen Strukturen des Reiches erweisen und deren Relevanz für die deutsch-jüdische Geschichte. Unser Vorschlag ist daher, die vielschichtigen räumlichen und institutionellen Nutzungsmöglichkeiten innerhalb der verschiedenen nicht abgeschlossenen politischen Räume für die jüdische Bevölkerung weiter auszuloten. Zudem legt das Modell der Fraktalität die grundsätzliche Bedeutung von Grenzen in fraktalen Strukturen offen.[13] Dabei ist ›Grenze‹ im Sinne von Susan Friedman als Idee der Undurchlässigkeit wie auch der Durchlässigkeit gefasst, d. h. dass Grenzen Normen und Gesetze inkorporieren, diese aber dort auch unterlaufen, überschritten oder von ihnen abgewichen wird.[14] Über die konzeptionelle Bedeutung der ›Grenze‹ in fraktalen Strukturen lassen sich so auch systematische Überlegungen zu interreligiösen Beziehungen anstellen,[15] wie sie für die jüdisch-christliche Koexistenz im lokalen Rahmen prägend waren. Die in der Forschung viel diskutierten Fragen nach Grenzziehungen bzw. Grenzüberschreitungen im Rahmen alltäglicher Formen jüdisch-christlicher Interaktionen, wie bei Besuchen auf dem Markt, im Wirtshaus sowie bei geschäftlichen Kontakten,[16] lassen sich so weiter systematisch und differenziert behandeln. Insofern kann dieser Ansatz auch einen weiteren Baustein zu den Phänomenen interreligiöser Kooperationen bzw. Freundschaften[17] und sozialer Nachbarschaften[18] liefern, die wohl weiter verbreitet waren als man bisher in der Forschung in Betracht zog.

Mit den folgenden Beiträgen, die auf den Workshop ›Fraktale Räume und jüdisches Leben während der Frühen Neuzeit‹ im November 2021 in Hirschberg zurückgehen, werden erste Ergebnisse der drei Einzeluntersuchungen (Maximilian Grimm, Franziska Strobel und Christian Porzelt) im Rahmen des Projekts vorgestellt. Diese werden erweitert um zwei Aufsätze, die jeweils ein Phänomen aus der sozialen Praxis der alltäglichen Koexistenz beschreiben: den Umgang verschiedener religiöser Gruppen mit divergierenden Kalendersystemen (Maria Cieśla),[19] welche auch innerhalb des Reiches als ein Charakteristikum der Fraktalität von Christophe Duhamelle jüngst beschrieben wurden,[20] sowie eine jüdische Stiftungstätigkeit, die mehrere institutionelle Ebenen, Räume und Orte umfasste und dabei auch die religiöse Grenze überschritt (Michaela Schmölz-Häberlein).

Am Beitrag von Maria Cieśla wird vergleichend ersichtlich, wie die in der Frühen Neuzeit omnipräsente religiöse Grenze auch Kooperationen über dieselbe hinweg evozierte. In der konfessionell und religiös gemischten Stadt Sluzk im heutigen Belarus, damals in Polen-Litauen, wurde nach drei verschiedenen Kalendern gelebt: nach dem gregorianischen, dem julianischen und dem jüdischen. Während bisher in der Forschung v. a. die Anpassungsphänomene von Minderheiten an die Zeitrechnungen der besser gestellten Mehrheitsgruppe beschrieben wurden, zeigt sich an diesem Beispiel ein komplexer Umgang mit der Divergenz der zeitlichen Rhythmen. So wurden regelmäßig Messe- oder Markttermine mit den für die christlichen Konfessionen wie für die Juden maßgeblichen Tagen der jeweiligen religiösen Festkalender im Großfürstentum Litauen abgeglichen. An der religiösen Grenze, die sich an der unterschiedlichen Zeitrechnung manifestierte, entstanden auf diesem Weg neue Praktiken im Umgang miteinander, indem Regelungen gefunden wurden, welche die Interessen beider Seiten berücksichtigten. Gleichwohl geschah dies nicht ohne Konflikte, denn gerade der ›eigene‹ Kalender war Ausdruck der religiösen Identität und wurde daher sensibel beachtet und beansprucht. Zugleich führten die Abweichungen in der Kalenderrechnung dazu, dass die öffentlichen Räume zu unterschiedlichen Zeiten für die religiöse Praxis genutzt und ›geheiligt‹ waren. Das dadurch wiederum evozierte Aushandeln von sakralen Zeitkonflikten förderte das gegenseitige Wissen um die Verschiedenheiten der drei gültigen Kalender in der Stadt.

Die allgegenwärtige Wirkungsweise der fragmentierten, kleinräumigen Herrschaftsstrukturen und deren Zusammenhang mit jüdischen Handlungsweisen beschreibt Michaela Schmölz-Häberlein am Beispiel der jüdischen Stiftungstätigkeit, die durchaus auch überlokale sowie überregionale Dimensionen annehmen konnte und insbesondere auch Gemeinden umfassen konnte, in denen andere Familienmitglieder lebten. Die Stiftungen waren dann nicht nur Ausdruck von Ansehen und Identität, sondern ließen auch Räume entstehen, die durch familiäre Netzwerke strukturiert wurden und durch regionale Transferprozesse die fragmentierten Strukturen überwanden. Eine detaillierte biographische Rekonstruktion der Stiftungstätigkeit des Meyer Levi zeigt dabei, wie sich überregionale räumliche Zugehörigkeiten gestalten konnten. Als Angehöriger der lokalen Elite gehörte er zur Führungsschicht in seiner Gemeinde im fränkischen Zeckendorf, wo er den Schutz der Freiherren von Aufseß innehatte. Zugleich verfügte er auch als Beisitzer ohne Schutz über einen Wohnsitz im schwäbischen Pfersee vor den Toren der Reichsstadt Augsburg, was ihm die Partizipation am reichsstädtischen Markt ermöglichte. Obwohl seine Lebenswelten den fränkischen sowie den schwäbischen Raum des frühneuzeitlichen Landjudentums umfassten, konzentrierte sich seine Stiftungspraxis auf die Bamberger Landjudenschaft und damit auf den gemeindlichen Raum, der ihm Schutz gewährte.

Für die territorial-lokal vertiefenden Einzelstudien wurden drei Räume bzw. Orte gewählt, die ein möglichst breites Spektrum der Vielfalt herrschaftlicher Formen im Süden des Reiches widerspiegeln und zugleich einen typologischen Vergleich dreier strukturell verschiedener Herrschaftsräume ermöglichen sollten. Bei der Auswahl war neben inhaltlich-konzeptionellen Gründen auch die Quellenüberlieferung entscheidend, die gerade für diese Gebiete reichhaltige Archivbestände für die Beantwortung der anvisierten Fragestellungen bereithält. Mit dem Kondominatsort Fürth, der reichsritterschaftlichen Herrschaft Mitwitz und dem Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens in der Ballei Franken und im Meistertum Mergentheim sind sowohl eine geteilte lokale Herrschaft im städtischen Umfeld als auch eine kleinräumige ländliche Herrschaft und ein räumlich offener Herrschaftskomplex vertreten. Bei diesen drei räumlichen Ensembles kann man im Sinne von Bretschneider und Duhamelle von verschiedenen Formen segmentärer Territorialität sprechen, da die Untersuchungsgebiete keine klare Zentrum-Peripherie-Struktur sowie zahlreiche Phänomene der Verschränkung und Verflechtung aufweisen.[21] Daraus folgt, dass (1) alle drei Untersuchungsgebiete durch eine große Interessensheterogenität verschiedener Herrschaftsebenen gekennzeichnet waren; (2) diese um die Ausübung des Judenschutzes bzw. die Ausrichtung der Judenpolitik konkurrierten; (3) das Fehlen einer zentralen Erzwingungsgewalt Handlungsspielräume eröffnete, die auf der Basis entsprechender Netzwerke ausgefüllt wurden; und (4) die letztlich auf Kooperation und Konsens basierende Machtausübung der jeweiligen Schutzherrschaften Verhandlungspotentiale für jüdische Interessen und Belange eröffnete.

So zeigt sich im Beitrag von Maximilian Grimm für das Gebiet des Deutschen Ordens, in dem sich herrschaftliche Entscheidungsbefugnisse auf mehrere miteinander konkurrierende Machtpole verteilten, wie in die Handhabung des Judenschutzes die verschiedenen Ebenen des vielgliedrigen Herrschaftsraumes eingebunden waren. Diese von In- bzw. Exklaven geprägte räumlich-herrschaftliche Struktur[22] formte nicht nur die Praxis des Judenschutzes, sondern das daraus erwachsende komplexe Verwaltungshandeln förderte im Gegenzug auch die Hervorbringung dieser Strukturen. Gerade das ständige Anfordern, Prüfen und Erneuern der jüdischen Aufenthaltsgenehmigungen setzte die auf mehreren Ebenen angesiedelten Entscheidungsstrukturen in Gang. Diese sich kontinuierlich wiederholenden Verfahrensabläufe – die eine umfangreiche Aktenüberlieferung dokumentiert – verfestigten letztlich auch die administrativ-institutionellen Praktiken. Insofern zeigt dieses Beispiel sehr deutlich die Wechselwirkungen von Raumstrukturen und einer sozialen Praxis des Verwaltungs- bzw. Regierungshandelns.

An einer konkreten Situationsanalyse wird in der Untersuchung von Franziska Strobel ersichtlich, wie vielfältig die jüdischen Akteure innerhalb der mehrstufigen politischen Strukturen kommunizierten und handelten. Im Konflikt um die Einquartierung von Soldaten in jüdischen Häusern sowie generell um die Aufteilung der Kriegslasten während des Siebenjährigen Krieges im Winter 1757/58 kann sie durch einen detaillierten Blick auf ihr Agieren auf mehreren Ebenen ein zunächst unentwirrbar erscheinendes Geflecht an Handlungssträngen ordnend rekonstruieren, das die jüdische Gemeinde als geschickten Akteur zwischen den verschiedenen Herrschaftsträgern vor Ort, der christlichen Gemeinde und den übergeordneten Entscheidungsträgern zeigt. Von der lokalen Ebene, über die territoriale Ebene bis hin zur Kreisebene werden die verschiedenen sich jeweils eröffnenden Handlungsoptionen und bestehenden Netzwerke ausgeschöpft, um die drohenden Kosten zu begrenzen. Dies gelang der jüdischen Elite letztlich nicht nur zum Nutzen der Glaubensgenossen, sondern auch die christliche Gemeinde von Fürth profitierte von der Kooperation über die religiöse Grenze hinweg.

Am Beispiel des Vergleichs der Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in den beiden reichsritterschaftlichen Dörfern Mitwitz und Küps im Aufsatz von Christian Porzelt wird dann das breite Feld an Chancen aufgezeigt, die eine lokale Herrschaftskonkurrenz für einzelne Juden sowie die Judenschaften insgesamt beinhalten konnte. Sowohl Küps als auch Mitwitz gehörten – mit graduellen Unterschieden – zum Typus der für die ritterschaftlichen Besitzungen typischen gemischt-herrschaftlichen Orte. Hinzu kam eine vielstufige Gerichtsstruktur von der lokalen Niedergerichtsbarkeit jedes einzelnen Adeligen über gemeinsam ausgerichtete sog. Konferenztage und den Ritterkanton bis hin zum Reichshofrat, die von den ansässigen Schutzjuden genutzt wurde, etwa im Konflikt um die Besetzung einer Schulmeisterstelle. Deutlich werden auch die vermehrten Ansiedlungschancen durch die Existenz mehrerer Herrschaftsträger, die jeweils unterschiedliche Rahmenbedingungen für eine Aufnahme in ihren Schutz anboten. Diese fragmentierten lokalen Herrschafts- und Besitzverhältnisse ermöglichten einigen Juden schließlich auch den gleichzeitigen Erwerb mehrerer Häuser, die unterschiedlichen Adelsbesitzungen angehörten, und damit eine Absicherung ihrer Wohn- und Aufenthaltssituation.

Diese Einzeluntersuchungen machen in der Zusammenschau verständlich, warum sich jüdische Gemeinden oftmals gerade in Regionen bzw. an Orten ausformten, die in herrschaftlicher Hinsicht fragmentiert und kleinräumig waren, und warum gerade das Reich mit seinen mehrstufigen räumlichen Konfigurationen im Sinne eines ›Fraktals‹ zu den bevorzugten jüdischen Siedlungsräumen in der Frühen Neuzeit zählte.

Wie das eingangs geschilderte Beispiel der Jüdin Scheffala aus Hirschaid auch zeigt, sind die sozialen Beziehungen eine weitere Möglichkeit, den Raum zu definieren, wofür sich explizit die Methoden der Netzwerkanalyse eignen.[23] Entsprechend dem methodisch-konzeptionellen Vorschlag, das Reich auch als einen ›sozialen Handlungs- und Erfahrungsraum‹ zu fassen, stellt sich die Frage, wie sich jüdische Akteure und deren Netzwerke sowie die Schutzobrigkeiten und die christlichen Akteure, die mit Juden in Kontakt traten, in diese komplexen Raumstrukturen einpassten bzw. inwieweit sie eigene räumliche Spezifika ausbildeten und welche Wechselwirkungen dabei zu beobachten sind. Es ist daher anzunehmen, dass diese spezifischen Strukturen nicht nur für die Existenz von Juden verantwortlich waren, sondern dass die jüdischen Akteure diese ihrerseits mit ausprägten, für die Durchsetzung ihrer Interessen nutzten und den politischen Strukturen so ihrerseits eine spezifische Dynamik verliehen. Raumstrukturen mit multiplen Zugehörigkeiten, in denen eine zentrale, einheitliche Erzwingungsgewalt fehlt, in denen vielmehr plurale, sich widersprechende und miteinander konkurrierende Macht- und Herrschaftspole als Bezugspunkte existieren, kommen in besonderer Weise Akteuren entgegen, die es gewohnt sind, in multipolaren Netzwerken zu agieren. Daher ist zu erwarten, dass jüdische Akteure, insbesondere die Angehörigen der Elite, in fraktalen politischen Räumen besonders geschickte Akteure waren und diese Strukturen effektiv nutzen konnten. Zugleich ist davon auszugehen, dass sie durch ihr soziales Handeln diese Strukturen immer wieder aktualisierten, produktiv mit und in ihnen agierten und so ihren Teil dazu beitrugen, diese zu festigen. Die daraus erwachsene Dynamik sozialen Handelns könnte zudem spezifische kommunikative, soziale und politische Praktiken auf jüdischer Seite evoziert sowie die Ausprägung von Netzwerken weiter vorangetrieben haben.

Um diese Netzwerke offenzulegen, wurden im Rahmen der an der KU Eichstätt-Ingolstadt laufenden DFG-Projekte zwei relationale Datenbanken erstellt, die in Kürze online zur Verfügung stehen werden. Zum einen handelt es sich um die im Projekt ›Fraktalität und die Dynamik jüdischer Lebensformen im Süden des Alten Reiches im 17. und 18. Jahrhundert‹ entstandene breite Erfassung jüdischer Personen, zum anderen um eine parallel dazu konzipierte Datenbank des Projekts ›Religiöse Differenz und wirtschaftliche Kooperation. Christlich-jüdische Geschäftsbeziehungen in der Spätphase des Alten Reiches (1648–1806)‹.[24]

Das Strukturprinzip beider Datenbanken besteht darin, dass sowohl alle in den Archivalien und in der Literatur vorkommenden personenbezogenen Informationen (familiäre Beziehungen, Erwerbstätigkeit, Herkunfts- und Aufenthaltsorte, Konversionen) und Ereignisse (z. B. Heiraten, Ämterbesetzungen, Schutzbrieferteilungen) bestimmten Akteuren zugeordnet wurden. Zudem wurde die Art der geschäftlichen Beziehungen zwischen Personen systematisch erfasst. Alle Quellen wurden bei dieser Aufnahme gleich gewichtet und nicht hierarchisch geordnet. Die Datenbanken bilden die Grundlage für umfassende netzwerkanalytische Zugriffe[25] über die Nutzung der Open-Source-Graphdatenbank Neo4J als Analysetool.[26] Die bisher nötigen arbeitsintensiven Untersuchungen des sozialen Umfeldes historischer Akteure werden damit durch digitale Analysen über die Graphdatenbank ersetzt. Der Vorteil von Graphtechnologien für geisteswissenschaftliche Forschungsprojekte liegt darin, dass Graphen sich sehr gut für die Modellierung und Analyse hochvernetzter Daten eignen. Diese werden dazu nicht eins zu eins aus den Tabellenblättern importiert, sondern durch eine Datenmodellierung an die Forschungsfragen angepasst.[27] Das Datenmodell besteht aus Knoten (nodes) und den zwischen ihnen direkt verlaufenden Kanten (relationships). Die Knoten und Kanten können beide beliebig viele Attribut-Wert-Paare (properties) enthalten, also zusätzliche Informationen zu den Knoten oder Kanten. Die Knoten sind die Entitäten im Graph. Personale Netzwerke können so durch mathematische Analyse weiter untersucht werden. Die folgenden beiden Abbildungen visualisieren den Aufbau der Datenbanken und die personenspezifischen Abfragemöglichkeiten:

Abb. 1: Datenmodell: Akteurszentrierte Netzwerke jüdischen Lebens im Reich
Abb. 1:

Datenmodell: Akteurszentrierte Netzwerke jüdischen Lebens im Reich

Abb. 2: Datenmodell: Akteurszentrierte Netzwerke christlich-jüdischer Geschäftsbeziehungen
Abb. 2:

Datenmodell: Akteurszentrierte Netzwerke christlich-jüdischer Geschäftsbeziehungen

Die wichtigste Entität (Informationsobjekt) in den Projektdatenbanken sind die Personen, die über ihre persönliche Identifikationsnummer (PID) identifiziert werden können und mit den properties (Attributen) Nachname, Name und Namensvariation genauer beschrieben werden. Eine weitere Entität sind Orte, die nach den Personen eine zentrale Rolle im Datenmodell einnehmen. Die Personen sind mit den Orten nicht nur durch ihre Lebensdaten sowie ihre diversen Wohnorte verbunden, sondern auch über die Entität Obrigkeit, die ebenfalls durch Kanten mit den Personen und den Orten verknüpft ist. Darüber hinaus ist jede Person über die Entität Quelle erreichbar, die zu ihr alle Literatur- und Quellennachweise enthält. Während diese Entitäten ihren Ursprung in den Quellen haben, ist der Knoten Familienverband ein Forschungskonstrukt, um sich speziellen Fragen zu nähern. Dadurch ist es möglich, Strukturen in Familienverbänden zu modellieren und z. B. danach zu fragen, ob es bestimmte Heiratsmuster zwischen einzelnen Familien gab. Informationen zu verschiedensten Netzwerken können weiterhin anhand von Knoten und der zwischen diesen verlaufenden Verbindungen, den sogenannten Kanten abgefragt werden.[28]

Die akteurszentrierten Abfrage- und Auswertungsmöglichkeiten der prosopographischen Datenbanken über die Graphdatenbank Neo4J eröffnen den Blick für vielfältige Formen und Ebenen an Verbindungen und Zusammenhängen: in räumlicher, sozialer, gewerblicher, familiärer, verwandtschaftlicher, gemeindlicher und herrschaftlich-obrigkeitlicher Hinsicht. Dies ermöglicht ein tieferes Verständnis der komplexen Vernetzungen jüdischer Existenz oder mit den Worten von Gramsch-Stehfest: Es eröffnen sich »in adäquater Weise […] neue Möglichkeiten zur Analyse personaler Konfigurationen und ihrer Wirkungen.«[29]

Diese Form der digitalen Netzwerkanalyse entwickelt die Ansätze Wolfgang Reinhards, der den Begriff der Verflechtung in die deutsche Geschichtswissenschaft eingeführt hat, in verschiedener Hinsicht weiter.[30] So werden »weniger die Akteure selbst, als vielmehr die Beziehungen zwischen ihnen in den Blick« genommen.[31] Damit kann den dynamischen Verflechtungen der Akteure und ihren Handlungspraktiken auf verschiedenen politisch-institutionellen Ebenen sowie in Bezug auf territoriale und konfessionelle Grenzen im Reich nachgegangen werden.[32] Die rekonstruierten Kommunikations- und divergenten Handlungsräume werden dabei als egozentrierte Netzwerke[33] sichtbar, die die besondere Strukturierung der politischen und sozialen Räume innerhalb des Reiches spiegeln. Damit verbunden ist nicht so sehr »die (Re)Konstruktion realer Netzwerke«, sondern die »Vermessung der »individuellen Landkarten« personaler (und anderer) Verflechtungen, welche sich die historischen Akteure von ihrer Umwelt machten.«[34] Das Sample umfangreicher und komplexer Verflechtungsdaten ermöglicht überraschende Sichtweisen beispielsweise in Bezug auf Migrationsverhalten, Schutzerteilungen, Handels- und Geschäftsbeziehungen, familiäre Muster sowie generell die Nutzung des Raums durch die jüdischen Einwohner. So kann beispielsweise die Ausdehnung der Begräbnisherrschaften, d. h. Friedhöfe, die einer Herrschaft unterstellt waren und in denen die Verstorbenen auch aus anderen Herrschaftsgebieten ihre letzte Ruhe fanden, exemplarisch Einblicke in die komplexe Raumgeschichte geben.

Die multiskalare Idee der Fraktalität, die wir auch mit den Datenbanken aufzugreifen versuchten, erschafft quasi durch die aus den Abfragen resultierenden Netzwerkgraphen einen »Hypothesengenerator«.[35] Ihm folgen die fachwissenschaftliche Analyse, die Prüfung der Ergebnisse, ihre Kontextualisierung sowie Interpretation. Daher haben wir uns bewusst entschieden, die der historischen Person zugeordnete Identifikationsnummer (PID) in den nachfolgenden Beiträgen hier wiederzugeben, so dass nach Veröffentlichung der Datenbanken den Lesern das Auffinden der Informationen erleichtert wird. Einhergehend damit ist der Wunsch, dass so eine Grundlage für eigenständige Fragen entwickelt wird und die bereits erarbeiteten Erkenntnisse einfach und effektiv genutzt werden können. Da Vollständigkeit aufgrund der Quellenlage nicht erreicht werden kann, sind beide Datenbanken auch so konstruiert, dass Erkenntnisse laufend eingepflegt werden können. Diese umfangreiche Datenerhebung und die damit möglichen Erkenntnisse sollen künftig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um so Synergieeffekte für weitere Forschungen zu schaffen, aber auch zu verhindern, dass diese Zusammenhänge immer wieder neu und mühsam erarbeitet werden müssen.

Der Begriff der Fraktalität hat in jüngster Zeit in den sozialwissenschaftlichen und historischen Disziplinen eine gewisse Konjunktur. Er dient zur Beschreibung städtischer Räume[36] ebenso wie zur Beschreibung der Finanzlogik der britischen »public credits« während des Siebenjährigen Kriegs.[37] Mit den hier vorgestellten Projekten soll dieser Ansatz erstmals auch für die jüdische Geschichte fruchtbar gemacht werden. Dabei wurden wir von vielen Seiten unterstützt: von unseren Kooperationspartnern Rotraud Ries und Holger Zaunstöck; von den »Erfindern« der Fraktalität Christophe Duhamelle und Falk Bretschneider, die in Workshops und Tagungen ihr Wissen mit uns teilten, und von Andreas Kuczera, ohne den diese Datenbank nicht so wäre wie sie ist und dessen konzeptionelle und fachliche Unterstützung für uns unendlich wichtig war.

Published Online: 2023-05-12
Published in Print: 2023-06-30

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 27.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/asch-2023-2007/html
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