L. Hecht: Ein jüdischer Aufklärer in Böhmen

Cover
Titel
Ein jüdischer Aufklärer in Böhmen. Der Pädagoge und Reformer Peter Beer (1758-1838)


Autor(en)
Hecht, Louise
Reihe
Lebenswelten osteuropäischer Juden 11
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Wangermann, Institut für Geschichte, Universität Salzburg

In der Einleitung zu ihrer Biographie des aufgeklärten jüdischen Pädagogen Peter Beer distanziert sich Louise Hecht deutlich von jenen jüdischen Historikern die, von einem nationalen Standpunkt ausgehend, die jüdische Aufklärung (Haskala) als eine den Interessen des jüdischen Volkes abträgliche Bewegung auffassten, weil sie in letzter Konsequenz die Bedingungen zu seiner Auflösung geschaffen habe. Ihre Präferenz liegt bei Historikern wie David Sorkin, in deren Werken die Haskala im Kontext der gleichzeitigen christlichen Reformbestrebungen, also der „religiösen Aufklärung“, gesehen wird, analog etwa zur protestantischen Neologie oder dem Reformkatholizismus. Von diesem Blickwinkel aus gesehen, war die Haskala keineswegs ein Zerstörungsfeldzug gegen die jüdische Identität, vielmehr eine intellektuelle Erneuerungsbewegung, die dem jüdischen Volk den ihm gebührenden Platz innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft anweisen und sichern sollte.

Peter Beer war mit der im Jahre 1782, gleich nach der Einführung einer beschränkten Toleranz für die Juden in Böhmen gegründeten jüdischen Hauptschule in Prag eng verbunden und verfasste zahlreiche Schriften über jüdische Geschichte, Religion und Moral sowie eine Autobiographie. Louise Hecht wählte diesen repräsentativen Vertreter der Haskala vor allem deshalb zur Hauptfigur ihrer Forschungen, um anhand der Biographie und der Schriften dieses böhmischen Maskil die Rolle Böhmens als Zentrum und Modell der Haskala für die gesamte Habsburger Monarchie zu veranschaulichen.

Im Verlauf ihrer Forschungen entdeckte Louise Hecht allerdings, dass es sich bei Beers Autobiographie um eine Mischung von Dichtung und Wahrheit handelt. Mit Heranziehung zahlreicher anderer Quellen ist es ihr jedoch gelungen, die gesicherten Lebensdaten Beers von dessen Entstellungen zu trennen, ihn vor dem Hintergrund seiner tatsächlichen Lebenswelt darzustellen, und gleichzeitig die Beweggründe für die Entstellungen verständlich zu machen.

Nach der Darstellung von Beers Lebenslauf und seiner Tätigkeit als Lehrer der Moral an der jüdischen Schule in Prag, geht Louise Hecht zu einer sehr ausführlichen Analyse von Beers Schriften über, die mehr als die Hälfte des Buches ausmacht. Ihr Urteil über diese Schriften fällt insgesamt negativer aus, als nach meinem Empfinden in Hinblick auf ihre eigene Standortbestimmung in der Einleitung eigentlich zu erwarten war.

Bis zu einem gewissen Grad kann ich diese kritische Sicht nachvollziehen. Was das Aufklärungsschrifttum allgemein betrifft, kann auch von einem grundsätzlich aufgeklärten Standpunkt manches daran ausgesetzt werden, vor allem hinsichtlich der Form und des gewählten Tons. Oft hielten sich die Verbreiter des „Lichts der Aufklärung“ gegenüber ihren „obskurantischen“ Gegnern für derart überlegen, dass sie lieber „Geisselhiebe“ versetzten statt vernünftig zu argumentieren. Dadurch verbitterten sie ihr Zielpublikum ohne es zu überzeugen. Beers maskilischer Kollege und Rivale Herz Homberg scheint eine derartige Reaktion bei seinen Lesern in besonderem Maße hervorgerufen zu haben: Sein Lehrbuch der Moral für die jüdische Jugend musste anonym veröffentlicht werden, so sehr hatte er als Neuerer die Mehrheit der Juden gegen sich aufgebracht. Bei Beer war das offensichtlich auch der Fall, obgleich bei weitem nicht in demselben Ausmaß. Nach Louise Hecht unterschied ihn von den anderen Prager Maskilim seine „ihm oft vorgehaltene Radikalität und vor allem die Unverblümtheit, mit der er seine Reformideen verbreitete“ (S. 68).

Louise Hechts Kritik an Beers Schriften über die jüdische Religion und Moral beschränkt sich jedoch nicht auf die unverblümte Ausdrucksweise, sie gilt auch dem Inhalt. Wie ein roter Faden zieht sich durch ihre kritische Analyse der Vorwurf, dass Beer Wesentliches von der jüdischen Religion und Identität den Erfordernissen der Anpassung an das bürgerliche ästhetische Empfinden, an die bürgerliche Moral und an die bürgerliche Gesellschaft opfert. Für den streng kritischen Ton, mit dem Louise Hecht diesen Aspekt der Schriften Beers rügt, mag folgender Passus als Beispiel dienen: „Neben der Betonung der moralischen Komponente, die zur Unterscheidung zwischen äußerer Handlung und innerem Zweck führte, sollte das Judentum auch die sozialen, ethischen und nicht zuletzt ökonomischen Werte der sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft forcieren. Dieser Aufgabe hatte sich Beer in allen seinen Lehrbüchern gestellt. Unaufhörlich hatte er dort die Vereinbarkeit und sogar Identität von bürgerlichem Lebenswandel und den Grundprinzipien des Judentums betont. In den Mosaischen Schriften brachte Beer die Verknüpfung zu solcher Perfektion, dass sein Bibelkommentar stellenweise dem Knigge entnommen scheint“ (S. 320f.).

Im Kontext der in der Einleitung als für die Haskala relevant angeführten religiösen Aufklärung, würde ich viele der Positionen Beers, die in vorliegendem Buch einer opportunistischen Anpassungstendenz zugeschrieben werden, eher seiner prinzipiellen Zugehörigkeit zur religiösen Aufklärung zuschreiben. Seitdem die Freimaurer in den sogenannten Alten Pflichten von 1723 nur zu der Religion verpflichtet wurden, „in welcher alle Menschen übereinstimmen“, war die Schwerpunktverlagerung von den spezifischen religiösen Gesetzen und Dogmen der einzelnen Konfessionen auf die der gesamten Menschheit gemeinsamen moralischen Vorstellungen das Hauptanliegen aller religiösen Aufklärer. Und sie wurden alle deswegen von den Traditionalisten ihrer jeweiligen Konfession angegriffen und der opportunistischen Anpassung an die Machtverhältnisse beschuldigt. Sebastian Brunner verunglimpfte bekanntlich die Reformkatholiken in der Habsburger Monarchie als „theologische Dienerschaft“ Josephs II.

Auf derselben Seite ihres Buches, auf der Louise Hecht Beers Nähe zu Knigge in seinen Mosaischen Schriften kritisch (wie mir scheint) vermerkt, ist auch zu lesen, dass dieser erste von einem Juden verfasste interkonfessionelle Bibelkommentar (Prag 1815) vom Prager erzbischöflichen Konsistorium der katholischen Geistlichkeit bekannt gemacht und zum Gebrauch empfohlen wurde. Diese Empfehlung – eine späte Sternstunde der religiösen Aufklärung – macht noch einmal deutlich, welch fruchtbarer Boden Böhmen für den Reformkatholizismus war, ein Zentrum und Modell nicht weniger für diese Form der religiösen Aufklärung als für die Haskala.

Man darf trotzdem nicht vergessen, dass die religiöse Aufklärung nirgends einflussreich genug wurde, um die Vorurteile gegen die Juden unter der christlichen Bevölkerung auszuräumen, auch nicht unter den Eliten. Der Staatsrat Graf Rudolf Chotek gab 1808 anlässlich der Begutachtung der Morallehrbücher Herz Hombergs und Peter Beers seiner Meinung Ausdruck, dass die einzig mögliche Verbesserung des jüdischen Volkes seine „Dejudaisierung“ wäre. 1 Ein Jahr vorher musste eine Notablenversammlung der Juden die napoleonische Regierung davon überzeugen, dass die Juden die notwendigen Voraussetzungen erfüllten um der in der französischen Verfassung verankerten Bürgerrechte teilhaftig zu bleiben. Vor diesem Hintergrund finde ich Beers ständige Betonung der Vereinbarkeit der jüdischen Religion und Moral mit den Werten und Verhaltensregeln der bürgerlichen Gesellschaft verständlich. Ich halte diese Betonung für eine Reaktion auf das Gefühl der Überlegenheit in der christlichen Bevölkerung und nicht für den Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls in der jüdischen. Keinesfalls sehe ich in der Kritik jüdischer Aufklärer an den veralteten Formen ihrer Religion und Gesellschaft eine internalisierte Form der Vorurteile unaufgeklärter Christen (S. 49).

Die Juden der Generation Peter Beers stießen auf ihrem Weg in die bürgerliche Gesellschaft auf einen gewaltigen Widerspruch, auf den Louise Hecht mehrere Male hinweist – den Widerspruch, dass die fundamentalen Werte der bürgerlichen Gesellschaft, Freiheit und Gleichheit, in der Epoche des unaufgeklärten habsburgischen Absolutismus nur unvollkommen realisiert waren. Realisierung von Freiheit und Gleichheit erfordert eine demokratisch-pluralistische Gesellschaftsordnung und Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Davon war die Habsburger Monarchie in der Ära Metternich himmelweit entfernt. Also lernten die Juden in Herz Hombergs Morallehrbuch Bne Zion, dass sie der Obrigkeit blindlings gehorchen mussten, denn der Gesichtskreis des Untertans „ist zu eingeschränkt, um die Notwendigkeit der Anordnungen alle Mal einzusehen, welche die Staatsverwaltung beschließt“. 2 Während Peter Beer die theoretische Grundlage zur Gleichstellung der Frau im Judentum lieferte, lehrte er sie in seinem Gebetbuch für gebildete Frauenzimmer der mosaischen Religion, im Einklang mit der in der gesellschaftlichen Praxis bestehenden Unterordnung der Frauen, für den Ehemann beten: „Er ist's der mich als treuer Wegweiser auf der Bahn meines Lebens führt... Er ist's, der mich mit dir, oh Ewiger, bekannter macht“ (S. 336). Die ersehnte gesellschaftliche Anerkennung wurde Beer vom vormärzlichen Régime, das die aufstrebenden Juden mit Argwohn betrachtete, versagt, aber es war ihm erlaubt, sich in einem Portrait mit Säbel darstellen zu lassen.

Louise Hechts Buch beruht auf gründlicher Erforschung archivalischer und gedruckter Quellen. Man verspürt bei der Lektüre das Interesse und Engagement der Autorin. Das Buch wird die rege Diskussion über die Haskala weiter beleben und wird wahrscheinlich bei vielen Lesern, wie bei mir, sowohl Zustimmung als auch Widerspruch bewirken.

Anmerkungen:
1 Gutachten Choteks zu Staasratsakte 2859 ex 1808, in: A.F. Pribram, Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, 2. Band, Wien & Leipzig 1918, Nr. 325, S. 165.
2 [Herz Homberg], Bne Zion. Ein religiös-moralisches Lehrbuch für die Jugend israelitischer Nation, Wien 1812, § 400.

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