Titel
Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822-1938


Autor(en)
Schlör, Joachim
Reihe
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 1
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dagmar Bussiek, Fachbereich Geschichte, Universität Kassel

Im Jahre 1938 entwirft der Berliner Journalist Moritz Goldstein im englischen Exil einen Plan zur Rettung der europäischen Juden. Da die Gefahr durch den Nationalsozialismus wachse und das zionistische Experiment in Palästina nur sehr langsam – zu langsam – voranschreite, plädiert er für eine Zwischenlösung: die Stadt Israel, eine künstlich geschaffene Großstadt, möglicherweise in den Vereinigten Staaten oder Südamerika gelegen, mit eigenen Hoheitsrechten und einer eigenen Verfassung versehen, unter der Garantie von Großmächten stehend, als Zufluchtsstätte für die bedrohten und heimatlosen Juden in aller Welt und als erste Etappe auf dem Weg zu einem Staat Israel. Goldstein weiß: „Ein Land, mit darauf siedelndem bodenstaendigem Volk, kann man nicht machen. Ein Land muss wachsen. [...] Machen laesst sich dagegen eine Stadt.“ (S. 61) Eine exklusiv von Juden bewohnte, von und für Juden „gemachte“ Stadt würde schon bald eine international bedeutende Rolle als Industriestandort und Handelsmetropole sowie als geistig-kulturelles Zentrum spielen, denn die Menschen würden arbeiten, „was die Bevoelkerung einer Stadt zu arbeiten pflegt und wozu die Bewohner dieser Stadt, also die Juden, imstande sind“ (S. 63). Ein Import- und Exportgeschäft von internationaler Bedeutung sagt Goldstein seiner Utopia voraus, namhafte Agenturen und Versicherungen, eine vorbildliche Presse und ein angesehenes Verlagswesen, Universitäten, Akademien und Forschungsinstitute, Theater- und Konzertbetrieb und eine Filmindustrie, die schon bald die Kinos der Welt beliefern werde, erstklassige Cafés und Restaurants und einen Fremdenverkehr wie Paris oder Florenz: „Es waere eine Stadt der unermuedlichen Arbeit, des fortreissenden Tempos, der geistigen Angeregtheit, eine Stadt von heute, eine lebendige Stadt; eine Stadt, von der Beispiel, Vorbild und Antrieb ueber die Erde strahlen wuerde; und nicht nur füer eine aeusserliche Geschaeftigkeit.“ (S. 64) Finanziert werden solle die Gründung durch Spenden sowie Investitionen des internationalen Finanzkapitals. Der zu erwartenden antisemitische Hetze des Auslands sei im Vertrauen auf die eigenen Geschäfte und die Gesetze des Marktes zu begegnen.

Der Name Moritz Goldstein verbindet sich mit der so genannten Kunstwart-Debatte von 1912 über Rolle und Bedeutung der Juden im geistigen Leben der Nation; mit dem Satz „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht“ hatte der promovierte Germanist zu provozieren verstanden. Sein „vergebliche[s], in den Wind geschriebene[s] Projekt“ (S. 465) von 1938 hat das Potential zum Faszinosum, und der Potsdamer Kulturwissenschaftler Joachim Schlör hat sich faszinieren lassen: „Stadt Israel? Was für eine Idee!“ (S. 65) Der Text des Emigranten, der fünfzehn Jahre lang als Journalist für die Vossische Zeitung – „[u]nd damit für und in Berlin“ (S. 86) – tätig gewesen war, bevor er 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft entlassen wurde und Deutschland den Rücken kehrte, dient Schlör als Leitmotiv seiner soeben als Monografie erschienenen Habilitationsschrift zu den Debatten über Judentum und jüdische Modernität, urbanes Leben und die Bilder und Klischees von Urbanität in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Der Focus liegt dabei auf Berlin als Paradebeispiel der Metropole schlechthin und zugleich als Stadt, die jüdischem Leben in besonderem Maße Entfaltungsräume bot und von der antisemitischen Propaganda als „jüdische Stadt“ gebrandmarkt wurde. Der Untersuchungszeitraum beginnt „mit der Ankunft der preußischen Reformer“ (S. 31) in den einst polnischen Ostgebieten Preußens in den Jahren nach dem Wiener Kongress und endet mit dem Novemberpogrom des Jahres 1938. Die – auf den ersten Blick beliebig wirkende – Zäsur 1822 markiert den Auftakt einer symbolträchtigen Initiative der Stadt Bromberg in Posen zur Abschaffung der so genannten „Sabbathschnüre“ – über die Straßen gezogene Stricke oder Bindfäden, die innerhalb der von Juden bewohnten Stadtteile jene Regionen begrenzten, in denen das feiertägliche Trageverbot aufgehoben war. Diese Sitte, mit der sich die Angehörigen der jüdischen Gemeinden traditionell das Einhalten der strengen Sabbatbestimmungen erleichterten, wurde von der Regierung Brombergs nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten, sondern auch als der angestrebten gesellschaftlichen Modernisierung zuwiderlaufender religiöser Brauch bekämpft. Exemplarisch zeigt sich hier die Dimension der Debatte: „Zugehörigkeit und Öffnung. Tradition und Moderne, das Alte und das Neue, das Eigene (das einem fremd werden konnte) und das Fremde (das man sich zu eigen machen konnte): das Jüdische und das Deutsche.“ (S. 25)

Schlör gliedert seine Untersuchung in drei große Abschnitte: Auf die Darstellung von Goldsteins Entwurf der „Stadt Israel“ folgen Abhandlungen über die Vita des 1880 geborenen Berliner Journalisten und über das Berlin seiner Zeit sowie ein großes Kapitel unter der Überschrift „Debatten über Judentum und Urbanität“, das sich unter anderem mit Begriff, Deutung und Erfahrung von Urbanisierung, mit Stadtgeschichtsforschung, Verbürgerlichung und Modernisierung und den Bildern vom „Stadtbewohner par excellence“ (S. 193) sowie dem jüdischen Großstadtmenschen und mit „Fakten und Mythen von der ‚Judenstadt’“ (S. 157) beschäftigt. Eindrucksvoll zeigt Schlör auf, wie mit der Figur des „jüdischen Städters“ zugleich die Figur des „modernen Menschen“ konstruiert wurde: umtriebig, ehrgeizig, materialistisch, geschäftig und wendig, in Finanzwesen, Handel, Presse, Kultur und auf allen „intellektuellen“ Gebieten zu Hause, dem Familienleben entwöhnt, den Gefährdungen der Zivilisation ausgeliefert und sie zugleich verkörpernd. Die nationalsozialistische Propaganda perfektionierte das Klischee, erfunden hat sie es nicht. Für die Antisemiten war die jüdische Urbanisierung ein willkommenes Feindbild, für die Zionisten Ausdruck des beklagenswerten Prozesses der Entfremdung des Judentums von seinen Wurzeln. Goldsteins Vision der so glänzend erfolgreichen Judenmetropole macht deutlich, dass auch er von der Grundmelodie dieses Diskurses geprägt war, sie aufnahm und positiv interpretierte. Damit ist Schlör „im Zentrum der Arbeit angelangt: beim Verhältnis von ‚Ich’ und Stadt“ (S. 423), bei der Suche nach dem „Ich der Stadt“. Was ist gemeint?

Für Aristoteles gibt es keine Möglichkeit eines tugendhaften Lebens außerhalb der Polis: „Ein Poliswesen im positiven Sinne wäre also ein Bürger, der mit Überzeugung und Engagement sein Teil zum ‚Glück’ der gesamten Polis beiträgt; einer, der die Werte des Verbandes, der Stadt, verinnerlicht hat, der zum politischen Handeln, zum bürgerlichen Leben bereit ist. Aus polis entsteht politeia. [...] Der Dreiklang lautet: städtisch – zivilisiert – politisch.“ (S. 424) Stadtbewohner zu sein ist demnach keine Frage der „Seele“ oder des „Wesens“, sondern ein politischer Akt. Was geschieht in dieser Lesart mit der Stadt Berlin im Jahre 1933? Schlör zitiert Goldsteins Erinnerungen an jenen sonnigen Herbstmorgen, an dem er am Anhalter Bahnhof einen Zug bestieg, der ihn in die Sicherheit und Verzweiflung des Exils bringen sollte: „‚Meine Vaterstadt warf sich rauschend und dröhnend, wie ich sie immer gekannt hatte, in einen neuen emsigen Arbeitstag. Nichts war ihr davon anzumerken, dass der Teufel sie geholt hatte.’“ (S. 90)

Joachim Schlör hat versucht, „möglichst umfassend alles zu lesen, was zwischen 1820 und 1938 im deutschen Sprachraum und mit Bezug vor allem auf Berlin, aber auch – nicht in extenso, sondern um eines gelegentlichen Vergleichs willen – auf Städte wie Budapest, Lodz, Odessa, New York und selbst Tel-Aviv zum Verhältnis von Judentum und Urbanisierung geschrieben wurde“ (S. 33). Er zitiert, referiert und kommentiert Quellen und wissenschaftliche Literatur in beeindruckender Vielfalt. Dass die Leser/innen dabei mitunter überwältigt vor den allzu großen „Berge[n] von Bildern, Überlieferungen, Anspielungen und Assoziationen“ (S. 31) stehen, dass bei der Präsentation des riesigen ausgewerteten Textkorpus weniger manchmal mehr gewesen wäre, sei kritisch angemerkt. Wer eine chronologische Darstellung zum Thema „Juden und Urbanität“ in Deutschland zwischen 1822 und 1938 sucht, ist mit dem Buch schlecht beraten. Das große Verdienst dieser Arbeit ist die elegante Integration von Forschungsansätzen und -ergebnissen aus den Bereichen Religionsgeschichte, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Volkskunde/Kulturanthropologie, Geografie und Literaturwissenschaft in ein Projekt der Jüdischen Studien. Dass dabei nicht alle aufgeworfenen Fragen beantwortet, sondern Anregungen „für weitere, detailgenaue historische Forschung“ (S. 31) gegeben werden, lag in der Absicht des Verfassers.

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