KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Alliierte Prozesse und NS-Verbrechen

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Titel
Alliierte Prozesse und NS-Verbrechen.


Herausgeber
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Reihe
Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 19
Erschienen
Bremen 2020: Edition Temmen
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Zu alliierten Kriegsverbrecherprozessen in den vier deutschen Besatzungszonen gibt es seit ungefähr einer Dekade einen Forschungsboom, und es ist schwierig, überhaupt noch neue Aspekte aufzugreifen. Dem vorliegenden Sammelband, der auf einer Tagung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Zusammenarbeit mit dem Marburger International Research and Documentation Centre for War Crimes Trials (ICWC) im Jahr 2017 fußt und in der Schriftenreihe Neuengamme erschienen ist, gelingt dies tatsächlich. Durch eine sehr dichte Beschreibung des britischen War Crimes Trials Programms wird zum einen die thematische Breite der Verbrechen (von KZ-Tötungen bis zur Ermordung neugeborener Kinder von polnischen Zwangsarbeiterinnen in sogenannten Säuglingspflegeheimen) wie auch die geographische Breite der Ahndung in beiden britischen Besatzungszonen – Deutschland und Österreich – deutlich. Herausgekommen ist ein lesenswerter Überblick zur britischen Sicht auf die Ahndung von NS-Verbrechen, zur Frage der Besatzungsjustiz und den Schwierigkeiten ihrer Umsetzung. Der Band versammelt neben Aufsätzen von im Feld seit langem arbeitenden Forscher/innen auch viele Beiträge von Nachwuchswissenschaftler/innen.

Der Band unterteilt sich grob in vier Themenblöcke: zum einen politische und juristische Grundlagen der Ahndung, dann vertiefende Analysen einzelner Prozesse (wobei manche Verfahren schon als Beitrag zweier Autoren, und damit vergleichend angelegt sind), Aufsätzen zu den an den Prozessen beteiligten AkteurInnen (Rechtsanwälte, Zeugen, Verteidiger, Gerichtspersonal), sowie die Nachgeschichte der Verfahren, wobei es um Rezeption und Nachwirkung geht.

Der Band wird eröffnet durch mehrere lesenswerte Überblicksbeiträge, und dies ist gleichzeitig eine Stärke wie auch eine Schwäche des Bandes. Eine Stärke ist die Qualität und die Breite des Überblicks, der von Wolfgang Forms Beitrag zur Geschichte der Ahndung in den westdeutschen Besatzungszonen eröffnet wird. Es folgt Dimitrij Astaschkins Analyse der Strafverfahren gegenüber NS-Tätern in der Sowjetunion, der auch die mediale Inszenierung in den Blick nimmt und die Problematik von „Showprozessen“ der Performanz von Gerichtsprozessen gegenüberstellt. Alfons Adams Betrachtungen über die Ahndung in der Tschechoslowakei werfen neue Schlaglichter. Faszinierend sind die enormen Unterschiede der verschiedenen Gerichtsstandorte, wobei manche sogar den relativ jungen Anklagepunkt Crimes against humanity – bei Verbrechen gegen ausländische ZwangsarbeiterInnen – zur Anwendung brachten. Zuletzt folgt der Beitrag von Sabina Ferhadbegovic zu den jugoslawischen Prozessen um das KZ Jasenovac, die ein wichtiger Baustein des „nation building“ für die Tito-Regierung waren. Sie arbeitet dabei auch die erzieherische Funktion von Gerichtsprozessen heraus, wodurch sie auch an Astashkins Überlegungen zur sowjetischen Justiz anknüpft. Im Vergleich zum Tagungsprogramm fällt auf, dass es gelungen ist, neue Beiträge einzuwerben, die den Band bereichert haben, wozu die genannten letzten drei Beiträge gehören. Dadurch stechen diese drei Beiträge aber auch besonders heraus, und das geht zu Lasten der Kohärenz des Bandes, der ansonsten auf die britische Kriegsverbrecherpolitik fokussiert. Doch ist es längst höchste Zeit, den bisher stark auf Westeuropa zentrierten Blick in der Forschung aufzubrechen und durch transnationale Perspektiven mehr Tiefenschärfe zu erreichen. Insbesondere der Vergleich mit den von der Forschung bisher doch etwas stiefmütterlich behandelten Verfahren in Ost-, Mittel- und Südosteuropa bietet spannende Einsichten und erlaubt Rückschlüsse auf Muster einer global vergleichbaren Antwort auf NS-Verbrechen, insbesondere an Zivilisten und in Lagern, über die Rhetorik des aufkommenden Kalten Krieges hinweg.

Nach dem Überblicksteil folgen die Untersuchungen zu den britischen Verfahren, wobei der Schwerpunkt zwar auf Norddeutschland liegt, aber auch hier Vergleiche zum Beispiel mit der österreichischen britischen Besatzungszone die Perspektive deutlich erweitern. Zunächst stellt Christian Pöpken die Military Government Courts der britischen Zone vor, sodann erörtern Alyn Bessmann und Reimer Möller die Rechtsgrundlage der Verfahren, den Royal Warrant. Anschließend beginnt der vertiefende Teil mit den Einzelfällen. Den Anfang macht Georg Hoffmanns lesenswerte Analyse der sogenannten Flieger-Prozesse, in denen es um den Mord an abgeschossenen alliierten Fliegern ging, die nach der Notlandung von der aufgehetzten Bevölkerung gelyncht wurden. Diese Prozesse machten etwa ein Drittel aller Militärgerichtsverfahren aus. Sie waren besonders an die US-amerikanische und britische Öffentlichkeit adressiert, die bereits während des Krieges ein starkes Interesse am Schicksal der verschollenen oder gelynchten Piloten gezeigt hatte.

Sodann folgt durch Alyn Bessmann, Peter Pirker und Lisa Rettl die vergleichende Analyse der KZ-Verfahren in Neuengamme und dem Mauthausen-Außenlager Loibl in Kärnten, die beide aufgrund der Aussagen ehemaliger Häftlinge zustande kamen. Für Österreich weist Pirker nach, wie in den Loibl-Prozessen ein Narrativ entwickelt wurde, das dem Opfermythos entsprach und in dem die österreichischen Mittäter von jeglicher Verantwortung für die im Lager verübten NS-Verbrechen freigesprochen und die Schuld gänzlich nach Deutschland oder an die deutschen Offiziere ausgelagert werden konnte.

Susan Hogervorst lenkt ihre Analyse auf die Rolle niederländischer weiblicher Häftlinge, die den Prozess um Ravensbrück in Gang brachten, und bestätigt damit viele Ergebnisse des vorherigen Beitrags zur Rolle der Überlebenden als Motor der Verfahren. Sie betont aber noch deutlicher den Genderaspekt und die Funktion des Empowerments für die weiblichen Überlebenden. Der Band bleibt bei der weiblichen Perspektive unter anderen Vorzeichen, wenn Johannes Schwartz vergleichend britische und französische Verfahren um KZ-Aufseherinnen aus Ravensbrück beleuchtet, wobei er grundlegende strategische Unterschiede in der Vorbereitung zeigen kann (z.B. Auswahl höherer Funktionsträgerinnen in den britischen Verfahren, oder in der Auswahl der Zeuginnen).

Bedrückend ist der hervorragende Aufsatz von Marcel Brüntrup zum sogenannten „Rühen Baby Case“, der Ermordung von Zwangsarbeiter-Babies im „Ausländerkinderpflegeheim“ des Volkswagenwerkes. Brüntrup thematisiert das Spannungsfeld dieser „Ausländerkinder-Pflegestätten“ – zwischen nationalsozialistischer Rassenideologie und der Absicht, polnische und sowjetische Zwangsarbeiterinnen möglichst effizient auszubeuten – und beleuchtet die Hauptangeklagten. Darunter war auch ein Werksarzt von Volkswagen, Hans Körbel, der schließlich wegen vorsätzlicher Vernachlässigung von Fürsorgepflichten hingerichtet wurde.

Bernhard Gelderblom und Janna Lölke untersuchen die Hinrichtungs- und Vollstreckungspraxis in der britischen Zone am Beispiel von Hameln und Wolfenbüttel; insbesondere die britischen Überlegungen, den Angeklagten durch einen erfahrenen Scharfrichter einen „humanen“ schnellen Tod zu ermöglichen, und die möglichst unauffällige Bestattung der Hingerichteten, bieten überraschende neue Einsichten.

Margaretha Franziska Vordermayer analysiert die britischen Verteidiger vor alliierten Militärgerichten, wie sie es bereits in ihrer inzwischen publizierten Dissertation sehr kenntnisreich getan hat1, was Reimer Möller seinem Beitrag zu den deutschen Verteidigern in den britischen KZ Prozessen um Neuengamme und Ravensbrück gegenüberstellt, worin er zeigen kann, dass bei den Verteidigern des angeklagten Neuengammer Lagerpersonals nicht in allen Fällen die Entnazifizierung abgeschlossen war, womit er an Vorgängerstudien, etwa von Hubert Seliger, anschließt.2

Im letzten Abschnitt geht es dann um die Begnadigungspolitik der Adenauerregierung und die „Schützenhilfe“ durch Organisationen wie der sogenannten „Stillen Hilfe“, ein Beitrag wiederum vom Reimer Möller, der ebenfalls an Vorgängerstudien anschließt, etwa zum Manstein- und Kesselring-Verfahren.3 Mirjam Schnorr schließt den Band mit ihrem Beitrag zum Grazer Prozess gegen Franz Murer, den „Schlächter von Wilna“, der 1963 mit einem skandalösen Freispruch endete, und schlägt Bogen bis nach Österreich, wo die Nachkriegsjustiz nach dem Abzug der Briten unter gänzlich anderen Vorzeichen weiterlief und mangels politischer Unterstützung Mitte der 1970er-Jahre schließlich ganz versandete.

Der Band ist eine wichtige Ergänzung für alle, die im Forschungsfeld Kriegsverbrecherpolitik arbeiten, und regt durch neue Perspektiven zu vergleichenden Studien – etwa zur Zeugenbeteiligung bei der Prozessvorbereitung oder zur alliierten Hinrichtungspraxis – auch mit anderen Besatzungszonen an.

Anmerkungen:
1 Margaretha F. Vordermayer, Justice for the Enemy? Die Verteidigung deutscher Kriegsverbrecher durch britische Offiziere in Militärgerichtsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1949), Baden-Baden 2019.
2 Hubert Seliger, Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse (= Historische Grundlagen der Moderne. Historische Demokratieforschung, Band 13), Baden-Baden 2016.
3 Oliver von Wrochem, Vernichtungskrieg und Geschichtspolitik: Erich von Manstein, Paderborn 2009; Kerstin von Lingen, Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung. Der Fall Kesselring, Paderborn 2004.

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