B. Borchard u.a. (Hrsg.): Musikwelten

Titel
Musikwelten – Lebenswelten. Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur


Herausgeber
Borchard, Beatrix; Zimmermann, Heidy
Reihe
Jüdische Moderne 9
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hansjakob Ziemer, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Der vorliegende Band behandelt die historische Beziehung von musikalischer Kultur und jüdischer Geschichte in der Moderne, und diese Schnittstelle bietet eine Vielzahl von Anknüpfungsmöglichkeiten für eine allgemeine Kultur- und Sozialgeschichte. Zwar ist der Diskurs über die Verbindung von Juden und Musik nicht neu, und es kam, wie der Eingangsbeitrag von Heidy Zimmermann verdeutlicht, seit 1800 zu zahlreichen Debatten über Themen wie „jüdische Musik“, die Rolle der Musik im jüdischen Verbürgerlichungsprozess oder die religiösen Hintergründe der „Musik der Hebräer“. In den aktuellen Diskussion unter Historikern und Musikwissenschaftlern über die Interdependenzen von Musik und Gesellschaft hat hingegen die jüdische Perspektive oft nur eine marginale Rolle gespielt und spielte häufig nur in den Auseinandersetzungen über Richard Wagners antisemitische Pamphlete oder andere antisemitische Äußerungen gegenüber Komponisten wie Mendelssohn-Bartholdy, Mahler oder Schönberg eine Rolle.

Auch dieser Band nimmt Bezug auf solche zentralen Akteure, erweitert aber das Untersuchungsfeld um Personen und Gegenstände, die bislang nur selten von Musikhistorikern thematisiert wurden. Die Herausgeberinnen des Bandes, der auf eine Tagung 2007 zurückgeht, wollen untersuchen, „inwieweit die verschiedenen Musikanschauungen dazu beigetragen haben, Musikerinnen und Musikern jüdischer Herkunft eine Akkulturation zu ermöglichen, und inwieweit jene selbst diese Musikanschauung genutzt haben, um den Anpassungsprozeß im 19. und 20. Jahrhundert mitzugestalten“ (S. 10). Sie beabsichtigen dabei, nicht mehr von einer geschlossenen Betrachtung der Musik auszugehen, sondern von einer „Vielfalt von Wegen“ (S. 10), die die Musiker mit jüdischem Hintergrund in ihren individuellen Handlungsmustern folgten. Dies geschieht in 23 Beiträgen, die hauptsächlich von Musikwissenschaftlern verfasst wurden und sich im Wesentlichen mit der Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs befassen.

Der Band beginnt mit drei grundlegenden Beiträgen, die auf die Schwierigkeiten und Hintergründe einer Verortung von „jüdischer Musik“ in der Geschichte eingehen. Heidy Zimmermann untersucht aus wissenschaftshistorischer Perspektive Definitionen von Wissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund, insbesondere von Musikethnologen, von „jüdischer Musik“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie kritisiert den essentialistischen Gebrauch dieser Definitionen und plädiert dafür, jüdische Identität nicht als Einheit aufzufassen, sondern mit Bezug zu aktuellen Diasporatheorien als multiple Erfahrung. Barbara Hahn befasst sich mit dem Ort jüdischer Komponisten in der Konstruktion von Musikgeschichte anhand von Beispielen von Siegmund Kaznelson oder Oswald Jonas und zeigt die Paradoxien im Umgang mit Komponisten mit jüdischem Hintergrund: zum einen wollten Kaznelson oder Jonas darstellen, dass jüdische Komponisten integriert waren; zum anderen hoben sie hervor, welchen signifikanten Beitrag sie zum Erfolg der deutschen Musikgeschichte geleistet haben. Hahn kritisiert das „begriffliche Ungleichgewicht“ (S. 74) und schlägt vor, nicht Werke zu untersuchen, sondern die aufgeführte Musik, also den aktiven Umgang mit spezifischen und häufig jüdischen Traditionen in einer Aufführungssituation. Der kulturelle Sinn solcher Handlungsweisen, so stimmt ihr Beatrix Borchard in ihrem Beitrag über das soziale und berufliche Umfeld von Joseph Joachim in Berlin und Hannover zu, ergebe sich nicht unmittelbar aus dem musikalischen Text; vielmehr entstehe der kulturelle Sinn durch Projektionen und Zuschreibungen.

Die weiteren Einzelbeiträge befassen sich mit einer Reihe wichtiger Themen für diesen Zeitraum: mit dem sich wandelnden Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, sowohl in der Praxis der Musikausübung in jüdischen Salons als auch in antisemitischen Äußerungen etwa bei Hans von Bülow; mit der sozialen Bedeutungsaufladung von ästhetischen Diskursen, wenn Robert Schumann pejorative Metaphern wie Kommerz mit antijüdischen Stereotypen verknüpfte; mit sozialhistorischen Transformationen beispielsweise der jüdischen Hofmusiker, die wesentlich zur Verbürgerlichung der Juden beigetragen haben; mit den geographischen Kontexten von Musikerbiographien oder mit der Umwandlung von religiösen Bedeutungen in weltliche durch die Neudefinitionen jüdischer Musik im Rahmen der Programmdebatten des jüdischen Kulturbunds nach 1933. Diese Beiträge behandeln die Institutionengeschichte des jüdischen Mäzenatentums im Berlin des 19. Jahrhundert genauso wie die Geschichte der Visualisierung jüdischer Musiker in der bildenden Kunst, die Wahrnehmungsgeschichte von Wagner, Bülow und Joachim genauso wie die Geschichte kultureller Identitätsfindung im DP-Camp von Bergen-Belsen.

So anregend und facettenreich die Mehrzahl der Beiträge auch sind, so gibt es doch drei grundlegende Kritikpunkte: 1.) Die Zusammenstellung der Themen ist insgesamt disparat. Zum einen liegt der Schwerpunkt auf Bezügen zu Joseph Joachim; zum anderen gehen einige Beiträge nicht auf das Thema des Sammelbandes, die Schnittstelle von Musik und jüdischer Kultur, ein; stattdessen beschäftigen sich einige Autoren mit der Beethovenrezeption, der Rolle von Musik in der jüdischen Religionsausübung oder musikalischen Strukturfragen in Joachims Kompositionen. 2.) Der Band trägt nur wenig zu einem Konzept einer Kulturgeschichte jüdischer Musikaneignung bei. Zwar gibt es Ansätze hierfür in den Aufsätzen von Zimmermann, Borchardt und Hahn, die sich für eine Pluralisierung von Identitätszuschreibungen einsetzen; aber der Beitrag zu einer Klärung von Begrifflichkeiten ist begrenzt. Durchweg werden Begriffe wie „Assimilation“, „Akkulturation“, „Dissimilation“ oder sogar „deutsch-jüdische Synthese“ verwendet, ohne auf die Schwierigkeiten einzugehen, die diesen Konzepten innewohnen. Der Band ignoriert die inzwischen reiche sozial- und kulturhistorische Forschung zur jüdischen Kultur im 19. Jahrhundert, in der diese Begriffe kritisch hinterfragt werden, obwohl etwa der Beitrag von Jan Brachmann in dem Band selbst, der an Brahms’ Umgang mit Bibeltexten zeigt, wie konservative Vorstellungen des Christentums sich als integrativ für Juden erwiesen, einen Begriff wie „Akkulturation“ in Frage stellt. 3.) Es ist nicht ersichtlich, warum sich die Mehrzahl der Aufsätze auf die „deutsche Musikkultur“ beschränken, wie auch der Untertitel nahelegt, denn zu der „Vielzahl der Wege“ gehört, dass viele der Protagonisten dieser Geschichte wie Joseph Joachim oder Carl Goldmarck nicht aus deutschsprachigen Gebieten oder gar dem deutschen Staatsgebiet stammten. Die „deutsche Musikkultur“ wird gebraucht wie eine scheinbar gegebene Einheit und es wird übersehen, dass sich dieses Konstrukt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat. An der Geschichte jüdischer Musiker ließe sich aber zeigen, wie durch musikalische Praktiken Räume entstanden, um über Zugehörigkeiten nachzudenken, die transnational und sehr oft europäisch geprägt waren.

Trotz dieser Einwände bleibt der Verdienst, neben einer Vielzahl interessanter Details auf die verschiedenen Rollen der Musik in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, wenn auch eher implizit als explizit. Aus der Sicht der jüdischen Geschichte wird deutlich, wie sehr sich Musik eignen konnte für Identitätsformierungen, als Möglichkeit für Karriere und Emanzipation, als Kommunikationsmedium, als Mittel zur Regelung von sozialen Konflikten, aber auch als Folterwerkzeug in Konzentrationslagern und Mittel zur Exklusion. Die Beiträge zum 20. Jahrhundert veranschaulichen, dass Musik zwar ein universales Medium ist, dem die Macht der Utopie zugeschrieben werden kann, dass aber gleichzeitig Musik nicht universal verständlich ist und eng mit Transformations- und Differenzerfahrungen verknüpft ist, wie sie gerade jüdische Musiker gemacht haben.

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