D. Schulze: Die Landesanstalt Neuruppin in der NS-Zeit

Titel
Die Landesanstalt Neuruppin in der NS-Zeit.


Autor(en)
Schulze, Dietmar
Reihe
Schriftenreihe zur Medizingeschichte des Landes Brandenburg 8
Erschienen
Berlin 2004: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Brigitte Meier, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina

Die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen zählten lange Zeit zu den Desiderata der Medizinforschung. 1961 führte eine Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Ärztekammer und 1962 das Buch von Professor Werner Catel „Begrenzte Euthanasie“ zu einem öffentlichen Diskurs in der BRD. Catel war als Direktor der Universitäts-Kinderklinik in Leipzig in der NS-Zeit an der so genannten „Kindereuthanasie“ beteiligt gewesen, was die fachliche Auseinandersetzung stark beeinträchtigte. In den 1970er-Jahren begann in den USA und Westeuropa eine intensive Diskussion um die Freigabe der „Tötung auf Wunsch“, die die undifferenzierte bewusste oder unbewusste Verwendung des Begriffs „Euthanasie“ offenbarte. Zwischen der „Sterbehilfe“ und der Vernichtung „menschenunwürdigen Lebens“ liegen Welten, die nur durch eine solide Erforschung der Vorgeschichte sowie der Verbrechen in der NS-Zeit und des historischen Kontextes begrifflich und in der Wahrnehmung strikt zu trennen sind.1 In den folgenden Jahrzehnten widmeten sich Forscher in Ost und West zunehmend diesem schwierigen Thema. Kristina Hübener u.a. begannen in den 90er-Jahren mit der systematischen Erforschung der Geschichte der Brandenburgischen Provinzialanstalten. Diese wissenschaftlichen Bemühungen mündeten in das Forschungsprojekt „Fürsorgepolitik und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert“ am Historischen Institut der Universität Potsdam. Inzwischen liegen bemerkenswerte Darstellungen und Quelleneditionen 2 vor, die vielfältige Einblicke in die Geschichte einzelner Anstalten geben.

Die Geschichte der Landesanstalt Neuruppin in der NS-Zeit reiht sich hier ein. Dietmar Schulze betonte einleitend, dass es ihm weniger um die Darstellung von Einzelschicksalen, auch nicht um „die moralische Entrüstung einer späteren Generation“ (S. 9) ginge, sondern er wollte „anhand der überlieferten Quellen die berühmte ´Banalität des Bösen´“ beleuchten und darstellen, „dass die Verbrechen des Nationalsozialismus weit in den Alltag einer Heil- und Pflegeanstalt hineinreichten“ (S. 9). Auf der Grundlage umfangreiche Archivstudien konnte der Verfasser die Geschichte der Landesanstalt Neuruppin in der Zeit des Nationalsozialismus erstmals systematisch erschließen und die politische, verfassungsgeschichtliche und strukturelle Entwicklung in neun Kapiteln detailliert darzustellen. Im Anhang befinden sich das Quellen- und Literatur- sowie das Abküruzungs- und Abbildungsverzeichnis. Leider wurden auf das für weitere Forschungen so nützliche Personenregister verzichtet. Ein Resümee der Forschungsergebnisse nahm der Autor nicht vor.

Die erste Kurmärkische Provinzial-Irrenanstalt wurde am 1. März 1801 in der Neuruppiner Schifferstaße 5b eröffnet und stellte einen Meilenstein auf dem Weg der humanen Betreuung der Geisteskranken dar. Aus Platzgründen wurde diese Einrichtung 1865 nach Eberswalde verlegt. Als infolge der demografischen Entwicklung und des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs Berlins zur Industriemetropole der Betreuungsbedarf für psychisch Kranke und geistig Behinderte ständig stieg, wurde in Neuruppin zwischen 1893 und 1897 eine neue Landesanstalt, die vierte große Einrichtung des Brandenburgischen Provinzialverbandes, errichtet. Nach Entwürfen der Architekten Gustav Beuth und Theodor Goecke wurde auf dem 181 Hektar umfassenden Gelände an der Fehrbelliner Chaussee ein für die damalige Zeit modernes Krankenhaus im Pavillonstil errichtet. Ob nun in die modernen Gebäude auch ein moderner Geist einzog, bezweifelt der Autor, weil die zeitgemäßen Reformideen seiner Meinung nach in der Provinz Brandenburg nur selten umgesetzt wurden (S. 25).

Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren auch die brandenburgischen Landesanstalten seit Ende der 1920er-Jahre von erheblichen Sparmaßnahmen betroffen (S. 27). Das Personal und die Insassen der Landesanstalt waren im Sparen schon geübt, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und nun versuchten, die nationalsozialistische Politik auch in diesem Bereich des Gesundheitswesens durch zu setzten. Der Aufbau verlässlicher nationalsozialistischer Verwaltungsstrukturen erfolgte im Rahmen geltenden Rechts, wenn auch mit einigen Konflikten und Widerständen, die jedoch leider nur punktuell erwähnt wurden. Genügte es 1933 wirklich, einige unliebsame Personen des Personals zu entlassen bzw. zu versetzen, um aus einer „sozialdemokratische[n] Hochburg“ (S. 37) eine untertänige nationalsozialistische Anstalt zu machen, deren Mitarbeiter zu willigen Spielbällen der nationalsozialistischen Politik wurden? Hier hätten tiefere Einblicke in den streng hierarchisch gegliederten und sozialdisziplinarisch detailliert durchorganisierten Mikrokosmos der Landesanstalt das Verständnis für die mögliche Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten wesentlich verbessert.

Dass die nationalsozialistische Gleichschaltung in der Landesanstalt erfolgreich verlief, steht außer Zweifel. Allerdings dürften die Jahresberichte der Anstalt wohl kaum geeignet sein, um ein annähernd realistisches Bild der Denk- und Verhaltensweisen des Personals widerzuspiegeln. Ein Kommentar der langen Zitate aus den Berichten 1937 und 1938 wäre daher für das Verständnis und für die Relativierung der Aussage, „dass sich ein grosser Teil der Gefolgschaft aktiv und freudigen Herzens am parteipolitischen Leben beteiligt. Wer Neuruppin kennt, weiss, dass es schon immer eine Hochburg nationalsozialistischen Wirkens war“`(S. 58), wichtig gewesen. Eingangs wurde die Landesanstalt von den Behörden ja noch als „sozialdemokratische Hochburg“ bezeichnet. Die hohe Zahl der Krankheitstage, die ebenfalls in diesem Bericht erwähnt wird, spricht wohl weniger für ein gutes und freudiges Arbeitsklima.

Sehr detailliert schildert der Verfasser dann die Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenpolitik in der Provinz Brandenburg. Im Vergleich zu den anderen brandenburgischen Anstalten fiel die geringe Zahl der Sterilisationen in der Neuruppiner Anstalt auf (S. 62). Bei der „Erbbiologischen Erfassung“ entwickelte Direktor Meyer etwas mehr Elan als andere Anstaltsdirektoren. In der Neuruppiner Anstalt wurden bis 1938 immerhin „943 Sippenstafeln“ erstellt (S. 70). Die moralisch-ethische Gesinnung einiger Ärzte der Anstalt dokumentiert der Verfasser an Hand von wissenschaftlichen Arbeiten, die in Fragestellung und Intention der nationalsozialistischen Rassenpolitik dienten. Wie sehr sich Ärzte und PflegerInnen der Anstalt jedoch von nationalsozialistischen Beamten der Landes- und Staatsebene instrumentalisieren ließen, veranschaulicht der Verfasser sehr kenntnisreich und anschaulich in dem Kapitel, das der Vorbereitung und Durchführung der systematischen Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens gewidmet ist. Die Neuruppiner Anstalt diente den Verbrechen der „T4“ Aktion, jener Tarnorganisation, die nach der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin benannt wurde, als Zwischenstation für jene zur Vergasung bestimmten Kranken. Nach einer anfänglichen Irritation war wohl den meisten Ärzten und PflegerInnen sehr schnell klar, wohin die nach vorgefertigten Listen zusammen zu stellenden Krankentransporte gingen und was es für die betroffenen Kranken bedeutete, auf so einer Liste mit einem roten Kreuz zu stehen.

Die „T4“-Aktion erregte zunehmend das Misstrauen vieler Angehöriger von Kranken, denen die nicht nachvollziehbaren Verlegungen und der plötzliche Tod seltsam vorkamen. Deren Proteste und die Parteinahme des Amtsrichters Lothar Kreyssing für diese führten neben anderen Gründen zum Abbruch der Aktion im August 1941. Dennoch hörte das Sterben der Kranken nicht auf. Die „Euthanasie“ wurde mit „neuen Mitteln“ (S. 119) fortgesetzt. Die Sterblichkeitsrate der Neuruppiner Anstalt und die Gewichtsabnahme der Kranken sprechen für sich. Neben diesen erschütternden Fakten erfährt der Leser weiterhin, dass fünf Pfleger und eine Pflegerin der Neuruppiner Anstalt direkt in die „Euthanasie“-Anstalten geschickt wurden und dort unmittelbare Hilfsdienste innerhalb der Vor- bzw. Nachbebereitungen der Tötungen leisteten. In mühsamen Recherchen hat der Verfasser deren berufliche Entwicklung und spätere strafrechtliche Verfolgung erkundet und dargestellt.

Viele MitarbeiterInnen der Neuruppiner Anstalten wurden bewusst oder unbewusst zu Handlangern und Tätern eines mörderischen Systems, dem sie nicht ohne Schaden für die eigene Person zu widerstehen wagten. So waren sie Opfer und Täter zugleich. Ob es neben den punktuell erwähnten Widerständen Einzelner noch weitere passive Aktionen gegen diese nationalsozialistische Instrumentalisierung gab, lässt sich aus den überlieferten Quellen kaum erschließen. Wie sich der Handlungsspielraum des ärztlichen und pflegerischen Personals angesichts der nationalsozialistischen Gesetzgebung und des Krieges veränderte, verdeutlicht der Verfasser u.a. an dem Umgang mit Juden, Ausländern und mit den Ansprüchen der Wehrmacht. Auch in diesen Abschnitten bedingten es die erhaltenen Archivalien, das neben den verwaltungstechnischen Tatsachen kaum Einblicke in die schwierigen Interaktionen der verschiedenen Anstaltshierarchien unter diesen extremen Bedingungen möglich sind.

Insgesamt gelang dem Verfasser eine sehr informative und anschauliche Darstellung wichtiger Aspekte der Geschichte der Neuruppiner Anstalt, die er in den Kontext der brandenburgischen Medizingeschichte und der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik stellt. Für die Integration der Anstaltsgeschichte in die Neuruppiner Stadtgeschichte bedarf es jedoch noch weiterer Untersuchungen. Beispielsweise harren das Verhalten der Neuruppiner Geistlichen und der Stadtbewohner angesichts dieser nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen ebenso wie die alltäglichen Lebens- und Arbeitsweisen des ärztlichen und pflegerischen Personals, deren kulturelle und sportliche Aktivitäten, das alltäglichen Leben der Insassen oder die vielfältigen Interaktionen zwischen der Anstalt und der Stadt Neuruppin noch der sozialhistorischen Erforschung.

Anmerkungen:
1 Siehe zur Begrifflichkeit, zur Ideengeschichte und zum Verhalten der Kirchen die immer noch hervorragende Studien von Nowak, Kurt, „Euthanasie“ und Sterilisation im „Dritten Reich“. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und der „Euthanasie“-Aktion, Halle an der Saale 1977.
2 Siehe Neuerscheinungen des be.bra Wissenschaftsverlages zur Medizin-Geschichte – www.bebraverlag.de.

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