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Titel
Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente - volkskundliche Analysen


Autor(en)
Hoerz, Peter F.
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie 26
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 28,30
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Martin Ulmer, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-karls-Universität Tübingen

Das Ziel der Dissertation des Wiener Volkskundlers Peter Hoerz ist es, populäre Bilder vom „symbiotischen“ Beziehungsgeflecht zwischen Juden und Nichtjuden im Burgenland und ihrer scheinbar unbegreiflich raschen Zerstörung durch den nationalsozialistischen Anschluss Österreichs im Frühjahr 1938 zu dekonstruieren. Es gelingt Peter Hoerz mittels Diskursanalyse wie mit Mitteln der historischen Rekonstruktion diese Fassaden der Harmonie aufzulösen, die von einem gelungenen Zusammenleben vor 1938 sprechen und nach 1945 einen Entlastungsmythos der österreichischen Opfer des Nationalsozialismus geschaffen haben. Dabei wird nicht nur die Lebenswelt der vorwiegend kleinbürgerlichen Juden rekonstruiert, sondern es werden auch die schwierigen Beziehungen zwischen Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt untersucht. Hoerz’ Studie basiert auf der Auswertung von Sekundärliteratur und bekannter schriftlicher Quellen, die er durch eigene Feldforschung zur Erinnerungskultur und dem heutigen Umgang mit historischen Fragmenten wie Synagogen, Friedhöfen und Gebäuden ergänzt. Aufgrund der auf diesem Weg gegen den Strich gebürsteten Sekundäranalyse kann er zu neuen Ergebnissen kommen.

Die Untersuchung gliedert sich in einen analytischen Teil und einen eher deskriptiven zweiten Teil, in dessen Mittelpunkt Ortsmonografien aller jüdischen Gemeinden der Region stehen. Im ersten Teil beleuchtet Hoerz zunächst in einem wissenschaftshistorischen Überblick das schwierige Verhältnis von jüdischer Kultur und Lebensweise und Volkskunde, der heute zwar in Forschungsaufträgen, Studien und Exkursionen nachgegangen wird, das aber lange Zeit von Ignoranz und Arroganz Seitens der konservativen Volkskunde bis hin zur völkischen Negation in der NS-Zeit bestimmt war. Eine jüdische Volkskunde, wie sie von Max Grünwald und Samuel Krauss mit sehr unterschiedlicher Orientierung begründet worden ist, konnte sich im Kontext des Faches weder in Deutschland noch in Österreich etablieren. Einen wissenschaftlichen Orientierungsrahmen von Hoerz’ Studie bilden einzelne volkskundlich-kulturwissenschaftliche Analysen des Fachs Volkskunde / Empirische Kulturwissenschaft / Europäische Ethnologie zum Thema. 1

Ausgehend von der Tatsache, dass die Juden im Burgenland „schneller und mit größerer Härte als in den anderen Regionen der ‚Ostmark‘ (...) vertrieben“ (S. 61) wurden, untersucht Hoerz die Hintergründe dieser Entwicklung. Denn große Teile der ansässigen Bevölkerung beteiligten sich mit außergewöhnlichem Eifer an der nationalsozialistischen Gewalt und Ausgrenzung der angeblich so gut integrierten Juden, an der Bereicherung ihrer Häuser und ihres Vermögen. In nur wenigen Monaten war das Burgenland ‚judenrein‘: Viele Juden mussten nach Wien oder ins sichere Ausland fliehen, eine kleinere Gruppe deportierten die Nationalsozialisten und ihre zahlreichen Helfer an die Grenze von Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Der Autor führt diesen historischen Tatbestand auf eine starke Tradition der Judenfeindschaft zurück, die im Mittelalter von Vertreibungen gekennzeichnet und im 19. und 20. Jahrhundert durch vereinzelte Ausschreitungen gegen Juden z.B. in der Revolution von 1848 und durch alltägliche Beschimpfungen und Diskriminierungen geprägt war. Zu solchen Erfahrungen erinnert sich ein jüdischer Emigrant: „Man hat uns nicht geschlagen, aber man hat gewusst – man ist ein Jude.“ (S. 80)

Hoerz erklärt die rasche und tief greifende Ausgrenzung der Juden im Jahr 1938 durch ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Ursachen: Erstens legte das traditionelle System der ökonomisch motivierten Schutzherrschaft den Juden bis ins 19. Jahrhundert zahlreiche rechtliche und kulturelle Schranken und Diskriminierungen auf. Zweitens hatte die aufgezwungene ökonomische Position die jüdischen Händler und Geldverleiher zu exponierten Bürgern gemacht, die in wechselseitiger konfliktreicher Abhängigkeit zu den nichtjüdischen Bauern und Handwerkern standen. Drittens produzierte die Ausgrenzung paradoxerweise die Abgrenzung der Juden mit der bewussten Pflege ihres religiösen und sozialen Habitus durch Fremdmystifizierung. Viertens dienten die Juden im 19. und 20. Jahrhundert dem Kleinbürgertum als Projektionsfläche, indem sie als die Verursacher der bedrohlichen Moderne und der Zivilisation galten. Alle diese Faktoren prägten eine longue durée der Judenfeindschaft in der burgenländischen Volkskultur.

Als zentraler regionalspezifischer Faktor waren die nationalen Grenzziehungen in der Grenz- und Transitregion des Burgenlands bedeutsam: Sie führten zu Spannungen und waren vielfach mit antijüdischen Ressentiments aufgeladen. Es ist ein Verdienst der Studie, dass sie den in der Forschung oft vernachlässigten Zusammenhang von Nationalismus und Antisemitismus klar herausarbeitet. Das Burgenland, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges aus dem überwiegend deutschsprachigen Westungarn bestand und dann zu Österreich kam, war ein multiethnischer Raum mit komplexer nationaler und konfessioneller Gemengelage. Eine protestantische Mehrheit mit starkem Deutschbewusstsein stand einer Minderheit von Katholiken gegenüber, die eine ungarische oder kroatische Identität ausgebildet hatten. Die burgenländischen Juden (drei bis vier Prozent der Gesamtbevölkerung) standen im Entwicklungsprozess verschiedener nationaler Identitäten im 19. und 20. Jahrhundert weitgehend abseits und gerieten nach dem mehrheitlichen Votum für den Anschluss an Österreich 1919 zusehends unter Druck. Die deutschsprachige Bevölkerung suchte infolge der verspäteten nationalen Entwicklung in einem scharfen Deutschnationalismus den raschen Anschluss an ein Großdeutsches Reich. Der Beitritt zu Österreich war dabei nur eine Zwischenstation zur Vereinigung des Burgenlandes mit Deutschland. In Scharen liefen viele deutschnational gesinnte Burgenländer und auch Teile der ungarischen und kroatischen Minderheit zu den Nationalsozialisten über. Die Juden galten als gefährliche Fremdkörper in der alldeutschen und nationalsozialistischen Ideologie und konsequent setzte in den 1920er- und verstärkt in den 1930er-Jahren eine antisemitische Propaganda im Burgenland ein. Diese Kampagnen eröffneten der raschen und brutalen Entfernung der burgenländischen Juden im Anschlussjahr 1938 die mentalen und sozialen Handlungshorizonte.

Nach 1945 hatte die Erinnerung an die jüdischen Gemeinden vor 1938 in Österreich keinen Platz im kollektiven Gedächtnis, in dessen Mittelpunkt die These vom Anschlussopfer stand bzw. noch immer steht. Bis in die Gegenwart ist die bescheidene Erinnerungs- und Gedenkkultur an die Juden in der Region durch Denkmale und die Restaurierung von Friedhöfen und Synagogen von der ortsansässigen Bevölkerung kaum akzeptiert.

Nach dieser sehr überzeugend dargelegten Analyse, die durch einige wortreiche und wiederholende Passagen keineswegs geschmälert wird, folgt eine detaillierte Beschreibung der jüdischen Lebenswelt und Kultur im Burgenland. Dort wohnten 1735 2.800, im Jahr 1858 rund 8.400 und 1934 noch 3.400 Juden. Die meisten waren im Einzelhandel und Handwerk tätig und sprachen einen burgenländisch-jiddischen Dialekt. Ein Großteil der kleinbürgerlichen, eher religiös-orthodox orientierten Juden lebte in den Esterhazyschen Siebengemeinden im Norden des Burgenlandes, deren Genese und Entwicklung durch den Grundherren Esterhazy im 17. und 18. Jahrhundert maßgeblich bestimmt wurden. Dazu gehörte auch die jüdische Gemeinde in der heutigen Landeshauptstadt Eisenstadt. Fünf jüdische Gemeinden befanden sich im Süden des Burgenlandes. Die zwölf Ortsmononografien werden anhand des von Klaus Guth entwickelten Strukturierungsschemas (siehe Anmerkung) nach ortskundlichen Angaben, Abriss der Ortsgeschichte, Geschichte der jüdischen Gemeinde (Daten, Fakten, innere Strukturen), Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden, Spurensuche und Erinnerungskultur zu einer Art Enzyklopädie aufbereitet. Anschaulich werden die Gemeinden portraitiert und dabei belegen die zahlreichen Beispiele von der schwierigen Koexistenz bis hin zur Judenfeindschaft den ersten analytischen Teil. Allerdings hätte man sich zum Schluss eine zusammenfassende Synthese gewünscht, denn so wirken die Ortsmonografien zuweilen wie ein materialreicher Anhang.

Es gelingt der Regionalstudie von Peter Hoerz, die eingangs formulierten Ziele einer Dekonstruktion gängiger Geschichtsmythen sowie die umfassende Rekonstruktion des jüdischen Lebens und der schwierigen Interrelationen überzeugend zu realisieren. Damit ist diese volkskundliche Dissertation nicht nur ein innovativer Beitrag zur österreichischen Geschichte, sondern auch für eine vergleichende Regionalforschung zur europäisch-jüdischen Geschichte.

Anmerkungen:
1 Jeggle, Utz, Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1999; Guth, Klaus, Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800-1942). Ein historisch-topografisches Handbuch, Bamberg 1988.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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