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Novelle von Maxim Biller: Mit Thomas Mann in der Gaskammer

Foto: Lottermann and Fuentes

Holocaust-Novelle von Maxim Biller Travestie auf Weltniveau

Masochistische Sehnsüchte treffen auf Vorahnungen vom Holocaust: In seiner Erzählung "Im Kopf von Bruno Schulz" entwirft Maxim Biller ein Zerrbild jüdischer Anpassungsbemühungen, für das er virtuos aus den Biografien des echten Bruno Schulz und Thomas Mann schöpft.

Im Jahr 1938 taucht in der polnischen Stadt Drohobycz ein seltsamer Fremder auf: Machten ihn abgetragene Kleidung und starker Körpergeruch schon bei seinem ersten Auftreten verdächtig, trägt er später Rouge auf den Wangen, einen mit Schuhcreme aufgemalten Schnurrbart und einen blutroten persischen Mantel, den eine abgerissene Gardinenkordel zusammenhält. Der Fremde behauptet, Thomas Mann zu sein, sieht aber aus wie dessen Travestie.

So jedenfalls schildert es der polnische Schriftsteller Bruno Schulz, der in einem Brief an den wirklichen Thomas Mann von dem vermeintlichen Hochstapler berichtet. Sein Schreiben an den Literaturnobelpreisträger steht im Mittelpunkt von Maxim Billers Novelle "Im Kopf von Bruno Schulz". Es ist eine Geschichte aus doppeltem Blickwinkel, denn außer Schulz berichtet auch ein klassischer, allwissender Erzähler, und eine Geschichte mit vielen Ebenen: politischen, biografischen und psychologisch-sexuellen.

Bruno Schulz (1892-1942) hat wirklich gelebt. Sein Debüt "Die Zimtläden", eine Sammlung von Erzählungen, die sich zu einem romanartigen Panorama des osteuropäischen Judentums fügen, gilt als Klassiker. Biller verschneidet die Biografie des realen Schulz mit dessen erotischen Phantasien, die im Buch von Originalzeichnungen aus dem Nachlass illustriert werden. Sie zeigen schmächtige Männer zu Füßen beeindruckender Damen, ihre tatsächliche Existenz erhebt Billers Text über den Verdacht einer bizarren Spekulation auf Schulz' Kosten. Trotzdem hätte Billers Novelle eine Art "Shades of Grey" an der Schwelle zum Ghetto werden können. Seine besondere Bedeutung erhält der Text erst durch Schulz' monströse Vorahnungen vom Holocaust.

Hitler als biblische Herrscherfigur

So wird aus dem vielfach begabten Künstler, der bis zu seinem gewaltsamen Tod 1942 in Drohobycz lebte, eine universale Figur, eine Inkarnation unbewusster Ängste und verdrängter Sehnsüchte, in der sich die Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts verdichtet.

Wie Schulz' Lebensgeschichte ist auch der Handlungsort historisch aufgeladen: Einstmals zum österreichischen Kaiserreich gehörend, wurde Drohobycz nach dem Ersten Weltkrieg polnisch, infolge des Hitler-Stalin-Pakts dann der Sowjetunion zugeschlagen. 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht den Ort und errichtete ein Ghetto, in das aufgrund seiner jüdischen Konfession auch Bruno Schulz verbracht wurde. Er, der zuvor sein Geld als Zeichenlehrer verdient hatte, wurde von einem örtlichen SS-Führer protegiert und hatte dessen Villa mit Fresken auszumalen. Schließlich wurde er auf offener Straße von der Gestapo erschossen.

Laut Goethe, einer anderen Größe des deutschen Geisteslebens, zeichnet sich die Novellenform durch eine "unerhörte Begebenheit" aus - sich eine viel unerhörtere als diese, von Maxim Biller erzählte, vorzustellen, ist schwerlich möglich.

Die historischen und kulturellen Anspielungen in "Im Kopf von Bruno Schulz" sind fein dosiert, sie reichen vom Insektenmotiv in Franz Kafkas "Verwandlung" bis zu einer zeitgenössischen Auslegung des Alten Testaments, die Adolf Hitler als Wiederkehr einer biblischen Herrscherfigur sah.

Andeutungen über Jahrhunderte jüdischer Geschichte, von erlittenen Pogromen bis zur vergeblichen Hoffnung auf Emanzipation, verwebt Biller mit den individuellen Träumen seiner Hauptfigur, die derart von Ängsten und Wahnvorstellungen beherrscht ist, dass ihr Wahnsinn wie ein Kondensat des Wahnsinns des 20. Jahrhunderts wirkt - und ihr Masochismus wie ein bitteres, burleskes Zerrbild der Unterwerfungs- und Anpassungsbemühungen der europäischen Juden.

Thomas Mann in der Gaskammer

Im Handlungszeitraum von Maxim Billers Novelle steht der grauenvolle Höhepunkt dieser Entwicklung noch bevor. Schulz ahnt, was ihm drohen könnte, versucht aber, es zu verdrängen, und steht so auch für jenen Teil des europäischen Judentums, der sich angesichts des beginnenden Massenmords in Selbstbeschwichtigung flüchtete. Seine Schwester ist es, die ausspricht, was sie kommen sieht: Erst haben die Deutschen ihre Feinde aus dem Fenster geworfen, dann wachse ihr Appetit auf die Gebiete Osteuropas, Häuser brennen, zuletzt bleibe von ihr und der Familie nur "ein bisschen Asche".

Schulz dagegen flüchtet sich in sexuelle Unterwerfungsphantasien und Auslöschungsvisionen, in denen er sich nicht nur von der ihm körperlich überlegenen blonden Sport- und Philosophielehrerin des örtlichen Gymnasiums fesseln und schlagen lässt, sondern sich schließlich nackt von Manns Doppelgänger ins Geschirr einer Droschke spannen lässt und ihn bis zu dessen Hotel zieht.

Dort residiert der angebliche Großschriftsteller in keinem gewöhnlichen Zimmer. Sondern im speziell hergerichteten Badesaal. "Keine Waschbecken, keine Toilette, keine Badewanne, nur einige in die nackte Betondecke eingelassene Duschen." Es ist offensichtlich, was Biller hier beschreibt: eine Gaskammer der deutschen Vernichtungslager.

"Wo ich bin, ist deutsche Kultur" lautet ein berühmtes, Thomas Mann zugeschriebenes Zitat. Maxim Biller kehrt es mit bitterer Ironie gegen den Schriftsteller und jenen Teil der deutschen Kulturnation, der über die Nazi-Barbarei die Nase zu rümpfen pflegte und sich dabei allzu gern mit Thomas Mann identifizierte. Bei Biller ist Thomas Mann Inkarnation des deutschen Geistesmenschen - und zugleich die Karikatur von dessen dunkler Seite: dem Herrenreiter.

Thomas Mann in der Gaskammer ist der Höhepunkt einer präzise und klug konstruierten Erzählung, die ebenso sinnlich ist wie aufwühlend. Biller schreibt mit einer selbstverständlichen, unaufdringlichen Eleganz, mit der sich kein anderer der deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation messen kann. Seine Novelle erreicht weltliterarisches Niveau.