G. Miller-Kipp: Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte

Titel
Zwischen Kaiserbild und Palästinakarte. Die Jüdische Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf (1815-1945). Archive, Dokumente und Geschichte


Autor(en)
Miller-Kipp, Gisela
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 449 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andreas Hoffmann-Ocon, Allgemeine und Historische Pädagogik, Fachhochschule Nordwestschweiz Basel

Dass zur Erforschung des Volksschulsystems des 19. und 20. Jahrhunderts in den Regionen der einzelnen deutschen Staaten bzw. Länder neben den konfessionsgebundenen Unterrichtsinstitutionen der christlichen Mehrheitskultur auch die jüdische Volksschule als Gegenstand gehört, scheint immer wieder in Vergessenheit zu geraten. Allerdings wächst das bildungshistorische Interesse an der Beschulung jüdischer Schülerinnen und Schüler seit den 1990er-Jahren. Daneben ist der tragende Beitrag der jüdischen Minderheiten am Verbürgerlichungsprozess verstärkt zur Kenntnis genommen worden. Aus der Perspektive der Historischen Bildungsforschung ist auffallend, dass sich das Interesse an jüdischer Schulgeschichte zunächst auf ausgewählte jüdische Einzelschulen konzentrierte. Die daraus erfolgte Anhäufung von Detailinformationen führte jedoch nicht zwingend zu einer Verbesserung des bildungshistorischen Überblickwissens und Gesamtbildes. Überdies geriet lange aus dem historiografischen Blick, dass seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl jüdischer Schülerinnen und Schüler vor allem in größeren Städten christlich geprägte Schulen besuchte. Das vorliegende Werk der Düsseldorfer Bildungshistorikerin Gisela Miller-Kipp ist in der Absicht verfasst worden, mehrere Funktionen einzunehmen: Zugleich soll es als Schulgeschichte, Schulbericht, Quellendokumentation und lokalhistorisches Handbuch dienen. Der Titel verweist auf die fast paradox anmutende Situierung der jüdischen Volksschule, die elementare Bildungsprozesse sowohl im Kontext vaterländischer Erziehungsprogrammatik – welche sich den christlich inspirierten Kaiserkult zum Fluchtpunkt nahm – als auch im Kontext jüdisch-religiöser Tradierung zu plausibilisieren hatte. Diese Ambivalenz mag aus der Perspektive des Post-Shoa-Zeitalters als eine Art „Existenzlüge“ wahrgenommen werden; dennoch erschienen diese Anforderungen an die jüdische Volksschule sowohl den an ihr beteiligten gemeindeinternen als auch den externen Akteuren bis zur NS-Zeit nicht als unversöhnlich.

Das Buch ist überaus praktisch angelegt: An zentraler Stelle steht der Historische Bericht, der die Rekonstruktionsergebnisse zu 39 Schulen an 36 Orten umfasst. Er enthält neben der systematischen Aufstellung eine Auflistung der Fibeln für jüdische Volksschulen von 1779 bis 1936 und eine besonders aussagekräftige tabellarische Übersicht zu den Einkünften und Diensten der Lehrpersonen von 1821 bis 1923. Aussagekräftig ist sie deshalb, da neben der Angabe des seinerzeitigen Salärs auch die Kaufkraftentsprechung von 2008 ermittelt wurde. So werden exorbitante Gehaltsdifferenzen vor allem zwischen Lehrern an kleinen Schulen von Landgemeinden und Lehrern an großen Schulen in Städten wie zum Beispiel Duisburg-Ruhrort sichtbar. Die Historische Berichterstattung lässt das Buch auch ein Nachschlagewerk sein.

Eröffnet wird der Band mit einer historischen Einführung, in der wesentliche Eckwerte und Entwicklungslinien zur jüdischen Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf, welcher sich seit der politisch-territorialen Neuordnung Europas 1815 durch stete Neuzuschnitte von Gemeinden veränderte, vorgestellt werden. Auf übergeordneter Ebene waren für die Vereinheitlichung des preußischen Schul- und Bildungsraumes die Schulartikel des Allgemeinen Landrechts (ALR) von 1794 bedeutsam, insbesondere die Bestimmung, die das gesamte Unterrichtswesen unter staatliche Aufsicht stellte. Da die Schulartikel in Preußen seit 1824 auch auf jüdische Gemeinden Anwendung fanden, dynamisierte sich ab diesem Zeitpunkt die Einrichtung jüdischer Volksschulen. Eine Verstärkung erfuhr diese Entwicklung 1847 durch das „Gesetz über die Verhältnisse der Juden“, da diese Kodifizierung jüdische Gemeinden von kommunalen Schulabgaben befreite, sofern sie selbst „öffentliche“ Gemeindeschulen einrichteten. Im Gegenzug sind seit der Einführung der Schulartikel des ALR aber auch viele traditionelle Talmud-Thora-Schulen wegen ihrer überwiegend nichtkonzessionierten Lehrer verboten worden, obgleich diese trotz ihres vielfach schlechten Rufes eine nicht zu unterschätzende schulsozialisierende und in Hebräisch alphabetisierende Funktion inne hatten.

Wie situierte sich die jüdische Volksschule hinsichtlich langer Entwicklungslinien von Beginn des 19. Jahrhundert bis zur NS-Zeit? Zum einen konstatiert Miller-Kipp zwischen 1820 und 1869 einen numerischen Anstieg jüdischer Volksschulen und danach einen sprunghaften Niedergang bis 1942. Zum anderen lautet der Befund, dass die jüdischen Volksschulen sich im 19. Jahrhundert durch eine hohe Diskontinuität auszeichneten, da sowohl Stadt- als auch Landschulen teilweise nur wenige Jahre Bestand hatten.

Wie die Jüdische Volksschule im historisch-politischen Raum eingebettet war, wird in dem ersten Kapitel sichtbar. Zu den Merkmalen der soziodemographischen Entwicklung in der jüdischen Bevölkerung des Regierungsbezirks Düsseldorf von 1815 bis 1945 gehörte die Verschiebung des Berufsspektrums vom niederen Handwerk und Kleinhandel auf dem Land zum Großhandel, Bankgewerbe und zu bildungsbürgerlichen Berufen in den Städten. Damit bestätigt diese bildungshistorische Regionalstudie die Ergebnisse anderer Arbeiten zum Verbürgerlichungsprozess der Juden – wie zum Beispiel jene von Simone Lässig, welche in ihrer umfassenden und zum Standardwerk gewordenen Studie über die jüdischen Wege ins Bürgertum auch das Bildungskonzept im Alltag jüdischer Gemeinden und Familien beschreibt.1 Die Beschulungsinteressen des jüdisch-städtischen Bürgertums und der seinerzeit sogenannten „Ostjuden“, die zwischen 1850 und 1910 in die größeren Städte des Ruhrgebiets gezogen sind, wiesen in unterschiedliche Richtungen. Der soziale Habitus verlangte von bürgerlichen Juden, die Kinder entweder im Sinne einer optimalen Anschlussfähigkeit für mittlere und höhere Unterrichtsanstalten auf sozial exklusive Vorschulen zu geben oder aber sie allenfalls auf die Unterstufe der jüdischen Volksschule zu schicken. Dieses bildungsaspirierte Schulwahlverhalten der Eltern wurde für jüdische Volksschulen existenzgefährdend und lediglich – gegenläufig wirkend – durch jüdische Kinder mit osteuropäischer Herkunft in seiner Dynamik abgeschwächt.

Einer der auch theoretisch spannendsten Abschnitte ist der strengen Begriffsarbeit gewidmet, der Irritation scheinbar eindeutiger Kategorisierungen. Die Einleitung zum Historischen Bericht zeichnet sich unter anderem durch eine systematische Aufbereitung der Perspektivenabhängigkeit von Kategorien je nach Referenzsystem aus. Was zum Beispiel die Frage nach der Bestimmung der jüdischen Volksschule angeht, so kann die Charakterisierung als „öffentlich“ oder als „privat“ von der Perspektive des Schulzugangs oder von der Perspektive der Schulträgerschaft geprägt sein. Der Alltagsannahme zufolge ist eine öffentliche Schule eine allen Kindern zugängliche Institution, wobei die staatliche Trägerschaft impliziert wird, obgleich dies historisch vielfach nicht zutreffend ist. Hinsichtlich der komplizierten Situation von jüdischen Volksschulen konnte die Schulträgerschaft sowohl aus einem Lehrer als Privatunternehmer als auch einer Gemeinde als Schulkörperschaft bestehen, so dass zunächst die Unterscheidung zwischen Privatschule und jüdischer Gemeindeschule weiterführend ist. Je nach gewähltem Systembezug lässt sich weitere begriffliche Tiefenschärfe erzeugen: Aus einer jüdischen Binnenperspektive konnte die Gemeindeschule als öffentliche Schule gelten, während die von einem Privatlehrer in einer jüdischen Gemeinde eingerichtete Schule als private Unternehmung betrachtet werden musste. In der Optik der preußischen Bildungsverwaltung jedoch, die „öffentlich“ als „staatlich“ interpretierte, erschien die jüdische Volksschule als nicht-öffentliche Institution in Form einer Privatschule der jüdischen Gemeinde. Voraussetzung für die im Historischen Bericht vorgestellten lokalen Rekonstruktionen entlang von Kategorien wie etwa Gründung-Schließung, demographische Angaben getrennt in „Einwohner“ und „jüdische Einwohner“, soziokulturelle Lage, Lokalität, Institution, Größe, Schüler, Lehrer, Schulraum, Curriculum und Unterrichtsmaterial, Schulleben, Gesellschaftliches Profil und historische Funktion war, dass die vorangegangene Problematisierung der bildungshistorischen Arbeit mit Kategorien die Möglichkeiten und Grenzen einer derartigen Berichterstattung offen legt.

Hätte dieser analytische Zugriff gefehlt, wäre trotz solider Quellenarbeit unter bildungshistorischer Sorgfaltspflicht der reine Sammlungsgedanke dominant geblieben. So aber werden die versprochenen Funktionen des Schulberichts, der Quellendokumentation und des lokalhistorischen Handbuches – auch bildungshistorisch-handwerklich mit zahlreichen Abbildungen, einem Tafelteil, transkribierten Dokumenten wie zum Beispiel Stundenplänen, ausführlicher Archivdokumentation und Bibliographie – vorbildlich eingelöst. Was dem Genre der ebenfalls in Aussicht gestellten Schulgeschichte allerdings fehlt, ist ein konziser Thesenapparat, der sich aus der Spannung zwischen den Befunden aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf und weiteren Regionalstudien zur jüdischen Bildungsgeschichte in Deutschland herleiten ließe – auch wenn letztere in der Regel einen kürzeren Untersuchungszeitraum eingenommen haben. Miller-Kipp verweist diesbezüglich in der kommentierenden Zusammenfassung auf die Eigendynamik der historischen Entwicklung der jüdischen Volksschule im Regierungsbezirk Düsseldorf hin, ohne das überregionale Potential dieser Arbeit zu unterschlagen: Mit dem vorliegenden Band ließe sich „eine differenziert vergleichende Studie zur jüdischen Volksschule und auch zu jüdischen Bildungsmilieus fundamentieren“ (S. 337). Es bleibt zu hoffen, dass dieses Forschungsprogramm mit dem insgesamt sehr überzeugenden Werk von Miller-Kipp als Impulsgeberin fortgesetzt wird.

Anmerkung:
1 Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/