Cover
Titel
Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert


Autor(en)
Augstein, Franziska
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Neuhofer, Fachbereich Romanistik, Universität Salzburg

„Hinter allem, was ich erzähle, steht die Frage: Wer ist dieser Mann? Wie vermochte er es, in jeder Lebenslage zu bestehen?“ (S. 11) Jorge Semprún, der Mann, den Franziska Augstein in ihrem Buch porträtiert, hat ein mit den großen politischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts so eng verwobenes Leben vorzuweisen, dass tatsächlich von „seinem Jahrhundert“ gesprochen werden kann. 1923 in Madrid als Sohn einer großbürgerlichen republikanischen Familie geboren, verbinden sich in seinem Leben Grunderfahrungen des abgelaufenen Jahrhunderts: vom Exil in Frankreich über den Kampf in der französischen Résistance, die Deportation ins Konzentrationslager Buchenwald, die Untergrundarbeit in der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) gegen das Franco-Regime bis hin zum Ausschluss aus der PCE und der Abkehr von seinen kommunistischen Überzeugungen.

In seinem schriftstellerischen Werk hat sich Semprún auf vielfältige und literarisch ambitionierte Weise mit seinem Leben auseinander gesetzt. Vieles bleibt darin jedoch, so Augstein, „offen, angerissen, letztlich unerklärt“ (S. 10). Diese Lücke versucht sie mit ihrem Porträt zu schließen, das die intensive Aufmerksamkeit, die dieser Autor in den letzten Jahren sowohl von literaturkritischer und historisch-essayistischer als auch von literaturwissenschaftlicher Seite genießt, widerspiegelt.1 Augstein hat über mehrere Jahre zahlreiche Gespräche mit Semprún geführt und diese durch eigene Recherchen ergänzt. In insgesamt zehn Kapiteln zeichnet sie nun sein Leben (und Schreiben) nach. Dabei folgt sie weitgehend der Perspektive Semprúns und reflektiert oder korrigiert diese, wenn nötig, auf der Basis ihrer eigenen Recherchen und Kompetenzen als Historikerin. „Weil deutsche Pläne das zwanzigste Jahrhundert grausam prägten“ (S. 11) wird darüber hinaus ein „deutscher“, mitunter persönlich motivierter Vorspann an den Beginn fast aller Kapitel gestellt, der die Erlebnisse Semprúns um eine spezifisch deutsche Sichtweise erweitert und dadurch für ein deutschsprachiges Publikum kontextualisiert.

Aufgrund der engen Zusammenarbeit mit Jorge Semprún vermag Augstein viele bisher noch nirgends auffindbare Details aus dessen Leben zu liefern, insbesondere über seine Familie oder über seine genaue Tätigkeit in der Résistance. Das Buch ist deshalb auch für Semprún-Kenner und Kennerinnen interessant und liest sich zudem spannend wie ein Roman. Nicht zuletzt aufgrund verschiedener geschickt gesetzter Dramatisierungseffekte (häufige kurze Sätze, zahlreiche Doppelpunkte, Absätze an wichtigen Stellen) ist ein Text entstanden, dem es über mehrere hundert Seiten gelingt, einem abenteuerlichen Leben gerecht zu werden. In dieser Hinsicht kommt den kontextualisierenden Kapiteleinstiegen auch die Funktion zu, das dominante Narrativ wohltuend zu brechen, bevor dieses sich allzu sehr verselbstständigen könnte.

Bis Mitte der 1960er-Jahre verfolgt Franziska Augstein das Leben des Porträtierten sehr genau und detailreich. Von da an gilt ihre nähere Betrachtung allerdings weniger seinem Leben als vielmehr seinem schriftstellerischen Werk. Mehr als ein Mal überraschen dabei selbstsicher vorgetragene Einschätzungen und Behauptungen, die jedoch keiner Überprüfung am Text unterzogen wurden. Vereinfachende Aussagen wie, dass der 2001 erschienene Text Le mort qu’il faut (Der Tote mit meinem Namen) als „roman roman“ einzuordnen sei, in dem „er sein Leben als einen Baukasten [benutzt], dessen bunte Klötze er nach Lust und Laune aufeinandertürmt“ (S. 344ff.) oder dass Semprún „keine großen Stücke auf [den französischen Autor Paul] Valéry hält“, weil er diesen in Le grand voyage (Die große Reise) zu einem „distinguierten Schwachkopf“ erklärt (S. 342), hätten durch eine intensivere Beschäftigung mit den Texten zumindest relativiert werden können.

Das Problem solcher Aussagen ist, dass Augstein in ihrer Betrachtung des schriftstellerischen Werks ebenso der Perspektive Semprúns folgt, wie sie dies in der Betrachtung seines Lebens tut, ohne die Aussagen über die Texte aber ebenso durch eigene Recherchen, das heißt hier: Textanalysen zu ergänzen. Auf diese Weise kann der Befund über die Texte – anders als etwa jener über Semprúns Umgang mit seiner stalinistischen Vergangenheit, den Augstein souverän zu differenzieren vermag – nicht relativiert werden. Wo dies nur Auswirkungen auf die im engeren Sinn literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse hat, ist das Versäumnis verzeihlich.2 Wo die vermeintlich richtige, weil Semprún selbst folgende Textauslegung allerdings zu vereinfachenden und verzerrenden Behauptungen über den Autor führt, ist es bedauerlich. Hier bleibt ein Erkenntnispotential ungenutzt, das auch einem grundsätzlich an der Vita orientierten Porträt zusätzliche Nuancen und Schattierungen hätte verleihen können. Gerade bei einem Autor wie Semprún werden nämlich im textuellen Zusammenspiel einer explizit vertretenen Poetik und einer dieser mitunter diametral entgegen gesetzten impliziten Poetik Widersprüche, Ungereimtheiten und Identitätsproblematiken erkennbar, die man hätte produktiv machen können. So lässt beispielsweise die polemische Absage an Proust bei gleichzeitiger emphatischer Aneignung zentraler Motive und Verfahrensweisen dieses Autors in Die große Reise mehr von Semprúns innerer Zerrissenheit und auch von seiner Literaturauffassung in den frühen 1960er-Jahren erahnen, als es Augsteins allzu einfacher Befund zu vermitteln vermag.3 Sicher hat Semprún „nie versucht, es [Michel] Leiris an unverstellter Offenheit gleichzutun“ (S. 63), so manches jedoch, was den Semprún’schen Texten auf komplexe Weise eingeschrieben ist, hätte die Frage „Wer ist dieser Mann?“ bereichert – freilich nicht in Form von eindeutigen Antworten oder Erklärungen als vielmehr in Form von subtilen Andeutungen.

So bleibt der Eindruck eines interessanten und spannend zu lesenden Buches, das jedoch die Inhalte und Qualitäten von Semprúns literarischem Werk verkennt und dadurch vieles von dem, worüber eben nicht einfach gesprochen werden kann, ausblendet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Ulrike Vordermark, Das Gedächtnis des Todes. Die Erfahrung des Konzentrationslagers Buchenwald im Werk Jorge Semprúns, Köln 2008; Wilfried F. Schoeller, Jorge Semprún. Der Roman der Erinnerung, München 2006; Monika Neuhofer, „Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé“. Jorge Sempruns literarische Auseinandersetzung mit Buchenwald, Frankfurt a. Main 2006; María Angélica Semilla Durán, Le masque et le masqué. Jorge Semprun et les abîmes de la mémoire, Toulouse 2005.
2 Beispielsweise ließe sich die Behauptung, Semprún habe keine literarische Theorie (S. 350), anhand der Texte problemlos falsifizieren.
3 „Als Kommunist jedoch zählte er Proust zu den etwas langatmigen Vertretern einer bürgerlichen Kultur, die der Gegenwart und ihren Problemen nicht gewachsen war.“ (S. 47)

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension