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Verstreute Perlen in viel Aspik

Oliver Matuschek scheitert an der Biographie
Stefan Zweigs

  • Oliver Matuschek: Drei Leben. Stefan Zweig - Eine Biographie. Frankfurt/M.: S. Fischer 2006. 416 S. Gebunden. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-10-048921-0.
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Probleme mit Zweig

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Machen wir uns nichts vor: Zwar liegen inzwischen die Briefe Stefan Zweigs in sorgsam edierten Editionen vor, doch fehlt weiterhin eine Werkausgabe, die auch nur halbwegs verlässlich die Quellenlage oder nachträgliche Veränderungen im Text anzugeben in der Lage wäre, von einer guten Kommentierung ganz zu schweigen.

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Zusätzliche Schwierigkeiten bereitet die Tatsache, dass Zweig als Autor immer noch mit Häme bedacht beziehungsweise von der Literaturwissenschaft gemieden wird. Heinrich Detering führt einen möglichen Grund dafür an: Selten verzichte Zweig »völlig auf die stereotype Erhabenheitsrhetorik, die Feierlichkeitsgesten und das Schicksalstremolo, die manche seiner Bücher heute so peinlich machen«. 1

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Und noch ein dritter Punkt erschwert die Arbeit: Es hat sich ein eigener Mythos um Zweig entwickelt (er sei etwa »grenzenlos hilfsbereit gegenüber allen, die ihn baten, und auch gegenüber denen, die sich schämten zu fragen«, seine »Bereitschaft zum Verständnis kannte keine Grenzen«, seine Menschenfreundlichkeit sei »unsentimental und genau, aufmerksame, teilnehmende Beobachtung«, so Heinrich Detering).

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Matuschek führt jedoch zu Recht an, Zweig habe sich zum Teil verleugnen lassen, um nicht von der Masse der Bittsteller erdrückt zu werden. Zweigs offensichtliche Frauenverachtung darf ebenso wenig hinwegeskamotiert werden: In seiner Autobiographie nennt er seine beiden Ehefrauen so gut wie gar nicht. Zu Friderike bemerkte er zynisch in Bezug auf seine Seitensprünge und ihre Verbitterung im Abschluss eines Briefes: »mache keine Skisprünge, eher Seitensprünge, falls es Dir gelingt« (S. 259). Häufige Affären waren für ihn Stimulans, halfen aber auch nicht immer weiter. Über Friderike bemerkte er, sie sei »sehr eifersüchtig, obwohl meine Fehltritte noch an den Fingern einer Hand abzuzählen« seien (S. 193). Für seine Stieftöchter hatte er nichts als Verachtung übrig, da sie weder von seinem Werk, seinen internationalen Verbindungen noch von seiner Autographensammlung beeindruckt waren. Am Ende war er »froh, daß ich die beiden jungen Damen nicht mehr sehe« (S. 316).

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Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, in einer Biographie peinliche Details um ihrer selbst willen süffisant auszubreiten (Matuschek rutscht leider – wenn auch selten – auf dieses Niveau ab, wenn er etwa bemerkt, dass Friderike und Stefan bei ihrem zweiten Treffen in einem Hotel »diesmal nur ein Zimmer genügt haben dürfte«, S. 117). Doch gilt es, sich vor Schönreden zu hüten. Der russische Komponist Dimitri Schostakowitsch stemmte sich gegen unsere Erinnerungskultur: Er selbst versuche sich an Menschen zu erinnern »ohne Gesülz. Ich übergieße sie nicht mit Aspik, will kein delikates Gericht aus ihnen machen.« 2 Und dies droht bei Zweig besonders.

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Die Herangehensweise

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Oliver Matuschek nun versucht in seiner Zweig-Biographie das erste Problemfeld der ärgerlich schwachen Text- und Quellengrundlage durch aufwändigste Recherche zu umgehen (allein sein Verzeichnis der ungedruckten Quellen – leider jedoch, ohne die einzelnen Werktitel genau den einzelnen Orten und Nachlässen zuzuordnen – ist das Eintrittsgeld wert, vgl. S. 376–79).

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Besonders wichtig sind Matuscheks Hinweise auf regelrechte Fälschungen in den Briefausgaben durch Friderike (S. 12), aber auch auf die Unwahrheiten, die etwa der Biograph Siegfried Trebitsch über Zweig verbreitete (S. 41), Zweig sei etwa von seinen Eltern bei der Geburt vom Militärdienst freigekauft worden und habe seinem Vater bei einem Streit darüber, ob er die Fabrik der Familie übernehmen solle, einen Finger gebrochen. Matuscheks Diskussion der Behauptungen Benno Geigers, Zweig habe sich als Patient Sigmund Freuds von diesem mit einem Attest versehen als Exhibitionist in Wien herumgetrieben, ist überzeugend klar: Sollte denn Geiger allen Ernstes glauben wollen, ein umstrittener Mann wie Freud hätte es gewagt, »einem seiner Patienten mit exhibitionistischen Neigungen eine Art ›Jagdschein‹ auszustellen, der im Falle einer Festnahme zu Nachsicht und mildernden Umständen von seiten der Behörden« (S. 284) hätte führen sollen oder können? Ähnlich souverän diskutiert Matuschek die letztendlich nicht eindeutig zu entscheidenden Frage, ob Zweig homosexuell war (vgl. S. 283 ff.; seine Ballade von einem Traum im Traum wurde oft als entsprechendes Selbstbekenntnis interpretiert).

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Matuschek recherchiert oft genau: 1911 begegnete Zweig dem todkranken Gustav Mahler auf einem Dampfer bei der Überfahrt nach Europa. Zweig fasste dies später so zusammen: »Der Wind hatte ihm [Mahler] das ergraute Haar zur Seite gelegt, klar und kühn sprang die gewölbte Stirn vor, und unten das harte Kinn, in dem die Stoßkraft des Willens lag« (S. 93). Mahler war jedoch alles andere als erfreut über Zweigs Annäherungsversuche und hatte sich verärgert zurückgezogen. Daraufhin hatte Zweig Mahlers Frau Alma Hilfe angeboten. Doch die hatte ihn auf die Einfahrt in den Hafen vertröstet – und erzählte später: »Nun dachte ich, er werde mir helfen. Keine Ahnung! Er verschwand, und ich fand ihn bei Gucki [ihre Tochter] laut Märchen erzählend. Mahler fühlte sich gestört und bat, ich möge den jungen Mann ersuchen, aufzuhören« (S. 94).

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Auch andere Umerzählungen Zweigs sind hochinteressant: Bei der Trauung in England – so Zweig in seiner Autobiographie – drohte Kriegsausbruch. In Die Welt von Gestern, Zweigs in Brasilien kurz vor seinem Tode abgeschlossener Autobiographie, klingt das dann so: »Unterdessen hatte der andere [britische] Beamte, der unseren Heiratsschein bereits auszuschreiben begonnen hatte, nachdenklich die Feder hingelegt. Wir seien doch schließlich Ausländer, überlegte er, und würden im Falle eines Krieges automatisch zu feindlichen Ausländern. Er wisse nicht, ob eine Eheschließung in diesem Falle noch zulässig sei. Es tue ihm leid, aber er wolle sich jedenfalls nach London um Instruktionen wenden. – Dann kamen noch zwei Tage Warten, Hoffen, Fürchten, zwei Tage der grauenhaftesten Spannung« (S. 342 f.). Die Einschätzung als »alien enemy« erfolgte real aber tatsächlich erst drei Tage später bei der Registrierung der beiden längst Verheirateten auf dem Polizeirevier.

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Bedauerlich ist, dass diese Klarheit in der Argumentation in Matuscheks Buch nicht immer Standard ist, denn wichtige Hinwiese werden oft nicht durch genaue Angaben untermauert. Ein Beispiel: Stefan Zweig hatte sich geweigert, sich an Klaus Manns Exilzeitschrift Die Sammlung zu beteiligen. Zweigs Verleger Anton Kippenberg formulierte eine Erklärung, die dieser genehmigte. Doch Kippenberg wies ohne Wissen Zweigs den Verlag an, den Brief an das zuständige »Reichsministerium für Volksaufklärung« zu senden, das diesen höchst erfreut an das inzwischen gleichgeschaltete Börsenblatt für den deutschen Buchhandel weiterleitete, das wiederum den Brief abdruckte (S. 265). Doch warum wurde dies Dokument nicht vollständig wiedergegeben und Kippenbergs Bemerkungen nicht zitiert?

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Im Zusammenhang mit dem zweiten Problemfeld, also einer eindeutigen Wertung des Zweigschen Œuvres, vermeidet Matuschek jede Stellungnahme. Zwar führt er verstreut Selbstaussagen Zweigs (»alles rein Theoretische und Metaphysische bleibt mir unerlernbar«, S. 58, oder »Alles Theoretische ist mir unzugänglich; ich kann mich nur in Gestalten und Symbolen einigermaßen zum Ausdruck bringen«, S. 352) und die Affäre um die Attacken von Richard Schaukal an: Dem gegenüber hatte Zweig 1914 erklärt, »dass das einmal Gedruckte mir widerwärtig ist wie alles Kaltgewordene und ein innerer Ekel mich hemmt (trotz der intellektuellen Einsicht in die Unzulänglichkeit) noch einmal daran zu rühren« (S. 260). Schaukal wetterte nun in rechten Publikationen gegen Zweig (etwa in Stefan Zweig – Ein Beitrag zur Geschichte der Dummheit), kulminierend 1933 in einem Beitrag in Die Neue Literatur, in dem er genüsslich ausbreitete, dass Kippenberg – ohne Wissen Zweigs – den Literaturhistoriker Walther Linden damit beauftragt hatte, »in Sinne der Vermeidung von Fremdworten und der Pflege der deutschen Sprache unter ›modernen‹ Gesichtspunkten Korrekturvorschläge für Neuauflagen der Marie Antoinette [einer Biographie Zweigs] zu machen« (S. 261).

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Doch wagt Matuschek keine zusammenfassende abschließende Wertung, um die im Buch verstreuten Anekdoten zusammenzufassen: Aus welchen Quellen aber speist sich Zweigs martialischer Stil, etwa über den Bildhauer van der Stappen, als dieser ein Portrait von Zweigs Freund Emil Verhaeren anfertigte: »Dann trat er entschlossen zurück. Sein Auge stählte, seine Muskeln strafften sich. Die Arbeit begann« (S. 78)? Doch woher könnte diese Sucht nach dem Weihevollen oder der inflationäre Gebrauch des Begriffes »Meister« (den Matuschek unerfreulicherweise oft selbst übernimmt) kommen?

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Ähnlich erwähnt Matuschek zwar die schlampigen Recherchen Zweigs (er zitiert leider erneut nur Ausschnitte aus einem Brief eines Rittmeisters an Zweig über dessen Roman Ungeduld des Herzens, der ihm seitenlang sachliche Fehler vorwirft, man habe zum Beispiel die Pferde vor dem Exerzieren und der Reitschule niemals in Galopp zu reiten, um die dann erhitzen Tiere nicht sich verkühlen zu lassen, einen Sattel könne man nicht aufzäumen, der erste Toast habe nur ein dreimaliges Hoch auf seine Majestät sein dürfen usw. [S. 321]).

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Doch geht Matuschek dieser Spur in anderen Texten nicht nach. Ein Paradebeispiel für Laxheit in diesen Fragen wäre aber beispielsweise Zweigs heute zu Recht berühmtestes Werk Schachnovelle – in der so gut wie nichts stimmt. 3 Einige Beispiele: Jeder Zug in dem Schachduell zwischen Czentovic und Dr. B. soll 10 Minuten dauern. Bei vierzig Zügen pro Partie macht das 800 Minuten, also knapp 13,5 Stunden (ohne Pausen). In Meisterpartien sind aber drei Minuten für einen Zug üblich. Ebenfalls soll sich Czentovic als amtierender Schachweltmeister nicht eine einzige Partie merken können und nicht in der Lage sein, fantasiereiche Kombinationslösungen zu entwickeln – vorsichtig gesagt eine unglaubwürdige Anlage der Figur, vermutlich deshalb, weil dieser als Antipode zum Intellektuellen Dr. B. ausstaffiert wird. Ohne Trainingspartner aber, moderne Schachliteratur und ständiges Training ist eine Spielstärke wie die Dr. B.s weder zu erreichen noch zu halten. Und die Amateure auf dem Dampfer halten gegen Czentovic 37 (in Worten: siebenunddreißig!) Züge durch – und ihre Partie steht immer noch nicht eindeutig verloren usw.

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Die interessanteste Frage wird dann gar nicht erst gestellt: Warum spricht uns der Text heute noch so an und gilt zu Recht als Klassiker?

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Warum scheitert das Buch?

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Eine der möglichen Ursachen für die oft undifferenzierte Aneinanderreihung von Einzelerkenntnissen und Anekdoten in Matuscheks Monographie könnte darin liegen, dass er die Biographie in drei Teile teilt, um auf diese Weise Zweigs Titel-Idee für eine Autobiographie Meine drei Leben zu übernehmen. Matuschek verbaut sich dadurch jedoch die Möglichkeit, immer wiederkehrende Motive oder Handlungszusammenhänge in Zweigs Leben pointierter herauszustellen. Ein Beispiel: In seiner zumindest in dieser Hinsicht weiter führenden Zweig-Biographie hat der Psychiater Thomas Haenel dem Thema »Suizid« einen eigenen Platz eingeräumt. 4 Zehn Novellen, zwei Romane beziehungsweise Romanfragmente und Zweigs Studie über Heinrich von Kleist haben Suizide zum Thema. Matuschek führt zwar an, dass Stefan Friderike androhte, sich zu erschießen, falls sie noch einmal schwanger werden sollte (S. 211), verschweigt aber, dass er sie ebenso mindestens zwei Mal bat, sich zusammen mit ihm umzubringen (mit besonderem Nachdruck zu der Zeit, als er an seinem Essay zu Heinrich von Kleist arbeitete – der sich seinerseits mit der schwer an Krebs erkrankten Henriette Vogel 1811 umgebracht hatte).

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Man muss sich in diesem Zusammenhang vor Vereinfachungen hüten – und dies umso mehr, als nur Stefan Zweig im Exil mit seiner zweiten Frau das schnell wirkende Veronal in Überdosis nahm, während Lotte Zweig auf Formicida (ein besonders in der armen Bevölkerung verwendetes Ameisengift) zurückgriff und erst nach langem Todeskampf starb. 5 Matuschek schreibt, beide seien »durch die Einnahme giftiger Substanzen verstorben«, allem »Anschein nach hatte Lotte erst einige Zeit nach Stefan zum Gift gegriffen« (S. 355). Das ist nicht unbedingt falsch, könnte aber als beschönigend missverstanden werden. Gegen Ende seines Buches stilisiert Matuschek die Szene dann aber ins Unerträgliche: »An der Wand des Schlafzimmers hing in einem Rahmen Stefans Übertragung des Gedichts von Camões, das er im Vorjahr an Freunde versandt hatte: ›Ach daß nur eine Falte des Erdballs für den Menschen sicher wäre‹« (S. 356).

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Ein weiteres Beispiel: Eine chronologisch-lineare Schilderung von Zweigs Leben tendiert per se dazu, sich zu wenig den die Geschehnisse verbindenden Grundgesten zuzuwenden. Zweig treibt zum Beispiel aber eine fast schon kannibalistisch zu nennende Sucht nach Originalmanuskripten und Devotionalien großer Künstler. Matuschek führt Romain Rollands Ausführungen in einem Katalog der Autographensammlung an, Zweig raffe Autographen zusammen »in seinem Fieber, im Geheimnis der großen Männer, der großen Leidenschaften, der großen Schöpfungen all das zu entdecken, was sie dem Publikum verschweigen, was sie nicht ausgeplaudert haben. Er ist der freche und zugleich fromme Liebhaber des Genius, dessen Mysterium er vergewaltigt, aber nur, um es tiefer zu lieben, der Dichter, der sich den gefährlichen Schlüssel Freuds zu eigen gemacht hat, der Seelenjäger« (S. 223).

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Diese Sucht nach den Werken seiner Meister ähnelt auf fatale Weise seinem verzweifelten Suchen nach geistigen (Über-)Vätern in Verbindung mit seinen erschreckenden Größenphantasien (Matuschek nennt nicht Zweigs Plan, den dieser in seiner Die Welt von Gestern entwickelt, »die ganze Weltliteratur von Homer über Balzac und Dostojewski bis zum ›Zauberberg‹ mit gründlicher Kürzung des individuell Überflüssigen herauszugeben«, denn so »könnten alle diese Werke, die zweifellos überzeitlichen Gehalt haben, erneut lebendig in unserer Zeit wirken«; 6 Zweig wollte also unter anderem Manns Stil überarbeiten, damit dieser ein größeres Publikum erreichen könne ...).

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Diese gewaltigen Größenphantasien paaren sich mit Zweigs brachialen Selbstabwertungen. Die zu Grunde liegende Ambivalenz lässt sich vielleicht am deutlichsten in seinen Bemerkungen über seinen ersten Besuch in Südamerika fassen, nämlich in einem Brief vom 25. August 1936 an Friderike: »Ich bin sehr glücklich, dass ich hier gewesen bin [...], ich bin eben 6 Tage hier Marlene Dietrich gewesen«, dann aber am 12. September wieder an Friderike: »Mich ekelt dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten« (S. 296).

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Schlicht unverständlich bleibt, warum Matuschek der Zeit Zweigs in Petropolis (und damit der Schachnovelle, Die Welt von Gestern und dem Romanfragment Clarissa) nur wenig mehr als zehn Seiten zugesteht und auf die unmittelbaren Reaktionen auf Zweigs Tod (vom Nachleben seines Werks ganz zu schweigen) so gut wie gar nicht eingeht. Dabei waren diese Reaktionen alles andere als freundlich. Thomas Mann war von Zweig bitter enttäuscht, wie sein Brief an Friderike vom 15. September 1942 deutlich macht:

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War er sich keiner Verpflichtung bewußt gegen die Hunderttausende, unter denen sein Name groß war, und auf die seine Abdankung [!] tief deprimierend wirken mußte? Gegen die vielen Schicksalsgenossen in aller Welt, denen das Brot des Exils ungleich härter ist, als es ihm, dem Gefeierten und materiell Sorglosen war? Betrachtete er sein Leben als reine Privatsache und sagte einfach: »Ich leide zu sehr. Seht ihr zu. Ich gehe.«? (nach Haenel 1995, S. 142).
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Thomas Mann verkennt dabei, dass vermutlich Zweigs ohnehin schwache Ressourcen anscheinend restlos aufgebraucht waren. Man versuche sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn Stefan Zweig in unsere bundesrepublikanische unmenschliche Asylmaschinerie geraten wäre ...

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Was sollte eine
Biographie leisten?

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Es ist leicht, ein Buch zu kritisieren, zumal dann, wenn man nicht den Beweis antreten muss, es besser machen zu können. Doch haben andere Biographen mit Werken zu anderen Autoren durch eine neue, konzentrierte Lesart die Sichtweise auf ihren Autor geprägt, oft sogar entscheidend verändert. Peter Gays Freud-Biographie 7 räumte mit vielen der Mythen auf, die den Freud-Jüngern lieb und teuer geworden waren, und ist auch nach nun 20 Jahren unverzichtbar. Ray Monks Wittgenstein-Biographie 8 gehört weiterhin zu den gehaltvollsten Büchern, die man über Werk und Leben des Philosophen in die Hände bekommen kann. Rüdiger Safranskis Nietzsche-Buch 9 schaffte es, auf rein biographische Fakten zu verzichten und sich stattdessen der Entwicklung von Nietzsches Denken als Biographie seines Denkens beziehungsweise als Rekonstruktion seines Philosophierens zu widmen.

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Doch wie gelingt es diesen Biographen, jeweils eine spezifische Verbindung oder Nicht-Verbindung zwischen Biographie und Werk für ein genaueres Verständnis des Künstlers zu verdeutlichen? Zwei Extrembeispiele sollen die mit einer solchen In-Beziehung-Setzung verbundenen Gefahren, aber auch die Möglichkeiten verdeutlichen: Oliver Jahraus’ brillante Kafka-Studie 10 setzt aus literaturtheoretischen Erwägungen Biographie und Werk Kafkas in eins. Da Kafka alles eigene Leben zum Werk gerinnt beziehungsweise von ihm eigenes Leben immer schon als Werk stilisiert wird, kann man bei ihm nur mit allergrößten Schwierigkeiten zwischen Literatur und Leben differenzieren (die Briefe sind inszeniert, die Texte zum Teil im Tagebuch entstanden usw.). Demgegenüber ist ein ähnlicher Kurzschluss zwischen Werk und Leben in John Felstiners Biographie Paul Celans 11 eher peinlich, da Felstiner das Werk durch biographische Details zu erklären versucht (gegen ein solches Vorgehen hatte sich Celan zeitlebens verzweifelt gewehrt und biographische Anspielungen immer weitergehend aus den Texten entfernt).

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Eine Biographie über Stefan Zweig hätte zum Beispiel die innere Zerrissenheit (der selbstlose Helfer und große Freund gegen den Frauenverachter, der sich zurückzieht, wo immer es nur geht; seine gewaltigen Größenphantasien gegen brutale Selbstabwertung, Unsicherheitsgefühle und panische Angst vor Kontrollverlust; erzählerisches Feingespür, Hypersensibilität und Taktgefühl gegen martialisches Wortgeklingel und Superlativismen; heroische Gesten bei aufgebrauchten, ohnehin nur schwachen Ressourcen, besonders am Ende) des aus dem 19. Jahrhundert Vertriebenen und am 20. Jahrhundert Verzweifelten als neue Zugangsweise auf das immer noch nicht angemessen gewürdigte Werk herausarbeiten können (erstaunlicherweise gehorcht die Figurenanlage der meisten Texte Zweigs nämlich solchen stereotypen Paarsetzungen als Verkörperungen dieser Zerrissenheit).

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Wichtige Fragen hat Matuschek in seiner Biographie Zweigs gar nicht gestellt: Warum werden Zweigs Werke heute noch gelesen? Und warum interessiert uns seine Person immer noch? Letzten Endes scheitert Matuscheks Buch jedoch vor allem an seiner Unentschiedenheit.



Anmerkungen

Heinrich Detering: Dr. Stefan und Mr. Zweig. Halb Arthur Schnitzler, halb Vicky Baum: Ein Plädoyer für einen guten Erzähler, der vor 125 Jahren geboren wurde. In: literaturen 12 (2006), S. 34 f.   zurück
Dimitri Schostakowitsch: Die Memoiren des Dimitri Schostakowitsch. Hg. von Solomon Wolkow. Berlin: Ullstein Heyne List 2003, S. 98.   zurück
Auf einige Details wies erstmals Jiři Veselý hin: Das Schachspiel in der Schachnovelle. In: Österreich in Geschichte und Literatur 13 (1969), S. 517–523; ausführlicher Hannes Fricke: »still zu verschwinden, und auf würdige Weise«: Traumaschema und Ausweglosigkeit in Stefan Zweigs »Schachnovelle«. In: Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin 2006/2, S. 41–55.   zurück
Thomas Haenel: Psychologe aus Leidenschaft. Stefan Zweig – Leben und Werk aus der Sicht eines Psychiaters. Düsseldorf: Droste 1995.   zurück
Vgl. hierzu Ingrid Schwamborn: Aspekte des Schachspiels in der Schachnovelle. In: I. S. (Hg.): Die letzte Partie. Stefan Zweigs Leben und Werk in Brasilien (1932–1942). Bielefeld: Aisthesis 1999, S. 265–296, hier bes. S. 295, und Thomas Heanel: Stefan und Lotte Zweig. In: T. H.: Suizid und Zweierbeziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2001, S. 37–35. Beide Autoren werden von Matuschek nicht einmal im Literaturverzeichnis aufgeführt.   zurück
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Frankfurt/M.: Fischer 2003, S. 364.   zurück
Peter Gay: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Frankfurt/M.: Fischer 1995 (zuerst als »Freud: A Life for Our Time« 1987).   zurück
Ray Monk: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Stuttgart: Klett-Cotta 1992 (engl. »Ludwig Wittgenstein. The duty of genius« erstmals 1990).   zurück
Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biografie seines Denkens. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2000.   zurück
10 
Oliver Jahraus: Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate. Stuttgart: Reclam 2006.   zurück
11 
John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie. München: C.H. Beck 1997 (erstmals 1995).   zurück