W. Bergmann: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften

Titel
Antisemitismusforschung in den Wissenschaften.


Herausgeber
Bergmann, Werner; Körte, Mona
Erschienen
Berlin 2004: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 21,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Egbert Klautke, SSEES, University College London

Der vorliegende Sammelband ist aus einer Konferenz im Jahre 2002 anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin hervorgegangen. Er umfasst, einschließlich der Einleitung der beiden Herausgeber/innen, auf etwa 400 Seiten 16 Beiträge, in denen die Autor/innen den Forschungsstand zum Antisemitismus in ihren jeweiligen Disziplinen und Fachgruppen zusammenfassen und kommentieren. So stehen Beiträge zur Geschichtswissenschaft (Johannes Heil, Reinhard Rürup, Michaela Haibl, Thomas Henne/Carsten Kretschmann), den Sozialwissenschaften (Werner Bergmann) und der Germanistik (Mona Körte, Dietz Bering) neben solchen zur Theologie (Ekkehard W. Stegemann, Rainer Kampling), der Volkskunde (Christoph Daxelmüller), der Theaterwissenschaft (Hans-Peter Bayerdörfer), der Islamwissenschaft (Götz Nordbruch) und der Psychoanalyse (Hermann Beland). Etwas aus dem Rahmen fällt der Aufsatz von Franz Maciejewski “Zur Grundschrift von Antijudaismus und Antisemitismus. Eine religionsgeschichtliche und ethnopsychoanalytische Annäherung”, der mit Hilfe klassischer Texte von Siegmund Freud und Jan Assmann völkerpsychologische Spekulationen in zeitgemäßer, freudianisch-korrekter Form anstellt, aber über keinen “Forschungsstand” der “Ethnopsychoanalyse” zum Antisemitismus berichten kann. Insgesamt geben die Autor/innen einen eindrucksvollen Einblick in die vielfältigen Forschungsarbeiten, die im 20. Jahrhundert aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der einzelnen Disziplinen zur Geschichte, Entwicklung und den Folgen des Antisemitismus entstanden sind.

Dieser Zugriff ist der simplen Tatsache geschuldet, dass „Antisemitismus” und Forschungen dazu keine eigene Disziplin begründet haben, da es sich hierbei, woran noch einmal erinnert werden sollte, um einen Gegenstand, nicht aber um ein “Fach” handelt. Entsprechend existiert auch kein “Bündel spezifischer Untersuchungsmethoden”, wie die Herausgeber/innen betonen; die Antisemitismusforschung ist vielmehr notwendig interdisziplinär und „muss sich (…) der theoretischen Zugriffe der Einzeldisziplinen bedienen und deren Methodenentwicklung folgen” (S. 21). Zudem haben Bergmann und Körte den Autor/innen eine sehr weit gefasste Definition von “Antisemitismus” vorgegeben (“alle Formen von Judenfeindschaft”, S. 9) – wohl um der potentiell problematischen Unterscheidung von Antisemitismus und Antijudaismus zu entgehen – und damit das potentielle Forschungsfeld extrem geweitet. Entstanden ist eine interdisziplinäre Leistung im besten Sinne, die weit mehr als eine Bestandsaufnahme der aktuellen Forschung bietet und ihren Nutzen vor allem als Handbuch und Nachschlagewerk haben wird.

Einige kritische Anmerkungen zu einigen Beiträgen sind trotzdem angebracht, da auch dieser Sammelband in ihrer Qualität und ihrem Zuschnitt durchaus unterschiedliche Beiträge zusammenführt. Wie viele Sammelbände, insbesondere umfangreiche und ambitionierte wie dieser, kann auch die klare Konzeption der Herausgeber/innen Redundanzen, Überschneidungen und Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Beiträgen nicht verhindern. Eine kohärente, aus einem Guss gearbeitete Monografie zum Thema “Antisemitismusforschung im zwanzigsten Jahrhundert” kann der vorliegende Band nicht ersetzen. Die Herausgeber/innen erklären in ihrer Einleitung, „wissenschaftshistorische Studien können nur von innen, aus dem jeweiligen Fach geschrieben werden”. Dies kann mit Recht bezweifelt werden, ansonsten wären wissenschaftshistorische Studien per definitionem unmöglich oder zumindest höchst schwierig; zudem zeigen viele Studien zur Geschichte wissenschaftlicher Fächer, dass es gerade des Blickes von außen bedarf, um fachinternen Mythenbildungen und hagiografischen Tendenzen entgegenzuwirken. Der Titel des Bandes hätte darauf hinweisen können, dass in den meisten Beiträgen über die Antisemitismusforschung in Deutschland berichtet wird. Wieder einmal haben wir es mit einer inhaltlichen und damit auch perspektivischen Beschränkung auf Deutschland zu tun, die als solche nicht reflektiert wird und daher problematisch ist; eher kleinmütig und am Rande stehen die Herausgeber zu: “Noch zu wenig genutzt werden die Erkenntnismöglichkeiten des Vergleichs regionaler und nationaler Antisemitismen, hier bleibt die Forschung zu sehr an nationalgeschichtlichen Perspektiven gebunden.” Eines der erstaunlichsten Ergebnisse ist Reinhard Rürups Feststellung, dass eine “aus den Quellen gearbeitete zusammenfassende Darstellung der Geschichte des Antisemitismus in der Weimarer Zeit (…) und [der] Zeit der NS-Herrschaft” (S. 134), trotz Fortschritten in der Einzelforschung, bisher nicht existiert. An diesem Punkt, in Verbindung mit international vergleichenden und transnational ausgerichteten Studien, sollte die Forschungsplanung des Zentrums für Antisemitismusforschung einsetzen.

Trotz dieser Einschränkungen liegt ein gelungener Band vor, der vor allem durch seinen interdisziplinären Ansatz überzeugt und die Stärken der Forschung am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin eindrucksvoll demonstriert, aber ebenso auf Lücken und Desiderata in diesem weiten Forschungsfeld aufmerksam macht.

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