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Buchreihe: Psyche und Gesellschaft
368 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
Erschienen: Februar 2001
ISBN-13: 978-3-89806-104-9
Bestell-Nr.: 104

Opfer und Täter zugleich?

Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah

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Sollte man mit den Nazis kollaborieren, um die eigene Familie oder sich selbst zu retten? Mit diesen Fragen waren jüdische Kapos sowie Judenratsmitglieder während der Nazizeit konfrontiert. Durch ihre Kollaboration wurden diese zwei Gruppen der Funktionshäftlinge zu einer Zwischenschicht zwischen den Tätern und Opfern. So mussten die Judenräte z. B. die Deportationslisten für die Nazis erstellen und die Kapos waren der SS direkt unterstellt. Für viele Überlebende verkörpern sie die Verwirklichung des absoluten Bösen: »Sie waren schlimmer als die Deutschen«, bemerkt ein Teil von ihnen.

Was ist Mythos und was Wirklichkeit am Bild der Kapos? Die israelische Psychologin Revital Ludewig-Kedmi analysiert hier die Biografien von vier Familien. Die Autorin schildert die damaligen Konflikte und heutigen Bewältigungsversuche der Funktionshäftlinge und zeigt, inwieweit die Kapos und Judenräte nicht nur privilegierte Häftlinge waren, sondern auch doppelt missbrauchte Opfer. Die Judenratsmitglieder schrieben die Deportationslisten nicht aus böser Absicht, sondern um sich und die eigene Familie – wenn auch nur vorläufig – vor den Deportationen schützen zu können. Solche durch den Zwangskontext des NS-Systems entstandenen moralischen Dilemmata können nicht logisch rational gelöst, sondern nur emotional verarbeitet werden. In den Bemühungen der Funktionshäftlinge, sich wieder als moralisch zu erleben, kommt es zu psychischen Reaktionen, die vom Selbstmordversuch bis zur totalen Verdrängung reichen. Dabei sieht sich ein Teil der ehemaligen Funktionshäftlinge als passive Opfer, während sich andere als aktive Helden rekonstruieren.

Dies ist ein interdisziplinäres Buch, das eine Analyse dieses bisher weitgehend unerforschten Themas bietet. Es zeigt, dass jüdische Funktionshäftlinge während der Ghetto- und Lagerhaft auch in den schwierigsten Situationen danach strebten, ihren moralischen Werten treu zu bleiben. Doch dies war nicht möglich, und die tiefen Risse im moralischen Selbstbild führten zum Teil bis zum psychischen Zusammenbruch. Diese psychologische Analyse hat wichtige Implikationen für die Therapie mit traumatischen Moraldilemmata.

»Revital Ludewig-Kedmi, eine Berliner Dissertation, verspricht nicht bloß, eine Forschungslücke zu füllen, sondern ein Tabu der bisherigen Holocaust-Forschung zu brechen  ...«

Katharina Rutschky, FAZ

»Zentrales Anliegen Ludewig-Kedmis ist die Darstellung von Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in ihrer Komplexität  ...«

Sascha Karminski, Journal für Psychologie 2001

»Insgesamt ist Revital Ludewig-Kedmi ein wichtiger, psychologisch gründlich fundierter Beitrag zum Diskurs um die Shoah und um politische Traumatisierung gelungen  ...«

Freihart Regner, Politische Psychologie 4-2001

»Die vorliegende Untersuchung macht deutlich, daß die Extremsituation des Lagers weder notwendigerweise den ›Tod der Moral‹ zur Folge hatte noch pauschale Muster der moralischen Verurteilung oder Freisprechung im Überlebendenkollektiv rechtfertigen darf  ...«

Bernd Leineweber, PSYCHE

»When the Israeli-Swiss psychologist Revital Ludewig-Kedmi was looking for first- and second-generation interviewees for her dissertation on Jews who had been prisonerfunctionaries, a colleague suspected she either had to be a very brave person or a bad one  ...«

Beate Meyer, SHOFAR Vol. 22, Winter 2004

»Nach Untersuchungen zu den Folgen der Shoa wagt sich die Autorin in diesem Buch an ein bisher stark tabuisiertes Thema, die Rolle der jüdischen Kapos im Vernichtungssystem der SS  ...«

Hans Schindler, Systhema 95

»Das Buch handelt nicht nur von einem dunklen Kapitel unserer Vergangenheit, es ist von brandheißer Aktualität, verweist es doch indirekt auf permanent wirksame Moralkonfliktsituationen in ›geschlossenen Systemen‹  ...«

Dieter Gnambs, Institut für psychosoziale Aufgaben

Inhalt

Die Funktionstätigkeit aus historischer Sicht
1. Tätigkeit der Judenräte
2. Die Erstellung der Deportationslisten als Moraldilemma
3. Die Kapos
4. Moraldilemmata von Kapos

Wie ›schuldig‹ sind jüdische Funktionshäftlinge?
1. »Das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte«: Die historische Perspektive
2. Gerichtsprozesse: Die juristische Perspektive
3. »Jeder von ihnen hat gemordet«: Gesellschaftlicher Ruf der Funktionshäftlinge

Tod der moralischen Person?
Im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Geschichte
Moraldilemmata aus psychologischer Sicht

1. Moral und Psyche
2. Moraldilemmata in psychologischen Ansätzen
3. Bewältigungsstrategien

Zur Psychologie der ersten und zweiten Generation
1. Jüdische Funktionshäftlinge in der psychologischen Literatur
2. Die erste Generation: Zwischen Überleben und Überlebensschuld
3. Die zweite Generation: Trauer und Moral

Theoretisches Konzept und Fragestellung der Untersuchung
1. Die Entstehung von Moraldilemmata: Die eigene subjektive Moralphilosophie und die NS-Realität
2. Handlungsebene
3. Bewältigungsstrategien: ›Wieder-eins-mit-sich-werden‹

Biographieforschung

1. Wie ›objektiv‹ sind Erzählungen?
2. Das autobiographisch-narrative Interview
3. Interviewpartner und Interviewdurchführung

Familie Halevi-Oz: Heldentum

1. »Ein Mensch bleiben« Rebekka Halevi-Oz – Erste Generation
2. »Dann war sie dort unter den großen Anführern im Judenrat«; Nathan Halevi-Oz – Zweite Generation

Familie Sachaf: Scham
1. »Jahre hat es mich Tag und Nacht gequält«; Yalda Sachaf – Erste Generation
2. Delegation, Erinnern, Korrekturarbeit; Chanan Sachaf – Zweite Generation

Familie Fröhlich: Familiäre Loyalität
1. »Sie waren wirklich phantastisch zu mir«; Bagatellisierung des Grauens oder persönliche Entfaltung im KZ?; Lola Fröhlich – Erste Generation
2. Loyalität zu den Lebenden und den Toten; »Ich wollte nicht leben, nur meine Tochter hat mich immer mitgenommen«; Jaffa Jischei – Erste Generation
3. »Ich bin genau in der Mitte«; Die gedrittelte Loyalität; Dalia Fröhlich-Neeman – Zweite Generation

Familie Chanoch: Solidarität
1. »Wenn ich hier rauskomme, werde ich Sozialarbeiter«; Ran Chanoch – Erste Generation
2. »Ekelhafte Arbeit« Das Verschwinden des Kapo-Begriffs; Liat Chanoch – Zweite Generation

Bewältigungsstrategien jüdischer Funktionshäftlinge und ihrer Kinder
1. Umgang mit Moraldilemmata
2. Aktive Helden, passive Opfer: Das Selbstbild als Funktionshäftling
3. Familiäre Bewältigungsstrategien im Umgang mit Moraldilemmata
4. Zwischen lieben und urteilen – Psychosoziale Bewältigungsstrategien in der zweiten Generation
5. Die Komplexität des Bewältigungsprozesses
6. Ausblick: Implikationen für die Therapie

Epilog: Jüdische Kapos zwischen Mythos und Wirklichkeit