S. Hand u.a. (Hrsg.): Post-Holocaust France and the Jews

Titel
Post-Holocaust France and the Jews, 1945–1955.


Herausgeber
Hand, Séan; Katz, Steven T.
Reihe
Elie Wiesel Center for Judaic Studies
Erschienen
New York 2015: NYU Press
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 43,06
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristoff Kerl, Anglo-Amerikanische Abteilung des Historischen Seminars, Universität zu Köln

„Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“ schrieb Jean Améry in der 1966 publizierten Essaysammlung „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“.1 Das sich in diesem Zitat manifestierende Ringen um eine jüdische Identität war in den verschiedenen jüdischen Communitys in Europa in den Jahren nach der Shoah von großer Bedeutung. Dies galt auch für Frankreich, einem Land, in dem nach dem Ende der ‚antisemitischen Raserei’, der ungefähr ein Drittel der französischen Juden und Jüdinnen zum Opfer gefallen waren, immerhin noch 180.000 jüdische Menschen lebten und dem unter anderem deshalb eine große Bedeutung für jüdisches Leben in Europa nach der Shoah zukam. Hier hakt der von Séan Hand und Steven T. Katz edierte Sammelband „Post-Holocaust France and the Jews, 1945–1955“ ein. Er widmet sich der in der Forschung bisher unterbelichtet gebliebenen Untersuchung des Verhältnisses zwischen den in Frankreich lebenden Juden und Jüdinnen und der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft für die Dekade zwischen 1945 und 1955. Dabei ist den in dem Band versammelten Aufsätzen gemein, dass sie diesen Zeitraum nicht primär unter den Vorzeichen der Trauer, des Leidens und des Traumas analysieren. Vielmehr verstehen sie diese Periode als fundamental für die Herausbildung eines grundsätzlich neuen Selbstverständnisses und gesellschaftlichen Status, den Jüdinnen und Juden im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich einnahmen. So postuliert Seán Hand in der Einleitung des Bandes: „[…] we should read the period 1945–55 in France not merely as the morose and guilty scene of an unattended crime, but more productively as a deeply foundational process that entails a profoundly transformed status for Jews in France during the twentieth century.” (S. 22) Diese Forderung lösen die in dem Band abgedruckten Beiträge ein, die weitgehend aus der Feder ausgewiesener Experten und Expertinnen jüdischer Geschichte stammen. Sie beleuchten verschiedene, mit der Revitalisierung jüdischen Lebens in Frankreich verknüpfte Phänomene. Aufgrund der gebotenen Kürze einer Rezension werde ich im Folgenden den Fokus auf drei Beiträge richten, die jeweils einem der drei thematischen Blöcke des Bandes zuzuordnen sind und die mein besonderes Interesse auf sich gezogen haben.

Die ersten vier Beiträge des Sammelbandes setzen sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Wirken, den Problemen und den Hindernissen jüdischer Organisationen beim Wiederaufbau der jüdischen Community auseinander. Zusätzlich zu Aufsätzen, die sich mit der Gründung des Conseil représentative des israélites de France (CRIF), der Arbeit der Sous-Commission des livres sowie der Integration jüdischer Immigrantinnen und Immigranten in die jüdischen Gemeinden bzw. in deren Institutionen auseinandersetzen, zeigt David Weinberg, dass die Kollaboration des Vichy-Regimes bei der Verfolgung und Deportation jüdischer Menschen sowie die sich der Befreiung anschließende Politik der nationalen Regeneration das Verhältnis von Juden und Jüdinnen zum französischen Staat nachhaltig modifiziert haben. Mit den vielfältigen zu bewältigenden Herausforderungen und Problemen auf dem Weg des (Wieder-) Aufbaus jüdischer Gemeindestrukturen sowie eigener Institutionen setzt sich Weinberg im weiteren Verlauf seines Beitrages ausführlich auseinander. Zu nennen seien hier: erstens, die in den Jahren nach Kriegsende fortwährende schwierige ökonomische Situation Frankreichs, zweitens, der in der französischen Mehrheitsgesellschaft weiterhin existente Antisemitismus, drittens, die Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen zionistischen und nicht-zionistischen sowie mit der Intensivierung des Kalten Krieges zwischen kommunistischen und nicht-kommunistischen Juden und Jüdinnen und, viertens, das Ringen zwischen französischen und ausländischen, insbesondere US-amerikanischen, jüdischen Organisationen um die Ausrichtung der sich im Wiederaufbau befindlichen jüdischen Institutionen. Laut Weinberg bildet diese spezifische historische Konstellation der Jahre 1945–1955 die Wurzel eines bis heute existenten europäischen Judentums, das sich sowohl vom US-amerikanischen wie auch israelischen Judentum unterscheidet.

Die Aufsätze fünf bis sieben behandeln jeweils verschiedene Aspekte jüdischer Kindheit. Während Lisa Moses Leff und Susan Rubin Suleiman in ihren Beiträgen jüdische Waisen und jüdische Waisenheime thematisieren, rekonstruiert Daniella Doron überzeugend auf welche Weise und mit welcher politischen Stoßrichtung unterschiedliche gesellschaftliche Akteure und Akteurinnen im befreiten Frankreich auf das Bild des Kindesopfers rekurrierten. Eingebettet in eine Politik der nationalen Heilung und Wiedervereinigung wurde das Bild des Kindesopfers von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft angerufen, um darüber vermittelt die französische Gesellschaft in toto als homogenes Opfer des Nationalsozialismus zu setzen. Die sich entlang der Frage nach Kollaboration und Widerstand durch sie ziehenden Brüche und Spaltungen wurden damit negiert. Da dieses Narrativ die spezifischen Erfahrungen jüdischer Menschen während der Shoah eskamotierte, regte sich unter französischen Juden und Jüdinnen Widerstand gegen das offizielle Geschichtsverständnis. In ihren Versuchen, dem offiziellen Narrativ ein Korrektiv an die Seite zu stellen und für den Erhalt bzw. die Wiederbelebung des Judentums zu kämpfen, kam dem Bild des Kindesopfers nach Daniella Doron eine immense Bedeutung zu: „Youth functioned as forceful and protean symbols of loss: their innocent deaths highlighted the cruel and specific nature of genocide, while fears about their baptism by Christian rescuers served as a metaphor for Nazi attempts to stamp out Jewish life in Europe.” (S. 86f.) Allerdings agierten die unterschiedlichen jüdischen Organisationen, wie die Debatten um die Ausrichtung der „Week of the Martyred Jewish Child” deutlich machen, hierbei keineswegs einheitlich.

Die letzten vier Aufsätze spüren schließlich verschiedenen Ansätzen jüdischen Denkens und Verstehens des Holocausts nach. Neben Aufsätzen zu Léon Poliakov, André Neher und Emmanuel Levinas setzt sich Jay Winter mit der in der Historiographie verbreiteten These auseinander, wonach französische Jüdinnen und Juden nach den Erfahrungen der Shoah sowie der Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem nationalsozialistischen Deutschland auf Distanz zum Republikanismus gegangen seien. Als Kontrapunkt zu dieser Annahme dient Winter René Cassin, der seit 1943 der Alliance Israélite Universelle als Präsident vorstand. Während Cassins 30jähriger Amtszeit verstand sich, wie Jay Winter argumentiert, diese säkulare Organisation nicht etwa als Vertreterin der Rechte von Juden und Jüdinnen, sondern sie setzte sich konsequent für den Schutz von Menschenrechten ein. „To him [René Cassin, K.K.], the defense of anyone’s human rights anywhere was at the core of the defense of Jewish rights.” (S. 212) Sich nicht den partikularen Interessen von Jüdinnen und Juden verschreibend, agierte Cassin als ein enthusiastischer Vertreter republikanischer Werte und Traditionen und steht damit quer zum historiographischen Narrativ einer Entfremdung zwischen französischen Jüdinnen und Juden und dem französischen Republikanismus.

„Post-Holocaust France and the Jews, 1945–1955“ ist ein interessanter und gut strukturierter Sammelband, der sich von vielen Anthologien durch seine Kohärenz positiv abhebt und zur Erhellung eines bisher wenig untersuchten historischen Gegenstandes beiträgt. Ursächlich dafür ist neben dem engen thematischen und zeitlichen Fokus und der hohen Expertise der Beitragenden vor allem die sehr gelungene Einleitung von Seán Hand, die die Lesenden kompetent in den historischen Gegenstand einführt und die thematischen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Beiträgen aufzeigt.

Zu kritisieren ist an dem Band die weitgehende Konzentration auf Organisationen und Institutionen sowie bedeutsame Denker und politische Akteure. In Konsequenz bleiben zum Beispiel geschlechtergeschichtliche Aspekte in dem Sammelband völlig unberücksichtigt. Ein weiterer, wenn auch nicht zentraler Kritikpunkt betrifft die geringe Belegdichte einiger Beiträge. So enthalten die Aufsätze von David Weinberg und Samuel Ghiles-Meilhac nur spärliche Literatur- und Quellenangaben.

Insgesamt ist „Post-Holocaust France and the Jews, 1945–1955“ ein gut lesbarer Sammelband, der wichtige Schlaglichter auf einen bisher unzureichend untersuchten historischen Gegenstand wirft und dem eine große Verbreitung zu wünschen ist.

Anmerkung:
1 Jean Améry, Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, in: Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 2008, S. 130–156.

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