Zeruya Shalevs Roman “Für den Rest des Lebens“ erzählt davon, was Menschen einander aus Liebe antun – wo statt Vernunft Gefühle siegen.

"Liebesleben", "Mann und Frau", "Späte Familie" heißen die erfolgreichen Romane der israelischen Autorin Zeruya Shalev. Und nun "Für den Rest des Lebens", ein Buch, das sich wie alle Romane Shalevs mit der Familie befasst, mit modernen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschlechtern.

Es sind Geschichten , in denen man von der Liebe wie von einer Krankheit befallen wird, Geschichten, in denen statt der Vernunft die Gefühle siegen. Geschichten, in denen das Leben ungerecht oder unzulänglich ist, voller Glück oder schlicht banal und deshalb nicht weniger wahr. Familie, das heißt bei Shalev "guter Wille und Schuldgefühle". Stets sind die Gefühle gegenüber den Eltern gespannt, von Schuld beladen. Zwischen Geschwistern herrscht Eifersucht, zwischen Partnern Unverständnis. Shalevs große Kunst besteht darin, dass sie diese Gefühle benennt und seziert, dass sie sie analysiert und folgereich weiterentwickelt. Die emotionalen Belastungen ihrer Figuren erscheinen wahrhaftig und widersprüchlich, ehrlich und erschreckend. Es geht darum, was man aus Liebe einander antut - oder versäumt. Shalevs Figuren leben, ihre Gedanken und Gefühle erinnern uns an das, was auch uns passiert. Deshalb versinken wir so leicht und gerne in den Romanen der Autorin, die sich auch hier wieder als Meisterin in der Beschreibung von Empfindungen erweist. "Nur an die Liebe erinnert man sich", schreibt Zeruya Shalev, "wann sie geboren wurde und wann sie aus der gemeinsamen Welt verschwand." Und wir wissen, wie wahr das ist.

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Im neuen Roman stehen drei Familien im Mittelpunkt, die von Dina, die als Mittvierzigerin eine Art Lebensbilanz zieht und unbedingt noch ein Kind haben will; die von Avner, ihrem Bruder, einem angesehenen Rechtsanwalt, der früh geheiratet hat, sich seit Jahren mit seiner Frau Schlomit bekämpft und darüber die beiden Söhne vergisst. Und die der sterbenden Mutter der beiden Geschwister, Chemda, die ihr Leben falsch geführt hat, ihren Sohn zu viel und ihre Tochter zu wenig geliebt hat, die auf ihre Träume verzichtet hat und verbittert blieb. Was Versäumnisse und Verletzungen anrichten, wie sehr Menschen all das verfehlen, worauf sie ihre Hoffnungen gesetzt haben, das kann Shalev meisterhaft und bis ins Detail beschreiben.

Zeruya Shalev war auch in Israel eine weitgehend unbekannte Autorin, als sie "Liebesleben" Ende der 90er-Jahre veröffentlichte. Sie hatte als Lektorin gearbeitet, einen Debütroman und Gedichte geschrieben. "Liebesleben" wurde zum Weltbestseller. Allein in Deutschland wurden mehr als 800 000 Exemplare verkauft. 2004 wurde Shalev bei einem Terroranschlag in Jerusalem schwer verletzt. Neben ihr starben Dutzende von Menschen. Als Reaktion auf das Attentat hat die Mutter von zwei Kindern 2008 einen Sohn aus Sibirien adoptiert. Sie wollte "gegen den Tod etwas ausbalancieren" hat sie gesagt.

Der Wunsch nach einem Kind bewegt auch ihre Heldin Dina. Als ihre Tochter 15 wird und sich von der Mutter entfernt, als ihr Mann, ein Fotograf, kaum noch daheim ist, fragt sich Dina, ob sie "die Einzige ist, die spürt, dass die Waagschale, auf der die Erinnerungen liegen, überläuft, während die Schale mit den Hoffnungen federleicht ist?" Dina hat eine Midlife-Krise, ihr Leben, das sind Groll, Enttäuschung und Ernüchterung. So möchte sie nicht leben. Sie wird angetrieben von einem einzigen Wunsch: "Ich hätte noch ein Kind bekommen sollen und jetzt ist es zu spät. Ich habe das Gefühl, als wäre mein Leben zu Ende. Ich habe so viel, was ich ihm geben könnte." Doch weder Mann noch Tochter teilen Dinas Wunsch nach neuem Familienkitt. Dina sucht "Leben und Liebe" durch ein Kind, ihr Mann will "Ruhe", die er mit Kind nicht findet. Am Ende adoptiert Dina einen kleinen Jungen. Möglicherweise treibt das die Familie weiter auseinander. Doch die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wendet, die kennt die Skeptikerin Shalev auch.

Auch bei Avner, Dinas Bruder, gibt es nichts mehr, was die Familie zusammenhält. Er beobachtet ein liebendes Paar, einen todgeweihten Mann, der von seiner Frau getröstet wird. Und empfindet bei diesem Bild einen so schmerzhaften Anblick des Mangels in seinem eigenen Leben, dass er ruhelos nach einer Frau sucht, die er lieben kann. Seit Jahren verfolgt ihn das Gefühl, "dass alle anderen Menschen ein viel besseres Leben haben". Avner verlässt seine Frau, trifft eine andere, die ihm erklärt, "die Menschen vermischen Liebe mit Familie, das passt nicht zu mir", und plötzlich sehnt er sich nach seinen Söhnen.

Und Chemda, die Mutter? Ihre Gedanken kreisen um ihre Jugend im Kibbuz, um ihren Vater, dem sie nah war und dem sie gefallen wollte. Um ihre Mutter, die sie ebenso wenig geliebt hat wie den Mann und die Tochter. Kein schönes Leben war's. Und manchmal denkt sie: "Weil sie nicht gelebt hat, kann sie auch nicht sterben."

Shalevs Geschichten erzählen von Kompromissen und Idealen, von Sicherheit und Angst, von Träumen und deren Verwirklichung, von Fragen, die die Menschen umtreiben. Und auch den Staat Israel.

Zeruya Shalev: "Für den Rest des Lebens", aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin Verlag, 521 Seiten, 22,90 Euro