O. von Wrochem (Hrsg.): Das KZ Neuengamme

Titel
Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung


Herausgeber
von Wrochem, Oliver
Reihe
Neuengammer Kolloquien 1
Erschienen
Berlin 2010: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hermann Kaienburg, Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg

Der vorliegende Band fußt auf einer gleichnamigen Konferenz im Oktober 2009, wobei der Buchtitel insofern irreführend ist, da es sich nicht um eine zusammenfassende Publikation über das KZ Neuengamme, sondern vielmehr um eine Sammlung von Einzelbeiträgen handelt, die im Umfeld der Gedenkstätte im vergangenen Jahrzehnt entstanden und teilweise bereits als Dissertationen oder Examensarbeiten vorliegen.

Im Teil I „Häftlingsschicksale und Überlebensstrategien“ fasst Marc Buggeln in seinem Beitrag die wichtigsten Ergebnisse seiner hervorragenden Dissertation über die Außenlager des KZ Neuengamme zusammen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass im Bereich dieses Konzentrationslagers kein so eindeutiger Rückschluss von der Art der Arbeit auf die Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen möglich ist, wie in einigen anderen Lagern, gelangt er vor allem durch die Untersuchung der Sterblichkeit zu neuen Thesen, die die Erklärung des Geschehenen „erheblich verkomplizieren“ (S. 24). So stellt er zum Beispiel fest, dass in großen Lagern eine weit höhere Sterblichkeit herrschte als in kleinen, dass die Todesraten der Häftlingsgruppen nicht im Einklang standen mit ihrer Einstufung in die nationalsozialistische Rassenskala und dass das Geschlecht einen ausschlaggebenden Faktor für die Überlebenschancen bildete.

Aufschlussreich – und diskussionsanregend – ist, dass Hans Ellger in seinem Beitrag über weibliche Häftlinge in Außenlagern des KZ Neuengamme der letzteren These geradewegs entgegengesetzt argumentiert. Er weist etwa daraufhin, dass Frauen in hohem Maße wegen Schwäche und wegen Schwangerschaften in die Konzentrationslager Ravensbrück und Auschwitz „rücküberstellt“ wurden, wodurch die Todesraten statistisch sanken. Er betont außerdem, dass Frauen oft effektivere Überlebensstrategien entwickelten als Männer, so dass die niedrigeren Todesraten wenig über die tatsächlichen Existenzbedingungen aussagten. Während sich Buggeln besonders auf quantitative Methoden stützt, verlässt sich Ellger stärker auf die Erinnerungen der Überlebenden. Als Anregung sei hier zusätzlich auf einen Beitrag von Bernhard Strebel verwiesen, der sich kürzlich im Vergleich zwischen dem Frauen- und dem Männerlager in Ravensbrück mit eben dieser Frage befasst hat und zu Ergebnissen gelangt, die denen Buggelns nahe kommen.1

Marc Schemmel behandelt die Rolle der Funktionshäftlinge, die in der Kontroverse um die „roten Kapos von Buchenwald“ aufbrachen, jenseits der Klischees von prügelnden Kapos einerseits und der Behauptung, ihr Verhalten sei ganz am Ziel des Widerstandes orientiert gewesen. Georg Erdelbrock befasst sich mit dem Schicksal polnischer KZ-Gefangener, die im März 1943 aus Auschwitz nach Neuengamme kamen. Er geht unter anderem der Frage nach, warum die Todesraten unter ihnen deutlich geringer waren als die von polnischen Häftlingen früherer Transporte aus Auschwitz.

Steffen Kreisl stützt sich in seinem Beitrag über die italienischen Häftlinge in Neuengamme, über die immer noch wenig bekannt ist, unter anderem auf unveröffentlichte Ausarbeitungen von Susanne Wald und Marion Koch. Die extrem hohe Sterblichkeit von 43 Prozent veranlasste ihn, die Haftbedingungen genauer zu betrachten und zu untersuchen, ob hier ein „Sonderbehandlung“ für „Verräter“ vorlag. Obwohl Kreisl dies verneint und andere Ursachen wie die Verteilung der italienischen Häftlinge auf die Außenlager nennt, schließt dies doch nicht aus, dass sich dahinter eine Methode verbarg.

Im II. Teil des Bandes unter der Überschrift „Das Ende des KZ-Systems und die deutsche Gesellschaft nach 1945“ unternimmt Detlef Garbe, der seit längerem als Experte auf diesem Gebiet gelten kann, einmal mehr den Versuch, Klarheit in das mit der Räumung der Konzentrationslager 1945 verbundene, heute oft chaotisch wirkende Geschehen gegen Kriegsende zu bringen. Bernhard Strebel befasst sich mit einem Massaker an KZ-Gefangenen am 8./9.April 1945 in Celle, wo SS-, Polizei- und Wehrmachtseinheiten mit Unterstützung fanatischer Celler Bürger nach einem Bombenangriff auf einen Eisenbahntransport mit ca. 3.400 KZ-Gefangenen Jagd auf entflohene Häftlinge machten. Marco Kühnert geht der wenig rühmlichen Reaktion der Justiz auf die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener im Hamburger Außenlager am Bullenhuser Damm im April 1945 nach, und Kathrin Herold erinnert an die Proteste von Sinti und Roma in den KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen, Dachau und Neuengamme seit 1979.

Der III. Teil ist dem Thema „Täter und ihre Repräsentation in KZ-Gedenkstätten“ gewidmet. Zunächst fasst Sven Fritz Ergebnisse seiner Magisterarbeit zusammen, in der er sich mit einer bislang stark vernachlässigten Gruppe, den SS-Ärzten des KZ Neuengamme, beschäftigt hat – eine wegen der Vielfalt der Karrieren und der Tatmotive außerordentlich spannende Thematik. Christine Eckel vergleicht die Darbietung von Fotografien in der „Täterausstellungen“ der KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Neuengamme. Jana Jelitzki und Mirko Wetzel präsentieren Thesen zur Vermittlung von nationalsozialistischer Täterschaft.

In Teil IV „Historische Relikte (Bild, Schrift, Gebäude) als Quellen und Medien der Erinnerung“ stellt zunächst Christiane Hess die Ergebnisse ihrer Magisterarbeit über die Zeichnungen des französischen Häftlings Félix Lazare Bertrand vor, von denen viele 1944/45 im KZ Neuengamme entstanden. Anschließend erörtert Ute Wrocklage, seit vielen Jahren Expertin auf diesem Gebiet, die Problematik von KZ-Fotos als historische Quellen. Christian Römmer berichtet über die Erarbeitung von Gedenkbüchern – Ergebnis der seit den 1990er-Jahren mit großem Aufwand betriebenen digitalen Erfassung von Häftlingsdaten, an der Römmer zentral mitarbeitete. Andreas Ehresmann diskutiert in einem spannenden Beitrag den Umgang mit den in Neuengamme zahlreich vorhandenen baulichen Überresten aus KZ- und Nachkriegszeit.

Angesichts der Vielzahl von Publikationen, die in den letzten beiden Jahrzehnten zur pädagogischen Arbeit in KZ-Gedenkstätten erschienen sind, oft verfasst von Autoren, die nie selbst eine Schulklasse durch eine Gedenkstätte begleitet haben, ist es erfreulich, dass im Teil V „Gedenkstätten als Bildungsorte“ vor allem von Erfahrungen aus der Praxis berichtet wird. Es handelt sich um ein ausgesprochen schwieriges Feld, da die Besucher, um die es geht, meist Schulklassen und andere Jugendgruppen mit völlig heterogener soziokultureller Herkunft und unterschiedlichen Vorkenntnissen und Aufnahmefähigkeiten sind. Besonders interessant ist Anja Solterbecks Auswertung von empirischen Befragungen der eigentlichen Experten: der jugendlichen Besucher und ihrer Begleiter, also Lehrer, Pfarrer und anderer pädagogischer Mitarbeiter, die ihre Schützlinge meist am besten kennen.

Wenig überzeugend ist dagegen, wenn Malte Sorgenfrei pädagogische Ansätze, die bereits vor etlichen Jahren praktiziert wurden, bloß mit neuen Begriffen wie „kompetenzorientiertes Lernen“ versieht. Statt über ungenügend vorbereitete Lehrer zu klagen, sollte besser darüber nachgedacht werden, warum es bis heute vor Gedenkstättenbesuchen trotz der völlig heterogenen Vorbedingungen so wenig Feinabstimmung zwischen dem pädagogischen Personal an Schulen und an Gedenkstätten gibt.

In diesem Sinn überzeugen der Beitrag von Cornelia Geissler, die Konzepte der Personalisierung und Individualisierung in der Geschichtsvermittlung vorstellt und besonders die Dilemmata des Handelns thematisiert, und Oliver von Wrochems Erfahrungen mit berufsgruppenorientierter Arbeit. Auch Astrid Messerschmidts Ansätze für eine Erinnerungsarbeit vielfältiger Geschichtszugänge sind, wenngleich nicht neu, so doch wichtig und wertvoll.

Bemerkenswert ist, dass kaum eine(r) der Autorinnen und Autoren darauf hinweist, wie stark sich die pädagogische Arbeit in den vergangenen Jahren durch die Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten gewandelt hat. Es ist ein großes Problem, dass große Teile der Ausstellungen in den Gedenkstätten kaum noch bei jungen Menschen „ankommen“, weil immer mehr von ihnen wenig Lust verspüren, Quellen und andere Texte zu lesen, und audiovisuelle Angebote meist nur unzureichend auf die Gewohnheiten der Jugendlichen ausgerichtet sind.

Viele der Beiträge sind, auch wenn es sich zu einem erheblichen Teil um Zusammenfassungen bereits vorliegender Druckwerke handelt, überaus lesenswert, und informieren all diejenigen, die die Forschungs- und Bildungsarbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme nicht dauerhaft verfolgen, über neue Entwicklungen. Es bleibt zu hoffen, dass auch die Ausarbeitungen zur Geschichte des KZ Neuengamme, die im Rahmen der Vorbereitung der Dauerausstellung zwischen 2002 und 2005 entstanden und bislang nicht publiziert wurden, in einem Folgeband der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

Anmerkung:
1 Vgl. Bernhard Strebel, „Himmelweite Unterschiede“. Über die Existenzbedingungen im KZ Ravensbrück 1939-1945, in: Hermann Kaienburg (Hrsg.), Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. Die Veränderung der Existenzbedingungen (Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 11), Berlin 2010, S. 105-124.

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