J. Lillteicher u.a. (Hrsg.): Profiteure des NS-Systems?

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Titel
Profiteure des NS-Systems?. Deutsche Unternehmen und das "Dritte Reich"


Herausgeber
Lillteicher, Jürgen; Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Zusammenarbeit mit dem Fonds "Erinnerung und Zukunft" der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"
Erschienen
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Lindner, Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München

Wie Jürgen Lillteicher einleitend schreibt, möchten die Herausgeber mit ihrem Band „einerseits neueste Forschungsergebnisse zum Verhältnis von Wirtschaft und NS-Staat einer breiten Öffentlichkeit vorstellen, andererseits aber auch die Rezeptionsgeschichte dieses Teils der deutschen NS-Vergangenheit diskutieren“. Der Band bewege sich „im Spannungsverhältnis zwischen den Ergebnissen historischer Forschung einerseits und der interessengeleiteten Bewertung der NS-Geschichte durch Politik, Justiz und Öffentlichkeit andererseits“ (S. 12). Hier ist auch der Ursprung des Projekts zu finden: Die „hitzige Debatte“ um die Beteiligung der Firma Degussa am Bau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas belegte, so Lillteicher, dass der Kenntnisstand in den Medien und der Öffentlichkeit zu dem Thema „nur sehr unzureichend“ sei (S. 10f.).

Die Frage des Handlungsspielraums von Unternehmen im „Dritten Reich“ nimmt in dem Band dementsprechend einen wichtigen Platz ein – und die Autoren divergieren in ihren Bewertungen. Waren die Unternehmen „unfrei“ in einer „Zwangswirtschaft“? So sahen sich die Unternehmen selbst nach dem Krieg gern dargestellt. Oder verfügten sie über die Freiheiten einer nur „gelenkten Marktwirtschaft“? Diese Interpretation wird derzeit am prominentesten von Christoph Buchheim vertreten. Zwischen solchen Positionen gibt es aber einen großen Raum für Zwischentöne, wie der vorliegende Band verdeutlicht. Insgesamt zeigen alle Beiträge: „Man kann weder von einer totalen Ohnmacht noch von einer vollständigen Handlungsfreiheit sprechen.“ (S. 22)

Da die Degussa Auslöser der Debatte war, beginnt der Band mit einem Aufsatz von Peter Hayes, der die wesentlichen Ergebnisse seines Buches über die Degussa im „Dritten Reich“ konzise darlegt, insbesondere die Verwicklung der Firma bei der Produktion und Verwendung von Zyklon B. Hayes spricht von einer „neo-merkantilistischen Wirtschaftspolitik von Zuckerbrot und Peitsche“ des NS-Regimes, der eine „kreative Anpassungsfähigkeit“ der Großindustriellen gegenübergestanden habe (S. 31). Für die Degussa sieht er eine „Wechselwirkung von wirtschaftlichem Aufstieg und moralischem Abstieg“ im „Dritten Reich“ (S. 32). Hayes’ Schlussfolgerungen sind ernüchternd. Wer aus der Geschichte die Lehre ziehen wolle, „dass Verbrechen sich nicht auszahlt, wird sich leider täuschen“. Die Degussa profitierte von „Arisierung“, Autarkie und Aufrüstung – auch für die Zeit nach dem Krieg. Hayes fügt jedoch einschränkend hinzu: „Wer aber den historischen Schluss zieht, die Haltung der Degussa zeuge davon, dass die Firma die gleichen Ziele verfolgte wie das Regime, wird sich ebenfalls irren. Die Komplizenschaft der Degussa im ‚Dritten Reich‘ ergab sich – zumindest am Anfang der Diktatur – nicht aus gemeinsamen Absichten, sondern aus dem Bedürfnis der Unternehmensführung, die Firma zu erhalten; hinzu kam der Geltungsdrang einiger Manager in einem Kontext, dessen verbrecherischen Charakter sie allzu bereitwillig übersahen.“ (S. 42)

Raymond Stokes beschäftigt sich mit der BASF in der IG Farben. Er möchte die besondere Rolle der Technik stärker beachtet wissen, die der BASF in der IG Farben Einfluss gab und im NS-Regime Freiräume schaffte. Allerdings führte das Bestreben des Unternehmens, sich durch den Bereich der Technik, über die man „weitgehend unabhängige Kontrolle“ auszuüben vermochte, „gegen die Folgen des Primats der Politik zu behaupten“, laut Stokes dazu, dass Führungskräfte „ihre humanitären Pflichten zu übersehen begannen, ja sogar leichtfertig vergaßen, so dass der Konzern auch durch den Bau seiner großen Buna-Fabrik in Monowitz in die nationalsozialistischen Verbrechen im Konzentrationslager Auschwitz verwickelt wurde“ (S. 48).

Hochinteressant ist der Beitrag von Dieter Ziegler über die jüdischen Ruheständler der Dresdner Bank. Hier ist besonders die Nutzung der Devisengesetzgebung der Regierung Brüning bemerkenswert. So diente die 1931 verfügte „Reichsfluchtsteuer“, die eigentlich Kapitalflucht eindämmen sollte, nun einer quasi „legalen“ Enteignung: „Die Nationalsozialisten erkannten schnell, dass sie dank dieses finanzpolitischen Instruments über einen sehr wirksamen Hebel zur Expropriation all derjenigen verfügten, die aus politischen oder ‚rassischen‘ Gründen das Reich verlassen wollten.“ (S. 65) Das Kapitel demonstriert aber auch, wie schäbig Unternehmen sich gegenüber ihren ehemaligen jüdischen Mitarbeitern zeigten, nutzte die Dresdner Bank doch spätestens ab 1938 deren Notsituation aus (S. 78).

Sehr instruktiv ist der Beitrag von Manfred Grieger über Zwangsarbeit im Betrieb, da die Zwangsarbeit zwar in zahlreichen Studien thematisiert worden ist, Betriebsanalysen aber „weiterhin in der Minderheit“ seien. So beklagt Grieger eingangs: „Der wachsenden Anzahl der Neuerscheinungen entsprach […] kein gleichrangiger Erkenntniszuwachs, da in vielen Fällen allenfalls die Exemplifizierung allgemeiner Entwicklungen am Beispiel der jeweiligen Region oder Kommune vorgenommen wurde“ (S. 82). Als Mitarbeiter an der großen Studie zu Volkswagen kann Grieger nicht nur zu diesem Unternehmen wichtige Ergebnisse präsentieren, sondern auf der Basis der Literatur auch einige übergreifende Thesen zur „Dehumanisierung von Arbeitskräften“ in der Zwangsarbeit des NS-Regimes formulieren (S. 100).

Ebenfalls lesenswert ist der Artikel von Gerald Feldman (†), der zwei wichtige Bankiers in ihrem Handeln vergleicht: Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank und Josef Joham von der österreichischen Creditanstalt. Beide nutzten die „opportunity structures“, die das System ihnen bot, soweit sie nur konnten. Trotz der eingestandenen Grenzen der Handlungsfreiheit der beiden Akteure ist Feldmans Fazit bedrückend. Abs und Joham hätten „bewusst und aus freien Stücken“ versucht, „die Rolle ihrer Banken unter den Gegebenheiten eines nationalsozialistisch beherrschten Europas auszudehnen“, und hätten dies im Bewusstsein strategischer wirtschaftlicher Ziele für ihre Unternehmen getan (S. 125).

Diesen Beiträgen über die NS-Zeit folgen einige weitere über die Nachkriegszeit – zunächst ein Aufsatz von Ralf Ahrens über die Unternehmer, die sich in den Nürnberger Nachfolgeprozessen auf der Anklagebank sahen. Dabei betont der Autor eingangs, dass das Grundanliegen der Prozesse „eher pädagogischer als strafjuristischer Natur“ gewesen sei (S. 128). Constantin Goschler skizziert die Auseinandersetzung der bundesdeutschen Wirtschaft nach 1945 mit ihrer Verantwortung für „Arisierung“ und Zwangsarbeit. Im Gegensatz zu Hayes, Stokes und Feldman schließt sich Goschler der These Christoph Buchheims an, der meint, es sei im Allgemeinen kein „unmittelbarer Zwang“ auf die Unternehmen ausgeübt worden; sie hätten sich aus Eigeninteresse an Verbrechen beteiligt. Sie seien „mitschuldig“ und könnten daher auch zur Verantwortung gezogen werden (S. 156f.).

Nach einem rechtswissenschaftlichen Beitrag über Industrie, Wiedergutmachung und Völkerrecht (Richard M. Buxbaum) schließt der Band mit einem Aufsatz des Managers Manfred Gentz, der den Handlungsspielraum der Unternehmen als sehr eingeschränkt bezeichnet und daher im Gegensatz zu Goschler keine rechtliche Verantwortung der deutschen Wirtschaft sieht, jedoch eine moralische, die die Wirtschaft mit der Beteiligung an der Stiftungsinitiative auch anerkannt habe (S. 203).

Die Artikel dokumentieren den aktuellen Forschungsstand zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des „Dritten Reichs“; die unterschiedlichen Interpretationen und Kontroversen werden deutlich. Dies ist ein großer Vorteil des Buches, da die Leser damit eine ganze Bandbreite an Argumenten und Sichtweisen kennenlernen. Das Buch eignet sich nach meinem Eindruck vorzüglich für Seminare zu dem Thema als Grundlektüre – gemeinsam mit den Sammelbänden von Lothar Gall und Manfred Pohl1 sowie von Christoph Buchheim.2 Auch über das Fachpublikum hinaus ist Lillteichers Band eine weite Verbreitung zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Lothar Gall / Manfred Pohl (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus, München 1998.
2 Christoph Buchheim (Hrsg.), German Industry in the Nazi Period, Stuttgart 2008.

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