K. Steinitz u.a. (Hgg.): Wolfgang Steinitz

Titel
Wolfgang Steinitz. Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik


Herausgeber
Steinitz, Klaus; Kaschuba, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Lokatis, Historisches Institut, Universität Potsdam

Es geht hier um einen Sammelband, der anlässlich des 100. Geburtstages des kommunistischen Ausnahmewissenschaftlers Wolfgang Steinitz (1905-1967) entstanden ist. Entsprechend dem breiten Betätigungsfeld des Finnougristen und Volkskundlers, der durch verschiedene imponierende Standardwerke hervorgetreten ist und Mitglied des ZK der SED war, wenden sich die Autoren/innen damit nicht nur an Verwandte und Freunde der „Steinitz-Forschung“, sondern können ein allgemeineres Interesse (Wissenschaftsgeschichte, Kommunismusgeschichte, Emigrationsforschung) beanspruchen. „Sprachwissenschaftler, Volkskundler, Soziologen, Historiker, Wissenschaftshistoriker, Freunde der Volksmusik“, darunter „auch jüngere Menschen“ haben an dem Band mitgewirkt, nicht zuletzt, um den von Annette Leos Biografie (Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler, Berlin 2005) repräsentierten Forschungsstand „kritisch weiterzuführen“.

Inwieweit dieser Anspruch im Einzelnen eingelöst wurde, kann nur ein des Ostjakischen mächtiges Expertenkollektiv beurteilen. Der den Sammelband auszeichnende interdisziplinäre Ansatz ist jedenfalls angemessen und liefert in vieler Hinsicht wichtige Ergänzungen. Zu empfehlen ist die parallele Lektüre der Biografie und des Sammelbandes. Sie bietet ein Lesevergnügen der besonderen Art und, in den Teilen, die um eine faire Bewertung des vom Stalinismus geprägten Steinitz ringen, einen seltenen Einblick in die Abgründe biografischer Kommunismus-Forschung.

Die Herausgeber haben ein zweiseitiges Vorwort beigesteuert.

Die folgenden drei Beiträge versuchen das „Gesamtbild“ zu korrigieren. Der in Fragen der Biografieforschung bestens ausgewiesene Jan Peters plädiert für eine komplexere, historisierende und zugleich weniger distanzierte Interpretation seines Onkels. Dabei stützt er sich einerseits nicht ohne Sorge vor der „Sympathiefalle“ auf persönliche Erfahrung und die eigene Anschauung, andererseits kann er auf die idealistische Prägung des kommunistischen Wissenschaftlers durch die Jugendbewegung verweisen, wodurch sich mancher in der Biografie aufgestoßene Widerspruch auflöst. Ewald Lang konzentriert sich auf die wissenschaftlichen Verdienste des Linguisten, stellt die „Grammatik des Parallelismus“ am Beispiel der Kalevala vor und würdigt „kompilatorische Langzeitprojekte“ wie das von Steinitz initiierte „Dialektologische und Etymologische Wörterbuch der ostjakischen Sprache“ (DEWOS) und das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (WDG) – ein Abkürzungsverzeichnis wäre hilfreich. In einem zweiten Aufsatz, dem auf S. 123 zu entnehmen ist, dass Steinitz in der schwedischen Emigration Stalins Kriegsreden herausbrachte, behandelt Lang auch das berühmte Russische Lehrbuch (In dem Verweis auf S. 128, 3. Zeile ergänze: S. 78). Helmut Steiner behandelt die viel diskutierten, im Anhang beigefügten ZK-Reden der 1950er-Jahre, speziell die „revisionistische“ Rede auf dem 28. Plenum 1956 und deren neuerliche Revision auf dem 35. Plenum 1958. Steiner interpretiert diese nicht so sehr als einen „peinlichen Kniefall“, sondern als parteitaktisch geschicktes, typisches Manöver im Stile Schweijks, eine Interpretation, die sich weniger auf den Redetext selbst als auf dessen wohlwollende Kontextualisierung und den vergleichenden Verweis auf alterprobte stalinistische Usancen stützt.

Friedhilde Krause erinnert sich an die Verdienste des „Behelfs-Slawisten“ um die wissenschaftliche Fundierung des durch die „Republikflucht“ von Kollegen/innen gefährdeten Russischunterrichts, als Steinitz auch durch beträchtliche anonyme Spenden manchem Studenten aus der Not half. Hermann Strobach, Wolfgang Jacobeit, Ute Mohrmann behandeln Steinitz’ Verdienste um die Neuorientierung einer (nicht nur im marxistischen Sinn) demokratisch und international gerichteten deutschen Volkskunde ohne eine „grundlegend politische Einengung von Forschungsthemen und Forschungsprojekten“. Hierbei geraten bereits die seinerzeit auch im Verlag 2001 als „Der große Steinitz“ erschienenen „Deutschen Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“ in den Blick, mit deren Rezeption, zuletzt auf dem Rudolstädter Folk-Festival 2005, sich Jürgen B. Wolff und Katrin Steinitz beschäftigen. Von Anna Widmer erfährt man nicht nur Wissenswertes über Bärentänze und Fliegenpilzlieder obugrischer Schamanen, sie charakterisiert auch Steinitz’ 1950 im Akademieverlag erschienene „Ostjakische Grammatik und Chresthomathie mit Wörterverzeichnis“ als einen immer noch brauchbaren Einstieg in die Lautlehre und Morphosyntax des Chantischen. Die Finnougristinnen Liselotte Hartung und Brigitte Schulze tragen Erinnerungen an gemeinsame Exkursionen nach Helsinki und die satztechnisch nicht unkomplizierte Edition der 1968 leider erst posthum bei Hinstorff erschienenen, von Bert Heller illustrierten, Kalevala-Übersetzung bei. Peter Nötzoldt beleuchtet ausführlich Steinitz’ Rolle als Vizepräsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Hier erscheint Steinitz als brillanter Taktiker und gesamtdeutsch orientierter Wissenschaftspolitiker. Günter Wirth lobt Steinitz verständnisvollen und toleranten Umgang mit bürgerlichen Gelehrten und vermerkt dessen von Bert Brecht unterstützte Initiative, den Chefarzt der Urologischen Klinik des St. Hedwig Krankenhauses in der Großen Hamburger Straße für eine Auszeichnung vorzuschlagen.

Einen Höhepunkt des Bandes stellen die autobiografischen Reflexionen über „Politik und Wissenschaft als Lebenswirklichkeit“ von Manfred Bierwisch dar, dem Steinitz u.a. dabei half, die Stasi abzuschütteln. Eindrucksvoll sein Resümee (S. 264):

„[E]r hatte Einfluß in einem Maß, das Wissenschaftler nur selten erreichen, und er nutzte ihn zu Entscheidungen, die keineswegs immer, aber doch ungewöhnlich oft richtig waren. Aus dieser Position im Zentrum wissenschaftlicher Macht des Staates, für den er sich mit aller Entschiedenheit entschlossen hatte, wurde er schrittweise und aus sachfremd-politischen Gründen verdrängt. Er wurde nicht gestürzt, wie viele andere […] Aber er verlor mehr und mehr die Möglichkeiten, auf denen sein Einfluß beruhte.“

Renate Steinitz rundet den Band mit einer ausführlichen Genealogie der Familie und der Geschichte ihrer Zerstreuung ab – 22 Mitglieder der Familie wurden von den Nazis verschleppt und umgebracht.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension