Titel
Zeugen aus der Todeszone.


Autor(en)
Friedler, Eric; Siebert, Barbara; Kilian, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 12,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Owzar, University of California, San Diego

Vor allem der Gedanke, wie man möglichst viele Menschen in möglichst
kurzer Zeit ermordet, beschäftigte die SS in Auschwitz seit dem Herbst 1941. Welche Motive die Täter leiteten, ob die Beteiligung an der kühl geplanten und konsequent umgesetzten Massenvernichtung aus fanatischem Judenhass oder pathologischem Sadismus, aus Diensteifer oder einfach nur aus Gleichgültigkeit und Abstumpfung erfolgte, darüber wird in der Forschung seit Langem intensiv debattiert. Noch immer fällt es schwer, eine rationale Erklärung für ein Massenverbrechen zu finden, dessen historische Singularität außer Frage steht.

In dem von den drei Journalisten Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian verfassten Buch über Auschwitz erfährt man etwas über die Motive der Täter nur am Rande. Im Zentrum steht vielmehr ein Aspekt der allmählichen Perfektionierung des Massenmordes. Es geht um die technische und logistische Organisation der Todesfabrik in Auschwitz-Birkenau: um den Ausbau der Massenvernichtung zum arbeitsteiligen Prozess und die von der SS perfide eingefädelte und erzwungene Einbeziehung zahlreicher Opfer darin. Denn die SS hatte sogenannte Sonderkommandos aus jungen männlichen Häftlingen gebildet, denen die unmittelbare Beteiligung bei der Vernichtung, Verwertung und Entsorgung der Opfer zugemutet wurde – ein Thema, über das einer der drei Autoren, Eric Friedler, bereits vor sieben Jahren einen Dokumentarfilm vorgelegt hat.1 Den meist jüdischen Mitgliedern dieser Sonderkommandos oblag es, die zur Vernichtung selektierten Juden zu beruhigen und sie in die Gaskammer zu geleiten. Anfangs hatten die Häftlinge die Ermordeten entkleiden und deren zurückgelassene Habe sortieren müssen. Mit der Tarnung der Gaskammern als Duschräume entfiel diese Aufgabe. Doch weiterhin mussten sie die Ermordeten aus der Gaskammer schleppen, mussten sie die Körperöffnungen der Toten nach versteckten Wertsachen durchsuchen, mussten sie den Frauen die Haare abschneiden, mussten sie Prothesen entfernen und vergoldete Zähne herausbrechen, das Gold von organischen Resten reinigen und es in Barren einschmelzen, damit es nach Berlin geschickt werden konnte. Auch zur Entsorgung wurden die Angehörigen des Sonderkommandos herangezogen. Aus Angst, von den heranrückenden Alliierten zur Rechenschaft gezogen zu werden, versuchte die SS, möglichst alle Spuren zu beseitigen. Selbst bereits vergrabene Opfer wurden exhumiert und verbrannt.

Es war nicht zuletzt diese minutiös erfolgende Spurenbeseitigung, die den Häftlingen des Sonderkommandos das auch ihnen bevorstehende Schicksal vor Augen führte. Schließlich waren sie die einzigen Belastungszeugen, die übrigblieben. Dementsprechend bemühte sich die SS nicht nur um deren Isolation innerhalb des Lagers, sondern führte unter den Sonderkommandos auch regelmäßige Liquidationen durch. Die Ermordeten wurden durch neue Häftlinge ersetzt. So erklärt sich die vergleichsweise hohe Zahl an Arbeitssklaven in der Todeszone. Rund 2.100 Männer waren den Sonderkommandos zwischen 1942 und 1945 zugeteilt (im Anhang findet man ein Verzeichnis derjenigen Personen, deren Namen und biographische Daten überliefert und gesichert sind). Überleben sollten von ihnen nur etwa 110 Häftlinge, also gerade einmal 5 Prozent.

Obwohl sich kaum einer der Hoffnung hingab, diese Hölle auf Erden zu überstehen, verhielten sich die einzelnen Häftlinge unterschiedlich. Viele aktivierten einen „absoluten Überlebenswillen“, der sie alle Befehle möglichst akkurat ausführen ließ (S. 47). Manche begingen noch vor Ort Selbstmord. Andere „reagierten völlig apathisch und waren unfähig, den Befehlen Folge zu leisten. Einige weigerten sich auch, die von ihnen verlangten Tätigkeiten auszuführen“ (S. 46) – was ihre sofortige Ermordung zur Folge hatte. Einige wollten sich nicht ihrem Schicksal ergeben und planten eine Revolte. So kam es im Oktober 1944 in der Todeszone zu einem Aufstandsversuch, der (natürlich) zum Scheitern verurteilt war.

Im Grunde hatten die Häftlinge nur eine, eine existentielle Wahl: Sie konnten sich der Mordmaschinerie entziehen, wohl wissend, dass sie dies unverzüglich mit ihrem Leben bezahlen mussten, oder sie machten, was die SS von ihnen verlangte. Viele, die sich für letzteres entschieden, taten dies nicht nur, um ihr Leben zu verlängern, sondern auch weil sie sich in der Pflicht sahen, der Nachwelt Rechenschaft abzulegen über ein Verbrechen, das bis dahin wohl keiner für möglich gehalten hatte. „Was war in diesem Augenblick wichtiger, einige hundert noch lebendige, aber vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod nicht zu rettende Menschen oder eine Handvoll Augenzeugen, von denen der eine oder andere um den schrecklichen Preis des Leids und der Selbstverleugnung womöglich überleben und dereinst Zeugnis wider die Mörder ablegen konnte?“, so wird ein Häftling des Sonderkommandos zitiert (S. 50), der das Glück hatte, die Befreiung durch die Rote Armee zu erleben.

Zweifelsohne gebührt selbst denjenigen, die ‚nur‘ aus Todesangst handelten, unser Respekt. Es war gerade das von der SS erzwungene Dilemma, das zahlreiche Opfer zur mittelbaren Täterschaft wider Willen verdammte. Wer wollte sich aus sicherer Distanz anmaßen, darüber ein Urteil zu fällen? Nichtsdestoweniger muss der Historiker auch die funktionalen Aspekte menschlichen Verhaltens berücksichtigen. Und aus dieser Perspektive wird klar, dass die Tätigkeit des Sonderkommandos dazu beitrug, den reibungslosen Ablauf der Vernichtung zu garantieren. Auch die Verfasser bezweifeln nicht, dass „Aufruhr, Panik oder Widerstand [...] die Effizienz des Massenmordes beeinträchtigt“ hätten (S. 55). Insofern mutet es gelegentlich etwas einseitig an, dass sie den Vorgang fast ausschließlich aus der Sicht des Sonderkommandos beschreiben und die von vielen anderen Häftlingen vorgenommene „Dämonisierung des Sonderkommandos“ (S. 7) kritisieren. Natürlich waren die Häftlinge des Sonderkommandos „selbst hilflose Opfer, die von der SS zur grauenhaftesten Tätigkeit verdammt wurden, die es in Auschwitz gab“ (S. 8). Der vielfach erhobene Vorwurf, es handele sich bei ihnen um „verbrecherische Kreaturen [...], die für Privilegien wie bessere Nahrung und Kleidung bereit waren, an der Vernichtung hunderttausender Menschen mitzuwirken“ (S. 7), ist sicherlich in kaum einem Fall gerechtfertigt. Gleichwohl sollte man auch die Perspektive der anderen Opfer nachvollziehen.

Besonders schlimm war es für die Betroffenen beider Seiten, wenn sie einander kannten. Gelegentlich kam es sogar vor, dass die Häftlinge des Begräbniskommandos auf ihre nächsten Verwandten, ihre Eltern, ihre Geschwister oder gar auf ihre Kinder stießen. Auf Seite 86f. zitieren die Autoren aus einem Interview mit einem Überlebenden, das schockierender nicht sein könnte. Überhaupt verlangt die Lektüre des Buches dem Leser einiges ab. Um so höher ist es den Autoren anzurechnen, dass sie den Gesamtkomplex auf sachliche, ja geradezu nüchterne Weise behandeln. Nach einem Überblick über die Entwicklung und Struktur des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz beschreiben sie in mehreren Kapiteln die Bildung und die Organisation der Sonderkommandos bis zur Auflösung des Vernichtungslagers und zu den Todesmärschen. Den Aufstandsplanungen und -versuchen ist ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 223-281), ebenso den Überlebensstrategien im Sonderkommando (S. 195-222). Gerade diesem Kapitel kann man sehr viel über die Denk- und Verhaltensmuster der Häftlinge entnehmen, die von Selbstmord aus Verzweiflung über Apathie bis zur Auflehnung reichten. Auf diesen besonders dicht geschriebenen Seiten erfährt man zudem einiges über die kommandointerne Hierarchie. Denn auch das Sonderkommando bildete keine homogene Gemeinschaft, sondern zerfiel in nationale und sprachliche Untergruppen. Darüber hinaus entwickelten sich auch aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen oder religiöser Überzeugungen besondere Beziehungen. Alle diese Untergruppen boten dem Einzelnen bedingt Schutz, mitunter gerieten sie aber auch in Konflikt untereinander. Trotz solcher im Ansatz erfolgenden Gemeinschaftsbildungen blieben die Häftlinge letztlich auf sich allein gestellt: Das war das zwangsläufige Ergebnis des SS-Terrorsystems, das „von vornherein darauf ausgerichtet [war], die Entstehung einer solidarischen Häftlingsgemeinschaft zu verhindern“ (S. 208) und „ein Klima zu erzeugen, in dem Misstrauen und Denunziation gediehen“ (S. 209). Auf zynische Weise missbrauchten sie den Überlebenstrieb der Opfer für die Durchführung ihres Mordprogramms. Diejenigen, die dies überleben sollten, wurden auch nach 1945 von Ängsten und Selbstvorwürfen geplagt. Unter dem Stichwort „Überlebt, aber nicht gerettet“ werfen die Autoren einen Blick auf das Leben der Sonderkommando-Häftlinge nach 1945, die „bis heute von Alpträumen, Depressionen und anderen Folgen ihrer Leidenszeit in der Todeszone von Birkenau gequält“ werden (S. 312).

Die der Gliederung des Buches zugrunde liegende Kombination aus chronologischer und systematischer Herangehensweise ist durchaus nachvollziehbar, birgt aber die Gefahr von Redundanzen. Tatsächlich hätten zahlreiche Passagen gekürzt oder gar gestrichen werden können. Davon abgesehen ist das Buch in stilistischer Hinsicht durchaus gelungen. Es ist verständlich verfasst und genügt gleichzeitig wissenschaftlichen Standards. Allerdings hätte das Literaturverzeichnis für die Taschenbuchausgabe – der Erstdruck erschien 2002 im zu Klampen Verlag Lüneburg – aktualisiert werden können, man vermisst einige einschlägige Publikationen über Auschwitz. Gelegentlich wünschte man sich auch vollständigere Angaben zu den aus anderen Werken zitierten Quellen. Neben solchen bereits veröffentlichten Quellen wie Prozessaussagen, Kassibern, Erinnerungsberichten und Opferlisten (die zum Teil im Boden von Auschwitz vergraben und dort erst nach dem Krieg geborgen wurden) beziehen sich die Verfasser auf Quellen, die sie selbst erschlossen haben. Sie haben mit mehreren der Überlebenden ausführliche Interviews geführt. Zahlreiche über das Buch verteilte Portraitfotos geben diesen Personen ein Gesicht. Daneben findet man auch Abbildungen einiger Täter. Einem im Anhang beigefügten Verzeichnis der im Umfeld des Sonderkommandos tätigen SS-Angehörigen ist zu entnehmen, dass es offensichtlich den meisten von ihnen nach 1945 gelang, unterzutauchen. Von den 35 ermittelten Personen bekamen nur drei eine Haftstrafe; vier wurden zum Tode verurteilt. Einige blieben unbehelligt, bei den meisten stößt der Leser in der Sparte „Folgen“ auf den Eintrag „unbekannt“.

Anmerkung:
1 Sklaven der Gaskammer. Das jüdische Sonderkommando, ein Dokumentarfilm von Eric Friedler, D 2000, 44 min.

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