I. Stratenwerth u.a. (Hgg.): Pioniere in Celluloid

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Titel
Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt


Herausgeber
Stratenwerth, Irene; Simon, Hermann
Erschienen
Berlin 2004: Henschel Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Stiasny, Akademischer Senat, Standort-Entwicklungskommission, Humboldt-Universität zu Berlin

In Deutschland waren bis 1933 viele der berühmtesten Filmproduzenten, Regisseure, Drehbuchautoren und Schauspieler, Kinobetreiber, Filmkomponisten und Kritiker Juden. Ihre Vertreibung und Ermordung beendete eine Epoche, in der es Deutschland, trotz einer gewissen Verspätung, zum wichtigsten Produktionsstandort nach Hollywood gebracht hatte. Die Ausstellung „Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt“ des Centrum Judaicum Berlin hat im Frühjahr 2004 die Juden in der Filmbranche, ihre Visionen, ihr künstlerisches Talent und ihren fruchtbaren Geschäftssinn ins Bewusstsein einer interessierten Öffentlichkeit zurückgeholt. Ausführlicher als die Ausstellung selbst beschreibt der gut bebilderte wissenschaftliche Begleitband das Schaffen von Juden in einem äußerst dynamischen Bereich der Unterhaltungsbranche zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik aus einer kultur-, sozial- und filmgeschichtlichen Perspektive, untersucht die Verwendung jüdischer Sujets im Kino, dokumentiert antisemitische Vorwürfe und die Gegenreaktionen darauf und stellt bekannte und weniger bekannte Akteure in 24 biografischen Skizzen vor.

Den Rahmen des Bandes bilden sieben Beiträge der Ausstellungskuratorin Irene Stratenwerth: Zunächst widmet sie sich der schnellen Entwicklung des Kinos zu einem Publikumsmagneten und einer profitträchtigen Unterhaltungsform. Hier entdecken, so Stratenwerth, „jüdische Kaufleute, Schriftsteller, Schauspieler, Musiker und bildende Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Chance, die rigiden gesellschaftlichen Grenzen jüdischer Existenzmöglichkeiten zu sprengen.“ (S. 11) Ihr Ehrgeiz speist sich dabei oft auch aus einem familiären Migrationshintergrund. Die junge Branche, deren Erfolgsgeschichte von jüdischen Publizisten unterstützt wird, sieht sich bald Angriffen der Kinoreformbewegung ausgesetzt. Im Verbund mit Polizei und Politik polemisieren konservative Kulturkritiker gegen die Kinos als eine besonders die Jugend verderbende Volksgefahr und wollen den Einsatz von Filmen allein für erzieherische Zwecke durchsetzen. Prominente Kinoreformer wie Reinhard Mumm und Karl Brunner bedienen dabei auch antijüdische Ressentiments. Von einem breiten antijüdischen Konsens kann gleichwohl keine Rede sein: „Antisemitismus galt den Widersachern Brunners und Mumms damals eher als Beleg für die anachronistische Weltanschauung der Kinogegner denn als ernsthafte Bedrohung.“ (S. 76) Stoffe aus jüdischem Milieu gelangen ungehindert in die Kinos und sprechen offenbar nicht nur jüdische Publikumsgruppen an. Die anarchistischen Komödien von Ernst Lubitsch, der klischeehaft einen jüdischen Lehrling aus der Konfektion verkörpert, entwickeln sich während des Weltkrieges sogar zu Kassenfüllern. Stratenwerth findet das problematisch, denn ihr erscheint „die Unbekümmertheit, mit der Regisseur Lubitsch den jüdischen Humor für sich in Anspruch nimmt und der Schauspieler Lubitsch das gesamte Register antijüdischer Klischees ausspielt, aus heutiger Sicht naiv, wenn nicht sogar verantwortungslos“ (S. 162).

Der Zusammenbruch des Kaiserreiches und die Abschaffung der Zensur bewirken im Kino eine Hochphase des Sensationsfilms. Besonders die so genannten Aufklärungsfilme über Prostitution, Mädchenhandel, Abtreibung und Geschlechtskrankheiten geraten ins Kreuzfeuer bürgerlicher Kritiker. Im Streit um den Aufklärungsfilm „Anders als die Andern“, der für die Lockerung der Homosexuellen-Gesetzgebung plädiert, mehren sich 1919 antijüdische Angriffe in der Presse, die sich v.a. gegen den jüdischen Regisseur Richard Oswald und den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld richten. Es ereignen sich Überfälle auf Kinos. Daneben entstehen zu dieser Zeit aber auch mehrere Großproduktionen, die die Pogrome gegen Juden in Russland und Polen anprangern und Juden als Opfer von Vorurteilen darstellen. Stratenwerth dehnt ihre Ausführungen nicht bis zum Jahr 1933 aus, sondern endet mit den Träumen und Hoffnungen, die sich auch für viele Juden mit der Abwerbung von deutschen Spitzenkräften durch den Marktführer Hollywood seit Anfang der 1920er-Jahre verbinden. Nicht wenig von dem, was Stratenwerth hier ausbreitet, kann bereits anderweitig nachgelesen werden. Hervorzuheben ist allerdings ihre Auswertung der jüdischen Presse als interessante Quelle sowie der Abdruck vieler zeitgenössischer Kritiken zu nicht mehr erhaltenen Werken.

Daneben enthält der Band eine Reihe kurzer biografischer Aufsätze über jüdische Filmschaffende, von denen die Mehrheit einem Fachpublikum durch Lexikoneinträge und Monografien bereits bekannt ist. 1 Überraschungen bieten daher besonders die aufwendig rekonstruierten Lebensläufe einiger bislang vernachlässigter Personen: So schreibt Ronald Hinrichs über Joseph Delmont, der als Großwildjäger begann, dann Regisseur von Sensationsfilmen wurde und später als Schriftsteller sehr nationale Töne anschlug, Christian Dirks über den einflussreichen Kritiker Alfred Rosenthal, der in den 1920er Jahren für den Scherl-Verlag arbeitete, und Maren Dorner über Siegbert Goldschmidt, den Direktor der berühmten Marmorhaus-Lichtspiele in Berlin. Verallgemeinernd lässt sich über die vorgestellten – ausnahmslos männlichen - jüdischen Filmschaffenden feststellen, dass viele von ihnen aus Österreich-Ungarn und speziell aus Wien stammten, in bürgerlichen Elternhäusern aufwuchsen und sich ihre jüdische Herkunft nur ganz selten offen erkennbar in ihren Filmen widerspiegelt.

Ergänzend widmen sich drei kurze Aufsätze Filmen mit jüdischen Sujets: Stefan Drößler stellt den Skandal um den Film „Nathan der Weise“ (1922) dar, der nach Zensurstreitereien zunächst mit großem Erfolg in Berlin lief. In München wurden dagegen Kinobetreiber von rabiaten Nationalsozialisten, die den Film als „von verlogener und geheuchelter Humanität triefendes, echt jüdisches Machwerk“ beschimpften (S. 218), so bedroht, dass jede Vorführung unterblieb. Chana Schütz schreibt über verschiedene Verfilmungen der Golem-Geschichte durch Paul Wegener und bemerkt die Bezugnahme auf antisemitische Vorurteile, ohne dass dies öffentlich bemängelt worden sei. Armin Loacker rollt die sehr ambivalente Geschichte des österreichischen Films „Die Stadt ohne Juden“ (1924) auf, von dem damals ein Kritiker meinte, es sei ein „antisemitelnder, gegen den Antisemitismus gerichteter Film“ (S. 255).

Insgesamt zeichnet der Band ein facettenreiches Bild vom Wirken jüdischer Filmschaffender in Deutschland bis etwa 1925. Dabei beziehen sich die Ausführungen fast ausschließlich auf die wichtigste deutsche Filmstadt, Berlin. Gar nicht gestellt wird die Frage, ob die Beobachtungen auch für andere Städte und Regionen zutreffen: ob also beispielsweise in Frankfurt, Köln oder Goslar Juden prominent als Verleiher oder Kinobetreiber tätig waren. Überhaupt macht der Band keine konkreten Angaben dazu, ob bestimmte Zweige der Branche zahlenmäßig von Juden dominiert wurden. Zwar waren viele herausragende Filmschaffende jüdisch, doch das sagt nur wenig über tatsächliche Machtverhältnisse. Aus sozial- und kulturgeschichtlichem Blickwinkel könnte z.B. die Frage erhellend sein: Wie viele der Produktionsfirmen, Verleihfirmen und großen Berliner Kinopaläste befanden sich 1924 im Besitz von Juden und wie viele nicht?

Bemängeln lässt sich, dass das Niveau der biografischen Aufsätze teilweise sehr schwankt 2, dass Analysen zur häufig typisierenden Darstellung von Juden in Nebenrollen fehlen und dass einige der wichtigen Abschnitte ziemlich additiv und oberflächlich wirken. Das in der Forschung bislang anscheinend übersehene Korpus von Pogrom-Filmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit wird z.B. kaum in die zeitgenössischen Diskurse eingebettet. Naheliegend wäre auch die Frage gewesen, welche Beweggründe hinter der Verfilmung von Stoffen mit so deutlichen politischen Implikationen standen: kommerzielle oder ideologische? Und auf welche Filme bezieht sich die zitierte Kampfansage „gegen antisemitische Lichtbilder, die jetzt wie Pilze aus der Erde schießen“, im Israelitischen Familienblatt von Juli 1919 (S. 223)? Woanders schreibt Stratenwerth: „Antisemitisch motivierte Zensurentscheidungen sind in den 1920er Jahren allenfalls im Einzelfall nachzuweisen.“ (S. 187) Eine Nennung dieser Einzelfälle hätte hier weitere Forschungen erleichtert. Im Übrigen hätte Stratenwerth genauso gut auch darauf hinweisen können, dass bisweilen Filme aufgrund antisemitischer Inhalte verboten wurden: nicht weil die Zensurbehörde ausgesprochen philosemitisch eingestellt war, sondern weil die Filme jüdische Repräsentanten der Republik verunglimpften.3

Das Fazit fällt trotz solcher Einwände und Schwächen insgesamt positiv aus. Wie die Ausstellung „Pioniere in Celluloid“ will auch der Begleitband das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit wecken und darüber hinaus weitere Forschungen anregen. Der Band erzählt von einer Blütezeit des Films in Deutschland und von dem großen Anteil, den jüdische Persönlichkeiten daran hatten. Dabei vermeiden die Autoren den Tunnelblick auf 1933 und öffnen im Gegenteil eine Perspektive auf Wünsche und Handlungsoptionen in einer bestimmten historischen Situation.

Anmerkungen:
1 Bio- und filmografische Informationen bietet CineGraph. Bock, Hans-Michael, Lexikon zum deutschsprachigen Film, München 1984ff. Über Persönlichkeiten wie Ewald A. Dupont, Ernst Lubitsch, Max Mack, Joe May, Carl Mayer, Richard Oswald und Erich Pommer liegen seit mehreren Jahren eigene Monografien vor.
2 Einige Unsicherheiten und Fehler: Es zeugt von Unkenntnis, dass Michael Berger die Filme von Richard Oswald rigoros als „schnell produzierte Dutzendware“ (S. 204) abhakt. Scott Eyman schreibt über den 1892 geborenen Lubitsch, er sei in einer Familie aufgewachsen, die „dem linken, demokratischen Spektrum zu[neigte], das insbesondere von der damaligen Deutschen Demokratischen Partei repräsentiert wurde“ (S. 167). Tatsächlich wurde die DDP aber erst 1918 gegründet. Auch irritiert etwa die folgende Formulierung von Eyman: „Mit zunehmendem Alter verlor sich das Deutsche an Lubitsch und das Jüdische nahm zu.“ (S.171) Falsch ist Katharina Schuberts Anmerkung (S. 58), der Kameramann Karl Freund habe den Film „All Quiet on the Western Front“ (1929/30) gedreht; Freund wurde lediglich mit der Realisierung der letzten Einstellung betraut.
3 Dazu beispielsweise die Verbotsbegründungen für die Kurzfilme „Schieber“ (1922) und „Politische Charakterköpfe“ (1922) unter www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb838zb.pdf und www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb1021z.pdf.

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