A. Maimon u.a. (Hg.): Germania Judaica III.3

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Titel
Germania Judaica, Band 3: 1350-1519. 3. Teilband: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices


Herausgeber
Maimon, Arye; Breuer, Mordechai; Guggenheim, Yacov
Erschienen
Tübingen 2003: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
X, 838 S.
Preis
€ 149,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Litt, Institut für Jüdiche Studien, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Nach allen Erfahrungen besitzen größere enzyklopädische Werke häufig eine lange Entstehungszeit. Dies trifft aus vielerlei Gründen besonders für das Projekt Germania Judaica zu, das vor genau 100 Jahren ins Leben gerufen wurde, als die Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums beschloss, eine grundlegende Aufarbeitung der jüdischen Geschichte im Deutschen Reich zu beginnen. Die Ergebnisse sollten in Form eines alphabetischen Ortslexikons veröffentlicht werden. Der erste Band wurde bereits 1917 vorgelegt, allerdings führten verschiedene erschwerende Umstände zur Verzögerung der zweiten Lieferung, die erst 1934 erfolgte. An der Erarbeitung der Ortschaftsartikel waren nur jüdische Wissenschaftler beteiligt, da zu diesen Zeiten die Thematik der jüdischen Geschichte bei Nichtjuden nahezu keine objektive Beachtung fand. Bedingt durch die nationalsozialistische Judenverfolgung war an eine zielstrebige Fortführung des Projektes nicht mehr zu denken.

Das in den 1950er Jahren gegründete Leo-Baeck-Institut zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland griff schließlich die Fortführung der Arbeiten auf. Zunächst erschien 1963 ein Reprint des ersten Bandes, jetzt in einem Buch zusammengestellt.1 Schon im Vorwort dieser Neuauflage wurde der zweite Band angekündigt. Dieser erschien in zwei Halbbänden 1968, auch er ein Elaborat von ausschließlich jüdischen Historikern.2 Nach beinahe 20 Jahren erschien der erste Teilband des dritten Bandes 3, nunmehr in Kooperation zwischen deutschen nichtjüdischen Historikern und vor allem israelischen Kollegen. Seit diesem dritten Band lag die Federführung an der Hebräischen Universität Jerusalem. Etwas bedauerlich ist der Umstand, dass die beiden folgenden Teilbände 4 jeweils im Abstand von acht Jahren erschienen, was offenbar redaktionelle Gründe hatte, da die in den jeweiligen Beiträgen zitierte Literatur nicht selten bereits vor dem Erscheinungsjahr in neueren Auflagen vorhanden war.

Seit wenigen Wochen liegt nun endlich der abschließende Teilband vor, der somit die Reihe für das Mittelalter komplettiert. Dieser Band hebt sich durch seine Konzeption deutlich von seinen Vorgängern ab, da er zunächst im ersten Drittel eine größere Anzahl von Gebietsartikeln zur jüdischen Geschichte in nahezu allen bedeutenden Territorien des Reiches im Spätmittelalter enthält. Leider fehlen hier, wie von den Herausgebern auch im Vorwort eingeräumt, die Artikel zum Erzstift und Bistum Mainz, zum Hochstift und Bistum Würzburg, zu Innerösterreich und zur Mark Brandenburg. Dies sind für die jüdische Geschichte empfindliche Lücken, die für das Spätmittelalter besonders schmerzhaft sind, da gerade der Mainzer und Würzburger Raum teilweise die Hauptsiedlungsgebiete der Juden in jener Zeit einschlossen. Vielleicht können diese Lücken teilweise durch die jeweiligen Ortschaftsartikel ausgeglichen werden.

Bemerkenswert sind die sechs themenbezogenen Einleitungsartikel mit teilweise größerem Umfang, die aufgrund der im Gesamtprojekt gewonnenen Erkenntnisse Standardbeiträge für längere Zeit darstellen werden. Dabei wurden behandelt: Die jüdische Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur (Breuer, Guggenheim); Die wirtschaftliche Tätigkeit (Toch); Die Rechtsstellung der Juden (Willoweit); Steuern und Abgaben (Isenmann); Die Kirche und die Juden (Moraw) sowie Die Verfolgungen des Spätmittelalters (Toch).

Der erste dieser themenbezogenen Artikel über die jüdische Gemeinde setzt Standards für die kommende Forschung und wurde auf einer beeindruckend breiten Quellenbasis verfasst, die sowohl interne jüdische wie auch externe christliche Belege verarbeitet und dies mit einer Sachkenntnis, der hoher Respekt gebührt. Ausgehend vom Wiederaufbau der Gemeinden nach der Welle der Pestverfolgung wird auf Gemeindebesitz, -organisation und soziale Schichtung, Rabbinat, Gerichtsbarkeit, Erziehung und Kultur sowie territoriale Organisationen eingegangen. Vergleichbares wurde über jüdische Gemeinden in dieser Epoche noch nicht vorgelegt, und es gibt einige Anhaltspunkte, dass dieser Beitrag auch die Verhältnisse des 16. Jahrhunderts, das sich in dieser Hinsicht noch nicht so deutlich vom 15. absetzt, recht korrekt beschreibt. Erfreulich ist das, wenn auch kurze, Eingehen auf die Alltagskultur, wie sie sich aus einigen Quellen erschließt, was die Breite der besprochenen Themen gut ergänzt und auflockert. Der Beitrag ist auch in bibliografischer Hinsicht – anders als die meisten anderen – relativ aktuell. Die Sach- und Sprachkenntnisse der beiden Autoren ermöglichten es ihnen, Sekundärliteratur in allen relevanten Sprachen für den Artikel auszuwerten, so dass die wissenschaftliche Argumentation eine entsprechende Basis gewinnt.

Der Beitrag über die wirtschaftliche Tätigkeit stellt einleitend klar, dass Juden im Spätmittelalter bei weitem nicht nur in der Geldleihe tätig waren, sondern auch eine Reihe von handwerklichen Berufen ausübten, die – mit Ausnahme des Sonderfalls Prag – nicht in Zünften organisiert waren. Darunter fanden sich unter anderem Fenstermacher, Schwertfeger und Hersteller von Würfeln und Spielkarten. Die Analyse der zahlreichen Befunde jüdischer Geldleihe, die trotz allem noch immer der verbreitetste Tätigkeitsbereich für Juden war und ihnen oft den Zuzug in Städte erst ermöglichte, zeigt, dass seit Mitte des 14. Jahrhunderts die soziale Zugehörigkeit der Kunden deutlich geringer wurde und sich zunehmend auf das städtische Bürgertum, Bauern und Kleinadel beschränkte. Erst das Verständnis derartiger Prozesse ermöglicht die Beurteilung der wirtschaftshistorischen Komponenten, die im 15. Jahrhundert bei der Vertreibung aus den Städten eine Rolle spielten. Sehr aufschlussreich ist auch die Erarbeitung bisher unbekannter Fakten wie etwa der Bildung von Geschäftsgesellschaften innerhalb des Geld- und Warenverkehrs und der Teilhabe von Christen an solchen Gesellschaften. Ebenso überrascht der auf breiter Basis nachgewiesene hohe Anteil von Frauen unter den Geldhändlern von 25 Prozent.

Gegenüber den ersten beiden Einleitungsartikeln fällt der dritte über die Rechtsstellung der Juden qualitativ etwas ab. In vier Kapiteln wird dieses Thema behandelt: angefangen von den Schutzherren der Juden, über den Judenschutz als subjektives Herrschaftsrecht, rechtliche Mechanismen der Schutzherrschaft bis zur Aufhebung des Judenschutzes. Jedes Kapitel ist in sich noch zweifach untergliedert, so dass die Darstellung an Übersichtlichkeit verliert. Zudem wird im Verhältnis zu den anderen Artikeln relativ wenig Sekundärliteratur herangezogen und die Mehrzahl der zahlreichen Fußnoten verweist auf die Ortschaftsartikel in den ersten beiden Teilbänden. Manchmal scheint selbst der Autor die Übersicht verloren zu haben, wenn er etwa formuliert: „Die Rechtsverhältnisse zwischen den Juden und ihren Herren waren fast nirgendwo ‚territorial’, sondern wiesen signifikante Merkmale ausschließlich ‚personaler’ Rechtsbeziehungen auf“ (S. 2171), um dann auf der folgenden Seite zu der relativierenden und richtigen Aussage zu kommen: „während uns aus den kompakten Flächenstaaten Bayern, Sachsen oder Brandenburg Beispiele dieser [personalen] Art nicht vorliegen.“. Einerseits wird bei der Lektüre dem Leser nicht sofort deutlich, wie „personal“ hier zu deuten ist, zweitens scheinen die nicht unbedeutenden jüdischen Siedlungen in den genannten drei Territorien für den Autor nicht wichtig genug zu sein, sieht er doch „fast nirgendwo“ territoriale Rechtsverhältnisse.

Deutlich mehr im Niveau des Bandes liegt der Artikel über Steuern und Abgaben, ein Kapitel, das mit der mittelalterlichen jüdischen Geschichte aufs Engste verbunden ist. In mehreren Unterpunkten wird sehr detailliert auf die verschiedensten Phänomene eingegangen, nicht ohne vorher im Abschnitt II „Kategorisierungen – Grundzüge der Steuererhebung“ deutlich zu klären, welche Formen es dabei gab: ordentliche und außerordentliche ‚Judensteuern’ sowie Abgaben, derer es verschiedenste je nach Belieben und Nöten der Erheber gab. Auch der Vergleich zwischen gewöhnlichen Vermögenssteuerfüßen des Spätmittelalters, die zwischen 0,5 und 5 Prozent lagen und denen, die den Juden auferlegt wurden und die sich zwischen 25 und 50 Prozent bewegen konnten, erhellt den Charakter der Steuern für Juden, die „nicht mehr als Steuer, sondern als Konfiskation oder Ausplünderung zu bezeichnen sind.“ (S. 2211) Weiter werden die Steuern bei König und Reich sowie bei den Territorialherren ausführlich dargestellt. Der Abschnitt V „Steuerfähigkeit“ erschließt sich dem Leser hingegen inhaltlich nicht und es bleibt unklar, was dabei eigentlich besprochen werden sollte (abgesehen von der Beschreibung der beiden Judenschuldentilgungen König Wenzels am Ende des 14. Jahrhunderts). Abschließend werden am Beispiel der gut dokumentierten Gemeinde Regensburg individuelle Abgabenkonstellationen beschrieben und erneut – hier detaillierter – auf die verschiedenen Steuerarten, Tarife und Steuerlasten eingegangen.

Der verhältnismäßig kurze Artikel über Kirche und Juden ist in den Betrachtungen zweigeteilt: Einerseits wird das Verhältnis der Amtskirche gegenüber den Juden erörtert, andererseits das Gebaren der Volkskirche (= Volksfrömmigkeit). Dabei wird das anfänglich noch eher moderate Verhalten der Amtskirche geschildert, dass sich aber im Verlauf des Spätmittelalters mehr und mehr zu Ungunsten der Juden verschob. Demgegenüber war die Stimmung im Volksglauben ohnehin nie sehr positiv in Hinsicht auf die Juden und gestaltete sich im untersuchten Zeitraum zunehmend negativ, was nicht zuletzt dem Wirken von Wanderpredigern aus den Bettelorden zuzuschreiben ist.

Der letzte Beitrag hat die Verfolgungen des Spätmittelalter zum Inhalt. Dabei geht er einige Jahrzehnte über den Untersuchungszeitraum hinaus, da die Thematik bis 1550 verfolgt wird. Besprochen wird der zeitliche Ablauf (mit statistischer Darstellung in Diagrammform), die Typologie der Verfolgungen, Strukturen, jüdische Reaktionen sowie Begründungen und Hintergründe. Durch die Diagramme wird sofort sehr deutlich, was durch den Text noch genauer erläutert wird: Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts gab es in sehr kurzer Folge jeweils mehrere Höhepunkte von Verfolgungswellen, was für vorhergehende Epochen nicht zu beobachten war. Vorangestellt ist eine Definition, was unter Verfolgung für den Beitrag kategorisiert wurde, wobei auch schon einseitige Schuldentilgungen sowie die Beschlagnahme von Privateigentum oder Schuldbriefen mit beachtet wurden.

Abschließend werden die Indices für alle drei Teilbände geliefert, die sich aus je einem geografischen, Personen- und Sachindex zusammensetzen. Auf die ursprünglich vorgesehenen Karten wurde verzichtet, da unterdessen ein umfangreiches Kartenwerk für die Juden im Mittelalter vorliegt.5 Insgesamt wurde somit ein umfangreiches Kompendium für die jüdische Geschichte im mittelalterlichen Mitteleuropa geschaffen bzw. komplettiert, das in seinen Dimensionen und der erlangten Bedeutung mit Sicherheit selbst die Initiatoren von vor 100 Jahren verblüfft hätte.

Anmerkungen:
1 Elbogen, I.; Freimann A.; Tykocinski, H. (Hgg.), Germania Judaica, Band I: Von den ältesten Zeiten bis 1238, Tübingen 1963.
2 Avneri, Z., Germania Judaica, Band II: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. 1. Halbband: Aachen – Luzern; 2. Halbband: Maastricht – Zwolle, Tübingen 1968.
3 Maimon, A. (Hg.), Germania Judaica, Band III, 1. Teilband: Ortschaftsartikel Aach – Lychen, Tübingen 1987.
4 Maimon, A.; Breuer, M.; Guggenheim, Y. (Hgg.), Germania Judaica, Band III, 2. Teilband: Ortschaftsartikel Mährisch-Budwitz – Zwolle.
5 Haverkamp, A. (Hg.), Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen. Kommentiertes Kartenwerk. Teil 1: Kommentarband; Teil 2: Ortskatalog; Teil 3: Karten. (Forschungen zur Geschichte der Juden A.14), Hannover 2003.

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