Bücherverbrennung vor 90 Jahren

Jürgen Serkes neu aufgelegter Band „Die verbrannten Dichter“

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1925 erschien der erste Band einer später in zahllosen Auflagen nachgedruckten Kampfschrift. Ihr Autor war 1889 geboren und gehörte somit zumindest dem Alter nach der ,expressionistischen Generation‘ an. Ein erfolgloser Künstler machte in dieser Schrift der erfolgreicheren Kunst der Moderne den Prozess, sprach von den „krankhaften Auswüchsen irrsinniger und verkommener Menschen, die wir unter dem Sammelbegriff des Kubismus und Dadaismus seit der Jahrhundertwende kennenlernten“. Er schrieb von den „Wucherungen“, „geistigen Degeneraten“, „Halluzinationen von Geisteskranken oder Verbrechern“ und von der Aufgabe „der Staatsleitung, zu verhindern, daß ein Volk dem geistigen Wahnsinn in die Arme getrieben wird.“ Die „Krankheit“ der modernen Kunst galt dem Kulturkritiker freilich nur als Zeichen einer weit umfassenderen Zeitkrankheit, „einer Erkrankung der sittlichen, sozialen und rassischen Instinkte“. Und wer sich solchen Erkrankungen überlasse, der habe sein Lebensrecht verwirkt. In dem Buch steht der durch Sperrdruck hervorgehobene Satz: „Wenn die Kraft zum Kampfe um die eigene Gesundheit nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben in dieser Welt des Kampfes.“

Diese Sätze stehen in Adolf Hitlers Mein Kampf. Und wir wissen, dass Hitler später seine Drohungen aus dem Jahr 1925 auf furchtbare Weise in die Tat umsetzte. Die Künstler und die Kunst der Moderne hatten nach seiner Machtergreifung am 30. Januar 1933 ihr Lebensrecht in Deutschland verloren. 1937 arrangierten die Nationalsozialisten in München die Ausstellung „Entartete Kunst“. Ausgestellt wurden hier viele Kunstwerke auch des Expressionismus. Der deutschen Bevölkerung sollte vor Augen geführt werden, dass diese Kunstwerke Produkte von Geisteskranken, Bolschewisten und Juden waren und daher in Deutschland kein Existenzrecht hätten. Der modernen Literatur hatte man schon vier Jahre vorher den Prozess gemacht. Am 10. Mai 1933 wurden in vielen deutschen Städten als Höhepunkt einer „Aktion wider den undeutschen Geist“ Zehntausende von Büchern verbrannt. Wieder waren es bevorzugt literarische Werke aus dem Umkreis des Expressionismus, die hier vernichtet wurden.

Keine Schriftstellergeneration in diesem Jahrhundert hat unter der Geschichte so sehr gelitten wie die expressionistische. Von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert und verfolgt, gehen die meisten nach 1933 einen Weg, der in Todeslagern, mit dem Freitod oder im lange währenden Exil endet. In Konzentrations- und anderen Vernichtungslagern kamen um: Erich Mühsam (1934), Hermann von Boetticher (1941), Paul Kornfeld (1942), Jakob van Hoddis (1942), Otto Freundlich (1943), Ite Liebenthal, Walter Serner, Arthur Ernst Rutra, Alfred Grünewald (alle 1943 oder 1944), Kurt Finkenstein (1944), Emil Alphons Rheinhardt (1945). Hingerichtet wurden: Felix Grafe (1942), Alexander Bessmertny (1943), Theodor Haubach (1945). Das Leben nahmen sich: Reinhard Goering (1936 bei Jena), Ernst Toller (1939 in New York), Richard Oehring (1940 in Holland), Ernst Weiß (1940 in Paris), Walter Hasenclever (1940 in Les Milles), Carl Einstein (1940 bei Pau), Arthur Kronfeld (1941 in Moskau), Stefan Zweig (1942 in Brasilien), Alfred Wolfenstein (1945 in Paris).

Zwischen 1933 und 1945 sind etwa zwanzig weitere Autorinnen und Autoren in der Emigration beziehungsweise im Ausland gestorben, nach 1945 weit mehr. Viele von ihnen waren nach Kriegsende aus dem Exil nicht mehr zurückgekehrt. Mit der Vernichtung und Vertreibung der Juden ging in Deutschland auch die Vernichtung und Vertreibung des Expressionismus einher.

In der Vorbemerkung zur kürzlich vom Wallstein Verlag veröffentlichten erweiterten Neuausgabe von Jürgen Serkes Die verbrannten Dichter. Lebensgeschichten und Dokumente stehen die Sätze:

Die Liste derjenigen Schriftsteller, die unter den Nationalsozialisten diffamiert wurden, trägt Hunderte von Namen. So rigoros hat sich kein Volk von einer ganzen Literatur-Epoche trennen lassen, die in ihrer Hauptrichtung den Namen Expressionismus trägt. Es war jene Kunst, welche die Zerfallserscheinungen des Kapitalismus offenlegte und die gegen eine Restauration kämpfte, die mit dem Nationalsozialismus in die Katastrophe führte.

In seinem aktualisierten Nachwort stellt Jürgen Serke die Entstehung seines Buches vor einem halben Jahrhundert noch in einen anderen politischen Zusammenhang:

Ein Buch kehrt zurück, das vor einem halben Jahrhundert entstanden ist, und der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts ein neues Gesicht gab: Das Gesicht des Widerstands. Ich verdanke das Buch, dem ich den Titel „Die verbrannten Dichter“ gab, der Stadt Prag, von der Robert Musil sagte, dass sie der „Mittelpunkt Europas“ ist, „wo die Weltachsen sich schneiden“.
In Prag wurde ich, was ich heute bin: als Journalist ein Bewahrer des literarischen Widerstands gegen die beiden Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts in Mitteleuropa. Alles, was ich darüber geschrieben habe, hat seinen Ausgang in Prag. Die Initialzündung war der IV. Kongress des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes im Juli 1967. Es war der Aufstand der Dichter des Landes gegen den Machtmissbrauch des kommunistischen Regimes. Es führte in den Prager Frühling und ein Jahr später in die Zerstörung dessen, was die Tschechen Sozialismus mit menschlichem Antlitz nannten, durch sowjetische Panzer.

Anlass für die Neuausgabe von Serkes Buch, so der Gründer und Geschäftsführer des Wallstein Verlags Thedel von Wallmoden im „Vorwort“ dazu, sind der „90. Jahrestag der Bücherverbrennung von 1933 und der 85. Geburtstag von Jürgen Serke“. Der Verleger berichtet dabei auch von seinem „intensiven Eindruck […], der sich einstellte, als ich im Herbst 1976 die Artikelserie ,Die verbrannten Dichter‘ im Magazin ,stern‘ las.“ Aus diesen über dreißig bebilderten Dichter-Porträts Serkes mit seinem Fotografen Wilfried Bauer ging die erste, 1977 im Beltz Verlag erschienenen Ausgabe des Buches hervor. Etwas modifizierte Ausgaben in jeweils mehreren Auflagen und Verlagen folgten. Wallmoden erinnert sich in seinem Vorwort daran, dass seine Lektüre von Serkes Artikelserie bei der eigenen Verlagstätigkeit später dazu beigetragen hat, „einzelne Bücher, Briefwechsel oder umfangreiche Werkausgaben ,verbrannter Dichter‘“ selbst zu veröffentlichen, und er weist darauf hin, dass schon vor Serkes Porträts „eine intensive Exilforschung“ mit entsprechenden Veröffentlichungen in anderen Verlagen betrieben wurde. „Auch hatten sich die Akademien in Darmstadt und Mainz intensiv für die Wiederentdeckung der verfemten Literatur eingesetzt. Aber keine dieser Initiativen erzielte eine derart breite Wirkung wie Jürgen Serkes Artikelserie. Das ist Grund genug, dieses Buch mit seinen emphatischen Lektüreempfehlungen neu aufzulegen.“

In dem Vorwort zur 2002 erschienenen Ausgabe, das jetzt von der neuen unter dem Titel „Blick aus Jerusalem“ übernommen wurde, schrieb der israelische Literaturwissenschaftler Jakob Hessing über die von Serke porträtierten Dichter und Dichterinnen:

Viele der Dichter sind Juden, längst bereit, ihr Judentum für ein anderes Deutschland aufzugeben; alle sind Antifaschisten und stehen links, doch verweigern sie sich der SPD, die die Arbeiter verraten hat, und sie verweigern sich auch jedem linientreuen Kommunismus. Sie sind die Dissidenten ihrer Generation, die häufig unter dem Sammelnamen des Expressionismus zusammengefasst wird, und plötzlich begreift man – es sind die Altersgenossen Adolf Hitlers, der einmal ein Künstler werden wollte wie sie; auch für ihn wurde der Erste Weltkrieg zum entscheidenden Ereignis; auch er hat eine deutsche Revolution gemacht, und auf ihren Scheiterhaufen wurden die Dichter seiner Generation schließlich zu den Opfern eines fürchterlichen Bruderzwistes.

Jakob Hessings Vorwort versucht die Erinnerung an die erste Ausgabe von 1977 von Serkes Buch wie dieser selbst in historische Zusammenhänge zu stellen, bei denen die Literaturwissenschaft kein gutes Bild erhält. „Die siebziger Jahre brachten ein neues Selbstbewusstsein zum Durchbruch, das im kollektiven Gedächtnis (West-)deutschlands auf die Ereignisse von 1968 zurückgeht. Auch Jürgen Serke selbst hat sich damals im Kontext dieser Generation gesehen.“ Im Unterschied zu ihm, so Hessing, haben „die jungen Germanisten“ damals aber mit ihrer materialistisch fundierten Ideologiekritik eine „eigene Ideologie“ entwickelt, die „alle Literatur als Reflektion sozialer und ökonomischer Zwänge las und es für unwissenschaftlich hielt, die Autoren dieser Literatur als Menschen aus Fleisch und Blut zu betrachten.“ Serke hingegen wollte nicht nur vernichtete Bücher wiederbeleben, sondern auch ihre Dichter, und der Titel seines Buches, erklärt Hessing, „wurde zum geflügelten Wort, weil es das wahre Ausmaß einer verdrängten Schuld sichtbar macht.“ Und weiter:

„Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“, schrieb Heinrich Heine mehr als hundert Jahre vor dem Scheiterhaufen von 1933. Serke schließt den Kreis: Viele der Menschen, von denen sein Buch erzählt, mögen das Dritte Reich überlebt haben, auf der symbolischen Ebene jedoch bleiben sie mit den Feueröfen Adolf Hitlers verknüpft. Die mörderische Diktatur hat sie für immer aus dem deutschen Bewusstsein zu tilgen versucht, Serke dagegen holt sie Namen für Namen in dieses Bewusstsein zurück.

In einem Gespräch Jürgen Serkes mit Willi Winkler, das die Süddeutsche Zeitung am 5. Mai 2023 zur Bücherverbrennung und zu Serkes 85. Geburtstag veröffentlichte, antwortete Serke auf die Frage, wie die „offizielle Germanistik“ damals auf seine Porträts reagiert hatte:

Die Germanistik war sehr beleidigt. Man wollte eigentlich von verbrannten Dichtern nichts wissen. Tatsächlich hieß es: „Warum ‚verbrannte Dichter‘? Es ist doch keiner verbrannt worden, nur die Bücher!“ Die konnten nicht einmal die Metapher verstehen.

Mit dem Expressionismus hatte sich die deutsche Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings schon sehr viel früher befasst. Nach der resonanzreichen, am 8. Mai 1960 eröffneten Expressionismus-Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach (mit einem umfangreichen, von Bernhard Zeller herausgegebenen Katalog, der auch auf „Gefängnis, Folter und Mord, Freitod und Flucht“ vieler Dichter eingeht) nahm die Forschung dazu bald kaum mehr überschaubare Dimensionen an. 1959 hatte Kurt Pinthus seine zuerst 1920 erschienene expressionistische Lyrik-Anthologie Menschheitsdämmerung neu als Rowohlt Taschenbuch herausgegeben, das in vielen Auflagen nachgedruckt wurde. In den sechziger Jahren versorgten dann vor allem die Arbeiten Paul Raabes, die er zunächst mit dem 1972 in 18 Bänden erschienenen Index Expressionismus abschloss, die Expressionismus-Philologie mit einer soliden und wahrhaft umfassenden bibliografischen und dokumentarischen Basis.

1976 erschien im Wagenbach Verlag eine von dem Schriftsteller Peter Rühmkorf herausgegebene Anthologie expressionistischer Gedichte, die allerdings neuen Tendenzen in der damaligen Literaturszene entsprach: der „Neuen Subjektivität“ der siebziger Jahre – mit neuen Vorlieben für biografische und autobiografische Tendenzen beim mehr oder weniger fiktionalen Schreiben. Sie erfahren gegenwärtig im 21. Jahrhundert eine Wiederbelebung (siehe dazu den Themenschwerpunkt der Mai-Ausgabe 2022 in literaturkritik.de).

In seinem autobiografischen Nachwort zur neuen Ausgabe Die verbrannten Dichter erinnert Serke nicht zuletzt an die Rezension Rühmkorfs zu seinem Buch, die am 10. Februar 1978 in der ZEIT erschien. Er zitiert sie u.a. mit den Sätzen:

daß wir in einem Stück entrückter Literaturgeschichte auf einmal unsere eigenen Bewußtseinswehen zu erkennen meinen […]. Aber es ist nicht nur dies, was uns an Serkes Buch so fesselt und in Atem hält. Über die stets vorhandenen Spannungen von Dichtkunst und Politik hinaus […] sehen wir fast so was wie einen Mythos des modernen Bewußtseins vor uns leuchten: die erschütternde Leidensgeschichte einer unendlich erschütterungsbereiten Generation.

Serke selbst wiederum aktualisiert sein Buch in dem 2023 ergänzten Nachwort mit Informationen über das „Zentrum für verfolgte Künste“ in Solingen, wo die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft die von ihm für seine „Entdeckungsbücher“ erworbene Sammlung von Erstausgaben, Manuskripten, Briefen, Fotos und Dokumenten im dortigen Kunstmuseum platziert hatte. Und er schreibt dazu:

Mit dem Überfall der Ukraine durch Russland senkt sich wieder Dunkelheit über Europa und zeigt wie aktuell die Aufgaben des „Zentrums für verfolgte Künste“ geblieben sind. Wieder spielt der Widerstand eine überragende Rolle.

Serkes Porträts beginnen mit einer Rubrik, in der die Überschriften die genannten Namen der geschilderten Persönlichkeiten jeweils mit einem kurzen Untertitel ergänzen: Ernst Toller (Opfergang für die Vision vom gütigen Menschen), Else Lasker-Schüler (Die Frau, die die Träume nach Israel entführte), Armin T. Wegner (Der Dichter, der in Deutschland blieb und Hitler trotzte), Franz Jung (Ein Poet liest Lenin die Leviten), Claire Goll („Ich glaube, ich habe genug gelebt“), Albert Ehrenstein (Eine Liebe, die nicht in Erfüllung ging), Walter Mehring (Schüsse mitten ins deutsche Gemüt), Klabund (Der Frauenfischer aus Crossen), Erich Mühsam (Der Anarchist, der die Gewalt hasste), Jakob Haringer (Ein Schandmaul betet zu Gott), Alfred Döblin (Ein Ketzer wird Katholik), Hans Henny Jahnn (Vision von Tod und Verwesung) .

Eine zweite Rubrik nennt unter der Überschrift „Ein Blick zurück nach vorn“ in den Titeln nur die Namen: Oskar Maria Graf, Theodor Kramer, Ferdinand Hardekopf, Carl Einstein, Walter Benjamin, Franz Hessel, Walter Hasenclever, Salomo Friedländer. Eine dritte Rubrik (wie die zweite mit oft kürzeren Beiträgen) befasst sich unter der Überschrift „Bücher, über die einst jeder sprach“ mit Ernst Weiß, Rahel Sanzara, Max Herrmann-Neiße, Paul Zech, Paul Kornfeld, Gertrud Kolmar, Adam Kuckhoff, Jakob van Hoddis, Eugen Gottlob Winkler, Ernst Ottwalt und Johannes R. Becher. Im Anschluss daran werden wie in der ersten Rubrik noch zwei weitere Personen porträtiert: Hermann Adler (Ein leiser Held) und Georg K. Glaser („Der Schuft kann schreiben“).

Der Untertitel des Buches Lebensgeschichten und Dokumente signalisiert etwas von der Machart aller Porträts: Dokumentiert sind hier mit zahlreichen und oft langen Zitaten literarische Texte sowie schriftliche und auch mündliche Aussagen der genannten Persönlichkeiten und anderer Menschen, die ihnen nahestanden, und mit vielen Abbildungen zugleich ihre Körper und Bücher. Die „Lebensgeschichten“ sind dabei autobiografisch kombiniert mit Erinnerungen Serkes an seine eigenen Recherchen. In der Geschichte über Else Lasker-Schüler zum Beispiel, die 1933, „von den Nazis bedroht“, zunächst „in die Schweiz“ und „von der Schweiz nach Palästina“ floh („Auf dem Ölberg in Jerusalem ist sie begraben.“) berichtet er:

Um der Wirklichkeit näherzukommen, in der die Dichterin gelebt hat, flog ich nach Israel, fuhr nach Jerusalem, über das Else Lasker-Schüler bereits 1902 visionär geschrieben hatte […]. In der Innenstadt suche ich einen Parkplatz. Neben mir ein Bekannter, genauso hilflos wie ich. Ich biege in eine Nebenstraße ein, sehe dort die einzige Parklücke. Der Bekannte steigt wie ich aus, macht zwei Schritte, steht an einer Pforte und sagt: „Gehen Sie mal durch. Sie stehen genau vor dem Haus, in dem Else Lasker-Schüler zuletzt gewohnt hat.“ […] Ich klingele. Eine ältere Frau erscheint. Ich bitte sie, mir das Zimmer zu zeigen, in dem die mit 76 Jahren gestorbene Else Lasker-Schüler zuletzt gewohnt hat. Die Frau fragt mich auf Deutsch: „Wer ist Else Lasker-Schüler? Ich habe nie etwas gehört von ihr.“

Serke antwortet ihr gleichsam und informiert damit jene Leserinnen und Leser, die bisher wenig über Else Lasker-Schüler wussten. Er informiert dabei ähnlich wie in vielen anderen Lebensgeschichten des Buches, aber hier besonders ausführlich vor allem über die Geschichten ihrer Liebesbeziehungen – mit Herwarth Walden, Gottfried Benn und etlichen anderen in Zusammenhängen mit Trennungen und Tod. Und zuletzt so:

Immer fasste sie die Liebe als Widersacher des Todes auf. Und als die Liebesbeziehung zu dem Jerusalemer Professor Ernst Simon zerbrach, sagte Else Lasker-Schüler: „Mit mir geht es zu Ende. Ich kann nicht mehr lieben.“

Serkes Lebensgeschichte über Franz Jung, dessen Bücher verbrannt wurden, der von den Nazis 1935 verhaftet wurde, dem aber bald die Flucht in andere Länder gelang, bezieht dessen drei gescheiterte Ehen mit ein. Die Geschichte über Claire Goll beginnt mit ihren Liebesbeziehungen zu Rilke und „zum heute in Deutschland unbekannte[n] Lyriker Ivan Goll“, der ihr, wie Serke zitiert, schwor: „Ich bin dein, auch wenn ich gestorben bin.“ Beide Männer starben an Leukämie, Rilke „1926 im Alter von 51 Jahren“, Ivan Goll „1950 im Alter von 59 Jahren“. Große Teile der Geschichte über Claire Goll widmen sich auch der Lebensgeschichte ihres zweiten Ehemanns Ivan Goll und einer unehelichen Liebesbeziehung von ihm mit der Lyrikerin Paula Ludwig. Clair und Ivan, beide engagierte Pazifisten, lernten sich 1917 in der Schweiz kennen, heirateten 1921 in Paris und flüchteten 1939 beim Beginn des Zweiten Weltkriegs in die USA. 1947 kehrten sie nach Frankreich zurück. Trotz ihrer Affären mit anderen blieben die beiden zusammen. 1954 erschien im Limes Verlag ein von Marc Chagall illustrierter Band mit Gedichten von beiden unter dem Titel Zehntausend Morgenröten. Gedichte einer Liebe, dessen Cover zu den vielen Abbildungen in Serkes Buch gehört.

Abbildung vom Wallstein VerlagClair Goll lebte noch, als Serke über sie schreiben wollte. Er erzählt autobiografisch über seinen Besuch bei ihr, die an Krebs erkrankt war, in Paris. Ein Bild in dem Buch zeigt „Jürgen Serke und Claire Goll in Paris, fotografiert von Wilfried Bauer“. Unter seiner Geschichte steht der Hinweis: „Claire Goll starb am 30. Mai 1977 – ein Jahr nach meinem Besuch, nach unserem Gespräch.“ Serkes Gespräche mit ihr werden von ihm als oft sehr konfliktreich beschrieben. „Sie lädt sich alle zwei Stunden mit Aggressivität auf“, berichtet er – und: „Ich habe es zwischen mir und ihr zum Krach kommen lassen.“ Aber im letzten Absatz seiner Geschichte über sie, steht der Satz: „Ich habe sie liebgewonnen, die giftige Claire Goll.“ Bei ihren Beschimpfungen auch anderer Personen hatte sie „ganz nebenbei“ gesagt: „Ich bin 85 Jahre alt. Ich singe in mir immer die Kantate von Bach ‚Ich freue mich auf meinen Tod.‘ Ich glaube, ich habe genug gelebt.“

Die folgende Lebensgeschichte über Albert Ehrenstein mit dem Untertitel „Eine Liebe, die nicht in Erfüllung ging“ setzt wie fast alle weiteren fort, was die vorangehenden prägt. Es sind Geschichten über Liebe und Tod, über Glück und Unglück der vor allem auch unter Kriegen und Diktaturen leidenden Personen. Die vielen präsentierten Text- und Bilddokumente sind dabei nicht Objekte von Analysen und Interpretationen oder ästhetischen Bewertungen, sondern geben Einblicke in die Subjekte der Menschen, um die es geht.

Dabei lässt sich manches kritisieren – etwa wenn Serke schreibt: „So überlebten von den ,Verbrannten Dichtern‘ nur die, die in die Behaglichkeit des bürgerlichen Bewusstseins passten: Thomas Mann, Stefan Zweig und Franz Werfel.“ Den drei Autoren widmet er in seinem Buch keine Lebensgeschichten. Thomas Mann, dessen Bücher zumindest in einigen Städten verbrannt wurden, emigrierte 1933 in die Schweiz und 1938 in die USA. Eine Rückkehr nach Deutschland nach dem Kriegsende lehnte er ab. Von 1952 bis zu seinem Tod lebte er wieder in der Schweiz. Der Pazifist Stefan Zweig emigrierte nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zunächst nach London, später nach Brasilien, wo er sich nach längeren Depressionsphasen im Februar 1942 das Leben nahm. Franz Werfel emigrierte 1938 nach Südfrankreich und 1940 in die USA, wo er im August 1945 an einem Herzinfarkt starb.

Die Verbrennung von Büchern Erich Kästners (siehe dazu die in literaturkritik.de erneute Veröffentlichung von Reich-Ranicki Beitrag darüber aus dem Jahr 1965) wird in Serkes Buch nicht erwähnt. Aber einem Autor, dessen Bücher 1933 nicht verbrannt wurden, sondern von den Nationalsozialisten (mit Ausnahme seines Buches Wir sind Gefangene) auf den „weißen Listen“ empfohlen wurden, widmet Serke einen eigenen Beitrag. Allerdings mit guten Gründen: Der bayerische Dichter Oskar Maria Graf, der schon im Ersten Weltkrieg „mit Aufsässigkeit gegen den Militärdienst“ reagierte, mit der Münchner Räterepublik sympathisierte, später mit parteilos sozialistischen Einstellungen gegen den deutschen Nationalsozialismus opponierte und nach Hitlers Machtergreifung zunächst nach Österreich emigrierte, veröffentlichte am 12. Mai 1933 in der Wiener Arbeiter-Zeitung seinen berühmten „Protest“ mit dem Titel „Verbrennt mich!“ Serke zitiert aus ihm u.a. die Sätze:

Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, daß meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen.

Der mit Graf befreundete Bertolt Brecht schrieb dazu einige Jahre später in seinem Gedicht „Die Bücherverbrennung“ die von Serke ebenfalls zitierten Verse:

Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem Wissen
öffentlich zu verbrennen, und allenthalben
Ochsen gezwungen wurden, Karren mit Büchern
zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte
ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste
der Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine Bücher
vergessen waren. Er eilte zum Schreibtisch,
zornbeflügelt, und schrieb einen Brief an die Machthaber.
„Verbrennt mich!“ schrieb er mit fliegender Feder:
„Verbrennt mich!
Tut mir das nicht an! Laßt mich nicht übrig.“

In Serkes einflussreichem Beitrag über Irmgard Keun steht, dass sie „1910 in Berlin zur Welt“ kam. Und er beginnt mit den Sätzen: „Gegen Ende der Weimarer Republik stand Irmgard Keun als Schriftstellerin am Anfang. Mit zwei Romanen wirbelte die 22-Jährige in die Popularität. Als die Nazis an die Macht kamen, wurden Irmgard Keuns Bücher verboten.“ Keun gehört zu den Autorinnen und Autoren, die noch lebten, als Serke seine Lebensgeschichten vorbereitete, und mit denen er Gespräche führte. Aber in späteren Ausgaben korrigierte er nicht, was schon lange als falsche Angabe der Autorin belegt ist. Hiltrud Häntzschel eröffnete ihre 2001 in der Reihe „rowohlts monographien“ erschienene Biographie über Irmgard Keun mit den Hinweisen:

„Alter ist zum Kotzen“, titelte die Münchner „tz“ am 6. April 1981 ein „Gespräch mit der Schriftstellerin Irmgard Keun (71)“. Was die Zeitungsleser nicht wissen konnten, sondern allein die Autorin selbst: 1981 war sie schon 76 Jahre alt. Die kleine Mogelei, mit der sich die junge schauspielernde Irmgard Keun kurz vor ihrem Schriftstellerdebüt kurzerhand um fünf Jahre jünger und damit zum jugendlichen Wundertalent gemacht hatte, holte sie im Alter wieder ein. 

Geboren wurde Keun am 6. Februar 1905 in Charlottenburg bei Berlin. Und Popularität erreichte sie mit ihren 1931 und 1932 erschienenen Romanen Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen nicht als „22-Jährige“, sondern als sie 27 Jahre alt war. Als 1980 in Köln, wo Keun ihre Kindheit verbrachte, ihr angeblich 70. Geburtstag mit einer Laudatio der Feministin und späteren Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gefeiert wurde, glaubte man noch an die „Mogelei“ der Autorin. Erst später wurde sie öffentlich korrigiert, doch nicht von Serke.

Mit einem anderen Satz über sie hatte Serke, als er ihre Lebensgeschichte schrieb, allerdings recht: „Irmgard Keun ist heute eine Dichterin ohne Publikum. Keines ihrer Bücher ist auf dem Markt.“ Zu den Verdiensten seiner Lebensgeschichten gehört, dass die über Keun maßgeblich dazu beigetragen hat, das öffentliche Interesse an ihren Werken und an ihrer Person schnell und intensiv wiederzubeleben. Hiltrud Häntzschels Biographie äußert sich zwar etwas zwiespältig über „Jürgen Serkes aufreißerische Reportage im ,Stern‘, voller Übertreibungen, effektheischender Erfindungen, von denen wir nicht mehr wissen, wer sie formuliert hat, Irmgard Keun oder ihr Gesprächspartner.“ Aber schon auf der zweiten Seite schreibt sie von Keuns „spätem Comeback durch eine Reportage von Jürgen Serke in der Illustrierten ,Stern‘“.

Serkes Verdienst an einem solchen Comeback betrifft nicht nur Irmgard Keun, sondern auch viele andere der von ihm für ein breites Publikum porträtierten „verbrannten Dichter“. Und die nach wie vor anregende Lektüre seiner vor fast einem halben Jahrhundert veröffentlichten Lebensgeschichten lohnt sich noch heute, auch wenn die meisten dieser Dichterinnen und Dichter inzwischen viel bekannter sind als damals.

Dem Autor und dem Verlag ist für die neue Ausgabe des Buches zu danken. Eine Literaturwissenschaft, die auf die Analyse und Interpretation von Texten fixiert ist, kann bei der Lektüre und Betrachtung der Bilder dazu motiviert werden, sich intensiver auch mit den Menschen zu befassen, die die Texte geschrieben, gelesen und über sie gesprochen haben.

Titelbild

Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter. Lebensgeschichten und Dokumente.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
364 Seiten , 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353886

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