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Toxische Sprache und geistige Gewalt

2022
978-3-8930-8666-5
Attempto Verlag 
Monika Schwarz-Friesel
10.24053/9783893086665

Jüdinnen und Juden sind nicht nur mit physischer, sondern auch mit geistiger Gewalt konfrontiert: Diese äußert sich durch explizite Hassrede ebenso wie durch harmlos anmutende Muster der Alltagssprache. Judenfeindschaft und Sprache stehen seit zweitausend Jahren in einer untrennbaren Symbiose. Das Gift judenfeindlichen Denkens und Fühlens ist Teil unserer Kultur, und antisemitische Sprachgebrauchsmuster sind tief in unser kommunikatives Gedächtnis eingeschrieben. Auf diese Weise sorgen sprachliche Antisemitismen dafür, dass judenfeindliche Stereotype von Generation zu Generation weitergegeben werden. Der Band macht diesen Zusammenhang anhand authentischer Beispiele anschaulich und verständlich. Er deckt die toxischen Sprachstrukturen mit ihrer Wirkung auf das kollektive Bewusstsein auf und weist auf die dringende Notwendigkeit eines sensiblen und geschichtsbewussten Sprachgebrauchs hin. Stimmen zum Buch: "Nicht nur den Redenschreiberinnen in den Ministerien sei dieses Buch ganz dringend empfohlen. Auch den Bürgermeisterinnen, Professoren, Pfarrern und allen, die öffentlich mit Sprache umgehen. Monika Schwarz-Friesel durchleuchtet das Thema Antisemitismus in einzigartiger historischer und sprach-analytischer Tiefe." (DLF, Andruck: Das Magazin für politische Literatur, 17.10.22) "Das Spannende an Schwarz-Friesels Unternehmen: Sie denkt die Befunde der historischen und sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung mit Erkenntnissen der Neuro- und Kognitionswissenschaften zusammen." (Der Tagesspiegel, 20.9.2022)

Toxische Sprache und geistige Gewalt Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen Monika Schwarz-Friesel Monika Schwarz-Friesel ist eine international führende Expertin auf dem Gebiet Antisemitismus und Sprache. Seit 2010 hat sie den Lehrstuhl für Linguistik am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin inne. Zu ihren Buchpublikationen gehören mehrere Standardwerke, u.a. Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert (mit Jehuda Reinharz, 2013, engl. Ausgabe 2017), Sprache und Emotion, Semantik (6. Auflage) und Judenhass im Internet. Sie ist Kuratoriumsvorsitzende der Leo- Trepp-Stiftung und Mitglied der Simon-Wiesenthal-Preis-Jury sowie des wissenschaftlichen Beirats der Antisemitism Studies (USA) und des Journal of Contemporary Antisemitism (UK). Toxische Sprache und geistige Gewalt Monika Schwarz-Friesel Toxische Sprache und geistige Gewalt Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen Umschlagabbildung: Gestaltung des Verlags Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783893086665 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2626-0697 ISBN 978-3-89308-466-1 (Print) ISBN 978-3-89308-666-5 (ePDF) ISBN 978-3-89308-018-2 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 5 Inhalt 1 Von einem Gift, das die Köpfe vernebelt und die Seelen mit Hass verdunkelt 7 2 Sprache als Weltenerschafferin und Menschenzerstörerin 17 3 Das geistige Gift Judenhass und seine Grundsubstanz 33 4 Am Anfang war das Wort: Die Sprache brachte den Judenhass in die Welt 41 5 Gebildete und aufgeklärte Judenfeindschaft 61 6 Judenfeindliche Topoi als Stilmittel 67 7 Indirekte Sprechakte: Jemand sagt X, meint aber erkennbar Y 73 8 Juden und Deutsche 89 9 Schweigen und Verschweigen als antisemitische Sprachhandlungen 99 10 „Es ist doch nur so dahingesagt und nicht böse gemeint“: Du Jude! als Schimpfwort und andere alltagstaugliche Antisemitismen 113 11 Israelbezogener Antisemitismus und das Mantra seiner Strohmann-Abwehr 121 12 Euphemismen und ihre Verschleierungsfunktionen 131 6 13 Wenn die Sprache versagt: Die Einsamkeit der jüdischen Trauer und warum der Bundestag hätte weinen müssen 145 14 „Den blinden und verstockten Juden helfen“: Ratschläge und Moralpredigten vom Podest der hohen Moral 159 15 „Gestern die Juden, heute-…“: Multifunktionale NS-Vergleiche und falsche Analogien als Sprachkonstruktionen, die in die Irre führen 167 16 Jews are News und Bad Jews are Good News: Massenmedien und ihre toxischen Narrative 181 17 Wo die Meinungsfreiheit enden und die Verantwortung anfangen sollte 201 Bibliografie 215 Personenregister 225 7 1 Von einem Gift, das die Köpfe vernebelt und die Seelen mit Hass verdunkelt „…- das Wort-… ist doch ein mächtiges Instrument, es ist das Mittel, durch das wir einander unsere Gefühle kundgeben, der Weg, auf den anderen Einfluß zu nehmen. Worte können-… fürchterliche Verletzungen zufügen“ (Sigmund Freud) Jeden Tag wird den Menschen in diesem Land und weltweit eine Dosis Gift verabreicht. Vor aller Augen. In der Öffentlichkeit. Ohne vehemente oder weitreichende Skandalisierung auf breiter Front. Es ist ein sehr altes Gift, dessen toxische Wucht und zerstörerische Wirkung hinreichend bekannt und von zahlreichen Experten 1 weltweit schon lange in seinen chemischen Grundbausteinen analysiert ist. Denn dieses Gift ist seit Jahrhunderten Bestandteil der westlichen DNA, des europäischen Kultur-Genoms. Seine Farbe und sein Geschmack changieren, verändern sich je nach Umgebung und Situation, es kommen Quanten von Ingredienzen hinzu, doch seine Grundsubstanz bleibt stets die gleiche. Die jahrzehntelange Warnung aus Wissenschaft und Forschung vor der zerstörerischen Kraft des Giftes wird entweder ignoriert oder als Hysterie diskreditiert, als Übertreibung abgewehrt. Man lässt es also weiter tröpfeln und sich ausbreiten. Dieses Gift kommt heute oft mit einer süßlichen Ummantelung, damit der bittere Inhaltsstoff nicht sofort als solcher geschmeckt wird. Es schleicht sich daher in vielen Fällen unbemerkt ein, vergiftet aber durch fortgesetzte beständige Dosierung. Und durch den globalen digitalen Austausch weist sei- 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden das generische Maskulinum verwendet, um auf die Personenbezeichnungen zu referieren. Die verwendeten Formen sollen alle Geschlechtsidentitäten gleichermaßen inkludieren. 8 ne massenhafte Ausbreitung ein noch nie gewesenes Ausmaß auf. Bislang gab es kein effektives Mittel gegen dieses Gift, weil nicht einmal ein damit vollzogener Massenmord an sechs Millionen Menschen zu einem tiefgreifenden Umdenken führte. Noch immer wird dieses Gift als eines unter vielen toxischen Stoffen oberflächlich betrachtet und falsch bewertet, statt seine Einzigartigkeit zu sehen. Aufgrund dieser Fehldiagnose laufen die Therapien seit Jahren ins Leere. Das Gift heißt Judenfeindschaft, das Mittel ist die Sprache und der Tatort der Verabreichung ist die tagtägliche Kommunikation. Wir haben es mit einer kulturellen Bewertungskategorie und einem kommunikativen Habitus zu tun, die beide seit zwei Jahrtausenden die Gedanken und Gefühle von Menschen vergiften, sie in bestimmte Bahnen lenken, Wahnvorstellungen aktivieren und eine unsichtbare, aber schmerzhafte und schädliche Grenze zwischen Juden und dem Rest der Welt ziehen. Eine entgiftende Heilung ist bislang nicht gelungen, unter anderem, weil das Übel nicht an der Wurzel, an seiner Quelle gepackt wird. Denn die toxische Struktur ist Teil der kulturellen Grundsubstanz unserer Gesellschaft, unseres kollektiven Bewusstseins, vor allem aber auch unseres kommunikativen Gedächtnisses, dem Speicherreservoir für verbal vermitteltes Wissen und Sprachmuster. Warum ist es wichtig, notwendig, ja essenziell, dass man die Rolle der Sprache beim Antisemitismus in den Mittelpunkt der Aufklärung und Bekämpfung stellt? Weil Sprache Realität nicht nur abbildet, sondern sie auch maßgeblich erzeugt. Das judenfeindliche Ressentiment kam über die Köpfe der Menschen durch Sprache in die soziale, in die konkrete und reale Welt. Weil Sprache ein Gedankengeflecht, eine Vorstellungswelt und ein ganzes Glaubenssystem zum Konzept ‚Jude‘ 2 konstruierte. Eine Religionsgemeinschaft wurde dadurch zum Gegenprinzip der übrigen 2 Wörtliche Zitate bzw. Zitationen aus Korpusbelegen wurden in doppelte Anführungszeichen gesetzt, Stereotype bzw. Konzepte als mentale Einheiten durch 9 Welt, erhielt im mentalen Weltdeutungsmodell des Hasses den ontologischen Status des Bösen. Dieses geistige Konstrukt würde ohne verbale Strukturen gar nicht existieren, hätte ohne das generationen- und epochenübergreifende Weiterreichen an andere Menschen nicht seine stabile Existenz erhalten können. In dem kollektiven Gefühl der Judenfeindschaft verbinden sich Kognition, Emotion und Sprache zu einem für die Juden tödlichen und für die gesamte Gesellschaft destruktiven geistigen Gift. Klemperer sprach entsprechend schon in seiner Lingua Tertii Imperii davon, dass „Worte wie winzige Arsendosen“ sein können. Sie werden teilweise unbemerkt und quasi nebenbei verschluckt, entfalten aber langfristig ihre hoch toxische Wirkung. Wie oft jedoch wird die Relevanz der Sprachmacht und -gewalt marginalisiert und bagatellisiert durch Sprüche wie „Es ist nur Sprache-…“ oder „Solange es nicht in physische Gewalt umschlägt“ oder „Wenn es lediglich verbale Aggression ist“. Der juristische Gewaltbegriff erfasst im Wesentlichen die körperliche Gewalt (vgl. StGB §-240ff.). Nonverbale Formen der Gewalt werden zwar unter StGB §-130 zur Volksverhetzung aufgeführt, doch belegt die juristische Praxis, dass dieser Paragraf nicht ausreicht, um die Palette verbaler Gewalthandlungen zu erfassen und zu ahnden. Viele Gerichtsurteile der letzten Jahre haben gezeigt, dass oft nicht einmal explizite Hasssprache gegen Juden verurteilt wird, geschweige denn die zahlreichen, mittlerweile längst bekannten und frequent benutzten indirekten Verbal-Antisemitismen. Dass Sprache die wichtigste Instanz im menschlichen Leben und sozialen Miteinander ist, und als solche mit ihrem destruktiven Potenzial seit der Antike in der Wissenschaft anerkannt wird, wird oft ausgeblendet. Dass erst Sprache Menschen dauerhaft ausgrenzt, sie zu anderen Wesen macht, ihnen bestimmte Eigenschaften andichtet, ihnen einfache Anführungszeichen markiert und sprachliche Repräsentationen durch Kursiv-Setzung ausgezeichnet. 10 die Existenzberechtigung abspricht. Lüge, Meineid, Verleumdung, Gerüchte sind sprachliche Handlungen, die geistige Parallelwelten entstehen lassen, es sind Fiktionen und Fantasien ohne Bezug zur Realität bzw. Substitute für die reale Welt. Sprache schafft geistige Welten (wie die Religion des Christentums, wie fiktive Realitäten und abstrakte Denkwelten), Sprache zerschlägt und entwertet Welten (wie die Welt des Judentums im Blick des Judenhasses) und kann bedrohliche Konsequenzen hinsichtlich der physischen Existenz haben. Die kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung belegt seit Jahrzehnten, was Philosophen schon hypothetisch in allen Jahrhunderten postulierten: Wahrheit ist die Wahrheit im Blick des Beobachters, im Blick des durch Sprache geleiteten Geistes in der mentalen Welt des Kopfes. Sprache ist Tor zur Welt und auch Straße in den Geist. Sie ist dabei zugleich Teil des Geistes, denn ihre Kategorien sind das formale Gerüst und das Geländer für abstrakte und komplexe Denkprozesse, die sonst nicht möglich wären. Sie lenkt den Blick auf die Welt. Sprachliche Strukturen erlauben uns Einblicke in die Einstellungen, Gefühle und Gedanken von Menschen, weil sie Spuren der kognitiven Aktivität sind. Aus sprach- und kognitionswissenschaftlicher Perspektive stellen wir daher nicht die Frage, ob jemand ein Antisemit ist oder nicht. Denn in die Köpfe von Menschen können wir auch als Wissenschaftler nicht direkt schauen, weil diese in der Black Box des Geistes nicht beobachtbar sind. Und seit 1945 gehören Abwehr- und Leugnungsäußerungen untrennbar zur antisemitischen Kommunikation: Viele Produzenten judenfeindlicher Äußerungen sind sich entweder nicht einmal im Klaren darüber, dass sie antisemitische Gedanken artikulieren, oder aber sie verteidigen ihre Antisemitismen als Kritik oder Meinungsfreiheit. Daher macht es auch wenig Sinn, nach der Intention hinter einer Äußerung oder der Identität des Sprechers/ Schreibers zu fragen, wenn man entscheidet, ob eine Aussage antisemitisch ist oder nicht. Beides ist irrelevant für die 11 Bewertung, da es bei der Sprachrezeption und -wirkung für das menschliche Gehirn keine Rolle spielt, warum und von wem der Inhalt kommuniziert wurde. Ausschlaggebend ist die Semantik der Äußerung, ihre argumentative Struktur und aktuelle Bedeutung. Wir fragen daher in Kognitions- und Sprachwissenschaft nicht, ob jemand ein Antisemit ist oder nicht, sondern ob die Äußerungen einer Person antisemitische Gedanken und Gefühle in die Gesellschaft tragen, ob diese Äußerungen judenfeindliche Konzepte und Argumente tradieren, ob jemand damit, direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, judenfeindliche Stereotype vermittelt, ob dadurch ein kommunikativer Normalisierung- und Gewöhnungseffekt stabilisiert wird, ob die Zugänglichkeit und Verbreitung von antisemitischen Mustern erhöht wurde. Und dabei sind nicht nur Varianten der expliziten Hass- und Ideologiesprache gemeint. Nicht nur Drohungen, Holocaust-Witze, Vernichtungsfantasien und grobe Beleidigungen sind toxisch. Auch und sogar besonders gefährlich, weil sie sich oft unbemerkt in den Kopf schleichen, sind die grammatischen, nicht mehr reflektierten Konstruktionen, die eine Differenz zwischen Juden und Nicht-Juden ausdrücken sowie die unbedachten Plattitüden und Floskeln der Alltagskommunikation, die Stereotype transportieren, aber auch die Zwischen-den-Zeilen-Botschaften, die durch Andeutungen oder Anspielungen antisemitische Gefühle aktivieren und die falschen Vergleiche, die Juden verletzen, die Shoah relativieren, das Leid der Opfer verhöhnen, die Judenhass als kulturelles Gift marginalisieren. Und auch die guten Ratschläge, die aus dem latenten Gefühl der Überlegenheit heraus entstehen und Juden durch Belehrungen entmündigen, sind vergiftend, denn sie tragen Jahrhunderte der Abwertung und Intoleranz in die Moderne. Die Alltagskommunikation weist alle diese Formen auf, daher wird sie im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Da ist der Medizinprofessor im Interview, der „den Juden bescheinigt, wie gut sie lernen und nun hätten sie bei den Impfungen 12 gegen Corona in Israel das Böse gelernt“. Die Frau an der Supermarktkasse, die eine drängelnde und nörgelnde Kundin ermahnt, nicht eine „solch jüdische Hast“ zu verbreiten. Der Kommilitone, der auf die Frage nach dem Aussehen eines anderen Studierenden, sagt „der mit der jüdischen Nase“. Es ist die Ortsbeschreibung zum Pferdegestüt mit jüdischem Besitzer, wo es „Berger-Jud“ heißt. Es ist die Bemerkung am Busbahnhof „Wir sind hier nicht in Israel“ zu einem Kippa tragenden Mann. Der Mann, der von seinem Freund, dem „Halb-Juden“ erzählt. Da ist der sonst so freundliche und hilfsbereite Nachbar, der das Gesicht wie bei Zahnschmerzen verzieht, wenn die Rede auf Israel kommt und der nicht versteht, warum man in ein „solches Unrechtsregimeland“ fährt, der dann jedes Mal fragt, ob es schön „in der Heimat war“, wenn die deutschen Nachbarn vom Besuch bei der israelischen Familie zurückkommen. Da ist der Mitschüler, der den anderen ein Feuerzeug ans Ohr hält, Gas ausströmen lässt und fragt: „Weißt du was das ist? Originalton Auschwitz.“ Und dann gibt es die Protestantin, die im Gespräch über Luthers antisemitische Wutreden, vor allem nachdem er gemerkt hat, dass sich die Juden nicht von ihm missionieren ließen, anmerkt „Die sind aber auch so verstockt“. In der Diskussion mit einem Linken, der die Checkpoints in den palästinensischen Gebieten zu Israel mit der Selektionsrampe in Auschwitz vergleicht und vom „israelischen Regime“ und der „palästinensischen Regierung“ spricht. Der Bundeswehrsoldat, der erklärt „Die israelische Armee bewundert ja heute selbst noch Rommel, den Wüstenfuchs“. Es ist der Autofahrer, der einen Radfahrer in Berlin-Charlottenburg im Vorbeifahren als „Du Jude! “ beschimpft, die Teenager, die in der U-Bahn singen „…-eine U-Bahn bauen wir, eine U-Bahn bis nach Auschwitz-…“. Es ist der Postbote, der vom „jüdischen Geld-Klein-Klein“ eines Kollegen berichtet, der Pfarrer, der von der mildtätigen verzeihenden Ethik des Christentums spricht und wie diese den „alttestamentarischen Rachegedanken ablöste“. Der linke Bürgermeister, der bei jeder Demonstration 13 gegen rechts vorne mitläuft, aber keine Zeit fand, in seiner Stadt an einem Symposium zum aktuellen Antisemitismus teilzunehmen und der Israel als „Besatzerstaat“ bezeichnet. Der Politiker, der in seiner Rede „auch bewusst die jüdischen Mitbürger“ anspricht. Die BDS-Aktivisten an einer Berliner Universität, die Teilnehmer eines Workshops zu israelbezogenem Judenhass als „Zionistenpack“ und „Faschisten“ beschimpfen. Die alte Dame, die vom „scheußlichen Judenzopf “ ihrer Enkeltochter berichtet, einer „hässlichen verfitzten Spliss-Frisur“. Die Dozentin aus der Sozialwissenschaft an der HU Berlin, die zum Holocaust-Gedenktat postet „Der Völkermord der Juden an den Palästinensern läuft immer noch weiter“. Es ist der Chef eines privaten Kurierdienstes, der seinen als jüdisch bekannten Fahrer nach Dienstschluss anschnüffelt und ihm sagt „Du riechst streng. Könnt ihr das mit Euren großen Nasen nicht mal selbst merken? “ Der promovierte Gymnasiallehrer, der Verständnis für seine Schüler hat, dass diese „gelangweilt und es überdrüssig sind, immer wieder den Holocaust unter die Nase gerieben zu bekommen“. Und da gibt es die jüdische Professorin, die auf ihren Hinweis, dass die Kommissionssitzung doch bitte nicht am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur stattfinden soll, als Antwort erhält „Frau Kollegin, Sie sind hier aber in Deutschland! “ Es waren Sprachstrukturen, die über die Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation das Bild „der Juden“ prägen, die auch durch die Shoah nicht zerschlagen wurden. Ihre Macht und ihre Wirkung werden bis heute unterschätzt. Zudem gibt es mittlerweile zahlreiche süße Ummantelungen durch Begriffe wie „Meinungsfreiheit“, „Diskursvielfalt“, „offene Debattenkultur“ oder „Kritik“, die die toxische Semantik verschleiern. Das Phänomen abzutun mit „Es ist nur Sprache und keine reale Gewalt“ verkennt nicht nur die entscheidende, ja die konstitutive Rolle der Sprache bei der Entstehung, Weitergabe, Verbreitung und Speicherung judenfeindlichen Gedankenguts, sondern auch ihr Entzündungs- und Vorbereitungspotenzial für non-verbale Gewalt. Gewalt ent- 14 steht immer im Kopf. Gewalt ist die Realisierung von destruktiven Gedanken und negativen Gefühlen. Es ist die Bereitschaft, anderen Schaden zuzufügen, um das eigene Weltbild und die eigene Gefühlswelt aufrecht erhalten zu können. Allen Gewalthandlungen ist gemein, dass sie Leid verursachen, teils sofort erkennbar durch Verletzungen und Zerstörungen, teils durch die Einflüsterung oder Vermittlung destruktiver Ideen, deren Wirkungsradius unbegrenzt ist.Deshalb müssen uns nicht nur die Attentäter, Bombenleger, Synagogenangreifer, Denkmal- und Friedhofsschänder, die Flaggenverbrenner sorgen, sondern eben auch und gerade die Sprachtäter und geistigen Brandstifter, die mittels antisemitischer Äußerungen das Gift immer wieder in die Welt tragen und es mit jeder judenfeindlichen Sprachhandlung konsolidieren und intensivieren. Es sind keineswegs nur die extremistischen Ränder der Gesellschaft, die uns Sorgen bereiten müssen. Denn sie sind nicht der Nährboden für judenfeindliche Gedanken und Gefühle. So oft auch diese Aussage anzutreffen ist, es macht sie nicht wahrer. Die lange Geschichte der Judenfeindschaft zeigt: Es waren und sind stets die Gebildeten aus der Mitte, die besonders einflussreich und nachhaltig als Vordenker und geistige Giftmischer agieren. Das antisemitische Ressentiment mit seinen Facetten der Abneigung, des Hasses und Erlösungs- oder Zerstörungswünschen, es wird erhalten und weiter gegeben durch die Sprachgebrauchsmuster der Mitte. Diese tragen es in die sozialen Ecken, diese bestätigen die Radikalen, geben ihnen die geistige Nahrung. Mit den theologischen Deutungsschriften kam die Abgrenzung, die Abwertung, die Verteufelung des Judentumes in die Welt. Das abstrakte Konzept ‚Jude‘, das die Basis aller Formen des Antisemitismus darstellt, konnte überhaupt erst durch den Sprachgebrauch entstehen. Denn alle nicht konkreten Erscheinungen in unserer Welt bedürfen der Sprache, um denkbar und mitteilbar zu sein. Alle abstrakten, nicht sinnlich erfahrbaren Objekte basieren auf verbalen Symbolen, also 15 Wörtern und Sätzen. Ohne Sprache gäbe es in unserer Realität keine Konzepte wie Demokratie, Pluralismus, Toleranz - und keinen Antisemitismus. Auch ob ein Mensch oder eine Menschengruppe als Monster und Parasiten oder Götter und Führer akzeptiert werden, hängt von den Denkmustern und Bildern ab, die man ihnen geistig und verbal zuordnet. Dass mit sprachlichen Äußerungen aktiv und bewusst Handlungen wie Beschimpfen, Lügen, Bedrohen vollzogen werden, ist also nur eine Dimension ihres Potenzials. Sprache hat auch Macht, weil sie ein Instrument der Beeinflussung und Lenkung unserer Gedanken und Gefühle ist, weil durch sie diese Manipulation ausgeübt werden kann, ohne dass sie bewusst wird. Die toxische Bedeutung von Wörtern schleicht sich oft unbemerkt in unseren Geist ein, sie hinterlässt aber Spuren, löst Assoziationen aus, prägt zum Teil langfristig Einstellungen und Gefühle. Das geistige Gift des judenfeindlichen Ressentiments kam vor 2.000 Jahren durch die Verdammungsrhetorik der frühen Kirchengelehrten in die Welt, breitete sich von dort aus, nahm zeitgemäße Elemente in seine Substanz auf und wurde über die Jahrhunderte hinweg fester Bestandteil des Denk- und Lebensraumes. Doch noch immer konzentriert man sich bei der Antisemitismusbekämpfung primär auf die zwölf Jahre NS-Zeit (und auf das 19.- Jahrhundert mit seinem völkischen Rasse-Antisemitismus). Dass all dies nach über 18 Jahrhunderten nur die Spitze des religions-, kultur- und geistesgeschichtlichen Phänomens Judenhass ist, wird zu wenig thematisiert. Die Gleichförmigkeit aller historischen und aktuellen judenfeindlichen Äußerungen belegt den Erhalt und die Kontinuität uralter Deutungsmuster. Sprache benutzen ist immer Aktualisierung des Vergangenen (des bereits im Langzeitgedächtnis Gespeicherten), verwoben mit Gegenwärtigem (in aktuellen Kontexten). Mit der Sprache der Judenfeindschaft tragen wir Sedimente unserer Vergangenheit in unsere Gegenwart, reproduzieren Gefühlswerte und Denkstile längst vergangener Zeiten immer 16 wieder aufs Neue und durchwirken somit nicht nur unsere tagtägliche Kommunikation, sondern legen auch die giftigen Bahnen für zukünftige Erzeugnisse des menschlichen Geistes und sich daraus ergebende Handlungsmöglichkeiten. Sprache zu benutzen ist geistige Herrschaftshandlung. Entsprechend ist Sprachgebrauch Macht- und Gewaltausübung. Eine Sprache zu benutzen bedeutet, Geist in die Welt zu tragen. Dieser Geist, die Semantik von Wörtern, Sätzen und Texten, kann Welt abbilden oder Welt erschaffen, kann gravierende Auswirkungen auch für die physische Realität haben. Mit den Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke geben wir Impulse in die Köpfe unserer Mitmenschen. Diese können positiv oder negativ, freundlich oder feindselig sein. Judenfeindliche Äußerungen sind geistiges Gift. Wir tragen dafür die Verantwortung. Wir entscheiden. Wir wählen die Wörter aus. Es gibt beim Judenhass keine unschuldige Sprache, es gibt keinen harmlosen Sprachgebrauch. Und nie ist es „nur Sprache“. 17 2 Sprache als Weltenerschafferin und Menschenzerstörerin Warum es ohne das verbale Symbolsystem kein Gerücht über die Juden geben würde „Der Glaube, es gebe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ (Paul Watzlawick) Um das langlebige und im Wesentlichen gleichbleibende Phänomen des Judenhasses verstehen zu können, müssen zwei besondere Funktionen der Sprache beachtet werden: Zum einen ihre Rolle als kognitive Weltenerschafferin, also die Möglichkeit, mittels verbaler Symbole eigenständige Realitäten entstehen zu lassen. Zum anderen ihre soziale Rolle als Kommunikations- und Machtinstrument, in der zwischenmenschlichen Interaktion weitreichenden Einfluss auf Gedanken und Gefühle nehmen zu können. In Konsequenz kann die geistige Gewaltanwendung auch die physische Existenz von Menschen tangieren - in diesem Sinne wirkt Sprache also als Menschenzerstörerin. Wir Menschen sind Menschen, weil wir denken und fühlen, weil wir ein Bewusstsein haben, weil wir über Sprache verfügen. Sprache ermöglicht, über das Hier und Jetzt hinaus zu reflektieren, gibt Kategorien, mit denen wir sonst nicht Fassbares denkbar machen. Wie kommen abstrakte Einheiten und Sachverhalte in die Welt? Indem sie mittels Symbolen greifbar und an andere vermittelbar werden. Konzepte wie Güte, Gemeinschaft, Demokratie wären ohne sprachliche Zeichen nicht denkbar. Die realitäts- und weltenkonstituierende Rolle der Sprache wird treffend in dem berühmten Zitat des wichtigsten Sprachphilosophen im 20.-Jahrhundert, Ludwig Wittgenstein, zusammengefasst: 18 „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Man muss keinen Sprachdeterminismus oder eine sprachliche Relativitätstheorie vertreten, der zufolge unsere gesamte Wahrnehmung von der jeweiligen Sprache bestimmt wird, um zu dieser Ansicht zu gelangen. Menschen sind zwar im Denken keine Sklaven ihrer Sprache und können durch Umschreibungen sowie kritische Reflexionen ihren Sprachgebrauch erweitern, umgestalten und überdenken, doch die bewertende Perspektive auf die Welt ist immer sprachlich geprägt. Diese den Geist lenkende Rolle der Sprache sah auch der Philosoph Bacon vor über 400 Jahren sehr deutlich: „Die Menschen glauben nämlich, ihre Vernunft führe die Herrschaft über die Worte; allein nicht selten beherrschen gegentheils die Worte den Sinn-…“ (Francis Bacon 1620). Dann denkt es, dann spricht es geradezu im Bewusstsein von Menschen. Ein feindseliger Sprachgebrauch setzt feindselige Gedanken und Gefühle frei, verführt das Denken zu gewalttätigen Überlegungen. Da die Sprache durch ihre grammatischen und lexikalischen Kategorien vorgibt, was wir bewusst denken können, setzt sie tatsächlich das formale Gerüst für unseren Geist. Sie trägt und prägt nicht nur alle komplexen mentalen Prozesse, sondern begrenzt oder erweitert die Möglichkeiten des bewussten und reflektierenden Verstandes. Und im Bereich der nicht sinnlich und konkret erfahrbaren Dinge und Sachverhalte sind wir auf die Kategorien und Strukturen des Kenntnissystems der Sprache angewiesen: Den Inhalt des Satzes „Ohne die Sprache gäbe es keinen Judenhass“ könnten wir ohne die Symbolkraft und das formale System der Sprache weder denken noch anderen mittteilen. Warum? Weil erst das Symbolsystem Sprache die judenfeindlichen Konzepte und Gefühle formulier- und übertragbar macht. Und weil wir keine Gedankenübertragung bei der menschlichen Informationsvermittlung benutzen, sondern wahrnehmbare Einheiten. Um etwas für andere auszudrücken, bedarf es immer eines spezifischen Modus operandi, der geistige Inhalte durch Formen ausdrückt. 19 Der spezifische Satzinhalt konstituiert sich aus der Verbindung der abstrakten Kategorienkonzepte ‚die Sprache‘ und ‚Judenhass‘ mittels der grammatischen Elemente und Verknüpfungen. Konditionalität (gäbe) und Negation (ohne, keine) sind sprachabhängige Kategorien. Es gibt in der außersprachlichen Realität nichts Äquivalentes. Sie stellen geistige Beziehungen zwischen Sachverhalten dar, die sonst gar nicht in dieser Verbindung existieren würden. Die Negation ist prinzipiell ein Konzept, dass wir uns nicht vorstellen, sondern nur abstrakt denken können. Kein Bild, keine Skulptur, keine Musik, hätte je die Komplexität, Abstraktheit und zugleich die informationelle Eindeutigkeit, einen solchen Satzinhalt darstellen und übermitteln zu können. Dass Sprache nicht nur Realität abbildet, sondern auch Realitäten erschafft, wussten schon die antiken Philosophen. Und die von Platon skizzierte Hypothese, dass wir „die Welt“ (oder „das Ding an sich“, wie Kant es Jahrhunderte später formulierte) nie direkt, sondern stets vermittelt über Ideen wahrnehmen, sieht sich heute durch die moderne Gehirnforschung empirisch bestätigt. Der Neurowissenschaftler Stephen Macknik brachte es in einem Interview auf den Punkt: „Doch, es gibt die Welt da draußen. Aber Sie sind nie dort gewesen, nicht mal zu Besuch. Der einzige Ort, an dem Sie je waren, ist in Ihrem Kopf.“ Die Dinge, die wir sehen, hören und als unabhängige Tatsachen bewerten, sind Konstrukte unserer neuronalen Aktivitäten. Es ist das menschliche Gehirn, das durch die ausgetüftelte Koordination von chemischen und elektrophysischen Prozessen bei gleichzeitiger Aktivierung verschiedener Areale in Cortex (den Bereichen, die vor allem die kognitive Verarbeitung bewältigen) und limbischem System (die Gehirnstrukturen, die für emotionale Aktivierung verantwortlich sind), letztendlich „die Welt“ für uns konstruiert. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Erkenntnis in umfangreichen neuro- und kognitionswissenschaftlichen Studien belegt und gilt heute weitgehend unumstritten. Auch Sprachgebilde for- 20 men eigene Welten, geistige Welten, die jedoch von denjenigen, die an sie glauben, für wahr gehalten werden. Antisemiten glauben an das, was sie denken, fühlen und sagen. Judenfeindschaft kann man nicht ohne die Macht der Sprachgewalt erklären und bekämpfen. Sie wird jedoch oft als Nebenrolle gesehen, obgleich sie der Kern des Phänomens ist. Mit der Verschriftlichung der urchristlichen Ideen und seiner Rhetorik schuf die Sprache die neue Religion des Christentums und legte zugleich mit ihrer anti-judaistischen Verdammnis das Fundament für die Zerstörung einer gleichberechtigten und würdevollen Existenz des Judentums. Das „Gerücht über die Juden“, wie Adorno das Phänomen des Antisemitismus nannte, hielt so Einzug in der Welt und wurde von Generation zu Generation weitergetragen, angereichert, wurde fantastischer und virulenter, verfestigte sich, hatte weitreichende physische, soziale und politische Auswirkungen. Dass die Einheiten dieses Gerüchts lediglich geistige Stellvertreter und Konstrukte einer völlig subjektiven Erlebniswelt waren, wurde am Ende nicht mehr reflektiert. Sie wurden zur antisemitischen Realität. Wir Menschen leben allgemein in und agieren mit verschiedenen Welten: Dabei ist aus kognitionswissenschaftlicher Sicht ein Drei-Ebenen-Modell besonders plausibel. Die reale Welt der Sinne, der konkreten Perzeption, die für uns rechtsverbindlich ist, deren physische Objekte, Personen und Sachverhalte wir mit Kriterien wie Existenz, Wahrheit, Objektivität und Faktizität messen und beurteilen. In Karl Poppers Weltmodell entspräche diese Realität der Welt 1. Wir erleben uns und andere aber auch in einer subjektiven Erlebenswelt, ähnlich Poppers Welt 2, in der jeder Mensch individuell Geschehnisse verarbeitet und je nach persönlicher Weltsicht und Einstellung geistig als mentale Modelle speichert. Diese Welt entspricht zum Teil dem episodischen Gedächtnis, so genannt, weil es subjektive Erlebnisepisoden eines Individuums sind, die repräsentiert werden; zu diesen kommen aber auch ausgedachte Wunsch-, Fantasie- und Glaubensinhalte. Schließlich werden 21 wir maßgeblich von den abstrakten Konstrukten des Denkens beeinflusst. Dieses abstrakte Kenntnissystem, maßgeblich vom enzyklopädischen Gedächtnis mit seinen abstrakten Kenntniskategorien geprägt, enthält Theorien, Mythen, Fiktionen und entspricht zum Teil der Welt 3 in Poppers Ontologie. Demgemäß sieht der Semiotiker Umberto Eco Zeichen als grundlegende Bausteine der Kultur an. Hier spielt auch eine Rolle, was wir kollektives Bewusstsein, als die gemeinsame und geteilte Summe an Ideen einer Gesellschaft, nennen und kulturelles Gedächtnis, wie Maurice Halbwachs das gemeinsame Wissen, auf das Menschengruppen zugreifen, nannte. Sprache und Kommunikation sind Teile der Kultur und angesichts der Relevanz unserer Schriftkultur ist aus gedächtnispsychologischer Sicht eine Trennung von mündlichen und schriftlichen Ereignissen wenig plausibel. Vielmehr werden diese in Netzen gemeinsam abgespeichert. Das kommunikative Gedächtnis beinhaltet also mündlich und schriftlich tradierte Sprachgebrauchsmuster sowie bekannte und oft reproduzierte Zitate, Floskeln, Sprichwörter, Phrasen und Ausdrücke, repräsentiert enzyklopädische wie auch episodische Gedächtnisinformationen. Sprache ist dabei nicht nur wichtigster Träger kulturell-kognitiver Kategorisierungen, sondern auch ein Erzeuger von ihnen. Mittels der Kommunikation treten Menschen aus der Ich-Existenz in eine Wir-Existenzform. „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ befand deshalb Wilhelm von Humboldt. Und die Frage „Was ist Sprache? “ ist, wie der bekannte Wissenschaftler Sir John Lyons es einmal ausgedrückt hat, „nicht weniger wichtig als die Frage Was ist Leben? “. Wir können uns Dinge bildlich vorstellen, aber im Bereich der abstrakten Phänomene sind wir auf unsere Sprache angewiesen. Entsprechend betonte auch Hannah Arendt die konstitutive Rolle der Sprache für politische Erscheinungen: „Und diese politischen Phänomene, im Unterschied zu den reinen Naturerscheinungen, bedürfen der Sprache und der sprach- 22 lichen Artikulation, um überhaupt in Erscheinung zu treten; sie sind als politische überhaupt erst existent, wenn sie den Bereich des nur sinnfällig Sichtbaren und Hörbaren überschritten haben.“ (Hannah Arendt 1963). Auch den gesamten Bereich der fiktiven Literatur gäbe es nicht, denn er ist zwingend an die sprachliche Konstruktivität und die damit verbundene Schaffung rein geistiger Welten gebunden. Über das kognitiv und kulturell geprägte Kenntnissystem Sprache vermitteln Menschen ihre Wahrnehmungen, Eindrücke und Urteile, ihre Ideen, Vorstellungen und Überzeugungen, ihre Wünsche, Erwartungen und Ziele. Die Sprache ist das bei allen individuellen Unterschieden und subjektiven Ausrichtungen menschlicher Existenzen in einer Gemeinschaft von allen geteilte und benutzte, überindividuell verstandene Kenntnissystem. Die Contra-Judaeos-Texte mit ihrer judenfeindlichen Weltenteilung in richtig und falsch waren zunächst lediglich Resultate der subjektiven und religiös geprägten Vorstellungswelt 2 ihrer Verfasser, die im Laufe der Jahrhunderte aber eine überindividuelle Sphäre etablierten (vgl. Kap. 3). Auf der Ebene der abstrakten Geisteswelt entstand ein eigenständiges Glaubenssystem, das in Welt 3 den Status eines Weltdeutungssystems erlangte. Dieses hatte zwar mit der tatsächlichen physisch erfahrbaren Welt 1 nichts gemeinsam, denn das darin aufgebaute Modell von Juden und Judentum war ein reines Fantasiekonstrukt, das mit realen jüdischen Menschen nichts gemeinsam hatte, erhielt aber den Wahrheitswert „ist Tatsache“ zugeordnet. Sprache ist Mittel zur Weltabbildung und -konstruktion. Sprache ist gleichzeitig das bedeutendste Medium individueller und sozialer Machtausübung. Mittels Sprache setzen wir unsere Wünsche durch, wir üben Einfluss auf andere aus, im positiven wie im negativen Sinne: Die „Macht des Wortes“ (wie Sigmund Freud es nannte) zeigt sich in Sprachhandlungen, die erfreuen, beruhigen, schlichten, Frieden erklären, aber auch in seiner destruktiven Kraft 23 beim Beleidigen, Beschimpfen, Diskriminieren. Und sie dient der Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt, wie Habermas es ausführte. Claude Lanzmann beschreibt in seinem Film Shoah (1986) eine Sprachregelung der Deutschen in den Konzentrationslagern, die mit direkter Gewalt verbunden war: „Wer das Wort ‚Toter‘ oder ‚Opfer‘ aussprach, bekam Schläge. Die Deutschen zwangen uns, von den Leichen zu sagen, daß es ‚Figuren‘ seien, das heißt […] Marionetten, Puppen oder ‚Schmattes‘ [Fetzen, Lumpen], das heißt Lappen.“ Durch spezifische Kategorisierungen erzeugt der Sprachgebrauch Konzeptualisierungen, die Ideologien oder Weltsichten prägen. Ein Wort wie Untermensch gibt durch das Präfix Untereine semantische Abwertung, Monster und Schwein, Bazillen und Parasiten dehumanisieren, Teufel und Satansbrut dämonisieren. Victor Klemperer beschrieb dies in seiner Lingua Tertii Imperii, einer Abhandlung zur NS-Rhetorik, wie sich durch die ständige Wiederholung toxischer NS-Vokabeln evaluierende Muster in den Köpfen festsetzen. Solche Bewertungen der Welten 2 und 3 führten dazu, dass Menschen wie Vieh in Waggons abtransportiert wurden, um sie zu ermorden, dass man sie wie bei dem Thema Schädlingsbekämpfung mit der nüchternen Wannsee-Protokoll- Rhetorik zum Tode verurteilte. Hasssprache und die Macht von Textweltmodellen: Warum das antisemitische Konzept ‚Jude‘ den gleichen Status wie die Fiktionen Moriarty und Voldemort hat „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern was wir über die Dinge denken.“ (Seneca) Hasssprache nenne ich alle Formen des Sprachgebrauchs, die gegenüber Personen oder Personengruppen verbale Gewalt kodieren. Verbale Gewalt ist eine mentale Aggressivität, die in verschiedenen 24 direkten und indirekten Manifestationen zum Ausdruck kommen kann: u.-a. als Beleidigung, Drohung und/ oder Diskriminierung. Das Handlungsinstrument Sprache hat das Potenzial, Menschen kognitiv wie emotional zu verletzen und ihnen nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich Schaden zuzufügen. Sprachliche Äußerungen aktivieren und konstruieren Gedankengut, das die öffentliche Meinung und das kollektive Bewusstsein massiv und nachhaltig beeinflussen kann. Mit sprachlichen Äußerungen werden Menschen als Individuen und/ oder als Mitglieder von Gruppen angegriffen, verhöhnt, stigmatisiert und diffamiert. Hassrede ist somit geistige Brandstiftung. Spielt bei einer verbalen Aggressivität der Bezug auf die Gruppe bzw. Gemeinschaft, der diese Person angehört, eine Rolle, handelt es sich um verbale Diskriminierung. Verbale Diskriminierung ist somit eine Form von Gewaltanwendung, die das Machtpotenzial von Sprache nutzt, um gesellschaftliche Gruppen (sei es aufgrund ihrer Ethnienzugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer Religion, ihres Alters oder ihrer Herkunft) von der (vom Aggressor als normal etablierten) Mehrheitsgesellschaft semantisch auszugrenzen und abzuwerten. Die gruppenbezogene Ausgrenzung basiert auf der fundamentalen sozialpsychologischen Unterscheidung von Eigen- und Fremdgruppe, die sich auf allen Ebenen menschlicher Sozialisierung zeigt. Die semantische Komponente ‚gruppenbezogen‘ ist dabei entscheidend, ob eine Sprachhandlung Kritik, Beleidigung oder Diskriminierung ist. Direkte Hasssprache beschimpft, diskreditiert, ängstigt oder entwürdigt über die Semantik der gewählten Ausdrücke andere Menschen, z.-B. durch De-Humanisierungen mittels Tier- oder Unratsbezeichnungen wie Schwein, Dreck, Pack, Scheißjude. Die Diskriminierung erfolgt oft mit ethnischen Schimpfwörtern, die Rassismus kodieren wie bei Jüd oder ideologischen Paraphrasen wie Nicht-Arier. Zu offen kodierten Verwünschungen und Drohungen wie „Werft die Bombe auf den jüdischen SS-Staat“ (ein authentisches Beispiel aus dem 25 Internet) gehören bspw. Tötungsfantasien und Gewaltaufrufe wie „Alle rassistischen Zionisten aufhängen! “ (aus einer E-Mail an die israelische Botschaft Berlin). Indirekt erfolgt Hassrede hingegen im Kontext der Äußerung als Anspielung oder in Form von Chiffren, die zwar nicht explizit eine Entwertung kodieren, jedoch für jedermann erkennbar bestimmte Aussagen und Bewertungen über Schlussfolgerungen vermitteln (vgl. Kap. 7). So gibt es beim Verbal-Antisemitismus zahlreiche, mittlerweile von der Forschung gut dokumentierte und dechiffrierte Versatzstücke in Form von Paraphrasen (Banker von der Ostküste), Verballhornungen von Namen und Buchstabensubstitutionen (Baron Totschild, eine Stelle in dem verschwörungsfantastischen Song Raus aus dem Reichstag von Xavier Naidoo), intertextuellen Verweisen (wie Auge um Auge aus der hebräischen Bibel) und Metaphern. So sind bspw. Heuschrecken und Marionettenspieler gängige metaphorische Ausdrücke für den vermeintlichen Einfluss jüdischer Kreise. Dieser sogenannte strukturelle Antisemitismus geriert sich nach außen als Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, kodiert aber klassische Stereotype des ‚raffenden jüdischen Kapitals‘ und der ‚zionistischen Dominanz‘. Hasssprache muss allerdings nicht affektiv und vulgär brachial kommuniziert werden. Es gibt neben dem affektiven Hass auch einen (pseudo-)rationalen Hass, der sich sprachlich in Texten niederschlägt. Die Nürnberger Rasse-Gesetze von 1935 und das Wannsee-Protokoll von 1940 sind historische Beispiele hierfür. Bürokratisch, emotional kalt, in Beamtendeutsch verfasst, aber inhaltlich ausgerichtet auf Entmenschlichung und Massenvernichtung. Heute sind in diesem Duktus vor allem die Umgestaltungsfantasien in Bezug auf den jüdischen Staat, kommuniziert als „besorgte Kritik“ oder „Kunst-Freiheit“. Antisemitismen - die Pluralverwendung bezieht sich auf alle Formen judenfeindlicher Kommunikation und Hasssprache - können explizit und aggressiv, aber auch implizit und sublim das Gift des judenfeindlichen Phantasmas vermitteln (vgl. Kap. 7). 26 So wie die sprachlichen Strukturen eigene Welten in fiktiven Erzählungen und Märchen erschaffen und damit allein durch die Kraft des Geistes Utopien und Alternativ-Realitäten erzeugen, so basiert auch das antisemitische Konzept ‚Jude‘ allein auf Glaubensinhalten, auf Fiktionen. Ob Mephistopheles, Dracula, Moriarty oder Voldemort: Ihre Existenz ist eine von Sprachstrukturen hervorgebrachte und in fiktiven Welten erhaltene. Doch in unseren Gedankenwelten sind sie als Schurken und Bösewichte höchst lebendig, begleiten uns ein Leben lang, gehören zu unserem Erfahrungsraum, als ob wir sie persönlich getroffen hätten. So ist es mit dem Judenhass: Dass Juden „Mörder, verstockte Dunkelmänner, rachsüchtige und geldgierige Verschwörer“ seien, kam über Sprachkonstruktionen in die Welt, dieses Phantasma erhielt jedoch im Laufe der Jahrhunderte den Status ‚real und wahr‘. Antisemitismus hält und legitimiert sich bis heute einzig durch die tradierten Sprach- und Denkstrukturen, in denen Juden und Judentum die Rolle des Weltenübels, des Bösen innehaben. Aus einer sprachkonstruierten Fiktion entwickelte sich das komplexe Glaubens- und Weltdeutungssystem der Judenfeindschaft. Es ist ein Glaubenssystem, aber in der Gefühlswelt von Antisemiten steht ihr Glaube für eine Tatsache, wird die subjektive Erlebensebene für real gehalten. Voldemort, eine fiktive Verkörperung des mächtigen, abgrundtief bösen Gegenspielers, ist damit sozusagen in der realen Welt angekommen, nur trägt er dort den Namen Jude. Hirngespinste des Hasses Man kann sich dies gut im Rahmen der kognitiven Textweltmodelltheorie vor Augen führen (s. Schwarz 3 2008: 197 ff. sowie Schwarz-Friesel 2 2013: 33 ff.) Textweltmodelle (TWM) sind geistige Deutungsschemata im Kopf, die sich beim Sprachverstehen automatisch aufbauen und eine eigenständige Welt-Sphäre entstehen 27 lassen. Jeder Text besteht aus Sätzen. Diese Sätze haben Bedeutungen. Die Satzbedeutungen vermitteln nun nicht nur Informationen, sondern auch Evaluationen, d.-h. sie geben Bewertungen, die einen außersprachlichen Sachverhalt perspektiviert darstellen. Ein Aussagesatz wie Juden beherrschen die Welt! gibt mit seiner Bedeutung implizit auch die negative, an starke Gefühle gebundene Bewertung, man sei hilflos und ausgeliefert. Dies ergibt sich zwingend, denn Wahrnehmung und Versprachlichung ist immer subjektiv und erfolgt damit stets durch eine spezifische Perspektive. Perspektivierung und Evaluierung sind grundlegende Prinzipien im kognitiven System des Menschen. Auch die Sprachproduktion wird maßgeblich dadurch bestimmt. Ein Textproduzent hat stets sehr viele Möglichkeiten, seine Sicht der Dinge und seine Einstellung zu einem Sachverhalt zu verbalisieren. Je nach Perspektive können z.- B. Juden referenziell neutral, pejorativ, vage oder irreführend falsch bezeichnet werden als Juden, jüdische Mitbürger, Drecksjuden, jüdische Parasiten, bestimmte Kreise, jene Religionsgemeinschaft, Ostküstenlobby, Zionisten, Israelis, Semiten. Durch die Synonymverwendung der Wörter Jude(n) und Israeli(s), die zwei Bedeutungen haben und sich außersprachlich auf verschiedene Gruppen beziehen, wird zudem eine Identitätsrelation ausgedrückt, die de facto nicht richtig ist und auf der physischen Ebene der Referenten so nicht existiert. Durch den Einsatz spezifischer Wörter und ihrer Anordnung kann ein Textweltmodell also geistig Sachverhalte abbilden, die nicht notwendigerweise mit der realen außersprachlichen Welt übereinstimmen, aber den Eindruck von Objektivität erwecken. Was als Tatsache gilt, wird vom mentalen Weltmodell bestimmt. Und Textweltmodelle erschaffen auch eigene ontologische Kategorien: Judenschwein - es gibt in der realen physischen Welt kein Zwitterwesen halb Mensch, halb Schwein, verbal ist aber über den Ausdruck ein Konzept entstanden, das ein solches Konstrukt repräsentiert. Auch die Metapher Krebsgeschwür Israel (oft in Internetkommentaren zu lesen) ist ohne Pendant in 28 der Realität, man kann dies auch weniger drastisch durch pseudorationale Hassrede ausdrücken: Kolonial-Unrechts-Apartheidstaat sind de-realisierende Vokabeln der Delegitimierung. Das Denken von Antisemiten zeichnet sich generell durch seine Abstraktheit aus: Es sind Hirngespinste des Hasses. Es sind nicht die konkreten Juden der Welt 1, sondern das abstrakte Konzept der Welt 2, das unter Bezug auf das kollektive Wissen von Welt 3 geschaffen wurde. In einem generischen Satz wie Die Juden sind unser Unglück! ist ein irrealer Weltzustand abgebildet, der durch die Subjekt-Prädikat-Zuordnung eine Gruppe von Menschen kollektiv verdammt und dies ohne jedweden Bezug zur außersprachlichen Realität. Es liegt eine De-Realisierung vor, also ein Missverhältnis zwischen Realität und Sprache. Die De-Realisierung prägt alle Formen des Judenhasses. Der folgende politische Witz aus der NS-Zeit ist ein Beispiel für einen Text, der zwei in Widerspruch stehende Perspektiven in einem Textweltmodell erfasst, um auf die Konstruiertheit von scheinbar objektiven Realitäten hinzuweisen, das Konzept von Wahrheit kritisch zu reflektieren und damit die ideologische Verblendung der Nationalsozialisten zu entlarven: „1934 im Zirkus Sarrasani: Ein brüllender Löwe springt aus der Manege in den Zuschauerraum auf eine Gruppe Kinder zu. Panik. Beherzt springt ein junger Mann dazwischen und schlägt dem gefährlichen Raubtier mit einem Stuhl auf den Kopf. Dieses sinkt bewusstlos zu Boden. Ein anwesender Reporter eilt herbei: ‚Sie sind ein Held! Wie ist Ihr Name? ‘ ‚Moses Cohen‘. Am nächsten Tag steht im Völkischen Beobachter: ‚Frecher Judenlümmel verletzt edles Tier.‘“ Für den modernen Leser von heute erschließt sich der NS-kritische Textsinn nur, wenn entsprechendes Weltwissen über die historische Phase des Nazi-Regimes bekannt ist. So muss der Leser z.-B. wissen, dass der Völkische Beobachter Publikationsorgan und Sprachrohr der rassistischen und antisemitischen Nationalsozialisten war und dass Judenfeindschaft zum allumfassenden Weltbild 29 gehörte, die alle Ebenen des sozialen Lebens prägte. Bekannt muss auch sein, dass Moses Cohen ein typisch jüdischer Name ist. Nur auf der Basis dieser Kenntnisse kann die Pointe dieses politischen Witzes verstanden werden. Und so entstehen Textweltmodelle als Alternativen zur realen Welt durch das Zusammenspiel von sprachlichen Textinformationen und geistiger Wissensaktivität. Sehr ähnlich wie in Kafkas berühmter Parabel Auf der Galerie wird die Doppeldeutigkeit von Realität thematisiert, in der zwei völlig unterschiedliche TWM-Versionen eines außersprachlichen Sachverhalts nebeneinandergestellt werden. Mit solchen Witzen führten in der NS-Zeit Kritiker des Regimes die Absurdität des ideologisch geprägten Hasses auf Juden vor Augen. Aus einer mutigen Heldentat in der realen Welt wird im mentalen Modell der NS-Ideologie das brutale Delikt der Tierverletzung. Entsprechend groß ist der Unterschied zwischen der „Realität“ in den Textweltmodellen von Antisemiten und der tatsächlichen Realität. Antisemitische TWM basieren auf abstrakten Stereotypen bar jeder Faktizität und haben keinen Bezug zur außersprachlichen Welt. ‚Juden‘, quasi die Antagonisten in der Text-Welt, sind Fiktionen, werden aber von Antisemiten als real empfunden. Warum das Gehirn keinen Unterschied macht zwischen den Äußerungen eines Neonazis oder eines linken Professors Während wir bei der Sprachproduktion stets die Möglichkeit der Kontrolle haben, wie wir Inhalte verbalisieren und formulieren, bevor wir sie artikulieren, gibt es diese Einflussnahme bei der Sprachrezeption nicht. Sprachrezeption zeichnet sich dadurch aus, dass sie automatisch, d.- h. wie ein Reflex, abläuft. Wir können nichts dagegen tun (außer uns fest die Ohren bzw. Augen zuzuhalten). Sie können jetzt in diesem Moment beim Lesen genau dieser Sätze das Verstehen nicht unterbinden! Ein Großteil der Prozesse in unserer 30 Kognition verläuft unbewusst und automatisch, unbeeinflusst von Intention und Verstand, unkontrollierbar von unserem bewusst einsetzbaren Willen. Auf sprachliche Einheiten reagiert das Gehirn in Bruchteilen von Millisekunden und ordnet den Ausdrucksformen Inhalte zu. Sprachliche Äußerungen aktivieren sofort mentale Repräsentationen in unserem Gedächtnis. Wir können nichts dagegen tun. Die neurowissenschaftliche Forschung zeigt durch bildgebende Verfahren wie dem Magnetresonanztomogramm zudem, dass die Verarbeitung von Sprache in zwei Stufen stattfindet. Als erstes wird nicht die kognitive Information z.-B. eines pejorativ besetzten Wortes wie Pharisäer oder Holocaustindustrie oder einer diskriminierenden Phrase wie Kindermörder Israelis aktiviert, sondern dessen emotive Bedeutung. Das limbische System schaltet sich schneller ein als der Cortex. Es ist daher hinsichtlich des Wirkungspotenzials, hinsichtlich der toxischen Einflussnahme wissenschaftlich irrelevant, nach der Intention hinter einer Äußerung oder der Identität des Sprechers/ Schreibers zu fragen, wenn man entscheiden muss, ob eine Aussage antisemitisch ist oder nicht. Auch wenn unsere Intuition etwas anderes vermuten lässt. Hier zeigt sich ein wichtiger und tückischer Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Geistesaktivität. Legt man Versuchspersonen antisemitische Äußerungen mit der Information über ihre Verfasser vor, lassen sich die Befragten dadurch nämlich beeinflussen. Ich habe dies über mehrere Jahre hinweg in Seminaren überprüft. Gruppen von Studierenden erhielten die gleichen Sätze zur Beurteilung vorgelegt. Einer der Test-Sätze lautete z.-B. „Israel agiert im Umgang mit Palästinensern oft wie die SS“. Diejenigen Studierenden, die als Information dazu erhielten „von einem Neonazi artikuliert“ befanden drei Mal so oft, dass der Satz antisemitisch sei, als diejenigen, die „artikuliert von einem linken Friedensaktivisten“ dazu gelesen hatten. An der unbewusst und automatisch ablaufenden Bedeutungsaktivierung solcher Antisemitismen ändert dies aber nichts. Wörter und Sätze aktivieren in 31 unserem Langzeitgedächtnis in wenigen Millisekunden mentale Bilder und Modelle, setzen Gefühle frei, lassen spezifische Relationen und Wirklichkeitsauffassungen entstehen. Menschen lassen sich also mehr beeinflussen, als sie denken, da viele Prozesse automatisch und unbewusst ablaufen und sich jedweder Kontrolle komplett entziehen (wie u.-a. Kahneman in Thinking fast and slow erörtert hat). Intuitiv ist man überzeugt, gefeit zu sein gegenüber Hassrede. Das ist trügerisch. Und dies ist auch die Fehleinschätzung bei Antisemitismen, die von Personen artikuliert werden, denen man Judenhass als Einstellung eigentlich nicht zuschreibt. Dies wiederum führt dann zu verharmlosenden Umdeutungen der Äußerungen und zu einem Doppelstandard bei der Bewertung. Sprachverarbeitung läuft auf vielen Ebenen ab, von denen einige für das Bewusstsein nicht direkt zugänglich sind. So ist es möglich, dass emotionsaktivierende Wörter oder Sätze Spuren hinterlassen oder Assoziationen etablieren, ohne dass der Hörer/ Leser dies bemerkt oder gar möchte. Bedeutungszuordnung ist als kognitiver Prozess nicht zu unterdrücken. Und die Rezeption bestimmter Wörter kann nicht nur Emotionen verstärken, sondern sogar physische Schmerzen auslösen. Erst nach der automatischen Bedeutungszuordnung sind wir in der Lage, uns mit den wahrgenommenen Inhalten kritisch-reflektierend und kontrolliert auseinanderzusetzen. Eine willentliche Einflussnahme vorher ist nicht möglich. Die toxische Semantik ist dann aber bereits im Arbeitsgedächtnis gespeichert und kann unbewusst auf uns wirken. Wörter können wie Gifttabletten mit Depotwirkung sein, sie setzen Urteile frei, die langfristig Schaden anrichten können. Ein einzelnes Wort kann in den Köpfen von Menschen ein komplexes Szenario aufrufen: Judenpresse aktiviert z.-B. die Verschwörungsfantasie, es gäbe ein jüdisches Machtmonopol, das die öffentliche Meinung über die Medien kontrolliere, ähnlich wie Israel-Lobby, das mentale Modell einer einflussreichen Instanz, die die Fäden in der Welt zieht (s. hierzu auch AJC 2021, Rensmann 2022 und So- 32 sada 2022). Sprecheridentität, Kontext und Absicht spielen bei der Wirkung von Verbal-Antisemitismus tatsächlich kaum eine Rolle. Denn das Gehirn unterscheidet am Ende nicht, ob ein Neonazi, ein linker Journalist, ein Nobelpreisträger oder ein Professor Antisemitismen kommuniziert hat, ob diese intentional oder nicht-intentional und in welcher Situation sie geäußert werden (s. hierzu Schwarz 3 2008: 179 ff.). Judenfeindliche Rhetorik aktiviert automatisch neuronale Muster in Cortex und limbischem System. Und je öfter die neuronalen Muster aktiviert werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie geglaubt werden. Verbale Gewalt ist immer geistige Gewalt, ganz gleich, von wem und wo sie artikuliert wurde; und sie tradiert und festigt judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster. Antisemitismen aktivieren, reaktivieren und konstruieren Gedankengut, das die öffentliche Meinung und das kollektive Bewusstsein massiv und nachhaltig beeinflussen kann. Das sollte jeder verantwortungsbewusste und geschichtssensible Mensch im Hinterkopf (ipsis litteris) behalten. 33 3 Das geistige Gift Judenhass und seine Grundsubstanz Die elementaren Bestandteile eines tödlichen Elixiers oder warum es im Kopf von Antisemiten denkt, fühlt und spricht „Ihr seid ohne Seele, ihr seid Satanisten. …-Ihr seid die Pest. Man muss euch erschlagen, eure Brut ausrotten“ (E-Mail an den Zentralrat der Juden in Deutschland, 31.5.2021) Man nehme als Reinstoff mit hoher Wertigkeit 50 Teile sehr alten, abgelagerten Hass zum Basiskonzept ‚Jude‘ und mische diesen mit dem atomaren Element ‚Besessenheit‘, gebe in gleichen Teilen negative Stereotype aus der menschlichen Fantasie sowie einprägsame Sprachgebrauchsmuster und ein Quantum fluide Anpassungsfähigkeit dazu. Als Resultat hat man eine Lösung hoch abstrakter Denk- und höchst intensiver Gefühlsstrukturen, die sich verbal gleichförmig ausdrücken. Dieses Mischungsverhältnis gibt eine schnelle Aktivierungsenergie, die toxische Reaktionen auslöst, und setzt einen multiplen Katalysator, also einen Stoff, der die Geschwindigkeit der Reaktionen noch erhöht. Welche Merkmale sind allgemein konstitutiv und typisch für Judenhass? Was ist das Gemeinsame von allen Erscheinungsformen und Varianten, die sich im Laufe der Zeit herausbildeten? Woraus besteht der Grundstoff, aus dem sich jeder Antisemitismus, sei er links oder rechts motiviert, muslimisch oder atheistisch, religiös oder säkular, gebildet oder ungebildet, bewusst oder unbewusst, speist? Diese Frage kann man beantworten, wenn man durch die Analyse der Anpassungsmanifestationen das Kontinuierliche, das 34 Permanente, das Wesentliche herausfiltert. Durch Korpus-Studien, also die Untersuchung quantitativ großer Textmengen, gelingt es, die maßgeblichen Eigenschaften zu abstrahieren. Hunderte von Tausenden verschriftlichter judenfeindlicher Äußerungen aus den letzten 20 Jahrhunderten wurden hierfür im Laufe der letzten zwanzig Jahre analysiert: theologische Schriften, Predigten, Pamphlete, Spottgedichte, philosophische Traktate, politische Reden, Parteiprogramme, Romane, wissenschaftliche Abhandlungen, Postkarten, Märchen, Briefe, E-Mails und Internet-Kommentare. Das Ergebnis ist eindeutig. Die grundlegenden Konzepte und abwertenden Muster der Judenfeindschaft sind trotz aller einschneidenden Veränderungen in der Menschheitsgeschichte, trotz aller Veränderungen in den Gesellschaften von Generation zu Generation konstant geblieben (s. hierzu bereits ausführlich Schwarz- Friesel/ Reinharz 2013, Schwarz-Friesel 2019). Oberflächlich passen sie sich in ihren Erscheinungsbildern an die neue Situation an, erhalten aber in der inhaltlichen Tiefe ihre antonymische, also auf strikten Gegensatz abzielende, Semantik. Diese setzt sich aus dem abstrakten, realitätsabgehobenen Konzept ‚Jude‘ und der ihm zugeordneten Prädikationen ‚Das Böse‘ und ‚Das Falsche in der Welt‘ zusammen. Die Ultima Ratio der Judenfeindschaft ist es, die jüdische Existenzform auszulöschen. Wenn man die Massen von judenfeindlichen Texten liest, ganz gleich aus welchem Jahrhundert, hat man stets den Eindruck, man lese eigentlich immer das Gleiche. Diese Monotonie, diese Gleichförmigkeit der judenfeindlichen Rhetorik und Argumentationsmuster zieht sich als roter Faden durch die gesamte westliche Geschichte, ungebrochen durch die Erfahrung der Shoah, bis zum heutigen Tag. Judenfeindschaft basiert auf der Wiederholung der Wiederholung der immer gleichen Fantasien. Daher macht es auch wenig Sinn, in Bezug auf zeitgemäße Anpassungen, wie dem rassistischen Antisemitismus im 19.- Jahrhundert, dem Post-Holocaust-Antisemitismus nach 1945 oder dem israelbezogenen Judenhass von einem „neuen Anti- 35 semitismus“ zu sprechen, denn es ist stets der alte mit nur minimalen formalen Veränderungen. Und bei genauem Hinsehen im Vergleich mit historischen Texten erweisen sich auch die „neuen Stereotype“ wie ‚Holocaust-Ausbeutung‘, ‚jüdische Unversöhnlichkeit‘, ‚Landräuber‘ und die entlastende ‚Täter-Opfer-Umkehr‘ als zeitgemäße Ausformungen der mittelalterlichen Schablonen klassischer Judenfeindschaft. In der Semantik des Anti-Judaismus sind die Klischees von Rachsucht, Gier, Gewalt- und Machtausübung bereits vorhanden, typisch etwa 1570 in einem Text von Nigrinus als „die diebischen, räuberischen und mörderischen Juden“ artikuliert oder bei Luther die totale Entwertung: „Denn sie uns ein schwere last, wie eine Plage, Pestilentz und eitel unglück in unserm Lande sind.“ (Luther 1543). Und selbst das Landräuber- Phantasma entstand nicht erst bei der Staatsgründung Israels. „Die Juden kannte man als Meister im Wuchern, Schachern, Stehlen-…; denn Laenderraub im Großen, Straßenraub im Kleinen-… waren die einzigen Mittel, wodurch jene-… etwas erwerben konnten“, so Hundt-Radowsky 1819. Die „Sprache der Judenfeindschaft im 21.- Jahrhundert“ zeigt eine Kontinuität der klassischen Strukturen. Sprachgebrauchsmuster, die seit Jahrhunderten kollektiv verankert sind und zum rhetorischen Standardrepertoire von Antisemiten gehören, werden weitgehend unverändert reaktiviert und benutzt, um Juden und Judentum, sowie seit 1948 den jüdischen Staat, zu dämonisieren und diffamieren. Wörter und Sätze wie „Menschenfeinde“, „die größte Gefahr der Menschheit“, „Zerstört das Zionistengebilde“, „Judentum ist Verbrechertum“, „Blutrünstige Kindermörder! “, „Von der Erde fegen! “, „Den Staat auflösen! “ prägen die Kommunikation. Aufschlussreich und bedeutend ist dabei auch, dass die Äußerungen trotz aller unterschiedlichen politischen oder ideologischen Einstellungen eine große inhaltliche Ähnlichkeit und Gleichförmigkeit in der Stereotypkodierung und Argumentation aufweisen. Die Texte lesen sich meist wie Kopien voneinander. Dies belegt den 36 anhaltenden Einfluss der kulturellen Prägung durch die abstrakte überindividuelle Ideenwelt und durch das kommunikative Gedächtnis. Dort ist die Quintessenz der judenfeindlichen Gedanken und Gefühle gelagert, von dort kommt ihre toxische Ausstrahlung (Schwarz-Friesel 2019: 86ff.). Ist es schwierig, Antisemitismus zu definieren? Nein, ist es nicht. Wir blicken auf Jahrzehnte der Forschung in unterschiedlichen Disziplinen zum historischen und aktuellen Judenhass mit unzähligen Detail-Studien und können die grundlegenden Merkmale von modernem Judenhass daher gut und klar identifizieren. Denn das Gift-Chamäleon Antisemitismus erscheint zwar in des Kaisers neuen Kleidern in unterschiedlichen Stil- und Farbkombinationen, tatsächlich aber ist das reine Augenwischerei, sollen doch alle diese Kleider nur die Nacktheit darunter verbergen, sprich die immer gleiche Konsistenz des Hasses. Daher verwirrt es, wenn Stimmen, zumeist aus der Laienkommunikation, die Behauptung einwerfen, man müsse erst eine einheitliche Definition schreiben, man müsse noch viele Jahre forschen, um zu verstehen, was Antisemitismus überhaupt sei. Das sind Aussagen, die Sand in die Augen von Politik und Gesellschaft streuen und eine effektive Bekämpfung des Problems in eine ungewisse Zukunft verschieben. Wir müssen verstehen, was wir bekämpfen wollen? Ganz gewiss, aber wir verstehen ja schon lange, wenngleich das Phänomen Judenhass auch Wissenschaftler immer wieder an ihre Grenzen bringt, und insbesondere der bürokratisch kalt geplante und methodisch präzise ausgeführte Mord an sechs Millionen jüdischen Frauen, Männern und Kindern trotz aller Analysen und Erklärungen am Ende etwas mit dem Verstand nicht wirklich zu Begreifendes ist. So beschreibt schon Poliakov 1956 in seiner frühen Abhandlung zur massenmörderischen „NS-Endlösungspolitik“ treffend die Einzigartigkeit des antisemitischen Ressentiments, was Friedländer einige Jahrzehnte später in diesem Sinne „Erlösungsantisemitismus“ nennen wird: „The anti-Semitic passions of the Western world are perhaps the 37 only emotions of this kind-… However deep we go into them, we find nothing but archaic-… resentments.-… Which accounts for the fact that their ultimate expression, Hitlerism, was the only attempt in history to condemn man for what he is, not for what he does; for his abstract entity, not for his concrete acts“ (Poliakov 1956). Antisemitismus ist Judenfeindschaft. Juden werden als Juden abgelehnt, weil eine realitätsverzerrende Wahrnehmung ihnen seit Jahrhunderten negative Eigenschaften andichtet (s. hierzu auch die international anerkannte und in der Praxis gut zu benutzende IHRA-Arbeitsdefinition) und sie als Ur- und Grundübel in der Welt kategorisiert. Diese Feindschaft ist kein Vorurteil unter vielen, sondern eine kulturelle Kategorie der westlichen Religions- und Geistesgeschichte, tief verankert im kollektiven Denken und Fühlen (weshalb auch Shulamit Volkov von „Antisemitismus als kulturellem Code“ sprach), eingebrannt in die kommunikative Praxis. Ein Ressentiment, das sich nicht auf einzelne Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Juden richtet, sondern auf deren Existenz. Und so enthalten bis heute Schreiben an den Zentralrat der Juden in Deutschland (und an die israelische Botschaft in Berlin) Aufforderungen wie „Verschwindet endlich aus der Welt, ihr jüdischer Abschaum! “ oder Erlösungsfantasien der Art „Erst wenn der letzte Jude von dieser Erde verschwunden ist, wird es uns allen besser gehen“. Der Kampf zwischen Gut und Böse wird festgemacht an ‚den Juden‘. Hinsichtlich der Verankerung von Judenfeindschaft im individuellen wie auch kollektiven menschlichen Geist erweist sich die Trias Sprache-Kognition-Emotion als zentral. Antisemitismus ruht auf drei Pfeilern: auf Stereotypen, auf verbalen Ausdrücken und der Emotion des Hasses. Stereotype sind geistige Repräsentationen im Gedächtnis, die als charakteristisch erachtete Merkmale/ Eigenschaften eines Menschen bzw. einer Gruppe von Menschen abbilden und dabei durch grobe Simplifizierung eine reduzierte, verzerrte oder falsche Konzeptualisierung des Repräsentierten dar- 38 stellen können. Juden sind im antisemitischen Stereotypengeflecht nicht nur ‚die Anderen‘ (wie dies bei allgemeiner Menschen- und Fremdenfeindlichkeit der Fall ist), sondern sie sind die ,Nicht-zuakzeptierende-Existenzform‘. Sie sind damit der ultimative Gegenentwurf nicht nur zur eigenen Existenzweise, sondern fallen aus der Weltordnung und verkörpern das Negative an sich. Sie sind DER Störfaktor, der Frevel in der Welt. Entsprechend sahen Adorno/ Horkheimer Juden - im Blick des Antisemiten! - als „das absolut Böse gebrandmarkt“ und als „das negative Prinzip als solches“. Für Antisemiten ist dieses Phantasma Realität. Betrachten wir die Stereotype, auf denen Antisemitismus als Gedankenkonstrukt beruht, so sehen wir keinen Realitätsbezug, keine Verankerung in der tatsächlichen Welt: Es handelt sich um Konstruktionen der Kognition. Daher ist die De-Realisierung, das Missverhältnis von Geist und Sprache zur realen Welt, das übergeordnete kognitive Prinzip. Im antisemitischen Denken aber besitzen diese Phantasmen epistemische Autorität, d.-h. Antisemiten glauben unerschütterlich an die Stereotype und verstehen diese als tatsächlich existierend. Wenn jemand sagt „Juden beherrschen die Welt“, dann ist das so, wie wenn jemand sagen würde „Dracula ist real, er lebt wirklich! “. Ihren Ausdruck finden die Stereotype durch die Formen der Sprache, die ständig reproduziert werden und dadurch die judenfeindliche Ideenwelt erhalten. Nimmt man hier die wesentlichen Mechanismen, zeigen sich strikte Abgrenzung („Wir Deutschen-… Ihr Juden gehört nicht zu uns“), irreale und kollektive Stereotyp-Fixierung („Ihr seid gierig, rachsüchtig, brutal, verschlagen, mörderisch-…“) und absolute Entwertung („Juden sind der Abschaum der Erde“, „Ihr seid die größte Gefahr für den Weltfrieden! “; alle Äußerungen in diesem Buch sind authentische Beispiele aus Internet- und E-Mail-Korpora; hierzu ausführlich Schwarz- Friesel/ Reinharz 2013). Es zeigt sich eine ausgeprägte emotionale Dimension. Intensive Gefühle werden als wertende und normative 39 Urteile kodiert: „Die Welt hasst Euch“, „Alle wünschen Euch den Tod! “ zielen auf die Gesamtheit der Gehassten und auch auf die der Hassenden. Im Sinne Max Schelers „ein ganz allgemeiner Wertnegativismus, eine ganz unbegründet erscheinende und-… haßerfüllte Ablehnung selbst“. Antisemiten fühlen deshalb so intensiv und konkret, weil ihre subjektiven Gefühle noch Verstärkung finden durch die kulturelle Dimension des Judenhasses. Die drei im vorherigen Kapitel erörterten Welten gehen fließend bei Antisemiten ineinander über: Sie glauben, dass ihre subjektive Erlebenswelt der realen Welt entspricht, und beziehen ihre Legitimierung dafür aus der dritten, der abstrakten und kulturellen Welt der Theorien, Narrative und Modelle. Antisemiten denken, aber es denkt auch in ihnen, sie fühlen, aber das subjektive Gefühl wird mitbestimmt von der kollektiven Emotion ‚Judenhass‘, sie sprechen als Individuen, aber es spricht auch in und aus ihnen das lange und schallende Echo der kommunikativen Vergangenheit. Wer den aktuellen Antisemitismus mit seiner Hartnäckigkeit und Faktenresistenz verstehen will, der muss zurück zu seiner Genese, denn nur das Verständnis aus der Geschichte hilft zu begreifen, dass Judenfeindschaft ein unikales Denk- und Gefühlsmuster ist und als solches zu bekämpfen ist. Wie es zur totalen Verdammnis des Judentums kam, schildert daher das folgende Kapitel. 41 4 Am Anfang war das Wort: Die Sprache brachte den Judenhass in die Welt Wie die Contra-Judaeos-Rhetorik der frühchristlichen Schriftgelehrten das anti-jüdische Ressentiment erschuf und aus dem „erwählten Volk der Verheißung“ den „Frevel in der Welt“ machte „Erst Christus ermordet und jetzt die Araber. Ihr betreibt doch ethnische Säuberung da unten.“ (E-Mail an den Zentralrat der Juden in Deutschland (ZJD), 9.8.2006) „In der Karfreitagsfürbitte bitten wir doch nur den Herrn, dass er auch unsere jüdischen Mitbürger erleuchten möge. Dies ist eine zutiefst christliche Bitte und sollte-… freudig aufgenommen werden.“ (E-Mail an den ZJD, 22.3.2008) Konzentriert man sich auf die semantische Quintessenz aus Tausenden von historischen Texten der letzten Jahrhunderte und Hunderttausenden von Texten aus dem aktuellen Antisemitismus 2.0, dann kristallisieren sich zwei globale Inhalte heraus: ‚Juden seien das Böse per se‘ und die sich daraus ergebende Schlussfolgerung ‚Die Welt sei ein besserer Ort ohne Juden und Judentum‘. Damit ist Judenfeindschaft auch Welterklärung. Und sie hat eine metaphysische Deutungsdimension, die bei keiner anderen Menschenfeindlichkeit so existiert. Während sich bei Vorurteilen einzelne Abwehrgefühle auf etwas Bestimmtes am Anderen (Äußeres, Handlungen, sexuelle Ausrichtung, Herkunft etc.) richten, zielt das Ressentiment auf die bloße Existenz des Gehassten. Durch diese unikale Komponente unterscheidet sich Judenfeindschaft von allen anderen diskriminierenden Manifestationen. Auf dieser geistigen Wahnvorstellung entwickelten die Nationalsozialisten ihren Plan 42 der „Endlösung der Judenfrage“. Sie griffen damit eine uralte Glaubenskonstante und eine kollektive Emotion der Geistesgeschichte auf. Wie das anfangs in der Parteipolitik sehr einflussreiche Gründungsmitglied der NSDAP Gottfried Feder, u.-a. Autor des Buchs Der Jud ist schuld, es formulierte: „Antisemitismus ist der gefühlsmäßige Unterbau unserer Bewegung“. Dies war ein Bekenntnis zum Anti-Judaismus und zugleich die Erkenntnis, dass man mit diesem kollektiven Gefühl große Teile der Bevölkerung erreichen würde. Eine Erfindung der Nationalsozialisten war der Hass gegenüber jüdischen Menschen und deren Konzeptualisierung als ‚Übel der Welt‘ also keineswegs. Woher holten sie sich ihre Legitimierung, ihre „gefühlte“ Wahrheit, ihre Sicherheit, damit Menschen ansprechen zu können? Und warum ist es dermaßen wichtig, sich die Wurzeln, die Entstehungsgeschichte des geistigen Giftes Judenhass und seine gesellschaftliche Reichweite klarzumachen? Vor einigen Jahren fragte der Moderator einer Gesprächsrunde zum Thema aktueller Antisemitismus im Fernsehen eine anwesende Diskutantin, warum denn nur Juden schon dermaßen lange verfolgt und gehasst würden. Die Antwort der Journalistin lautete: „Ja, das weiß man nicht so genau“. Niemand in der Runde widersprach und klärte auf. Was in der Kommunikation nicht zurückgewiesen wird, wird schnell als wahr akzeptiert. Und so blieben im öffentlich-medialen Kommunikationsraum eine Menge von möglichen Lesarten wie ‚womöglich Unglück/ Pech/ Zufall in der Geschichte‘ oder ‚allgemeine Fremdenfeindlichkeit als biologische oder psychologische Eigenschaft von Menschen‘ bis zu ‚Das liegt womöglich an den Juden‘. Dass man sehr genau weiß, warum Juden nach der Abspaltung des Christentums von ihrer Ursprungsquelle zum Frevel und Paria in der Welt erklärt wurden, fand keinen Eingang in die Diskussion. Wie wichtig wäre es gerade in einem solchen Kontext gewesen, darüber aufzuklären, wie die frühen Kirchengelehrten das Fundament des anti-jüdischen Ressentiments in den ersten Jahrhunderten nach christlicher Zeitrechnung und 43 damit die Basis für alle weiteren, auch nicht-religiösen Varianten der Judenfeindseligkeit legten. Eine ignorante und nicht zurückgewiesene Antwort, wie die in der Fernsehrunde, suggeriert jedoch, es gebe keinen bekannten Grund. Das Beispiel zeigt, wie auch Unwissenheit zur Vertuschung bzw. Verzerrung von Tatsachen führen und zudem das geistige Gift des Verdachts eintröpfeln kann. Judenhass fiel nicht vom Himmel, war kein Zufall der Geschichte, gehörte nicht zu den Launen und Abarten der menschlichen Natur im Umgang miteinander, hatte mit dem Verhalten von Juden nichts zu tun, entstand also nicht als Abwehr gegenüber etwas Anderem oder Unbekanntem und ist daher auch ausdrücklich nicht der allgemeinen Menschenfeindlichkeit oder Xenophobie zuzuordnen. Judenhass kam in die Welt durch die Texte der frühen Christen, deren Verfluchung ihrer Mutterreligion im Abspaltungsprozess und im Konkurrenzkampf um religiöse Deutungshoheit, unanfechtbare Heilslehre und geistige Macht. In den ersten fünf Jahrhunderten nach christlicher Zeitrechnung fand eine grundlegende Werteverschiebung in der Welt statt, in Gut und Böse, in Wahr und Falsch, eine strikte semantische Antonymie, die sich im Laufe der Zeit als die erste fundamentale und allumfassende Katastrophe für die jüdische Existenz erweisen sollte. Diese ist in der Wissenschaft seit langem gut dokumentiert und wissenschaftlich aufgearbeitet (s. etwa Parkes 1981, Rokeah 1988, Simon 1996, Weiss 1998), doch in der Bevölkerung fehlt das Wissen darüber oft sogar noch unter denen, die sich mit dem Thema Antisemitismus beschäftigen. Dass der frühe Christianisierungsprozess die radikale Judenfeindschaft als Ressentiment geistig schuf, wird bis heute vielfach ignoriert, beiseite gedrängt und klein gehalten. Und bislang hat die Kirche keine umfassende und selbstkritische Aufarbeitung vorgenommen, steht nicht zu ihrer Verantwortung, den Judenhass erzeugt und etabliert zu haben. Die Abkopplung der Urchristen von ihrer Mutterreligion und der von rigider Ausschließlichkeit 44 geprägte Machtkampf der christlichen Kirche führte zur Verdammnis der Ursprungsreligion. Aus dem „auserwählten Volk“, das den Glauben an einen Gott, den Monotheismus in einer Zeit der Vielgöttereianbetung brachte, wurde das „verfemte Volk“, aus der Religion das „Falsche und Frevelhafte“. Dies ist die Wurzel des geistigen Gifts, aus der sich alle späteren Formen bis heute nähren, auch der säkulare Antisemitismus. Die Ausbreitung der frühchristlichen Ideen und Kirchendoktrin wurde in den Schriften der Gelehrten niedergelegt. Diese strikt dualistisch gestalteten Sprachstrukturen bringen die Fundamente eines neuen Glaubens, zugleich aber auch die Basis für die Ausgrenzung und Verteufelung des Judentums in die Welt. Vor einigen Jahren traf ich in Jerusalem den Historiker Moshe David Herr, um mit ihm über antike und frühchristliche Judenfeindschaft zu sprechen. Als ausgewiesener Experte konnte er mir Informationen aus alten Quellen nennen, die das Bild der Genese vom Judenhass erheblich schärften. Was mich jedoch am meisten beeindruckte, war ein persönliches Erlebnis des Wissenschaftlers, denn es machte wie kaum etwas anderes klar, wie nachhaltig das uralte, von Intoleranz, Machtstreben und Feindseligkeit geprägte Contra-und-Adversus-Judaeos-Bild von Juden bis heute wirkt und die Gefühle von Menschen vergiftet. Herr befand sich - einige Jahrzehnte nach Kriegsende und der Shoah - auf einer Europareise in einer spanischen Kleinstadt und saß dort im Freien auf einer Bank am Marktplatz. Ein etwa zwölf Jahre alter Junge näherte sich neugierig dem fremden Herrn mit der Kippa und erkundigte sich, woher er komme. Als David Herr „aus Jerusalem“ sagte, leuchteten die Augen des Kindes. Er kannte wohl die Bedeutung der Stadt aus dem Religionsunterricht. Nach der seltsamen Kopfbedeckung fragend, erhielt er vom Historiker die Antwort, er sei Jude. Der Junge sprang auf und rief empört „Aber die Juden haben unseren Heiland, Jesus Christus umgebracht.“ Der ältere Mann wies begütigend daraufhin, dass Jesus 45 doch selbst Jude gewesen sei. Da wurde das Gesicht des Jungen erst weiß, dann rot. Er stampfte auf, schüttelte die Fäuste, wandte sich ab und schrie im Davonlaufen mit sich überschlagender Stimme: „Du lügst, Du lügst. Niemals war unser Jesus ein dreckiger Jude! “ An diesem Kommunikationsbeispiel wird deutlich, wie erfolgreich und als Denkmuster fest etabliert die verbale Dekontextualisierung des Juden Jesus war: Herausgerissen aus den ursprünglichen Wurzeln und transferiert in die neue Religion, dekontextualisiert und stilisiert als ein Wesen jenseits des Judentums. Aus Joshua ben Josef, dem gläubigen Juden, dem Rabbi (so nennt ihn Maria Magdalena) der sein Volk liebte, wurde kurzerhand „Jesus von Nazareth, der Christ“, aus den jüdischen Thora-Schriften das „alte Testament“, aus dem jüdischen Israel das wahre christliche „Israel im Geiste“. Man nahm Teile der jüdischen Religion, die passten, benannte sie anders, alles andere wurde abgewertet. Jesus, der Verkünder neuer Lehren zur Heilsfindung, war untrennbar verbunden mit dem Judentum, seinem Gottesglauben und seinen Gesetzen. Er legte als Jude auf der Basis der jüdischen Religion die Grundlagen für einen neuen Zugang zum Menschsein. Doch die, welche nach ihm das Christentum zur Weltreligion auf- und ausbauten, konnten weder seine gepredigte Toleranz noch seine Botschaft von Liebe und Barmherzigkeit leben, sondern verfielen stattdessen in Wut und Hass gegenüber ihren eigenen Wurzeln, die sie in glühender Intoleranz beseitigen und verdammen wollten. Die dunkle Seite des viel beschworenen christlichen Abendlandes ist die zunächst religiöse, und dann säkulare, allumfassende Dämonisierung des Judentums. Es kam ein abgrundtiefer kultureller Un-Wert in die Welt: Judenhass. Als Max Liebermann 1879 in München sein Bild Der 12-jährige Jesus im Tempel (in Anlehnung an Lukas 2,41-50) ausstellte, stieß er entsprechend auf entsetzte und wütende Kritik. Er hatte Jesus realistisch als armes jüdisches Kind barfuß und mit einem ärmlichen Kittel im Gespräch mit Rabbinern gemalt. Ein ungeheuer- 46 licher Skandal für anti-judaistische und antisemitische Stimmen, die Jesus stets nur verklärt und beraubt aller Merkmale seines Jüdisch-Seins als überirdische Lichtgestalt des Christentums sehen wollten. Entsprechend verurteilte ein Kunstkritiker die Jesusgestalt als hässlichen „Juden-Jungen“, die Gelehrten als „ein Pack der schmierigsten Schacherjuden“. Liebermann sah sich gezwungen, die Jesusfigur zu „verschönern“, entfernte die Schläfenlocken, gab ihm helle Haare, Sandalen und bessere Kleidung. Doch die jüdische Perspektive wurde weiterhin abgelehnt: Jesus als Jude unter Juden, einen „Judenbengel“: Das wollte man nicht sehen. Die Hetz- und Hasskampagne gegen Liebermann fiel zudem in eine Zeit, in der auch ein nicht-religiöser Antisemitismus auf allen Ebenen der Gesellschaft sich rasant ausbreitete und durch Hochgebildete wie den Geschichtsprofessor von Treitschke weithin salonfähig gemacht wurde (vgl. Kap. 8). Nach meinen Vorträgen zu diesem Thema erhalte ich oft aus dem Publikum den Hinweis „Aber es gab doch schon in der Antike Vorurteile gegenüber Juden! “. In der Tat gab es schon im antiken Rom und Griechenland judenfeindliche Tendenzen, die jedoch einen ganz anderen Status hatten und auf menschlichem Argwohn und Misstrauen gegenüber dem Unbekannten, Ungewohnten fußten: Plötzlich kam in das Vielgöttersystem der antiken Welt eine Gemeinschaft, die an einen einzigen unsichtbaren Gott glaubte und ihr Leben auf höchst ungewöhnliche Art betrieb. Die antike Judenfeindschaft entsprang damit der Xenophobie-Reaktion, die als Fremdenfeindlichkeit seinerzeit ihren Ausdruck auch gegenüber anderen Volksgruppen fand, war aber keineswegs durchtränkt von dem glühenden Hass und der totalen Verdammnis. Im antiken Rom waren Juden als Minderheit anerkannt, konnten Bürgerrechte erhalten und sich unter Cäsar und dem römischen Kaiser Augustus frei bewegen, Synagogen bauen. Ihre Ideen waren so attraktiv für einzelne Römer, u.-a. Angehörige des Kaisers, dass sie zum Judentum übertraten. Während die in Judäa lebenden 47 Juden unter römischer Herrschaft noch eine weitgehend sichere Rechtsstellung hatten und durch die religio licita als Minderheit in bestimmten Grenzen autonom leben konnten, verändert sich dies in dem Moment, als die christliche Religion zur politischen und sozialen Macht wird. Hier spielen die Bekehrung Constantins im Jahr 312 zum ersten christlichen Kaiser und die nachfolgenden Edikte (v.-a. der Codex Theodosianus) eine entscheidende und für das jüdische Leben verheerende Rolle. Die religiöse Doktrin der Kirche geht über in staatliche Gesetzgebung und soziales Leben. Damit beginnt in der Welt die soziale Ausgrenzung, die Verdammungsrhetorik der Gelehrten kehrt in das Alltagsleben ein und führt zur gesellschaftlichen Absonderung. Wie Leprakranken verwehrt man Juden Ämter und gesellschaftlich anerkannte Tätigkeiten, überlässt ihnen einzig die verpönte Geldtätigkeit, die ihnen dann den Vorwurf des Wucherns und Schacherns einbringt. Zusammenkünfte werden reglementiert. Erst die Christianisierung des Okzidents bringt zahlreiche Verbote und Einschränkungen, massive Diskriminierungen und Stigmatisierungen. Von den Kanzeln wird das Fantasmen-Geflecht, das im Laufe der Zeit großflächig zum „Gerücht über die Juden“ (so Adorno) wird, von denen, die damals lesen und schreiben konnten, in die Dörfer und Städte getragen, vergiftet die Köpfe und Seelen der Bevölkerung. In Folge werden schon im vierten Jahrhundert aufgrund von Hassbotschaften lokaler Kirchenkanzeln Synagogen angezündet; bis ins sechste Jahrhundert werden Juden auch von Bischöfen gebrandmarkt, von Päpsten als böse bezeichnet. Im Mittelalter kommen Stigmatisierungen durch Kleidervorschriften wie der gelbe Ring und Ghettoisierungen hinzu. Straßennamen wie Judengasse (Frankfurt) oder Jüdenberg (Meißen) zeugen heute noch von der räumlichen Abtrennung. Juden werden zu den Sündenböcken für alle Übel der Welt. Pogrome müssen nun gar nicht mehr „von oben“ gutgeheißen werden, längst hat sich das Gift des Judenhasses über die Jahrhunderte hinweg in den Gesellschaften verselbstständigt und 48 ein Weltbild entstehen lassen, in dem Juden das negative Gegen- Prinzip der Weltordnung verkörpern und symbolisieren. Was sich dann im Laufe der Jahrhunderte entwickelte und in welcher Katastrophe es mündete, ist bekannt. Zum Ursprung: Die Rhetorik des Hasses Kehren wir zum Ursprung zurück. Das Judentum wird durch die damals v.-a. in lateinischer oder altgriechischer Sprache verfassten Texte mit allen rhetorischen und stilistischen Mitteln, mit aller Macht der Sprachgewalt, als schlimmster Feind und als Gegenentwurf konstruiert. Dies findet im Evangelium des Johannes seinen Ausdruck. Dort werden die Dämonisierung und Verdammung der Juden als Ungläubige vollzogen und die Darstellung niedergelegt, Jesus sei durch Juden und jüdisches Gesetz umgebracht worden. Adele Reinhartz bezeichnet das Johannesevangelium daher als „Grammatik des Hasses“, ich schlage jedoch eher „Rhetorik des Hasses“ vor. In diesem Text findet sich auch bereits die Teufelsmetaphorik, die u.-a. dazu führt, dass im Laufe des Mittelalters Juden kollektiv zum Sündenbock für alle Widrigkeiten des Lebens erklärt werden. Jüdische Gelehrte als „Kinder Abrahams-…“, „…-die den Teufel zum Vater-…haben“ (Joh 8,44-45). In den nachfolgenden Jahrhunderten ist diese Deutung dann verallgemeinert in allen anti-judaistischen Texten vorherrschend und verbindet sich zunehmend mit nicht aus dem theologischen Bereich stammenden Fantasiekonzepten: „Der Jud stellt sein sinne nacht und tag Wie er den cristen verderben mag“ (Titel eines anonymen Flugblatts des 15.-Jahrhunderts); „[Die] gottlosen, lästerhaftigen, diebischen, räuberischen und mörderischen [Juden, d. Verf.].“ (Nigrinus 1570) und findet sich in gesteigerter Form auch in nicht-religiösen Texten, dabei schon verbunden mit eliminatorischen Wunschvorstellungen: „Der Teufel ist barmherziger als der Jude-… Am Besten 49 wäre es- …, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer.“ (Hundt-Radowsky 1819: 144) Die Nationalsozialisten greifen diesen Sprachgebrauch später auf und betonen pseudo-religiös das „Satanische der Juden“ (z.-B. Hitler 1941; s. u.-a. Bärsch 1988, Tarach 2022). Die modernen Verschwörungsfantasien und -mythen, die Juden eine allumfassende und zum Teil überirdische Macht zusprechen, haben in der frühchristlichen Satanologie ihren Ursprung (s. hierzu auch Trachtenberg 1943). Das Bild des ‚abgrundtief bösen Juden‘ zieht sich fortan ohne Unterbrechung durch die Geschichte und findet in den gegen Israel gerichteten Teufelsmetaphern seinen zeitgemäßen Ausdruck. „Ihr seid der Teufel! “ (E-Mail an die israelische Botschaft 2014). Im Internet 2.0 gehören seit Jahren die sprachlichen Verteufelungen zu den häufigsten Antisemitismen. Machen wir uns klar, dass die ersten Jünger und Anhänger von Jesus gläubige Juden waren und in keiner Weise vorhatten, Judentum und Christentum aufzuspalten. Es waren Juden, die glaubten, Jesus sei der jüdische Messias. Doch auch Paulus, der das Judentum gar nicht prinzipiell verdammen will, wirft eine Pejorativ-Vokabel ein, die bis zum heutigen Tag das Bild von Juden prägt. Juden als ‚Die Feinde‘, nicht als Feinde einer bestimmten Gruppe, sondern als die Feinde der Menschheit: „…- von den Juden. Diese haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen“ (Paulus, Thessaloniker-Brief 2,15). Wenn auch Paulus Rhetorik vor allem im religiösen Bekehrungskontext und nicht als Judenhass gesehen werden muss, so legt er doch mit seiner Forderung, sich nicht mehr an die jüdischen Gesetze zu halten und seiner Menschenfeinde-Konstruktion ein weiteres wichtiges Mosaikstück zur Absonderung. „Israel - der wahre Menschenfeind.“ Die angepasste Parole wird heute u.- a. zur Dämonisierung des jüdischen Staates mit Plakaten auf die Straße getragen (s. Schwarz-Friesel 2019: 35, Weiß 2021). Durch Marcion kam es zwischen dem ersten und 50 zweiten Jahrhundert zu der Forderung, Christentum und Judentum strikt voneinander abzugrenzen. In seiner Theologie wird der „gute Gott“, wie er von Jesus verkündigt wurde, von einem „bösen Gott“ der Juden unterschieden. Das Judentum wird als überholte Religion betrachtet, die keine Existenzberechtigung mehr hat. Beim Kirchenlehrer Justin (ebenfalls 2. Jhd.) findet sich die Aussage, die Christen und nicht die Juden seien das „wahre Israel“ („Verus Israel“). Der früh-christliche Bischof und Kirchengelehrte Ambrosius (4. Jhd.) findet verständnisvolle Worte für das Niederbrennen von Synagogen, da „Gott selbst diese Orte des Unglaubens verdammt hat“. Derselbe Ambrosius wird auch noch nach dem Holocaust in den Katechismen der katholischen Kirche als beispielhaft für den wahren Glauben zitiert. Gregor von Nyssa (oder „der heilige Gregor“), Verteidiger des Glaubensbekenntnisses, knüpft in seinen Polemiken gegen die Juden ein Pejorativum an das andere: Sie sind ihm zufolge nicht nur „Gottes Mörder“, sondern auch „Advokaten des Teufels, Dämonen, Schlangenbrut, Verleumder, Zerstörer, durch und durch böse Hasser des Guten“. Luther wird diese aufzählende Abwertungsrhetorik tausend Jahre später in seinem Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ stilistisch perfektionieren: „Ein solch verzweiffelt durchböset durchgifftet durchteuffelt ding ists vm diese Jüden so diese 1400. Jar vnser plage Pestilenz vnd alles unglück gewest vnd noch sind.“ In früher Täter-Opfer-Umkehr werden Juden fortan als die aktiven Feinde und Schädlinge der Christen perspektiviert. Einen entscheidenden Einfluss auf das Gegen-die-Juden-Denken-und-Fühlen hat vor allem der als Kirchenvater viel zitierte und gerühmte Schriftgelehrte Augustinus (von Hippo) der zeit seines Lebens die Juden mit Verachtung bedachte und die frühen anti-judaistischen Stereotype der ersten Jahrhunderte durch seine Predigten und Kirchenphilosophien verfestigte: Auch er bezeichnet Juden als Instrument des Teufels. In Gegen die Juden beschuldigt er sie nicht nur, wie seine christlichen Vorschreiber des Gottesmordes, sondern beschimpft sie auch als 51 bösartig und grausam (bringt also charakterliche Wesenszüge ins Spiel), in seinen Vorträgen über das Johannesevangelium entwertet er sie durch Dehumanisierungsmetaphern, nennt sie Wölfe und Schmutz, charakterisiert sie als schmutzige und triefäugige Sünder. Zugleich bringt er eine bedeutende Dimension in die Westkirche, die den Hass einer Bevölkerung, die bei Unglücken und Seuchen einen Sündenbock zerstören und morden will, noch weiter anstacheln wird: Juden seien zwar zu verachten und niedrig zu halten, aber man solle sie nicht töten, da sie Zeugen für die Existenz Jesu Christi seien. Entsprechend verurteilten viele Bischöfe und auch Päpste in den folgenden Jahrhunderten den Mord an jüdischen Bevölkerungsteilen, hießen es aber gut, ihre Güter einzuziehen und sie zu stigmatisieren. Noch weit über tausend Jahre später greift z.-B. der stets als brillant bezeichnete Gelehrte und Mathematiker Blaise Pascal (1670), der sich auch auf die judenfeindlichen Stellen im Johannesevangelium sowie den Thessaloniker-Brief von Paulus bezieht, diese Auffassung von Augustinus explizit auf und erklärt, dass das Weiterbestehen und das berechtigte Unglück von Juden wichtig und richtig seien. Evangelikale Christen beten bis heute für die „Einsicht und Bekehrung“ jüdischer Menschen. Auf der Bergfestung Massada in der judäischen Wüste, dem Nationalsymbol Israels für jüdischen Widerstand gegen Fremdherrschaft, erlebte ich vor einigen Jahren mit eigenen Augen, wie eine Gruppe von amerikanischen Fundamental-Christen eine entsprechend gestaltete Messe abhielt. Durch die vielen E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland der letzten Jahrzehnte zieht sich der Bekehrungswunsch implizit wie ein roter Faden (s. hierzu das Beispiel unter dem Kapiteltitel). Trotz Aufklärung und Religionsvielfalt, trotz Toleranzbestrebungen ist das intolerante Bewusstsein, Christentum sei besser als Judentum, in der kulturellen und religiösen DNA vieler Menschen noch eingewurzelt. Die sprachlichen Abwertungssummationen der frühen Christengelehrten sind klar erkennbar Vorläufer des heutigen Verbal- 52 Antisemitismus, der sich dadurch auszeichnet, dass möglichst viele Stereotypkodierungen in den Äußerungen aneinandergereiht werden, um Juden besonders intensiv zu verdammen. Sie liefern die Elementar-Bestandteile des geistigen Gifts über die Ur-Rhetorik des Judenhasses. Und die Antisemiten 2.0 greifen auch heute auf die damals etablierte Semantik zurück. So sind viele Schreiben an den Zentralrat und an die israelische Botschaft sowie die Kommentare in den sozialen Medien kaum anders als die wüsten Injurien vor über 1.800 Jahren: „Haut doch ab aus Deutschland und vermodert in eurem Kontergangebilde, genannt Israel.“ oder „Ihr seid abgrundtief Böse und wollt unsere Welt zerstören“ oder „Mit Jesus hat es angefangen und seitdem überzieht ihr die Welt mit Hass und Kriegen“, „Teufel ihr Pack! Ihr seid doch die niederste Rasse die Gott auf diese Welt losgelassen hat. Christus-Moerder war nur der Anfang.“ (Auswahl von E-Mail-Texten, die an den Zentralrat der Juden in Deutschland gesendet wurden). Der Geist des klassischen Anti-Judaismus ist keineswegs zurückgedrängt, sondern er atmet weiter und vergiftet auch nach so vielen Jahrhunderten die Kommunikation. Das Gift: Es denkt, es fühlt, es spricht. Von der Gottesmordbeschuldigung - als Legende der jüdischen Kollektivschuld am Tode Jesu - löste sich die Kirche institutionell und offiziell erst durch das zweite vatikanische Konzil 1965. Fanatische Christenverbände erkennen diesen Beschluss bis heute nicht an. Und auch die orthodoxe Ostkirche verwendet zum Teil in den Texten ihrer Nachtgottesdienste (den Orthros) weiterhin Ausdrücke von „den Mördern Gottes, der gesetzlosen Nation der Juden“. Wundert es dann, wenn auch in den Briefen und E-Mails, die den Zentralrat der Juden erreichen, immer wieder auch dieser explizit als „Bande von Gottesmördern“ beschimpft oder implizit in rhetorischen Fragen wie „Was Ihr Volk mit Jesus gemacht hat, wissen Sie ja wohl? “ beschuldigt wird. Oft wird dabei der religiöse Anti-Judaismus mit israelbezogenem Antisemitismus verknüpft wie in dem Beispiel von 2006 unter dem Titel des Kapitels. 53 Warum war die Rhetorik der frühchristlichen Gelehrten so total und absolut, warum so gnadenlos in ihrer Radikalität? Zum einen, weil die Akzeptanz der Juden und ihres Glaubens (in dem Jesus nicht als Messias anerkannt wird) bedeutet hätte, den Zweifel am eigenen Glauben zumindest hypothetisch zuzulassen, denn die prinzipielle Berechtigung der Existenz jüdischen Lebens umfasste ja die Möglichkeit, Jesus unter Umständen nicht als Gottes Sohn zu sehen. Dieser prinzipielle Zweifel jedoch musste unter allen Umständen verhindert werden. Der Anspruch war total, also war auch die Verdammnis total. Um sich als die einzige, die wahre, die unantastbare Religion etablieren zu können, musste die Ursprungsreligion des Judentums komplett negiert werden. Diese Negation führte in Folge zu einem radikalen Gegenentwurf menschlicher Ethik und einer neuen Werteeinteilung von Gut und Böse. Juden sind nicht nur die Anderen in diesem Weltgefüge, sie sind die ‚Die-aus-der-akzeptierten-Realität-hinausfallen‘. Im frühchristlichen Wertesystem sind sie der Gegenwert, bilden ex negativo die Kategorie der absoluten Opposition. Zum anderen hatte die frühe christliche Kirche in den ersten Jahrhunderten ihres Aufstiegs noch erheblich mit Widerständen der sogenannten heidnischen Welt zu kämpfen. Es erwies sich für die innere Gemeinschaft als stabilisierend, einen Feind bzw. ein Feindbild zu schaffen, das der eigenen Identitätsetablierung und dem religiösen Hoheitsanspruch nützlich war. Insbesondere dies, weil zwischen Synagoge und Kirche ein Konkurrenzkampf bestand, der vor allem von frühchristlicher Seite verbal radikalisiert betrieben wurde (s. u.- a. Simon 1996). „Sprache definiert und verdammt den Feind nicht nur, sie erzeugt ihn auch; und dieses Erzeugnis stellt nicht den Feind dar, wie er wirklich ist, sondern vielmehr, wie er sein muß, um seine Funktion-… zu erfüllen.“ schrieb Herbert Marcuse. Besser kann man es nicht beschreiben. So brachte die Sprache den Judenhass in die Welt. „Am Anfang war das Wort“: Die Texte der „Kirchenväter“ bauen mit der Weltenerschafferin Sprache die 54 neue Welt Christentum auf und zerstören dabei zugleich metaphysisch mit der Sprache als Menschenzerstörerin die Akzeptanz der Welt des Judentums. Der Wiener Bibelforscher Hans Förster hat diese Wende 2020 treffend als „Statt Verheißung: Volk unter Fluch“ tituliert. Ohne Sprache gäbe es also nicht die Judenfeindschaft in ihrem kulturellen Ausmaß. Denn die Sprache brachte den Hass auf Juden erst als geistiges Konstrukt hervor, trug ihn weiter, reicherte ihn durch Stereotype an, intoxikierte ihn emotional und wiederholte ihn von Generation zu Generation in zeitgemäßen Anpassungen. Schon die anti-judaistischen Primärquellen zeigen sehr deutlich ein Merkmal aller Formen der Judenfeindschaft: das abstrakte Denken jenseits aller Realität (s. hierzu Schwarz-Friesel 2019). Es sind schon damals nicht konkrete Juden, auf die der Hass niedergeht, sondern das abstrakte Konzept ‚Jude‘. Mit allen intensiven Negativ-Gefühlen, zu denen Menschen fähig sind, wird das Phantasma ‚des Juden‘ errichtet, ein Fabelwesen, ein Fantasiekonstrukt entsteht, das im Laufe der Zeit den Status „real“ erhält. Der Aufstieg der Weltmacht Christentum und der Beginn der abendländischen Kultur ist der Anfang der sozialen Vertreibung und Stigmatisierung der Juden aus der abendländisch geprägten Gesellschaft. Im Orient verläuft es nicht wesentlich anders, wenn auch muslimische Herrscher Juden oft ungestört leben lassen. Der sich seit dem achten Jahrhundert ausbreitende Islam erhebt aber ebenfalls den absoluten Anspruch auf die einzige wahre Religion und grenzt entsprechend Vertreter anderer Religionen als Ungläubige aus. Wohl ist Mohammed am Anfang um einen interreligiösen Dialog bemüht und bringt im ältesten Teil des Korans Respekt gegenüber Juden und Christen zum Ausdruck (so der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi), doch durch politische Auseinandersetzungen kommen dann die bekannten antijüdischen Textstellen, in denen Juden als Affen und Schweine verunglimpft werden. Und sie erhalten als Andersgläubige auch eine andere rechtliche und soziale Stellung zugesprochen. Verbale Muster 55 der christlichen Judenfeindschaft zeigen sich hierbei allerdings nicht erst, wie oft zu lesen ist, ab dem 19.-Jahrhundert. Nirenbergs Quellenanalysen belegen zumindest schon für das mittelalterliche Spanien, wie Muslime in ihren Schriften Motive des christlichen Judenhasses aufgreifen. Jedenfalls ist es gänzlich falsch, den aktuellen Antisemitismus in der islamischen Welt ausschließlich als Reaktion auf den Nahostkonflikt zu bewerten. Seine Wurzeln gehen viel weiter zurück in der Geschichte. Den glühenden Hass, die totale Verdammungsrhetorik sowie die Verschwörungsfantasien, die sich heute im muslimischen Antisemitismus 2.0 im Internet und auf den Straßen zeigen, übernahmen Muslime vom klassischen Anti-Judaismus des christlich geprägten Westens flächendeckend ab dem 19.- Jahrhundert und greifen ihn in der NS-Zeit radikalisiert auf (s. hierzu auch die Analysen des Politikwissenschaftlers Matthias Küntzel 2019). Dieser kulturelle eingewurzelte Hass des Westens bildete am Ende über zweitausend Jahre später die Basis für die zweite Katastrophe in der jüdischen Existenz, die Shoah. Wer die Genese des Judenhasses und seinen langen Atem verstehen will, muss also weit zurück blicken in die Zeit, als das frühe Christentum sich von seiner Mutterreligion abkoppelte und alles tat, sich als die wahre Religion zu etablieren. Es ist ein Konkurrenzkampf, der zwei Jahrtausende Elend und Unglück über das jüdische Volk brachte - und eine Verdammnis, unter der Jüdinnen und Juden bis heute zu leiden haben. Zieht man in Betracht, dass die Institution der christlichen Kirche mit ihren Lehren und dem „neuen Testament“ als wichtigste gesellschaftliche und ideologische Kraft über 1.800 Jahre hinweg maßgeblichen Einfluss auf alle Sphären des Lebens, alle sozialen, kulturellen und politischen Strukturen und Prozesse nahm, alle literarischen und bildenden Kunstformen dominierte, die jeweiligen Herrschaftsstrukturen begleitete oder formte (und bis heute in weiten Teilen der Gesellschaft als Faktor wirkt), ist es nicht verwunderlich, dass das von ihr etablierte und 56 gepflegte Feindbild bzw. Gegenbild ‚Jude‘ trotz aller historischen Veränderungen die Jahrhunderte überlebte. Und wenn auch längst im Zuge der Säkularisierung die ursprünglich religiöse Dimension nicht mehr im Vordergrund steht, so basieren doch alle modernen Varianten der Judenfeindschaft auf den Mustern, die seinerzeit konstruiert wurden. Warum werden die Aufarbeitung und Dokumentation des alten Anti-Judaismus in der Gesellschaft so zögerlich und halbherzig betrieben? Weil das frühe Christentum, das stets gepriesene Abendland keine gute Rolle dabei spielt? Weil klar wird, was in unzähligen Forschungsarbeiten aus der Geschichte rekonstruiert wurde: Dass Judenhass eine unikale kulturelle Kategorie ist, die eine absolute und totale Verdammnis und Erlösungsfantasie etablierte, die letztlich in der Ermordung von sechs Millionen Juden mündete? Dass nicht nur verblendete Nazis, sondern auch eine dafür vor langer Zeit vorbereitete Welt verantwortlich war für die Shoah? Warum nicht endlich in Bezug auf Judenhass auch in breiter Öffentlichkeit und Pädagogik die tiefschwarze Seite der westlichen Geschichte kritisch reflektieren? Sonst bleibt nicht nur bei Kindern und Jugendlichen im Geschichtsunterricht immer eine Leerstelle hinsichtlich der Kausalität und Genese bestehen, wird sich nie die Diagnose für eine wirkungsvolle Therapie durchsetzen. Denn nur so kann man klar machen, was Judenhass wirklich und essenziell ist, dass Antisemitismus eben nicht mit Rassismus gleichgesetzt werden kann. Dieser entstand im 19.- Jahrhundert zunächst, um andere Ethnien von der „überlegenen weißen Rasse“ abzugrenzen. Juden wurden erst später subsumiert, weil der rassistische Ansatz eine opportune und höchst willkommene Möglichkeit bot, den alten Judenhass als „moderne Wissenschaft von den Rassenunterschieden“ zu verbrämen. Wenn heute immer wieder aufs Neue in Diskussionen zum Antisemitismus gefragt wird „Warum“, „Woher“, „Weshalb“, dann zeigt dies auch die bis heute mangelnde Bereitschaft der Kirche anzu- 57 erkennen und in die breite Öffentlichkeit zu kommunizieren, dass der Judenhass aus ihrem Schoß kroch. Das bleibt die Verantwortung der christlichen Kirche, die bis ins 20.-Jahrhundert (und sogar unmittelbar nach den Schrecken der Shoah) noch am Konzept des zu verachtenden Volkes und des Gottesmörder-Topos festhielt. Bis heute leugnen manche Christen hartnäckig und mit vielen Verbiegungen ihrer Geschichte die Verantwortung: „von Hass gegen die Juden erfüllt war das Christentum nicht“ schreibt 2020 etwa ein Autor auf katholisch.de und fabuliert, dass die Loslösungen von den jüdischen Traditionen „nicht reibungslos“ verliefen. Noch euphemistischer geht es kaum. Auch die beim IV. Laterankonzil 1215 erlassenen Vorschriften zur Kenntlichmachung der Juden durch besondere Kleidung oder Abzeichen werden als „theologisch-und nicht als diskriminierend“ bewertet. Jenseits der Kirche sieht dieser Autor: „Es gab im Volk weiterhin massive kulturelle Vorbehalte gegen Juden.“ Dass diese „Vorbehalte“ von Menschen, die in der Regel weder schreiben noch lesen konnten, von den Kanzeln der Kirchen herab gepredigt wurden, findet keine Erwähnung. Die Leugnung der historischen Verantwortung für Judenhass gipfelt bei ihm in der De-Realisierung: „Die Kirche steht dem Judentum von Beginn an skeptisch, aber keineswegs feindselig gegenüber.“ Geschichtsrevisionistische Abwehr und Marginalisierung zeigen sich auch in den Reaktionen von Geistlichen, die mir in den letzten Jahren geschrieben haben, wenn ich in einem Vortrag oder Interview über die Rolle des christlichen Anti-Judaismus gesprochen hatte: Sie bedauern mit einem kurzen Satz „missverständliche Textstellen“ und bitten mich dann, „doch einmal stärker auf die Christen einzugehen, die in der NS-Zeit Juden gerettet hätten“. Dass nationalsozialistische Verbrecher mit Hilfe der Kirche nach 1945 außer Landes kommen und sich ihrer Verantwortung entziehen konnten, wird dabei nicht erwähnt. Kritische Aufarbeitung sieht anders aus (s. hierzu auch Wiese 2019, Paul 2020 und Töllner 2022). Nicht unerwähnt bleiben darf allerdings, dass sich viele Christen 58 in der Bevölkerung schämen für das, was im Namen ihrer Religion Juden angetan wurde. Sie bemühen sich ernsthaft und sehr engagiert um Kommunikation und Koordination auf Augenhöhe. Bis heute fallen Vertreter beider christlicher Kirchen aber auch durch eine Rhetorik und Argumentation auf, die klar vom alten Feindbild geprägt ist: Seien es unverhältnismäßige NS-Vergleiche mit Täter-Opfer-Umkehr (vgl. Kap.- 15) oder die traditionell zur Weihnachtszeit erscheinenden Anschuldigungen, die Existenz der christlichen Gemeinden in Israel sei von Juden bedroht. Es gebe „häufige und anhaltende Angriffe“ auf „Christen im gesamten Heiligen Land“, hieß es zuletzt wieder 2021. Eine Tatsachenverdrehung: Die christlichen Gemeinden sind in Israel gewachsen, haben alle Rechte und Freiheiten, und die Mehrheit der regelmäßig Befragten ist mit ihrem Leben dort zufrieden. Desmond Tutu, Bischof, Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist, der sich eindrucksvoll gegen Rassismus in Südafrika engagierte, attackierte zu Lebzeiten wiederholt nicht nur den jüdischen Staat mit diffamierenden Vokabeln wie Apartheidstaat, unterstützte die israelfeindliche BDS und hatte verständnisvolle Worte für die radikal-islamistische Hamas, marginalisierte den Tod in den Gaskammern im Vergleich mit Apartheid, und er beschuldigte auch kollektiv „die Juden“ und „die jüdische Lobby“, sie seien arrogant, mächtig und angsterregend, kodierte antisemitische Stereotype: „Whether Jews like it or not, they are a peculiar people. They can’t ever hope to be judged by the same standards which are used for other people.“ In einem „offenen BRIEF an den Deutschen Evangelischen Kirchentag 2015“ mit dem Thema Palästina schreibt er in Bezug auf Israel „Diejenigen, die die Macht haben, unmenschliche Akte zu begehen, beschädigen zutiefst ihre eigene Menschlichkeit“. Mit dem Hinweis „Ergriff der Prophet Elia nicht Partei für Naboth gegen Ahab, den König Israels, als dieser sein Land stahl? “ kodiert er das Landräuberstereotyp, behauptet „BDS hat nichts mit Antisemitismus zu tun“, ruft Christen in Deutschland zum 59 Boykott israelischer Waren auf und bittet um besondere Beachtung des Kairo-Palästina-Papiers. Dieser Text setzt im Duktus der frühchristlichen Ablösungstheologie („Verus Israel“ ist demnach die christliche Kirche und nicht das jüdische Volk) die christliche Lehre als die neue, wahre Botschaft und weist Israel im Nahostkonflikt einseitig die alleinige Schuld zu. Der „Menschenfreund und Feind aller Unterdrückten“, der „moralische Titan“ (so Barack Obama) Tutu blieb tief verwurzelt im anti-judaistischen Denken und Sprechen. Geschadet hat dies ihm und seinem weltweiten Ansehen nicht. Und kritisiert wurde er ausschließlich von den Opfern seiner dämonisierenden Verbal-Attacken: Juden. Im Zuge der Debatte um die judenfeindlichen Textstellen des Post-Kolonial-Wissenschaftlers Achille Mbembe kam es u.- a. zu der Aussage, man habe „keine antisemitischen Stereotype finden können“ - „wenngleich er aufgrund seiner spezifischen christlichen Erziehung gelegentlich anti-judaistische Floskeln bemüht.“ Dass damit der toxischen Ursubstanz aller Formen des Antisemitismus, dem christlichen Anti-Judaismus, die Absolution erteilt wird, war den Autoren dieser Zeilen wohl nicht einmal bewusst. 20 Jahrhunderte Verfolgung, Elend und Pein, sechs Millionen ermordete Menschen - und kein Bewusstsein für die Gefahren der alten Rhetorik des Hasses? Wie soll ein weitreichendes Umdenken und Aufarbeiten stattfinden, wenn man nur auf die Springerstiefel- Antisemiten schaut, Bischöfen, Nobelpreisträgern und Gelehrten aber alles durchgehen lässt? 61 5 Gebildete und aufgeklärte Judenfeindschaft Das Ressentiment auf hohem Niveau, historisch keine Ausnahme, sondern die Regel Bildung und liberale Gesinnung sind kein Garant gegen das judenfeindliche Ressentiment. Es sind nämlich keineswegs nur die Ungebildeten, die Anti-Demokraten und Anti-Modernen, die das judenfeindliche Ressentiment pflegen und kommunizieren. Auch Akademiker und Denker mit moderner Anschauung kommunizieren judenfeindliche Äußerungen, auch die Renommierten und Scharfsinnigen, und diejenigen, die Großes geleistet haben, können sich verbal vergreifen. Das ist dann besonders tückisch, weil diese Personen für viele Menschen Vorbildcharakter haben. Sieht man ihnen die Antisemitismen nach, setzt man das brisante Signal in die Gesamtgesellschaft, diese Rhetorik sei nicht wirklich schlimm bei ansonsten integren und nicht-radikalen Menschen. Doch genau die nicht-radikalen Kräfte haben die Judenfeindschaft über die Generationen getragen, sie salonfähig gehalten. Judenfeindschaft ist eben nicht nur der Hass der Radikalen und Ewiggestrigen, der Demokratiefeinde. Auch sensible und kluge und ansonsten tolerante Menschen waren und sind nicht davor gefeit. Die Geschichte belegt es überdeutlich, man muss es nur sehen wollen: Gebildeter Antisemitismus ist nicht etwa die Ausnahme in der europäischen Religions-, Geistes- und Kulturgeschichte gewesen, sondern durchaus die Regel. Er zieht sich mit seinen Schlagwörtern, Floskeln und Topoi wie ein roter Faden durch die Weltliteratur, beherrscht weite Teile der Philosophie und der Wissenschaft. Der Aufklärer und Rationalist Voltaire mit seiner 62 vernunftorientierten Religionskritik, der die christlichen Motive der Judenverfolgung zurückwies und sich für allumfassende Toleranz aussprach, wiederholte in seinen Texten zugleich anti-judaistisch geprägte Stereotype. Im Dictionnaire philosophique nennt er Juden mehrfach „das abscheulichste Volk der Erde“ und befindet „Ich wäre nicht im Geringsten überrascht, wenn dieses Volk eines Tages tödlich für die menschliche Rasse werden würde“ (Voltaire 1761). Er greift dabei auch auf die ur-christliche Schmäh-Rhetorik zurück: „Kraft ihrer eigenen Gesetze, natürliche Feinde dieser Nationen und schließlich der Menschheit.“ Da ist sie, die grundlegende Verbalisierung - ungebrochen nach 1.700 Jahren: Juden als die „Feinde der Menschheit“. Ein Blick auf die Schriften der großen deutschen Philosophen des Idealismus, die sich der Wahrheitsfindung durch Denkvermögen verpflichteten, macht deutlich, dass selbst die radikalen Umwälzungen der Neuzeit diesen Glauben nicht ernsthaft erschüttern. Judentum wird auch hier als negativer Gegenentwurf zur eigenen Existenz gesehen. „Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken“ (Fichte 1793). Das alte auf Kontrast angelegte Denkmuster - es steckt auch in den Köpfen der geistigen Vor-Denker. Hegel, der bedeutendste Philosoph des Idealismus, zeichnet sich in seinen frühen Schriften durch besonders intensiven Judenhass und tiefe Verachtung des Judentums aus, die klar erkennbar auf dem Contra Judaeos-Konzept der frühen Kirche fußt: „sie sahen in Jesu nur den Menschen, den Nazarener, den Zimmermannssohn, …-so viel war er, mehr konnte er ja auch nicht sein, er war nur einer, wie sie, und sie selbst fühlten, daß sie Nichts waren. Am Haufen der Juden mußte sein Versuch scheitern, ihnen das Bewußtsein von etwas Göttlichem zu geben, denn der Glaube an 63 etwas Göttliches, an etwas Großes kann nicht im Kote wohnen“ (Hegel 1800). Nach über 1.700 Jahren der Diffamierung und Dämonisierung ist Judenfeindschaft so tief und so unerschütterlich in den abendländischen Denkstrukturen verwurzelt, dass selbst die Denker, die sich von der alten Kirchendoktrin lösen und den Weg für die Selbstbestimmung des Menschen ebnen, sich nicht davon lösen können. Es waren dann nachfolgend Professoren wie der Demokrat und als „Freiheitskämpfer“ bezeichnete Ernst Moritz Arndt, der Juden 1812 ein „verdorbenes und entartetes Volk“ nannte, vor „jüdischintellektuellen Verschwörungen“ und dem „Unheil und Pest unseres Volkes“ warnte. Oder der Philosophieprofessor Jakob Friedrich Fries, für den Juden 1816 „Blutsauger des Volkes“ und eine „Völkerkrankheit“ waren. Der liberale Paulskirchen-Abgeordnete Jacob Grimm, der sich für Freiheit und Gleichheit stark macht, findet für den jüdischen Sprachwissenschaftler Daniel Sanders nur giftige Metaphern der Entwertung (vgl. Kap. 9). Und die judenfeindlichen Verbal-Attacken, die der Berliner Geschichtsprofessor von Treitschke 1879 ins Bildungsbürgertum wirft, haben den modernen säkularen Judenhass wesentlich stärker beeinflusst als der Radau- Antisemitismus der Straße (vgl. Kap. 8, Juden und Deutsche). Die Antisemiten-Petition, die 1880 eingereicht wird, unterzeichnen ca. 19-% der deutschen Studierenden. Oft waren Universitäten in Europa Vorreiter judenfeindlicher Diskriminierung. Im frühen 20.-Jahrhundert, besonders zwischen den Weltkriegen, sind anti-jüdische Maßnahmen und auch physische Gewalt Normalität an den Universitäten. Sei es ein Numerus Clausus für jüdische Studierende in Ungarn, die Be- und Verhinderung von Habilitationen und Berufungen jüdischer Wissenschaftler in Wien, Beleidigungen und Ausgrenzungen durch Schwarzhemd-Gruppen in Italien, antisemitische Umtriebe studentischer Verbindungen in Polen, Karrierebehinderung jüdischer 64 Professoren in Deutschland (s. hierzu auch Fritz et al. 2016). 1933 waren die deutschen Universitäten unter den ersten Institutionen, die die jüdischen Professoren und Kommilitonen schikanierten und vertrieben. In kürzester Zeit wurde dafür gesorgt, dass die Universitäten als „judenrein“ galten. Das Universitätspersonal war entweder begeistert-aktiv an der Diskriminierung beteiligt oder blickte desinteressiert zur Seite. Studentische Widerstandsbewegungen wie die „weiße Rose“ an der Universität München waren die Ausnahme. Universitären Antisemitismus findet man heute als „Campus- Antisemitismus“ weltweit vor allem in der anti-israelischen Variante, die alle Kennzeichen des alten Judenhasses im neuen Gewand trägt. In Berkeley entdeckte man 2016 das Graffiti „Zionists should be sent to the gas chamber“, an Wänden und Bürgersteigen Sprüche wie „Death to Israel“ und „Kill all the Jews.“- Es sind besonders liberale und linke Universitäten in den USA, an denen solche Hasssprache gegen Juden auffällig wird. Während viele Studierende und Dozierende beim Sprachgebrauch strikt auf die Einhaltung der Rechte und Gefühle von Minoritäten pochen, haben sie kein Problem damit, Verbal-Antisemitismen zur Dämonisierung Israels zu artikulieren. Auch an deutschen Universitäten gibt es immer wieder Antisemitismen, sei es in Chatgruppen von Studierenden, die den Holocaust relativieren oder anti-jüdische Witze verbreiten, sei es in Verbal-Attacken wie „zionistische Kriegstreiber“ und „israelische Faschisten“ gegenüber israelischen Austauschstudierenden, sei es in Form von Dozierendenbeiträgen, die israelbezogenen Antisemitismus verbreiten. Und auch im Akademiesowie Kulturbetrieb gibt es eine ausgeprägte linke Szene, die die Virulenz des Israelhasses herunterspielt, antizionistische und israelbezogene Schmährede als „Wissenschafts- und Meinungsfreiheit“ ausgibt und zugleich das antisemitische Klischee vom „Kritiktabu“ und „Meinungsdiktat“ bedient. So werden toxische Inhalte schönfärberisch verkleidet, aber letztlich kommt durch die Rhetorik immer 65 wieder nur das alte Ressentiment zum Vorschein. Nicht der vulgär-aggressive Affekthass der Ecken und Nischen ist für die Gesellschaft das größte Problem: Es war und ist der alltagstaugliche, der eloquente und „schöngeistige“ Verbal-Antisemitismus, der die intensivste Breiten- und Tiefenwirkung hat. 67 6 Judenfeindliche Topoi als Stilmittel Die schöngeistige Literatur und das Phantasma im Phantasma „Ein grässlicher Jude-… stand am Eingang-… Er hatte fettige Ringellocken, und ein riesiger Diamant glitzerte auf der Mitte seines schmutzigen Hemdes“ (Oskar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray) „…- von irgendwoher sind die Juden gekommen und raffen das Geld zusammen.“ (Fjodor Dostojewski, Schuld und Sühne) Sie werden seit über einhundert Jahren millionenfach in der Welt gelesen und gehören zum Bildungskanon der westlichen Gesellschaften: Die Romane von bekannten Autoren wie Charles Dickens, Oscar Wilde, Fjodor Dostojewski, aber auch die Märchen der Gebrüder Grimm, um nur einige besonders bekannte Vertreter zu nennen. Judenfeindliche Motive durchziehen wie rote Fäden auch diese Werke und haben geistige Wurzeln geschlagen, indem sie das judenfeindliche Gedankengut über gängige Topoi mit viel Gefühlspoetik verbreiteten. Bilder von Juden als „herzlose, kalte Geschäftsleute“ oder „zersetzende teuflische Intellektuelle“ finden sich in den im 19.- Jahrhundert viel gelesenen Romanen der an sich liberal gesinnten Autoren Gustav Freytag mit Soll und Haben (1855) und Wilhelm Raabe Der Hungerpastor (1864). Sie stehen den Protagonisten in Aussehen und Moral antonymisch gegenüber. „Rührend war die ehrfurchtsvolle Scheu, welche Hans-… wahrhaft diabolisch aber war die Art und Weise, in welcher Mose-… diesem Glauben an die Autorität ein Bein zu stellen suchte.“ heißt es bei Raabe. An einer späteren Stelle wird Moses als „schlüpfrige, ewig wechselnde Kreatur“ charakterisiert. Und auch der Jude Itzig Veitel bei Freytag wird dämonisierend dargestellt: „Es war das Gesicht 68 eines Teufels, …-rotes Haar stand borstig in die Höhe, Höllenangst und Bosheit saß in den hässlichen Zügen.“ Jüdisches Geschäftsleben wird metaphorisch als einflussreiche, unheimliche und unmenschliche Größe gezeichnet: „…-und in dem Viereck-… windet sich aalglatt der jüdische Faktor hindurch“. Auch die jüdischen Randfiguren erhalten negative Zuschreibungen: So wird das Haus von Ehrenthal als „charakterlos“ bezeichnet und mit einer „alten Zigeunerin“ verglichen. In beiden Romanen wird „das Undeutsche“ der jüdischen Personen herausgestellt, das Jiddische nachgeahmt und deren „fremdländisches Aussehen“ betont. In Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray werden jüdische Randfiguren ausschließlich negativ mit den einschlägigen Stereotyp-Attributen ‚Schmutzig, Schmierig, Geschmacklos-Neureich‘ repräsentiert. Im englischsprachigen Oliver Twist von Charles Dickens finden sich die Rollen der Bösewichte in der Text-Welt durch Juden besetzt. Und sie werden dabei stets mit Schmutz und Hässlichkeit assoziiert: „Fagin klingelte, und es erschien ein anderer Jude, jünger als er, aber ebenso hässlich.“ Über 200 Mal weist Dickens darauf hin, dass Fagin, der Hehler und Boss einer Diebesbande ‚der Jude‘ ist. Und er lässt kaum ein antisemitisches Klischee aus. Der Jewish Chronicle schreibt daher 1854, dass „nur die Juden ausgeschlossen vom sympathisierenden Herzen dieses großen Autors und kraftvollen Freundes der Unterdrückten“ seien. Beim großen Humanisten Dostojewski sehr ähnlich: Juden kommen bei ihm als Spekulanten und Gauner, als ausnahmslos hässliche Menschen vor. Die Gefühlswelten des literarischen Antisemitismus im 19.- Jahrhundert, sie lassen kaum Interpretationsspielraum: Die Rolle des Bösen im Narrativ, die ist jüdisch besetzt. Gerade Romane erzeugen über figurenbezogene Charakterisierungen entweder Empathie und Identifikation beim Leser, andere Ekel, Zorn und Wut oder Verachtung. Beim literarischen Antisemitismus vermittelt das fiktive Textweltmodell Bilder, in denen Juden und Judentum das Antagonistische verkörpern (s. hierzu auch Süselbeck 2018 und 2021). Das 69 uralte Weltdeutungsmuster wird somit Erzählstruktur - quasi das Phantasma im Phantasma. Dadurch erhielt das ohnehin im Alltagsleben des 19.-Jahrhunderts weit verbreitete Gift antisemitischer Gefühle zusätzliche Nahrung. In den viel gelesenen Grimms Märchen endet das extrem judenfeindliche Märchen Der Jude im Dorn mit der „gerechten Strafe“ für den „jüdischen Spitzbuben“: „Da ließ der Richter den Juden zum Galgen führen und als einen Dieb aufhängen.“ In dem gesamten Text wird der ‚jüdische Schurke‘ namenlos, nur als „der Jude“, und damit stellvertretend für die Gruppe bezeichnet. Die berühmte Sammlung deutscher Volksliedtexte Des Knaben Wunderhorn der Romantiker Achim von Arnim und Clemens von Brentano enthält Liedtexte, in denen die Juden als Frevler oder Hostienschänder dargestellt werden (s. Die Juden von Passau). Der allseits beliebte und mit seinen humorigen Sprüchen viel zitierte Wilhelm Busch versetzte antisemitische Seitenhiebe, z.- B. im Spottgedicht Plisch und Plum „So ist Schmulchen Schievelbeiner. (Schöner ist doch unsereiner! )“ und noch wesentlich stärker 1872, die klassischen Stereotype des ‚äußerlich wie innerlich hässlichen Juden‘ bedienend in Die fromme Helene, „Und der Jud mit krummer Ferse, krummer Nas’ und krummer Hos’ - schlängelt sich zur hohen Börse - tiefverderbt und seelenlos.“ Wilhelm Hauffs Novelle Jud Süß bedient das Klischee des ränkeschmiedenden, lügenden jüdischen Intriganten, obgleich der Autor selbst sich vom Judenhass distanziert, und auch seine publikumswirksamen Märchen enthalten immer wieder Klischees, vor allem „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat“, in dem ein ‚exemplarischer Jude‘ mit allen bekannten Stereotypen charakterisiert wird. Der höchst populäre bayrische Dichter Ludwig Thoma (Jozef Filsers Briefwexel, die Lausbubengeschichten), ursprünglich linksliberaler Satiriker, wütet in seinen letzten Schaffensjahren im Miesbacher Anzeiger- mit extremer Hasssprache gegen Juden. Dichtung und Autor-Einstellung gehen hierbei gleitend ineinander über. Ich könnte jetzt noch Bücher füllen mit 70 vielen weiteren Beispielen von anderen Autoren, aber die hier aufgeführten sollten als Einblick in die kulturelle Normalität des literarischen Antisemitismus genügen. Schmälert es die antisemitische Aussagekraft, darauf hinzuweisen, dass die Stereotype populär und dem Zeitgeist geschuldet waren? Dass Werk und Autor auseinandergehalten werden müssen? Wenn man die enorme Wirkung der Werke, ihren Beitrag zur alltagstauglichen Verbreitung judenfeindlicher Konzepte berücksichtigt, sicher nicht. Ganz gleich, ob es dem Zeitgeist oder dem Publikum geschuldete literarische Praxis, rhetorischer Habitus oder standardmäßig Stilmittel der Affektpoetik war: Die Werke trugen, ob beabsichtigt oder nicht, das negative Bild vom ‚Juden‘ in die Welt und festigten den ohnehin im Alltag kaum hinterfragten Antisemitismus. Soll man diese Bücher nun umschreiben und damit entgiften? Nein, denn es handelt sich um historische Zeugnisse, aus denen man ersehen und lernen kann, wie tief verankert Judenfeindschaft war. Kritische Kommentare im Vor- oder Nachwort sind sicher sinnvoll. Aber eine Cancel Culture der Textbeschneidungen: bitte nicht! Denn diese Werke mahnen uns, in der Gegenwart wachsam zu bleiben und dafür Sorge zu tragen, dass Judenhass nicht noch einmal Normalität wird. Verbale Giftspritzer in der Literatur gibt es auch heute noch, wenngleich in keiner Weise vergleichbar mit dem Ausmaß von damals. Einige prominent diskutierte Fälle sind Fassbinders Stück Die Stadt, der Müll und der Tod mit der antisemitischen Aussage- „Er saugt uns aus, der Jud, trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht, weil er Jud ist und wir die Schuld tragen“. Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers und Michael Endes Der Wunschpunsch mit dem „besonders scheußlichen Monster Bücher-Nörgele“, beides fiktive Abrechnungen mit dem nicht fiktiven Literaturkritiker Reich-Ranicki. In beiden Romanen werden implizit judenfeindliche Klischees bedient. Und Günter Grass, der in seinem Gedicht 71 Was gesagt werden muss wenig originell Plattitüden und Verschwörungsfantasien des israelbezogenen Antisemitismus klopfte. Das Stilmittel des Kontrastes ‚deutsch-versus-jüdisch‘ ist geblieben. Das sprachliche Echo der Vergangenheit, es schallt ab und an mit Gegenüberstellungen zu uns herüber. Etwa, wenn beim NDR 2015 ein Kommentar das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Musiker Kirill Petrenko und seinem Dirigentenkollegen Christian Thielemann so fasst, Thielemann sei mit Wagners nobler Wotan- Figur als „Experte deutschen Klanges“, Petrenko dagegen mit der Figur des Alberich, dem „winzigen Gnom, der jüdischen Karikatur“ zu sehen. Judenfeindliche Stereotype werden so medial als kulturelle Normalität quasi nebenbei kommuniziert. 73 7 Indirekte Sprechakte: Jemand sagt X, meint aber erkennbar Y Und warum die Fliege im Kaffee von allen sehr klar als Aufforderung und nicht als „Logik des Verdachts“ verstanden wird „Wahr ist nicht, was A sagt, sondern was B versteht.“ (Paul Watzlawick ) „Seit wann sind Soros und Rothschild Codewörter? “ (Frage einer Sängerin, die Verschwörungsfantasien mittels dieser Codewörter in einem Song verbreitete) Nicht nur explizite Formulierungen von Judenhass sind toxisch. Eine Äußerung kann auch ohne die Erwähnung der Wörter Jude, jüdisch, Judentum antisemitisches Gedankengut vermitteln, u.- a. durch stellvertretende Wörter, Anspielungen und Paraphrasen. Das geistige Gift steckt dann zwischen den Zeilen und kommt mit einer harmlos klingenden Ummantelung daher, beeinflusst aber das Bewusstsein genauso wie die explizite Hassrede. Und die Produzenten solcher Äußerungen können immer bequem leugnen, etwas Antisemitisches kundgetan zu haben. Dass judenfeindliche Einstellungen seit 1945 zu einem großen Teil verschleiert-chiffriert, also nicht explizit kommuniziert werden, ist von allen Disziplinen der Antisemitismusforschung bereits thematisiert worden. Bis 1945 war es gang und gäbe, sich offen antisemitisch zu artikulieren, doch in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg und der Shoah entstehen neue verbale Formen, die antisemitische Inhalte in der Öffentlichkeit indirekt verbreiten. Warum indirekt? Weil ein offener Judenhass von nun an verpönt ist, weil der Paragraf der Volksverhetzung zumindest einen kleinen radikalen Teil von Antisemitismen strafrechtlich sanktioniert und weil sich (insbesondere 74 gebildete und linksliberale) Personen im Post-Holocaust-Zeitalter nicht als Antisemiten bezeichnen lassen wollen. Je nach Ansatz werden diese indirekten Formen als Umweg- oder Camouflage- Kommunikation bezeichnet, als Codes, Chiffren-Sprache oder implizite Antisemitismen. Typen sprachlicher Camouflage und die Macht der konventionellen Allusionen In den letzten Jahrzehnten hat sich eine ganze kommunikative Subkultur impliziter Antisemitismen entwickelt und fest etabliert. Hierbei wird das Zusammenspiel von konventioneller Bedeutung, kotextueller (sprachinterner Umgebung des engen Umfelds der Äußerung) und kontextueller Information (situative Umgebung im weiten Sinne) sowie der Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, systematisch ausgenutzt. Allusionen sind ein uraltes Stilmittel, um durch indirekte Verweise und umschreibende Darstellungen auf Personen(gruppen) oder Sachverhalte in der Welt Bezug zu nehmen, wobei ein hoher Bekanntheitsgrad des Gemeinten vorausgesetzt wird. Antisemiten haben sich diese bewährte Technik einfach zu Nutzen gemacht. Zum Standardrepertoire gehören heute die folgenden Muster: • Substitutionen, die semantisch engere Termini benutzen, um auf das Kollektivkonzept ‚Juden‘ Bezug zu nehmen, z.-B. „Israel“, „Israelis“, „Zionisten“ oder „die Israel-Lobby“ (vgl. hierzu den Wahl-Slogan der Partei Die Rechte), wobei nach dem Pars-pro- Toto-Prinzip so kommuniziert wird, dass Juden auch weiterhin als Synonym für alles Unglück der Menschheit fungieren. Substitutionen finden auch als Akkumulation statt, wenn z.-B. die Nomina Zionisten, Israelis, Lobbyisten, Globalisten aneinandergereiht werden, um auf die übergeordnete Kategorie ‚Jude‘ zu verweisen. Häufig verwendet werden in Verschwörungsfantasien 75 Finanzoligarchie und Globalisten. Abwertend und im Duktus des alten Anti-Judaismus sind auch Pharisäer und Zeloten. Pharisäer waren vor 2.000 Jahren Schriftgelehrte und Prediger, die sich kritisch mit den alten jüdischen Texten beschäftigten und auf die Einhaltung ritueller Gesetze achteten. In der christlichen Bibel werden sie als Gegner von Jesus konzipiert (obgleich historische Studien nahelegen, dass Jesus selber ein Pharisäer war) und erhalten die negative Bewertung ‚Übereiferer‘ und ‚Heuchler‘. Bis heute hat das Wort umgangssprachlich diese abwertende Konnotation. Keineswegs finden sich solche Äußerungen nur im rechtsextremen oder populistischen antisemitischen Diskurs. Zuletzt benutzte der Post-Kolonialismus-Professor Achille Mbembe solche anti-judaistischen Ausdrücke. • Zur Substitutionstechnik gehört es auch, jüdische oder jüdisch klingende Namen in metonymischer Funktion zu benutzen: „Rothschild“, „Goldman Sachs“, „Soros“ beziehen sich dann auf alle Juden bzw. auf angebliche jüdische Herrschaftsstrukturen. „Ihr wettert alle gegen die ZIONISTEN\ROTHSCHILD/ GOLDMANSACHS! Aber wer von euch tut auch was aktiv gegen diese Hunde? “ heißt es z.-B. in einem Online-Kommentar. Die Nutzung von Homophonie zählt ebenfalls hierzu, also der Ersatz von gleichlautenden Wörtern, wenn z.-B. das englische Wort für Saft Juice benutzt wird, um Jews zu meinen, etwa in „Fuck the Juice“ oder „I hate Juice! “ (Twitter). • Vage gehaltene Paraphrasen wie „die Banker von der Ostküste“, „Ostküstenelite“ oder „Ostküstenclique“, „jene einflussreichen Kreise“, „zersetzende, mächtige Kräfte“, „globale Finanzoligarchie“, oder „die gewisse Religionsgemeinschaft in unserem Land“, „die unantastbaren Damen und Herren mit dem Stern“ und „die Lügenpresse gewisser Kreise“ werden genutzt, um das Stereotyp der geglaubten jüdischen Finanz- und Pressemacht sowie der angeblichen Weltbeherrschung auszudrücken. 76 • Es finden sich auch zahlreiche graphematische Verkürzungen und morphologische Adaptionen: Anstelle von „internationalem Finanzjudentum“ wird z.-B. in verschwörungsfantastischen Ko- und Kontexten „internationales Finanztum“ gesetzt, oder der Name Rothschild wird graphemisch geringfügig verändert wie in einem Lied von Xavier Naidoo als „Baron Totschild“, wobei ein Neologismus entsteht, und der Zusatz Baron keinen Zweifel lässt, wer Bezugspunkt der Nominalphrase ist. Oft erscheinen diese in doppelter Ausführung wie in dem Tweet „die korrupte Totschild ReGIERung“, wobei in dem Lexem Regierung durch das groß geschriebene Morphem Gier ein uraltes judenfeindliches Stereotyp kodiert wird. • Neologismen können durch Abkürzungen oder Verschmelzungen antisemitische Stereotype ausdrücken: „USrael, Israhell, Israhölle, JewFlew, holocaugh, Netanazi, Satanjahu, Aschkenazis, Zionazi“. Solche Kofferwörter verbinden Wortbestandteile aus zwei verschiedenen Lexemen, um sowohl eine drastische Abwertung (vor allem durch Morpheme aus dem Bereich der religiösen Verdammnis wie Hölle und Satan), als auch eine untrennbare Verbindung von Machtverhältnissen auszudrücken wie in USrael. Im Internet-Meme „A gas plant? We’ll call it Jewpiter.“ bezieht sich das Kofferwort homophon auf Jupiter und erhält seine „Pointe“ durch das Lexem gas. • Memes gehören als neue digitale Textsorte zu den Online-Neologismen komplexer Art, denn sie verbinden Text-Bild-Informationen mit intertextuellen Verweisen, also bekannten verbalen Versatzstücken. In dem Meme „Why did so many jews come to Auschwitz? The fare was free“, mit dem Bild Hitlers und einer lachenden Frau beim Kaffeetrinken, wird das Stereotyp des ,geldgierigen und geizigen Juden‘ aktiviert, der deshalb nach Auschwitz fuhr, weil die Zugfahrt umsonst war. Solche Memes sind nur schwer zu ertragen, denn sie machen sich auf eine Art 77 und Weise über das Leid in der Shoah lustig, die jenseits aller Gefühle von Anstand und Empathie sind. • Das Arrangieren von intertextuellen Versatzstücken und Sprichwörtern, oft aus der Bibel, die seit Jahrhunderten unmittelbar mit Juden und Judentum assoziiert werden, vermitteln implizit antisemitische Botschaften, wie „zionistisches Auge um Auge“, „das alttestamentarische Gesetz der Rache“, „die bekannte Rachsucht eines bestimmten Volkes“, „das Zahn-um-Zahn-Prinzip der Israelis“ oder der Verweis auf jiddische Wörter wie „diese ganze Mischpoke“ oder das „Mauschelvolk“. • Die Verknüpfung von Schlagwörtern und Topoi, die aus dem antisemitischen Diskurs bekannt und habitualisiert sind, z.- B. durch die Aneinanderreihung von Lexemen aus den semantischen Feldern Geld und Macht: „Lobbyisten, die Finanzlobby“, „Knete-Gruppe, internationale Finanzoligarchie, zersetzende, mächtige Kräfte im Hintergrund“, „Holocaust-GmbH- oder -Industrie, Kapitalmacht, gelenkte Geldströme“ usw. Das Akronym GmbH und das Wort Industrie aktiviert in solchen Zusammensetzungen die antisemitische Lesart der finanziellen Ausbeutung. • Metaphern werden ebenfalls oft so verwendet, dass zwingend eine judenfeindliche Lesart entsteht: Tier-, Krankheits- und Unratsmetaphern wie „Ratten, Heuschrecken, Parasiten, Bazillen, israelischer Unrat, Zionistengeschwür oder Pestbeule Israel“ werden seit langem benutzt, um Juden zu verteufeln und zu entmenschlichen; metaphorisch stehen die Marionettenspieler, Fäden- und Strippenzieher in Antisemitismen für ,jüdische Dunkelmänner‘. • Frequent und beliebt sind auch rhetorische Fragen wie „Wer verhindert denn in Deutschland Kritik an Israel? “ oder „Welche kleine, aber einflussreiche Gruppe setzt denn die Bundesregierung andauernd unter Druck und gibt in Bezug auf die Vergangenheit keine Ruhe? “, „Warum traut sich niemand, etwas gegen 78 Israel zu sagen? “. Diese implizieren dann, dass es ein Kritiktabu gebe, eine von jüdischen und israelischen Stimmungsmachern geleitete Unterdrückung freier Meinung und Kritik. Auch dies ist nichts Neues, denn schon Wilhelm Marr beklagte genau dies in seiner einflussreichen antisemitischen Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum im 19.-Jahrhundert. • Die Zitierung von antisemitischen oder antisemitisch klingenden Textstellen wird unterstützend herangezogen. Dann werden Jesus, Luther, Goethe, Adenauer oder andere bekannte Personen mit zumeist de-kontextualisierten, also aus dem ursprünglichen Kontext heraus gerissenen Äußerungen angeführt, um die antisemitische Lesart nahe zu legen oder zu untermauern. Vielfach wird z.-B. im rechten Kommunikationsraum Adenauers Spruch „Die Macht der Juden - auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen.“ reproduziert. Diese Strategie erlaubt es dem Sprachproduzenten, das von ihm Gemeinte explizit aus dem Mund einer „Autorität“ kundzutun. Intertextuelle Verweise ziehen dabei auch Vergleiche zu Nazi-Deutschland wie in dem Tweet „Seit 5: 45 wird zurückgeschossen“ - mit den Hashtags #Netanjahu #Israel #Hitler, also dem Satz, den Hitler benutzte, um seine Attacke auf Polen zu rechtfertigen. Eine Täter-Opfer-Umkehr-Aussage, die den zweiten Weltkrieg einleitete. • Vergleiche spielen eine wichtige Rolle bei impliziten Antisemitismen, wobei drei Typen zu unterscheiden sind: Vergleiche, die Juden oder Israelis dämonisieren („SS-Staat Israel“, „zionistisches Nazi-Militär“, „Apartheids- oder -Kolonialstaat“), Vergleiche, die die Opferrolle der Sprachproduzenten betonen, v.- a. durch Analogien zur NS-Zeit („Ich fühle mich wie Anne Frank“, „Impfen macht frei-…“), und Vergleiche, die dem kritisierten Sachverhalte durch NS-Analogien besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen wollen wie in „Der Holocaust auf 79 ihrem Teller“ (Tierschutzorganisation PETA) oder „Babycaust“ (vgl. Kap.-15). • Gezielte Redundanzen: Implizite (und auch explizite) Antisemitismen-Artikulation geht einher mit beständig wiederholten Abwehr- und Leugnungsnarrativen (s. hierzu ausführlich Schwarz- Friesel/ Reinharz 2013: Kap.-11, Schwarz-Friesel 2015 und 2019). Dabei sind die häufigsten Komposita Auschwitzkeule, Antisemitismusvorwurf (oder -hysterie) und Kritiktabu. Diese werden fortwährend in großer Monotonie repliziert, um kommunikativ einzuhämmern, wir lebten in einer von jüdischen Meinungsdiktaten beherrschten Gesellschaft, die die Erinnerung an den Holocaust instrumentalisiere. Die Antisemitismen selbst werden euphemistisch reklassifiziert als „Meinungs- oder Kunstfreiheit“. Die Sprachproduzenten schmücken sich selbst-legitimierend mit moralischen Vokabeln wie verantwortungsbewusst, humanistisch, aufklärerisch, und schönfärben die Bedeutungen ihrer Äußerungen mit Hochwertwörtern wie Pluralismus, Frieden, Weltoffenheit, Meinungsfreiheit oder Demokratie wie in dem folgenden Facebook-Eintrag: „Weder Sie noch alle anderen Marionetten, die im Auftrag der Zionisten arbeiten! Es lebe die Liebe, die Gerechtigkeit und die Wahrheit für alle Menschen! “ Dabei ist die Figur der Wiederholung auch in der Syntax dominant: „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“, „Kritik muss erlaubt sein“ und „Es ist kein Antisemitismus, wenn-…“ sind grammatische Strukturen, die in keiner antisemitischen Kommunikation fehlen. Diese Rhetorik ist zwar nicht originell oder eloquent, hat aber das Ziel, durch verbale Redundanz im Gedächtnis den Wahrheitseffekt zu etablieren. Wir wissen aus der Neurowissenschaft, dass dieser Effekt selbst bei den abstrusesten Aussagen eintreten kann, wenn sie oft genug wiederholt werden. Die meisten dieser indirekten Antisemitismen sind schon lange keine Umwegkommunikation mehr, denn sie sind hinlänglich bekannt, und ein geistiger Umweg, also ein doppeltes Verstehen 80 von Oberfläche und Tiefensinn ist gar nicht mehr nötig, da die meisten Formen lexikalisiert sind. Sie sind also längst im Langzeitgedächtnis mit ihren antisemitischen Bedeutungen abgespeichert. Sofort aktivieren Hörer und Leser daher das tatsächlich Gemeinte. Implizite Antisemitismen sind keineswegs etwas Besonderes oder Exotisches. Sie sind daher nicht nur im politischen Diskurs zu finden, sondern Teil der Alltagskommunikation. Sie fügen sich in die alltägliche Kommunikationspraxis ein, brisante, tabuisierte, heikle oder abstoßende Inhalte nicht offen zu artikulieren. Wenn also Produzenten solcher Äußerungen unschuldig oder empört tun und z.-B. nach erfolgter Kritik an ihren Texten fragen „Und seit wann sind Goldman Sachs und Soros ‚Codewörter‘! ? “, dann benehmen sie sich wie kleine Kinder, die die Hände vor die eigenen Augen halten und sagen „Jetzt bin ich nicht mehr zu sehen“. Das Gift zwischen den Zeilen Seit vielen Jahrzehnten gibt es hierzu Analysen und Erklärungen im Rahmen der pragmatischen Sprechakt- und Implikaturentheorie. Dieser Ansatz gibt die Mittel zur Hand, diese Formen präzise zu dechiffrieren und ihr diskriminierendes Potenzial zu erklären. Unsere Kommunikation unterliegt generell einem rational ausgerichteten Kooperationsprinzip, an das sich alle Menschen einer Sprachgemeinschaft unbewusst halten. Äußerungen werden demzufolge in einer Situation so formuliert, dass sie dem Gesprächszweck dienen. Auf eine Frage folgt zum Beispiel eine Antwort, auf eine Aufforderung ein Akzeptieren oder Zurückweisen des Geforderten. Die Bedeutung der Äußerung sollte dabei unmissverständlich und relevant sein. Auf eine höfliche Aufforderung wie „Kannst du mir bitte das Buch reichen? “ nur mit „Nein! “ zu antworten, verletzt das Kooperationsprinzip und löst einen geistigen Prozess aus in der Art „Was will der Sprecher mir nun in dieser 81 Situation damit sagen? “ Aber auch ein „Ja“ ohne die entsprechende Handlung des Buchreichens würde Verwunderung auslösen. Dabei wäre die Antwort korrekt und sinnvoll, wenn man nur nach dem wortwörtlich Gesagten gehen würde, denn „Kannst du-…“ fragt ja explizit lediglich nach der Fähigkeit und ist keine direkte Aufforderung wie „Reiche mir das Buch! “. An diesem Beispiel wird erkenntlich, wie selbstverständlich und blitzschnell wir indirekte Sprechakte verstehen. Scheinbare Verletzungen der Relevanz lösen dabei immer Schlussfolgerungen, sogenannte Implikaturen, aus, die den wahren Sinn ergeben. Vor einigen Jahren stellte ein Leipziger Journalist, nachdem er ein langes Interview mit mir im Deutschlandfunk zu israelbezogenem Antisemitismus gehört hatte, folgende Frage: „Sie sind eine scharfe Gegnerin der BDS-Bewegung, die für Boykott, Desinvestition und Sanktionen steht. Die Bewegung will nach eigenen Worten ein Ende der Besatzung palästinensischer Gebiete. Wogegen richtet sich Ihre Kritik? “ Meine Antwort lautete: „Würden Sie mich dies äquivalent auch in Bezug auf die AfD fragen? ‚Sie sind eine scharfe Gegnerin der AfD. Die AfD will nach eigenen Worten ein freiheitlich-demokratisches Deutschland. Wogegen richtet sich Ihre Kritik? ‘“ Meine Antwort, formuliert als indirekter Sprechakt, verletzte scheinbar das Relevanzprinzip, denn ich gab ja keine direkte Replik auf die Frage, sondern stellte eine Gegenfrage. Die Antwort ergab sich jedoch aus der zu ziehenden Implikatur ‚Die Selbstdarstellung und positive Eigenbeschreibung einer brisanten Organisation oder Partei sollte nicht als einzige und zuverlässige Quelle genommen werden‘. Müßig zu erwähnen, dass der Journalist genau und zielsicher diese Schlussfolgerung zog und keine weiteren Fragen mehr zu dem Thema kamen. Als der berühmte Dirigent Daniel Barenboim 2009 in der Kairoer Oper auftrat, begrüßte ihn der ebenfalls berühmte Schauspieler Omar Sharif mit den Worten „Er ist ein Israeli, aber er liebt die Menschen! “ Der aber-Nebensatz ist für die Begrüßung nicht relevant. Er gibt mehr 82 Information als nötig. Durch die adversative Konjunktion aber wird zudem immer ein Gegensatz, eine Einschränkung, ein Vorbehalt ausgedrückt. Barenboim wird als Ausnahme charakterisiert. Dadurch entsteht über die Implikatur, dass ‚Israelis normalerweise nicht die Menschen lieben‘ eine anti-israelische und über die Assoziation zum anti-judaistischen Ausdruck Menschenfeinde auch eine potenziell antisemitische Lesart. Nach diesem Muster werden in der Alltagskommunikation oft diskriminierende Botschaften artikuliert, etwa wie in „Sie ist Ausländerin, aber sehr sauber! “ Bei einem indirekten Sprechakt sagt der Sprecher X, meint aber tatsächlich Y. Das wortwörtlich Gesagte ist also nicht identisch mit dem beabsichtigten Gemeinten. „Es zieht“ ist vorrangig keine Aussage über Luftzug im Raum, sondern implizit die Aufforderung, das Fenster zu schließen. Die Äußerung „Ich bin durch die für mich so wichtige Prüfung gefallen“ vermittelt indirekt auch die emotive Information, dass der Sprecher nicht glücklich über dieses Versagen ist. Der Hinweis „Nicht immer sitzt jemand auf einem institutionellen Posten und hat auch die notendige Expertise dafür“ als Reaktion auf die Aussage „Aber die Direktorin des wichtigen Instituts XY sagt das! “ vermittelt unzweideutig die von allen Kommunizierenden gezogene Schlussfolgerung ‚Die Direktorin ist inkompetent‘. Ungewöhnlich sind solche impliziten Sprachhandlungen also keineswegs, vielmehr gehören sie zum alltäglichen Sprechen und Verstehen. Indirekte Sprechakte, die einen Großteil unserer alltäglichen Kommunikation ausmachen, sind als Verbal- Antisemitismen allerdings bis heute juristisch schwer zu belangen, obgleich sie klar erkennbar sind. Die Produzenten solcher Äußerungen können sich nämlich stets auf das wortwörtlich Gesagte beziehen und so tun, als ob das Gemeinte nie beabsichtigt worden wäre. Dies wird auch häufig getan. Regelmäßig behaupten z.- B. Sänger aus der Rap- und Hip-Hop-Szene, ihre Äußerungen seien keineswegs antisemitisch, verschwörungsfantastisch oder gewaltverherrlichend gemeint (s. hierzu Schwarz-Friesel/ Fritzsche 2021). 83 Sie kalkulieren gezielt den Tabubruch für ihre Fans und spielen mit volksverhetzendem Gedankengut und Gewaltfantasien wie in „Ich mach’n Anschlag wie Tel Aviv“ (Bushido: Taliban) oder „Eines Tages wirst du frei sein, Amin. Free Falestine“ (Ali Bumaye: Palestine). Vielfach werden dabei auch explizit Stereotype kodiert wie in „Ticke Kokain an die Juden von der Börse“ (Haftbefehl: Psst) und „Ich verfluche das Judentum“ (Haftbefehl: Mama reich mir deine Hand) oder „Ich leih dir Geld, doch nie ohne nen jüdischen Zinssatz“ (Kollegah: Sanduhr). „Free Palestine! “ ist in vielen Kontexten eine bekannte Paraphrase für die Aufforderung, Israel von der Landkarte verschwinden zu lassen, und basiert auf dem Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free! “ Kein seriöser Kritiker benutzt solche Schlagworte. Millionenfach gestreamt erreichen solche Texte jedoch zielsicher ihr Publikum. Periphrasen und Chiffren wie diese sind seit vielen Jahren fester Bestandteil der antisemitischen Umwegkommunikation, die radikale Inhalte formal entradikalisiert kodiert. Die indirekten Verbalisierungen sind somit reine Schutzmaßnahmen, um sozialen Sanktionen oder juristischer Strafverfolgung vorzubeugen. Gleichzeitig stellen die Produzenten zudem damit sicher, dass sie ein größeres Zielpublikum ansprechen, denn vulgäre Beschimpfungen und aggressive Vernichtungsaufforderungen kommen nicht überall gut an. Indirekte Sprachhandlungen sind so beliebt, weil sie hervorragend funktionieren. Und obgleich hinsichtlich des kommunikativen Sinns Eindeutigkeit besteht, sehen viele Staatsanwälte und Richter keinen Grund, strafrechtlich dagegen vorzugehen. Dies führt dann zu nicht nachvollziehbaren Urteilen, so etwa auch im Ditfurth-Elsässer-Prozess. Der Herausgeber des rechtspopulistischen Magazins Compact, Elsässer, der den Zentralrat der Juden „dieses Sprachrohr zionistischer Politik“ nannte, hatte wiederholt alle ihm nachweislich gut bekannten Formen des impliziten Verbal-Antisemitismus und israelbezogenen Judenhasses benutzt, durfte jedoch von Jutta Ditfurth nicht als „glühender Antisemit“ bezeichnet 84 werden. Denn die Richter hatten (laut Jutta Ditfurth) im Duden nachgeschaut, was Antisemitismus sei, und die Richterin in München befand zuvor schon „Ein glühender Antisemit in Deutschland ist jemand, der mit Überzeugung sich antisemitisch äußert, mit einer Überzeugung, die das III. Reich nicht verurteilt und ist nicht losgelöst von 1933-45 zu betrachten vor dem Hintergrund der Geschichte“. Fortbildung für Juristen zum Thema „Was ist Judenhass und wie artikuliert er sich heute“ wäre angebracht gewesen. Die Meinungsfreiheit Elsässers jedenfalls wurde höhergestellt als die ihn zu Recht kritisierende Ditfurth. Ein besonders drastisches Beispiel stellte 2019 im Europawahlkampf der Slogan der rechtsextremen und durch Holocaustleugnungen aufgefallene Partei Die Rechte dar: „Israel ist unser Unglück! “ stand auf ihrem Wahlplakat. Das ist unmissverständlich verbaler Antisemitismus in israelbezogener Variante. Und er fand mitten in der Öffentlichkeit statt, auf deutschen Straßen, 80 Jahre nach den fettgedruckten Slogans des antisemitischen NS-Hetzblattes Stürmer „Die Juden sind unser Unglück! “ Strafrechtliche Konsequenz gab es trotz mehrerer Anzeigen nicht, obgleich in aller Deutlichkeit Volksverhetzung artikuliert wurde. Denn durch die intertextuelle Anspielung auf die bekannte Stürmer-Schlagzeile, die lediglich das Subjekt-Nomen ersetzte und den Satz grammatisch in den Singular setzte, gab es keinen Zweifel an der gemeinten Aussage, also Delegitimierung Israels und dämonisierende Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung Europas. Die juristische Begründung, es gebe keinen „Anfangsverdacht für eine Straftat“ fußte auf dem Argument, man „habe nicht hinreichend aufklären können, wer an der Konzeption, Herstellung und Verbreitung des Wahlplakats beteiligt gewesen sei“. So wurde vor aller Augen eine der giftigsten und einflussreichsten antisemitischen Parolen, geringfügig und zeitgemäß modifiziert, kommuniziert - und es gab keine juristischen Konsequenzen. Der vielfach überstrapazierte Satz „Kritik an Israel muss möglich sein“, enthält die Implikatur, dass Kritik an Israel etwas Problema- 85 tisches sei, denn sonst würde der Sachverhalt gar nicht thematisiert, da die Möglichkeit zu Kritik in unserer demokratischen Gesellschaft garantiert ist. Obgleich faktisch falsch, denn Israel wird ausgiebig und heftig kritisiert, ist diese Behauptung ein Fake- News-Dauerbrenner. So können Implikaturen alternative Fakten schaffen. Bei Anne Will am 10. Januar 2021 befand ein ostdeutscher Ministerpräsident anlässlich der erfolgreichen Impfkampagne in Israel „…-es muss beraten werden, anders als in Israel muss bei uns eine Rechtsberatung erfolgen. Da kann man nicht im Drive-In sozusagen sich da schnell ne Spritze holen. Das kann man vielleicht dort machen, weil die Situation dort schwieriger ist. Weiß ich nicht. Wir haben einen Rechtsstaat- …“ Angemessener wäre das Eingeständnis gewesen, dass Israel eine wesentlich bessere und effektivere Impfpolitik macht. Stattdessen fand ein Miesmachen statt: „Im Drive-In schnell ne Spritze holen.“ Als ob die israelischen Impfungen Fast Food-Verabreichungen wären. Doch bedenklicher als das Nicht-Anerkennen war der politisch diskreditierende Seitenhieb: „Wir-haben einen-Rechtsstaat“. Was will der Ministerpräsident damit sagen? Dass Israel kein-Rechtsstaat-ist? Eine andere Schlussfolgerung macht keinen kommunikativen Sinn, denn der explizite Hinweis „Wir- sind- …“ verletzt das Relevanz-Prinzip: Dass Deutschland ein Rechtsstaat ist, weiß jeder in der Runde, die Äußerung ist also irrelevant im Kontext. Er hätte sich diesen Satz sparen können, da er mit den Impfaktionen nichts zu tun hat. Dadurch entsteht zwangsläufig die Implikatur: ‚Israel ist kein Rechtsstaat wie wir es sind.‘ Und warum gab es dazu keine kritische Nachfrage in der Talk-Runde? So werden kleine Giftspritzen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen abgegeben, von Politikern in Spitzenstellungen. So gemeint will man es dann, wie von allen verstanden, nie haben, aber das spielt gar keine Rolle. Es wurde gesagt und in die Welt getragen - mit der israeldiskreditierenden Lesart. Die toxische Semantik der anti-israelischen Abwertung wurde 86 nebenbei eingeträufelt. Oder wie der Kommunikationspsychologe Paul Watzlawick es so treffend formuliert „Wahr ist nicht, was A sagt, sondern was B versteht.“ Betrachten wir diese Beispiele, wird ersichtlich, wie stark indirekte Sprechakte unser kommunikatives Alltagsleben begleiten und prägen, sie sind integraler Bestandteil der Diskurs-Kultur und das Verstehen von Zwischen-den-Zeilen-Gesagten gehört zu unseren geistigen Schlüsselqualifikationen. Als Sprachbenutzer ziehen wir mit großer Sicherheit die beabsichtigten Implikaturen, da es zur kommunikativen Kompetenz gehört, wie Habermas diese Fähigkeit nennt, aus Äußerungen im Kontext zielsicher den gemeinten Sinn zu erschließen. Es verwundert daher, wenn in letzter Zeit Stimmen in den Feuilletons und Texten diverser Unterschriftenaktionen zu hören sind, die sich gegen Kritik an indirekten Lesarten wehren. „Wenn A nicht mehr als A akzeptiert, sondern ihm unterstellt wird, B zu sein, dann entzieht das der demokratischen Diskussionskultur den Boden.“ heißt es z.- B. in einem Zeitungstext, der Meinungsfreiheit u.-a. für die israelfeindliche BDS fordert. Man solle sich an das explizit Gesagte halten und nicht nach etwas „suchen“. Implizites zu unterstellen, würde einen „Interpretationsspielraum“ öffnen, der mit einer „Logik des Verdachts daherkomme“. Würde der Kellner, dem Sie sagen In meinem Kaffee ist eine Fliege! antworten Was wollen Sie mir damit sagen? Oder würde es zu einer Kommunikation kommen à la Sie eröffnen hier einen subjektiven Interpretationsspielraum, der mich unter Verdacht setzt? Wohl kaum. Er würde zielsicher das einzig Relevante aus der Äußerung ziehen, nämlich die von Ihnen implizit formulierte Beschwerde mit der Aufforderung, einen neuen Kaffee zu bringen. Diese Analogie zeigt, wie unplausibel und unseriös es ist, indirekte Antisemitismen ausschließen zu wollen. Die dabei involvierten geistigen Prozesse sind seit Jahrzehnten ausgiebig erforscht und niemand bezweifelt ihre Existenz - mit Ausnahme von Antisemiten, die ihre toxischen Inhalte weiterhin 87 mittels indirekter Sprechakte artikulieren wollen, ohne Antisemit genannt zu werden. Wer also fordert, man solle sich nur an das explizit Gesagte halten, öffnet alle Schleusen für die kommunikativen Wege impliziter Antisemitismen und gibt dem Großteil judenfeindlicher Äußerungen des 21.-Jahrhunderts einen Freibrief. Von der Akzeptanz expliziter Hassrede ist man dann nicht mehr weit entfernt. Die erörterten Formen sind mittlerweile so üblich und gewohnheitsmäßig, dass sie nicht die Ausnahme, sondern die Regel im öffentlichen Kommunikationsraum darstellen. Daher gibt es auch keinen Grund, sie nicht zu belangen. Und es gibt auch keinen Anlass für Ausflüchte und Umdeutungen. Was erkennbar hässlich und giftig gemeint ist, sollte nicht schöngeredet und nicht verteidigt werden. 89 8 Juden und Deutsche Warum jedes Und beim Antisemitismus ein Und zu viel ist und der jüdische Mitbürger als Bürger kein Mitbraucht „Hoffen wir, dass-… Juden und Deutsche miteinander friedlich auskommen und leben.“ (ein Journalist im Gespräch mit einer Historikerin zum Thema „Antisemitismus in Deutschland“, 2015) „Deutsche und Juden-…“ (die meistbenutzte Phrase im Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“) Die bis heute in öffentlicher und massenmedialer Kommunikation viel benutzte Konstruktion Juden und Deutsche belegt die tiefe und unreflektierte Verwurzelung eines diskriminierenden Sprachmusters im kommunikativen Gedächtnis, das der Differenzkonstruktion und semantischen Antonymie. Ob man will oder nicht, mit dieser Phrase artikuliert man, so wie in den obenstehenden Beispielen, Verbal-Antisemitismus, da Juden als eine ‚andere Gruppe‘ durch das und von ‚den Deutschen‘ konzeptuell abgegrenzt werden. Warum? Weil das Wort und eine additive Konjunktion ist, die in der Regel zwei nicht identische Objekte oder Sachverhalte in Verbindung zueinander setzt und damit semantisch deren Unterschiedlichkeit ausdrückt. Die Relation der Additivität stellt also eine Verbindung von Elementen dar und bezeugt gleichzeitig deren Differenz. Wort und Gegenwort vermitteln Gegensätzlichkeit. Daher treffen wir auch nicht auf Konstruktionen wie „Deutsche und Deutsche“ oder „Juden und Juden“ (es sei denn, innerhalb dieser Gruppe soll ein Unterschied markiert werden, etwa in Bezug auf Ost- und Westdeutsche oder religiöse versus säkulare Juden). „Katholiken und Deutsche“ oder „Protestanten 90 und Deutsche“ findet man gar nicht; „Muslime und Deutsche“ nur sehr selten. Im Duden und im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache findet man zudem bis heute „deutsch-jüdisch“ als Eintrag aufgeführt, nicht jedoch die Kombination „deutsch-katholisch“, „deutsch-evangelisch“ oder „deutsch-muslimisch“. Das lässt tief blicken in die Verankerung antisemitischer Konstruktionen in der deutschen Sprache. Die übliche Lesart von und gibt semantisch immer eine Koordination, die entweder Differenzen oder Gemeinsamkeiten in den Fokus rückt, nie aber Identität. Das und in der Phrase Juden und Deutsche signalisiert also, dass typgleiche Elemente in Beziehung gesetzt werden, aber ohne identitätsstiftende Gleichheit des Deutschseins. Hinsichtlich des Kollektivkonzepts ‚Deutschland‘ wird somit zwischen jüdisch und deutsch differenziert und eine völlige Identität ausgeschlossen. Denn eine solche würde das und ja überflüssig machen. Die Zugehörigkeit „deutsch“ wird folglich gewichtet: Es gibt ‚wirkliche, richtige Deutsche‘ und es gibt ‚Juden, die in Deutschland leben‘. Im Sinne der prominenten kognitionswissenschaftlichen Prototypensemantik, einem Ansatz, der die Bausteine des menschlichen Geistes erklärt und zwischen typischen und weniger typischen Repräsentanten eines Begriffs unterscheidet (vgl. Schwarz-Friesel/ Chur 6 2014: 49 ff.), sind dann die nicht-jüdischen Deutschen die besten Exemplare der Kategorie ‚Deutsch‘, die jüdischen Deutschen jedoch nicht-typisch-deutsche Randfiguren. Dieses Randfigurenkonzept hat eine lange Tradition im antisemitischen Diskurs. Und es sind solche, oft in keiner Weise diskriminierend gemeinten Sprachschablonen, toxische Sedimente einer judenfeindlichen Kultur, die unbewusst dazu beitragen, dass dichotome Bilder in der Gesellschaft vermittelt und erhalten bleiben. Es handelt sich um Gegensatzrelationen, die sich besonders in Wortpaaren mit oppositionellen Bedeutungen widerspiegeln, und die seit Jahrhunderten in der judenfeindlichen Kommunikation grundlegend sind. Schon im 16. und 17.- Jahrhundert gibt es verbale Formen dieser Opposition, wobei diese vor allem religiöser 91 Prägung ist. Floskeln wie das jüdische Herz, die jüdische Natur, Judengehirn, Judengeld oder der jüdische Sinn werden seit der frühneuhochdeutschen Zeit (ab ca. 1450; s. hierzu auch Hortzitz 2005) in Abgrenzung zu den Konzepten ‚deutsches Volk‘ oder ‚christliche Gemeinschaft‘ gesetzt und sind Vorläufer der nationalistischen Konstruktionen, die im 19.-Jahrhundert dominant werden. Deutsch, ursprünglich von seiner althochdeutschen Etymologie her ‚zum Volk gehörig‘, bezeichnet seit der frühen Neuzeit vor allem das Zugehörigkeitsgefühl zum deutschen Volk. Dieser Eigenbezeichnung und dem Volksnamen gegenübergestellt, findet sich früh das antonymisch benutzte Adjektiv jüdisch. Zunächst vor allem als Oppositionspaar ‚christlich-deutsch‘ versus ‚jüdisch‘ (s. hierzu z.- B. Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen, 1534), dann völkisch-nationalistisch und ab der zweiten Hälfte des 19.- Jahrhunderts zunehmend rassistisch (jüdisch versus germanisch/ arisch). Entsprechend schreibt Theodor Fontane in seinen Briefen abwertende Bemerkungen über Juden wie die folgende: „Es ist, trotz all seiner Begabungen, ein schreckliches Volk, […] - ein Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann.“ (Fontane 1898). Die Notwendigkeit einer ausgeprägten verbalen Grenzziehung, einer strikten Betonung des Unterschieds zwischen ‚gutengenuinen Deutschen‘ und ‚weniger-guten Deutschen‘ entstand nach der deutschen Reichsgründung 1871, als Juden volle Bürgerrechte erhielten. Noch bis Mitte des 19.-Jahrhunderts galten massive Berufsverbote, sodass Juden lediglich niedere, damals verachtete Tätigkeiten in Handwerk und Kleinhandel erlaubt waren. Die Vergabe von Rechten war an die christliche Religionszugehörigkeit gebunden, weshalb viele Juden sich noch Mitte des 19.-Jahrhunderts gezwungen sahen, zu konvertieren, um anspruchsvollere Berufe ausüben zu können. Was nicht immer half, denn auch getaufte Juden wurden mit Argwohn betrachtet und hatten Probleme, 92 als gleichwertig akzeptiert zu werden. Und immer wieder gab es deutliche Anfeindungen aus den gebildeten Schichten gegen eine gleichberechtigte gesellschaftliche Stellung. 1816 veröffentlichte der Philosophie- und Mathematikprofessor Jakob Friedrich Fries (ein Schüler von Fichte, erklärter Liberaler und zugleich Nationalist) mit Ueber die Gefaehrdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden eine hasserfüllte Schrift, mit der Kernaussage „Die Judenschaft ist ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht beschränken, sondern ganz ausrotten soll.“ Der Philosoph schlägt auch vor, Juden wieder durch ein Zeichen an ihrer Kleidung von der restlichen Bevölkerung zu unterscheiden und macht deutsche Juden, für ihn „Blutsauger“, u.- a. für den schädlichen Einfluss von Geldpolitik verantwortlich und ermuntert diese zur Auswanderung aus Deutschland. Um die bürgerliche Lage der Juden im Reich zu verbessern, sieht der Gelehrte nur eine Möglichkeit: „das Judenthum auszurotten“ (vgl. Kap.- 14). Dies ist keine Besonderheit und keine Ausnahme im wilhelminischen Zeitalter. 1803 hatte der Jurist und Publizist Friedrich Grattenauer in Wider die Juden sehr ähnlich polemisiert und Juden, denen er menschliche Seelenqualitäten absprach, als Affen bezeichnet. Der Publizist Hundt-Radowsky veröffentlichte zwischen 1817 und 1828 mehrere antijüdische Hassschriften, in denen eine eliminatorische Semantik vorherrschend ist: Ermordung oder Vertreibung. Durch das Gleichberechtigungsgesetz, das prinzipiell die Teilhabe an allen Ämtern und Staatsbürgerrechte unabhängig von der Konfession erlaubte, erhielten Juden ab 1871 auch das Recht auf freie Berufswahl. Doch schon wenige Jahre später, 1879, leitete der damals hoch angesehene Berliner Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke mit seiner Schrift Unsere Aussichten den sogenannten Berliner Antisemitismusstreit ein und brachte durch seine Argumente klassisch judenfeindliches Gedankengut (wie die Stereotype des ‚Gottesmordes‘ und des ‚Wuchers‘) mit rassistischen 93 und völkisch-nationalistischen Abwertungen in eine Symbiose und das Gegensatzpaar „Deutsche versus Juden“ breit und salonfähig in die bürgerliche und gebildete Mitte ein. Auf wenigen Seiten entwirft er ein Gefahren-Szenario für die nationale Einheit Deutschlands. Judenfeindschaft erklärt Treitschke als „natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat“. Juden sollten sich endlich „den Sitten und Gedanken ihrer christlichen Mitbürger annähern, statt „dreist“ zu ignorieren, „dass wir Deutschen denn doch ein christliches Volk sind“. Diese Konzeption schlägt sich bis heute in der Alltagskommunikation durch und führt den klassischen Anti-Judaismus im Gewand der säkularen Argumentation fort. Den deutschen Juden warf Treitschke mangelnden Assimilationswillen vor. „Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, …-denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge-…“ National-völkische Vorstellungen verbinden sich bei Treitschke mit christlichem Überlegenheitsgefühl und Intoleranz: Gönnerhaft und herablassend weist er darauf hin, dass Deutschland „ihnen die Rechte des Menschen und des Bürgers geschenkt“ habe. Er sieht die „deutsche Judenfrage“ als „schwere Gefahr“ und kommt zum Schluss pointiert mit einer Verschwörungsfantasie, die er als Volkes Stimme ausgibt: „Die Juden sind unser Unglück! “ - ein beschwörendes Schlagwort, das in der NS-Zeit als Schlagzeile auf jeder Stürmer-Ausgabe fett gedruckt wird. In diesem Satz spiegelt sich die wesentliche Konstante der De-Realisierung wider: die völlig irreale, hyperbolische und dämonisierende Fantasie von der negativen Rolle der Juden. Bedenkt man, dass Juden in dieser Zeit kaum ein Prozent der deutschen Bevölkerung stellten und rein quantitativ, aber auch aufgrund ihrer gedrückten sozialen Lage, schwerlich in der Lage waren, das Unglück Deutschlands zu sein, zeigt sich, wie auf ein abstraktes, realitätsabgehobenes 94 Konzept Bezug genommen wird. Als geachteter Professor aber haben Treitschkes Worte im Bildungsbürgertum Gewicht. Die öffentliche Debatte lässt das Ressentiment in den Kommentaren zum Vorschein kommen. So schreibt ein Student von Treitschke (Boksch 1880, zit.-n. Benz 2001: 64 f.): „Ich hasse die Juden nicht, aber ich hasse das Judenthum. Das Wesen der Juden widersteht mir, und in diesem Gefühl fühle ich wie ein Germane. Niemals wird der Deutsche das französische Wesen so widerwärtig finden, so hassen können, als das jüdische.“ Außer dem liberalen Professor Theodor Mommsen wiesen nur Juden öffentlich Treitschkes antijüdische Vorwürfe zurück. Und selbst Mommsen, der Treitschke scharf kritisiert und sich ausdrücklich für die vollen Bürgerrechte sowie die Integration der jüdischen Bürger einsetzt, gleitet ab in das anti-judaistische Denken, das Christentum sei die bessere Religion. Dies mit dem indirekten Appell, Juden sollten sich diesbezüglich doch anpassen und dem antisemitischen Argument, Juden seien dafür (mit)verantwortlich, wenn man sie ablehne: „Die Schuld davon liegt allerdings zum Theil bei den Juden. Was das Wort ‚Christenheit‘ einstmals bedeutete, bedeutet es heute nicht mehr voll; aber es ist immer noch das einzige Wort, welches den Charakter der heutigen internationalen Civilisation zusammenfasst und in dem Millionen und Millionen sich empfinden als zusammenstehende auf dem völkerreichen Erdball.“ (Mommsen 1880: 114) Im selben Jahr, 1879, bringt der Journalist und Publizist Wilhelm Marr sein antisemitisches Pamphlet heraus, es wird in kurzer Zeit in zwölf Auflagen gedruckt worden sein. Dort verdichten sich alle bislang existierenden Stereotype und Klischees zu einem das gesamte Judentum abwertenden Dickicht. Ein Textweltmodell mit der Kernaussage, dass Juden „zum Schaden des Germanenthums agieren, das Germanische zu zersetzen und zerstören.“ Marr bezeichnet die deutschen Juden als „die Fremdlinge“ und „fremder Volkstamm“ (Marr 1879: 14). Es finden sich nahezu alle tradierten, anti-judaistischen Stereotype des ‚Wucherers‘, des ‚Demagogen‘, des 95 ‚Rachsüchtigen‘ und auch die Fantasie einer groß angelegten Verschwörung: „Geldmenschen“, „vaterlandslos“, „wuchern“, „haben Schacher- und Wuchergeist“, „scheuen sich vor wirklicher Arbeit“, „hochbegabt, hochtalentiert“, „feindselig gegenüber anderen,“ „glatt“, „listig“, „dominant, einflussreich“, „verjudete Tagespresse“, „rachsüchtig“. 1880 kommt es zu einer sogenannten Antisemitenpetition, von einer Viertelmillion Menschen unterzeichnet. Initiiert u.- a. vom Leipziger Physikprofessor Karl Friedrich Zöllner, maßgeblich unterstützt von Adolf Stoecker, dem Hofprediger des Kaisers, und dem damals bekannten Dirigenten Hans von Bülow (dem ersten Mann der späteren Cosima Wagner), wird sie dem damaligen Reichskanzler Bismarck überreicht. Darin wird die Rücknahme der verfassungsrechtlichen Gleichstellung jüdischer Bürger in Deutschland und deren Entfernung aus Schlüsselpositionen gefordert. Im preußischen Abgeordnetenhaus lehnt man dies zwar ab, findet aber kein einziges Wort der Kritik an dieser virulenten und stigmatisierenden Kampagne. Denn zu viele Unterzeichner sind prominente einflussreiche Größen im Kaiserreich, und antijüdische Einstellungen manifestieren sich sprachlich und bildhaft in vielen Abhandlungen, auf Postkarten mit gehässigen Karikaturen, in Briefen, Romanen, Pamphleten, auf Schildern, in Prospekten und auch in offiziellen Parteiprogrammen. Antisemitische Kommunikation ist im 19.-Jahrhundert integraler Bestandteil und auf allen Ebenen des öffentlichen, gesellschaftlichen Lebens anzutreffen. Es folgen dementsprechend noch viele rassistische und antisemitische Texte, z.-B. von Houston Stewart Chamberlain (Schwiegersohn Richard Wagners), Otto Glagau, Paul de Lagarde und Eugen Dühring. Juden werden dort als „fremde Rasse, als Fremdkörper, als unkreative Parasiten und als Zersetzer nicht-jüdischer Gesellschaften“ beschrieben. Das semantische Netz von Antisemitismen wie Judenherrschaft, Judenrace, Aussauger, raffend, verjudet, Entjudung, Judenpresse und Judenmacht, aber auch de- 96 humanisierenden Metaphern wie Trichinen und Bazillen wird hier festgezurrt. Aus dem Reservoir dieser antisemitischen Vokabeln beziehen die Nationalsozialisten dann 50 Jahre später fast wörtlich ihre Argumente. Schlagen wir den Bogen zur aktuellen Kommunikationspraxis: Bis heute bringt das kleine und mit jeder Benutzung die giftige Vergangenheit in die Gegenwart, findet die Antonymie des völkisch-nationalistischen Antisemitismus auch heute noch in der Alltagskommunikation ihren Ausdruck. Kritisch zu betrachten sind auch Verbindungen wie „Juden und Migration“ oder „Juden- und Fremdenfeindlichkeit“, weil durch diese Kopplungen eine Einordnungsinstanz im Kopf entsteht, die alle Juden in die Nähe von Migranten oder Fremden rückt, sie also nicht als seit Jahrhunderten in Deutschland lebende Bürger klassifiziert. Dies verstärkt den Eindruck, als ob Juden - nach 1.700 Jahren - noch immer nicht angekommen seien. Juden werden zwar von überzeugten Antisemiten als Fremde gesehen, doch ist dies ein Phantasma und man sollte dieses nicht noch im alltäglichen Sprachgebrauch durch unbedachte Phrasen festigen. Wie tief die Differenzkonstruktion „Deutsche versus Juden“ im kollektiven Bewusstsein sitzt, zeigen auch Beispiele wie das folgende aus der TAZ vom 25. April 2021 zur Sendung Freitagnacht-Jews: „Da stellt sich doch gleich eine entscheidende Frage: Ist das jetzt eine Sendung für Juden? Oder für Deutsche? “ Oder ist ein Adversativ und drückt semantisch explizit und unzweideutig die Bedeutung ‚Alternative‘ aus. Juden werden mit einer solchen Sprachkonstruktion als Nicht-Deutsche ausgegrenzt. Und ein Projekt unter „Kulturelle Integration“ in Bezug auf jüdisches Leben in Deutschland? Gerne, aber dann bitte unzweideutig in der Lesart „für nicht-jüdische Deutsche“, damit diese lernen, dass jüdische Deutsche eben keine kulturell zu Integrierenden sind. Ansonsten haben solche gut gemeinten Aktionen einen bitteren Beigeschmack für die jüdischen Deutschen. „Kulturelle 97 Integration“ in Denk- und Sprachstil wird benötigt, aber nicht für Juden. Das kulturelle Manko, das es zu beheben gilt, betrifft die nicht-jüdischen Deutschen, die noch immer glauben, Juden seien etwas Exotisches oder am Rande Stehendes, dabei sind sie doch integraler Bestandteil der Gesellschaft. Aber immer wieder, auch in den Medien, sehen wir die Exotisierungsrhetorik (vgl. Kap.-16). Juden sind daher auch keine Mitbürger - diese Sprachkonstruktion wählte schon Treitschke, um Distanz auszudrücken - es sind deutsche Bürger. Nur Bürger, denn der unnötige Zusatz Mitmarkiert morphologisch, dass es einen Unterschied zu den genuinen Bürgern gibt und signalisiert semantisch eine Ausgrenzung bzw. zumindest eine Einschränkung hinsichtlich Staatsbürgerstatus und Integration. Ausländisch ist übrigens neben jüdisch die häufigste Kollokation (Verbindung, in der ein Wort im Satz-Kontext verwendet wird) zum Wort Mitbürger. Durch solche Verbindungen und deren Assoziationen wird wiederum die antisemitische Lesart aktiviert, Juden seien Fremde, Ausländer oder Migranten - im eigenen Land. Dass solche Phrasen als normal empfunden werden, zeigt keinen bösen Willen, sondern das fehlende Bewusstsein für deren Unangemessenheit. Kein anderes religionsbezeichnendes Adjektiv wird im deutschen Diskurs heute noch so oft benutzt, um Identität auszudrücken, wie jüdisch. Ob Schriftsteller, Musiker, Künstler, Politiker katholisch, evangelisch oder atheistisch sind, spielt in den seltensten Fällen eine Rolle, weil in der Regel die Semantik des Nomens auschlaggebend ist, die die Beschäftigung fokussiert. Nicht so bei Juden: Hier ist es disproportional oft „der jüdische Publizist, die jüdische Klimaaktivistin, die jüdischen Wissenschaftler“ (und „die jüdische Abstammung“), auch dann, wenn die Religionszugehörigkeit nicht die geringste Rolle im Kontext der Äußerung spielt. Es wird jedoch so lange keine Denk-Normalität bestehen, solange dieses Merkmal und nicht die Persönlichkeit oder die Tätigkeit der Personen als entscheidend erachtet und entsprechend sprachlich 98 wie bei allen anderen kodiert wird. Es sind solche, oft in keiner Weise diskriminierend gemeinten Sprachschablonen, die unbewusst dazu beitragen, dass dichotome judenausgrenzende Bilder und Vorstellungen in der Gesellschaft vermittelt und erhalten bleiben. Sie fußen auf einem Jahrhunderte alten Gegensatzpaar, das konstitutiv für judenfeindliche Kommunikation ist, und sie prägen bis heute den Sprachgebrauch auf eine sublime, subkutane, deshalb aber nicht weniger toxische Weise. Denn Sprache ist nicht harmlos. Bestimmte Sprachmuster konservieren judenfeindliches Denken und beleben dieses bei jedem Gebrauch aufs Neue. 99 9 Schweigen und Verschweigen als antisemitische Sprachhandlungen Die Negierung jüdischer Leistungen durch die Feingeister des deutschen Bildungsbürgertums oder: Was uns der Blick auf den jüdischen Gelehrten und Sprachforscher Daniel Sanders verrät und warum kaum jemand weiß, dass die Kirschtomate eine israelische Erfindung ist In sprachlichen Prozessen spielt nicht nur eine Rolle, was gesagt wird, sondern auch, was nicht gesagt wird. „Man kann nicht nicht kommunizieren“ befand daher schon Paul Watzlawick in seinem Standardwerk zur Pragmatik der menschlichen Kommunikation. Auch wenn man gar nicht oder nicht angemessen reagiert, sendet man genau dadurch informative Signale aus. Als 2010 der Friedensnobelpreisträger und damalige Staatspräsident Israels, Shimon Peres, seine Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag beendete, in der er u.-a. über die Ermordung seines Großvaters (der lebend in einer Synagoge verbrannt wurde) gesprochen hatte, erhoben sich zwei Personen aus der Partei Die Linke nicht. So bezeugten sie durch ihr demonstratives Nicht-Verhalten die Verweigerung einer anerkennenden Geste gegenüber dem israelischen Gast und damit vor aller Augen ihren Mangel an Respekt vor der jüdischen Erinnerungskultur. Beifall dafür kam von der rechtsextremen NPD. In diesem Sinne: Wenn etwas nicht getan wird, wenn etwas verschwiegen oder ausgelassen wird, verrät uns dies oft sehr viel. Dass im öffentlichen Bewusstsein vor allem negative Aspekte jüdischen Lebens im Fokus stehen und das Positive kaum thematisiert wird, hat nachhaltige Auswirkungen. Wenn heute in Schulen und Uni- 100 versitäten gefragt wird, was den jungen Menschen zum Thema Judentum einfällt, sagen sie „Holocaust“, „Ermordung in der NS- Zeit“, „lange Verfolgung“, „Opfer“. Sie antworten nicht mit „unsere Wurzeln“, „Monotheismus“, „jüdische Ethik“, „die 10 Gebote“, „die Thora“, „Jesus“ oder „Nobelpreisträger“, nicht „Mendelsohn, Modigliani, Heine, Kafka, Freud“. Es ist aufschlussreich, dass nach Jahrtausenden jüdischen Lebens und Wirkens in der Welt nur einige wenige negative Aspekte in den Köpfen präsent sind. Dies ist das Resultat jahrhundertelanger Herabwürdigungen von Judentum und jüdischer Existenz, von Falschdarstellungen, aber auch Auslassungen und verschweigendem Nicht-Thematisieren. Dass es nach Jahrzehnten der Erforschung von Judenhass im 21.- Jahrhundert oft noch immer eine Praxis des Schweigens gibt, wenn es um das Wertvolle und Einmalige genuin jüdischer Errungenschaften und Leistungen geht, ist aufschlussreich und verrät viel über den Umgang mit Geschichte und Gegenwart der jüdischen Abwertung sowie die Zurückhaltung, nach zweitausend Jahren ein positives Gegennarrativ zu Contra-Judaeos zu postulieren. Was verrät uns beispielsweise der Blick auf den im 19.- Jahrhundert lebenden Sprachforscher Daniel Sanders (1819-1897) und die Art und Weise, wie man mit seinem umfangreichen und beeindruckenden Werk umging und umgeht? Sanders ist ein historisches Fallbeispiel dafür, wie jüdische Leistungen einfach aus der Geschichte gestrichen wurden. Jeder kennt Wörterbuch und Märchensammlung der Brüder Grimm, in Fachkreisen zudem das Wörterbuch von Hermann Paul. Niemand jedoch kennt Sanders, nicht einmal die Linguisten und Germanisten. Sein Name ist auf dem Langenscheidt Muret-Sanders Großwörterbuch Englisch - Deutsch zu sehen, mehr findet man nicht. Und doch zählte er seinerzeit zu den bedeutendsten und bekanntesten Lexikographen, erfolgreich, prominent und präsent auch in den großen deutschen Tageszeitungen. Politisch unterstützte er als Deutsch-Patriot das Projekt der deutschen Nation, setzte sich zugleich als Lehrer für 101 die Vermittlung der jüdischen Kultur bei seinen Schülern ein. Als Visionär und humanistischer Freidenker unterstütze er die Ideen der 1848er-Revolution. Als diese scheiterte, verlor er seine Stelle als Leiter der jüdischen Schule in Strelitz, die geschlossen wurde. Jüdischen Bildungsinhalten sollte kein eigener Raum mehr gegeben werden; die jüdischen Kinder mussten nach 1852 in die städtische Schule gehen. Als Privatgelehrter, Philologe, Pädagoge, Sprachforscher, Übersetzer und Lexikograph erbrachte Sanders innovative und exzeptionelle Leistungen. Er verfasste über 35 Einzelwerke, war Herausgeber der Zeitschrift für deutsche Sprache und zeigte sich mit seinen Wörterbuchanalysen der damaligen Zeit weit voraus. Die besondere Leidenschaft des promovierten Akademikers gehörte der deutschen Sprache. „…-in inniger Liebe für das große deutsche Vaterland“ steht 1854 im Vorwort seines „neuen Wörterbuchs der deutschen Sprache“, das er nicht etymologisch-historisch, sondern gegenwartsbezogen, funktional und benutzerorientiert konzipierte. Seine nicht-alphabetische Anordnung des Wortschatzes zeigt strukturelle Gesetzmäßigkeiten und Vernetzungsmuster, seine Unterscheidung in Haupt- und Nebenbedeutungen von Wörtern nimmt moderne Beschreibungen von Lexikologie und Semantik vorweg. Er bewies dabei als Vordenker viel Mut zur Kritik, da er sich gegen das damals herrschende Paradigma der Sprachgeschichte bei der Wortbeschreibung und die einflussreichen Gelehrten der Akademien wandte. Sein Wunsch war es, die „gründlichere Kenntnis unserer herrlichen Muttersprache anzubahnen“. Damit wäre Sanders wissenschaftsgeschichtlich (lange vor de Saussure) als ein Begründer der modernen Sprachforschung zu würdigen. Für seine herausragenden Leistungen wurde ihm 1877 ehrenhalber der Professorentitel durch den mecklenburgischen Landesherrn verliehen, er wurde Ehrenbürger der Stadt Strelitz. Doch er erhielt trotz Erfolg und öffentlicher Anerkennung keine Ehrung durch die deutschen Universitäten und Akademien - weder damals noch heute. Der judenfeindliche Zeitgeist war sein Antagonist. Statt kritischer Aus- 102 einandersetzung folgten aus den Kreisen der „hohen Gelehrten“ nur antisemitische Herabwürdigungen: Besonders Jacob Grimm, heute allerorten als „Mitbegründer der Germanistik“ geehrt, der viele europäische Denkansätze vorwegnahm und sich für das Recht und die Freiheit des Einzelnen aussprach, äußerte sich im antisemitischen Duktus herablassend und destruktiv feindselig. Der liberal gesinnte Grimm wurde als Abgeordneter in die Versammlung der Paulskirche berufen und stellte dort einen Antrag zu Artikel 1: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei“. Doch diese schöne Idee erstreckte sich bei ihm nicht auf die jüdischen Deutschen. Der „Spinne“ Sanders verweigerte er jedwede Anerkennung und schrieb 1859 an seinen Verleger „Neulich wurde mir versichert, der Sanders sei ein Jude, sodass er also ein jüdisch deutsches Wörterbuch unternommen hat, was manches in seiner Art und Weise erklärt“. Im Briefwechsel zwischen Grimm und seinem Nachfolger Karl Weigand erhält dieser von Grimm den Auftrag, Sanders in einer Rezension „scharf abzufertigen“. Beide sprechen Sanders die Zugehörigkeit zum deutschen Volk und ein „Verständnis des deutschen Sprachgeists“ ab. Weigand schreibt 1861 an Grimm: „Da zeigt sich in vollem Masse die jüdische Unverschämtheit und der freche Übermut“ und „dass in den Adern-… kein Tropfen deutschen Blutes fließen könne“. Beachtenswert ist auch, dass Weigand verschwörungsfantastisch auf das wenige Jahre später von Wilhelm Marr in seiner antisemitischen Schrift behauptete Konzept der jüdischen Macht in der Öffentlichkeit rekurriert „Aber geradezu wollte ich Sanders als Juden nicht bezeichnen, weil sonst der lange Schwarm der jüdischen Literaten geschrien haben würde - denn diese Leute hängen zusammen wie die Ketten - …-es wird sich indessen noch Gelegenheit bieten, ihm den Juden aufzurücken.“ In einer Zeit des Aufbruchs bleiben auch die „Gelehrten und Freigeister“ dem judenfeindlichen Ressentiment verhaftet und frönen dem völkischen Antisemitismus. 103 Anfang des 20.-Jahrhunderts finden sich in den gängigen Nachschlagewerken dennoch Einträge zu Daniel Sanders, aber auch diese belegen eine Marginalisierung seines Werks. Wird sein Wörterbuch im Jüdischen Lexikon 1930 als „Standardwerk ersten Ranges“ und Sanders selbst als „berühmter Lexikograph“ bezeichnet, findet sich im Brockhaus gönnerhaft der Hinweis, der Forscher habe „rühmlichen Sammelfleiß“ bewiesen. In der Allgemeinen Deutschen Biografie aus dem Jahr 1907 wird Sanders ausführlich „gewürdigt“, „daß er das als Jude mit solcher Hingebung und mit so augenscheinlichem Erfolg that“. Die „werthvollen Dienste“ und „das Werk eines gescheiten Kopfes, wenn auch eines engen Geistes“ werden herablassend mit „Abstand“ zu den Grimms beschrieben, denn „er ist niemals tiefer in die Geschichte unserer Sprache eingedrungen“ und „dass Jacob Grimm- … (ihn) wie ein ekles Gewürm abschüttelte, war verständlich“. Gelobt wird seine „Hingabe als Jude“ unter seinen „Glaubensgenossen, die sich gleich ihm als Deutsche fühlen wollten“. Unmissverständlich kommt in diesem Satz die völkisch-antisemitische Einstellung zum Ausdruck, dass deutsche Juden, auch wenn sie es noch so sehr wünschen und wollen, niemals wirkliche Deutsche sein könnten. Aufschlussreich ist: Sucht man aktuell im Internet Informationen über Daniel Sanders erscheint ohne kritischen Kommentar bei Wikipedia z.-B. unter „Literatur Auswahl“ und Wikisource sowie bei Google-Suche bereits beim dritten Eintrag eben dieser mit völkischen Antisemitismen reich bestückte Text. Einen Warnhinweis zu diesem Text gibt es nicht. Im gebildeten Antisemitismus der NS-Zeit wird Sanders dann komplett „gelöscht“. Ab 1933 betreiben die Universitäten die „Arisierung der Akademien“, in der germanistischen Zeitschrift Muttersprache proklamiert man den „Entjudungskampf “ und geht „gegen Kulturjudenschaft“ vor. Auf Sanders Feld der Wortschatz- Analysen erscheinen Aussagen wie „die deutsch-Juden wollen wir nicht- …zum deutschen Volkstum rechnen“. Sanders Werk wird 104 durch Nichtbeachtung ausradiert. Die Verdrängung seiner Forschung in der NS-Zeit führt dazu, dass seine Leistungen in Vergessenheit geraten, zumal auch nach 1945 keine Re-Evaluierung erfolgt, da Germanistik und Sprachforschung an den Universitäten zum Teil noch erheblich von eben den Professoren gelehrt werden, die in der NS-Zeit für die Diskreditierung jüdischer Forschung gesorgt hatten. So habe auch ich während meines Studiums der Germanistik und Philologie den Namen Daniel Sanders nicht ein einziges Mal gehört oder gelesen. Das Schweigekartell der Nachkriegszeit mit seiner Nicht-Kommunikation über die Gräueltaten und das Unrecht der NS-Zeit verhinderte über zwanzig Jahre lang eine angemessene und wirkungsvolle Aufarbeitung. Als Ende der sechziger Jahre mit den Auschwitzprozessen viel zu spät und gegen zum Teil erheblichen Widerstand in Politik und Gesellschaft, die nur zögerlich und halbherzig beteiligt waren, eine zumindest juristische Aufarbeitung eingeleitet wurde, kamen echte und nachhaltige Schuld- und Schandesowie Empathie-Diskurse nicht zu Stande (vgl. Kap.-13). Das lange Verschweigen und Verdrängen hatte die Chance dafür zunichte gemacht. Entsprechend gab es auch an den meisten Universitäten und Akademien kein Bemühen, die Leistungen diskreditierter, vertriebener oder ermordeter jüdischer Wissenschaftler wieder ans Licht zu bringen. Sanders war kein Einzelfall. Ähnlich ging man z.-B. mit den wegweisenden Analysen des Philologieprofessors Hans Sperber um, der in die USA immigrieren konnte. Er hatte vor seiner Flucht maßgeblichen Anteil an Trübners-Deutschem-Wörterbuch gehabt, wurde jedoch nach 1945, als das Wörterbuch fortgeführt werden sollte, nicht kontaktiert. Im Jahr 2021 erinnerte die Ruperto Carola Ringvorlesung der Universität Heidelberg an einen der vielen jüdischen Wissenschaftler, die von Deutschlands Universitäten zunächst klein gehalten und dann vertrieben oder ermordet wurden: Otto Meierhof, Mitbegründer der modernen Chemie und 1922 Nobelpreisträger für Medizin, erhielt trotz seiner herausragenden Leistungen und internationalen 105 Anerkennung keinen Lehrstuhl, denn zu viele Juden wollte man im hohen akademischen Milieu nicht haben (s. hierzu Schmitt/ Reichman 2022), sondern lediglich eine Assistenz in Kiel. Aufgrund der zunehmenden Schikanen und Demütigungen verließ auch er Deutschland. Dass die exzeptionellen Leistungen von jüdischen Gelehrten auch von hoch gebildeten und liberalen Personen abgelehnt und minimiert wurden, zeigt, wie stark und wie selbstverständlich Judenfeindschaft kulturell als ein tiefsitzendes Ressentiment in allen Gesellschaftsschichten verankert war. Bildung war und ist kein Garant gegen Antisemitismus. Die Beschäftigung mit Daniel Hendel Sanders öffnet daher auch die Augen für die Wirkmacht der kulturhistorischen Kategorie ‚Judenfeindschaft‘, die auch und gerade an Universitäten und im akademischen Leben ihre Wirkung zeigt(e). Die Stadt Neustrelitz vergibt mittlerweile seit Jahren jährlich den Daniel-Sanders-Sprachpreis und den Daniel-Sanders-Preis für Kultur und Demokratie und ehrt somit posthum den Gelehrten. In Sprachwissenschaft und Germanistik jedoch sucht man bis heute vergeblich nach seinem Namen. Als ich 2019 anlässlich des 200. Geburtstages von Sanders unter Hundert Akademikerinnen und Studierenden fragte, was ihnen zu Daniel Sanders einfalle, gab es nur eine einzige affirmative Rückmeldung. Eine Germanistik- Professorin aus Italien gab an „sie habe den Namen schon irgendwann einmal gelesen, erinnere sich aber nicht mehr, in welchem Zusammenhang“. 106 Negierung und Nivellierung heute: falsche Kontrastierungen, Auge-um-Auge-Zitate und Umschreibungen Alles nur Geschichte? Keineswegs, denn bis heute finden sich ähnliche Tendenzen des aktiven Verschweigens in Bezug auf positive Aspekte des Judentums (und folgen damit der uralten Tradition, Jüdisches negativ zu bewerten). Unvorstellbar, dass in einem Luther-Jubiläumsjahr oder einer Ausstellung auf die Nennung der besonderen Leistungen des Reformators verzichtet würde mit der Begründung, diese könne Animositäten gegenüber Protestanten wecken. Doch bei Juden scheint dies niemanden ernsthaft in Verwunderung zu setzen. Nur nicht den Eindruck evozieren, man poche auf „das auserwählte Volk“, bloß nicht Neidgefühle durch Verweise auf exzeptionelle Leistungen schüren? Der Umgang mit dem 2019 publizierten Buch 222 Juden verändern die Welt von Mario Markus zeigt exemplarisch, wie problematisch es auch im 21.-Jahrhundert ist, jüdische Leistungen und die herausragende Rolle des Judentums in der Welt exponiert anzuerkennen. Wo, wenn nicht in einem jüdischen Museum, sollte ein solches Werk vorgestellt und diskutiert werden? Das jüdische Museum Berlin allerdings zeigte unter der damaligen Leitung kein Interesse daran. Nach einer Bedenkzeit gab man zu verstehen: Man wolle lieber verzichten, es werde als kontraproduktiv angesehen, Jüdisches so herauszustellen. Dafür gab es aber eine Ausstellung über Jerusalem, die die herausragende religiöse und kulturelle Relevanz der Stadt für das Judentum nur am Rande thematisierte und in Teilen sogar das anti-israelische Narrativ des antisemitischen Israel-Diskurses bediente. In einem „jüdischen Museum“ darf es keine Betonung des Wertvollen, Innovativen und Genuinen jüdischer Religion, Philosophie, Kultur, Kunst und Forschung geben? Ist die Norm dermaßen auf die Herausstellung des Negativen und auf die Opferrolle bzw. in Bezug auf Israel die Täterrolle festgelegt? Darf man neben der Vorstellung von einigen Alltagsritualen 107 und Hintergrundinformationen nicht betonen, wie erstaunlich es ist, dass jüdische Menschen trotz aller Schikanen und gegen alle Widerstände Herausragendes geschaffen haben? Desinteressiert reagierten auch andere Institutionen sowie die Redaktionen der großen Zeitungen. Es findet sich lediglich in einigen Lokalblättern ein Hinweis auf das Buch. Wie ungewöhnlich in einer Welt, in der Kultur, Religion und Wissenschaft sonst geneigt sind, ihre ureigenen Vertreter medial zu positionieren. Jüdische Leistungen aber sollen nicht fokussiert werden. Ist die Sorge der Grund, man könne dadurch antisemitische Gefühle evozieren? Dann haben die Verantwortlichen wohl nicht verstanden, dass allein die jüdische Existenz für Antisemiten Ärgernis und Provokation in der Welt ist und nicht, was Juden je taten oder nicht taten. Liegt die Zurückhaltung eventuell nicht eher am jahrhundertealten Anti- Judaismus-Narrativ, das Juden als Gegenentwurf zur christlichen Welt entwertete und stets nur die „Schattenseite“ des Judentums thematisierte? Die Verfemten, die Ausgegrenzten, die Dunkelmänner plötzlich als herausragende Lichtgestalten anzuerkennen, ist das zu drastisch im Kontrast zur Geschichte? Wenn sich „die Kindermörder, Geldmenschen, rachsüchtigen Ränkeschmieder“ als herausragende Musiker, Schriftsteller, Philosophen, Nobelpreisträger, Forscher entpuppen, kommt es dann zum Clash im kollektiven Bewusstsein? Raubt das womöglich nicht nur überzeugten Antisemiten die Grundlage ihres Glaubenssystems? Entzaubert und dekonstruiert dies zu sehr das allgemeine Weltbild einer an Aufklärung glaubenden Gesellschaft? Zerstört dies den letzten Mythos zum „Abendland“? Zu diesen Überlegungen passt, dass im Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben“ eine auf bewusste Gegendarstellung ausgerichtete Aktion wie Wir Juden nicht die Beachtung fand, die sie verdient hätte. Dass durch die jüdische Religion u.- a. die bis heute unser gesamtes Zusammenleben prägenden zehn Gebote, als moralische Basisregeln für einen menschlichen Umgang, in die Welt kamen, 108 wird allzu oft ignoriert (s. hierzu auch Trepp 2022). Stattdessen betont man kontrastiv christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit als wahre Tugenden. Die ersten Teile der Bibel werden in der Öffentlichkeit und im massenmedialen Diskurs immer noch abwertend als „altes Testament“ bezeichnet, ein Anachronismus also, der durch das „neue Testament“ der Christen abgelöst wurde. Auch wenn viele Theologen sich seit langem um einen weniger bipolar wertenden Sprachgebrauch bemühen und von der „ersten“ oder „der jüdischen Bibel“ schreiben, so hält sich in der Alltagssprache hartnäckig die Alt-neu-Opposition. In der Neujahrsansprache 2022 eines sehr bekannten Theologen und Publizisten werden der Grausamkeit von „alter israelitische[r] Gesellschaft“ und „mosaische[m] Gesetz“ antonymisch die neue Barmherzigkeit von Jesus gegenübergestellt. Der jüdischen Bibel werden vor allem Inhalte der Rache und Gewalt zugeschoben, was sich wiederholt beim aus dem Kontext falsch herausgerissenen „Auge um Auge“ zeigt: Die wahre Bedeutung verschweigen (oder nicht kennen) und eine negative zuordnen. In der Sendung Büchermarkt des DLF im Juli 2021 zum Rache-Phänomen wird das „zügellose und blutrünstige“ Rache-Konzept von der Moderation in einem Atemzug mit „Auge-um-Auge“ genannt (www.deutschlandfunk.de/ rache-ueber-einen-blinden-fleckder-moderne-fabian-bernhardt-im-gespraech-dlf-be90276e-100. html). Dabei kann man sogar beim Wikipedia-Eintrag nachlesen, dass diese Formel historisch das Gegenteil, nämlich die Abschaffung der Rachepraxis bezeugt. Die Bücher Mose, in denen diese Phrase erwähnt wird, belegen klar, dass ein modernes Gesetz des Schadensausgleichs damit gemeint ist. Für Leid und Schmerz sollen die Opfer entschädigt werden. Doch der eingeladene Rache- Buch-Autor setzt nach und vertieft: „Das Alte Testament ist ja noch relativ voll von göttlichem Zorn und Rachegeschichten und dann mit dem Gebot der Feindesliebe ändert sich das natürlich, ändert sich die moralische Bewertung da ganz massiv.“ Das Christentum 109 also als moderne mildtätige Instanz, die den Wandel erbringt, sich vom alten brutalen Gedankengut zu lösen. Das ist die klassische Judenfeindschaft mit ihrer Antonymie-Semantik, doch weder Autor noch Moderatorin kam dies zu Bewusstsein. Wir sehen daran: Es gibt eine nicht-intentionale Form des Nicht-Sagens, die toxisch wirkt. Erwähnt wurde dies bereits hinsichtlich der ausbleibenden Erklärung zur Genese von Judenhass in der Welt (vgl. Kap. 9). In den frühen anti-judaistischen Schriften zeigen sich auch bereits die Negierungen und Umdeutungen von jüdischen Errungenschaften und Leistungen, die bis heute gang und gäbe sind. Aus Joshua, dem Juden, wird Christus, der Heiland, der „erste Christ“ (obgleich es keinerlei Hinweise dafür gibt, dass Jesus eine neue, vom Judentum entfernte Religion kreieren wollte; die Ablösung von den jüdischen Gesetzen erfolgte erst durch Paulus) losgelöst von seinen jüdischen Wurzeln, transformiert zu einem Wesen jenseits des Judentums. Auch Abraham wird bereits im Barnabasbrief (Ende des 1. Jh.), einem früh-christlich-theologischen Traktat und in nachfolgenden Texten als „erster Christ“ stilisiert. Aus den ehemaligen Glaubensbrüdern werden „Anti-Christen“, die sich dem „wahren Glauben“ verweigern. Aus dem „auserwählten Volk Gottes“ wird ein „verfemtes Volk“, das keinen Anspruch auf göttliche Erlösung hat und von Gott selbst verdammt wird. Auschwitz war diesbezüglich keine Zäsur: Als 1948 der Film The Gentleman’s Agreement von Elia Kazan, in dem es um Alltagsantisemitismus in den USA geht, frei gegeben und in vielen Ländern ausgestrahlt wird, setzt die spanische Zensurbehörde den Film „aus moralischen Gründen“ auf ihren Bann-Index. Das kirchliche Mitglied der Filmbehörde hatte moniert, dass „die Juden, als Feinde der heiligen Kirche, als solche verachtungswürdig gezeigt werden sollten“ und „es keinen Grund gebe, auf Gottesmörder stolz zu sein“. Juden dürfen also nicht auf sich selbst stolz sein, und die Welt darf ihnen keine Achtung entgegenbringen, das war die Botschaft drei Jahre nach der Shoah. In Deutschland (BRD) wird der Film erst 1963 und 110 in Österreich 1964 unter dem unpassenden und irreführenden Titel Tabu der Gerechten gezeigt. Heute sucht man im Dauer-Wiederholungs-Programm der deutschen Fernsehsender vergeblich nach einer Ausstrahlung dieser eindrücklichen Aufarbeitung der leisen alltäglichen Judenfeindschaft in der Zivilgesellschaft, obgleich der Film aktueller denn je ist. Dass jüdische Figuren de-kontextualisiert und christianisiert werden, ist bis heute eine populäre kommunikative Praxis. In diesen Prozessen der Reformulierung finden sich dann Re-Konzeptualisierungen der Art „Jesus sei Palästinenser“ gewesen. Die UNO agiert seit langem auf politischer Ebene in dieser geschichtsverfälschenden Tradition, wenn sie den Tempelberg einzig mit dem arabisch-muslimischen Namen benennt und die jüdische Geschichte dazu ausblendet. In den letzten Jahren war zudem vermehrt zu beobachten, dass darüber diskutiert wird, aus historischen Texten die Wörter Zion und Israel komplett zu streichen. Eine Form der Cancel Culture, nur geht diese in die umgekehrte Richtung. Gelöscht wird nicht, was verletzend oder diskriminierend wirken könnte. Verbal zerstört werden Spuren jüdischer Geschichte. Das nennt man Datenfälschung. Teile der modernen Bibelforschung, dies hat in den letzten Jahren vor allem die evangelische Theologin und Forscherin Petra Heldt wiederholt aufgezeigt, marginalisiert in klar ideologischer und nicht wissenschaftlicher Ausrichtung die Historiographie Israels in der Geschichte. Sprachlich zeigt sich dies durch Substitutionen: Jüdische Königsnamen verschwinden oder werden ausgetauscht, es kommt zu Streichungen von israelbezogenen Stellen in alten Dokumenten oder archäologischen Befunden. In solchen geopolitischen Umschreibungen gab es dann das Land Israel nie. Das Nomen Israel gibt es in dieser „Geschichtsschreibung Palästinas“ nicht mehr (z.- B. in Mitri Rahebs Buch Glaube unter imperialer Macht). Die Bibel ist die des Nahen Ostens, in dem Israel und Juden keine Rolle spielten. So versucht man, auch historische Realitäten auszuradieren. Fakten werden verschwiegen, 111 was sich besonders eklatant in der Ausblendung antiker Schriftbefunde zeigt. So bekundet unzweideutig bereits vor über dreitausend Jahren eine bekannte ägyptische Stele den Namen Israel als geopolitische Macht der damaligen Zeit. In orwellscher New- Speak-Tradition wird aber gelöscht, was ideologisch nicht passt. So wird Israel abgeschafft, durchs Verschweigen ausgemerzt, um nicht nur aktuell, sondern auch historisch jedwedes Recht auf jüdisches Leben im Nahen Osten kategorisch in Abrede zu stellen. Rational betrachtet sollte man erwarten, dass solche Texte scharf kritisiert und zurückgewiesen werden. Mitnichten. Teile der Medien und weite Teile linker Gruppierungen feiern diese Texte als innovativ und relevant. Edward Said etwa wird bis heute als einer der einflussreichsten Intellektuellen zu diesem Thema stilisiert, obgleich hinreichend bekannt ist, dass er es mit Daten und historischen Realitäten nicht immer genaugenommen hat (um es euphemistisch auszudrücken, die Expertin Petra Heldt formuliert es drastischer: „Seit fast zwanzig Jahren ist Said bekannt als Datenfälscher“). Und immer wieder fällt auch bei Reisebeschreibungen oder -ankündigungen evangelischer Organisationen auf, dass der Name des Landes, Israel, nicht benutzt wird. Stattdessen kommen Umschreibungen wie Heiliges Land oder Palästina (obgleich es ein Land dieses Namens gar nicht gibt). Dass Nicht-Thematisieren von jüdischen Leistungen und Errungenschaften erstreckt sich modern auch auf die Start-up-Nation Israel. Dass das kleine Israel in Rankings zu Unternehmergeist, Technologie und Patentanmeldungen weltweit hoch oben steht, wird kaum einmal erwähnt. Es steht fast ausschließlich im Fokus von Negativ-Krisen-Schlagzeilen (vgl. Kap.- 16). Von den zahlreichen israelischen Erfindungen, die unser alltägliches Leben maßgeblich prägen und verbessern, hört und liest man nicht viel. Doch wenn es um die umstrittene und kritisierte Spionage-Abhörsoftware Pegasus geht, fehlt fast nie der Hinweis, sie sei in Israel entwickelt worden. Von meinen Studierenden wusste nie jemand, dass u.- a. 112 der USB-Stick, die Navigations-App-Waze, die ökologisch wertvolle Tropfbewässerungstechnologie, die LinX-Kamera-Technik oder die medizinisch wichtige Pill-Cam, eine Kamera zum Verschlucken und Aufspüren von Magenerkrankungen, israelische Erfindungen sind. Freies Assoziieren zu Israel bringt in den Seminaren stets nur „Nahostkonflikt“ und „Krisenregion“. Am meisten Erstaunen rief in diesem Zusammenhang die von Israelis gezüchtete Kirschtomate hervor. Ist es so schwer, im semantischen Feld ‚Lebensqualität‘ etwas zu verorten, was jüdisch oder israelisch ist? So leiden Juden, die in der Geschichte die Opfer eines religiösen Macht- und Hoheitskrieges wurden, unter dessen toxischen Auswirkungen bis zum heutigen Tag. Der kommunikative Habitus des Verschweigens ihrer Leistungen und Beiträge in der Welt ist dabei nur eine von vielen aktuellen Herabwürdigungen. 113 10 „Es ist doch nur so dahingesagt und nicht böse gemeint“: Du Jude! als Schimpfwort und andere alltagstaugliche Antisemitismen „…-würde mich sehr freuen, wenn das Beispiel: „Du handelst wie ein Jude“ aufgenommen und beschrieben/ erklärt werden würde. Ich musste mir diesen Satz in meiner Familie schon mindestens 3 mal anhören und trotz Diskussion gab es keine Einsicht, dass es purer Antisemitismus ist.“ (E-Mail eines jungen Mannes an Stopantisemitismus.de, 2020) „Politik und vor allem Israel und der Nahe Osten interessieren mich überhaupt nicht. Ich weiß nur, dass Jude bei uns an der Berufsschule ein Schimpfwort ist.“ (E-Mail von einer Berufsschülerin an die Israelische Botschaft Berlin, 14.5.2018) Schüler, die in der Klasse oder auf dem Schulhof ihre Mitschüler mit „Du Jude! “ beschimpfen, Eltern, die „Du handelst aber jüdisch“ als Kritik an einem bestimmten Verhalten artikulieren, Kommentare bei Twitter, die „Ihr Juden! “ in unterschiedlichen Kontexten mit beleidigender Absicht kommunizieren, „Juden- Juden“-Gegröle in Fußballstadien, „Scheiß-Juden“ als Bezeichnung für linke Friedensdemonstranten. Daneben existieren die vielen Pejorativkomposita mit dem Lexem Jude in Erststellung wie Judenzopf (verfilzte Haartracht), Judengold (imitierte Vergoldung), Judennase (besonders große und gekrümmte Nase), die im Umgangsdeutschen wie auch in dialektalen Mundarten bis heute geläufig sind. Jud ist in der Wiener Mundart ein Ausdruck für ‚unerwünschte Falte beim Bügeln‘; auch ein Fehler, Riss oder Loch in der Kleidung wird mundartlich und umgangssprachlich als Jud bezeichnet (s. u.-a. Piwowar 2015 zu Mundart-Phrasen sowie Gutknecht 2011). Und nicht nur im Deutschen: Jew down a price, das Feilschen um niedrigere Preise bei Finanzaktionen, wird z.- B. in Gone with the Wind benutzt. Das Buch wurde aber nicht deshalb 114 auf einen Index gesetzt, sondern weil es stereotype Darstellungen von Schwarzen enthält. Im politisch rechten wie verschwörungsfantastischen Diskurs ist das Kompositum Judenpresse ein häufig benutztes antisemitisches Schlagwort aus der Nazi-Zeit, das auch übergeneralisierend für liberale Pressevertreter benutzt wird, zuletzt z.-B. öffentlich in Braunschweig 2020 bei einer Demonstration der rechtsextremen Partei Die Rechte, wenngleich die Justiz seine Verwendung großzügig als „grenzwertig“ auslegte. Die Palette von kommunikativen Handlungen, in denen das Wort jüdisch in grammatischen Variationen als Schmähwort verwendet wird, ist also lang. Die Religionsbezeichnung wird dann jenseits der konventionellen Bedeutung mit negativer Bewertung als Invektiv benutzt, mit schmähender, herabsetzender und beleidigender Absicht. Seit zwei Jahrzehnten ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche sich so das Wort an den Kopf werfen. Du Katholik, Protestant, Hindu, Muslim oder Buddhist rufen sie nicht. Als im Wintersemester 2009/ 10 eine Gruppe meiner Lehramtsstudierenden im Rahmen eines Antisemitismus-Seminars an der FSU Jena den Gebrauch des Wortes Jude auf Schulhöfen mit einem Fragenbogen an thüringischen Schulen genauer erfassen wollten, erhielten sie ohne Ausnahme nur Absagen: „Unsere Schüler sind keine Antisemiten“ oder „Das bekommen wir nicht durch den Elternbeirat“ oder „Das ist doch nie böse gemeint“ sagten und schrieben die Schulleiter und wiegelten ab. In manchen akademischen Kreisen finden sich ähnliche Bagatellisierungen: Es handele sich lediglich um eine Provokation, die Kinder wüssten gar nicht, was sie da sagten. Die Empirie sagt etwas anderes. Schon 2010 gibt Wolfram Stender zum Umgang deutscher Schülerinnen und Schüler mit antisemitischen Stereotypen an, es „gäbe kaum einen Schüler, der nicht das Schimpfwort Du Jude kenne und auch ganz genau wisse, was damit gemeint sei: hinterhältige, verlogene, geizige, unsolidarische Mitschüler“ (vgl. Stender 2010; s. auch Bernstein 2020). 115 Wer andere beschimpft, will beleidigen, verletzen. Kommunikativ kommt diesem Sprechakt eine Bestrafung des Angesprochenen zu, denn verbal wird eine persönliche oder soziale Schmähung artikuliert. Dabei greift man in der Regel auf das Reservoir der Maledikta, wörtlich ‚schlechte Wörter‘, der Schimpf-Fluch-Schlagwörter zurück. Neben ethnisch-rassistischen Schimpfwörtern (Kanake, Fidschi, Nigger) sind dehumanisierende Wörter aus dem Fäkal- und Unratsbereich (Scheißkopf, Drecksau, Drecksack, Mistpack) Teil der pejorativen Lexik, aber auch Eigenschaftsinvektive (wie Geizkragen, Fettsack, Blödmann), die sich auf Charaktereigenschaften oder das Aussehen einer Person beziehen. Wer Jude in schmähender Absicht artikuliert, gibt dem Wort somit den Status ‚Malediktum‘. Semantisch wird damit Jüdisch-Sein insgesamt herabgewürdigt. Keineswegs wird Du Jude in beleidigender Funktion nur als Synonym zu Du Opfer verwendet. Vielmehr kommunizieren viele und nicht nur junge Menschen mit dem Wort partikulare Stereotype wie ‚Geiz, Hässlichkeit‘ oder ‚Hinterhältigkeit‘. Dies spiegelt sich auch in Attributszuschreibungen in Sätzen wider. Vor einigen Jahren erhielt ich u.- a. die folgende E-Mail besorgter Eltern: „Ein gleichaltriger Mitschüler sagte zu unserem Sohn, Juden sind fett und hässlich. Gibt es für Sie eine Erklärung, weshalb und aufgrund welcher Gesinnung oder Beeinflussung ein 12-jähriger Knabe eine solche Aussage macht? “ Das Stereotyp des ‚fetten und hässlichen Juden‘ ist stark ausgeprägt im 19. und frühen 20.- Jahrhundert auf Postkarten, z.- B. beim sogenannten Bäder- Antisemitismus, in Karikaturen, Spottgedichten, aber auch in den bis heute viel gelesenen Romanen des 19.-Jahrhunderts. Da solche Stereotypzuweisungen seit Jahrhunderten massiv auch die Alltagskommunikation prägen, kann der Junge es zu Hause oder im Freundeskreis gehört, in einem Buch oder im Internet in einem der zahlreichen Online-Foren oder Ratgeber-Portalen gelesen haben. Das Internet 2.0 verbreitet Antisemitismen massenhaft, schnell, multimedial, also durch Wort, Bild, Audio, Video, und in allen 116 Bereichen der sozialen Medien frei zugänglich (s. Schwarz-Friesel 2019: Kap. 6, Jacobs 2020, Sosada 2022). Bei Twitter finden sich regelmäßig stereotypstabilisierende Äußerungen der Art „Ich hasse geizige Familienmitglieder. ALLES JUDEN -…“. Oder im persönlichen Gespräch durch „Du handelst wie ein Jude“: Das Beispiel des jungen Mannes, der an Stopantisemitismus.de schrieb und zugleich beklagte, wie uneinsichtig die eigene Familie in Bezug auf den antisemitischen Gehalt sei. Die Angehörigen vermitteln mit solch einer Äußerung unzweideutig die Lesart ‚Dein Benehmen ist kritikwürdig, weil es typisch jüdisch ist und jüdisch ist mies‘. Es sind Äußerungen, mit denen die Sprachproduzenten eine Stereotypzuschreibung mit negativem Inhalt vermitteln. Diese charakterisiert das Wesen, das Aussehen oder das Verhalten des Gegenübers. Solche Phrasen und Wörter werden aufgegriffen, v.-a. unter Gleichaltrigen weitergetragen und im Sprachgebrauch verfestigt. Sie bezeugen die toxische Wirkkraft der alten Konzepte. Und immer bleibt etwas Anrüchiges hängen. Wie beim Verdachtsmoment eines Gerüchts: Je öfter es weitergetragen wird, desto mehr wird es geglaubt. Neben einzelnen stereotypischen Bedeutungen vermitteln Juden-Invektive aber auch allgemeine Entwertungen. Wenn Fans im Fußballstadion „Juden-Jena“ grölen, spielen nicht einzelne Stereotype eine Rolle, sondern die Gesamtabwertung. Damit wird ein Brauch der antisemitischen Kommunikation aufgegriffen und re-aktiviert, die das Wort Jude als Schimpfwort mit der allumfassenden Bedeutung ‚anders, schlecht, böse, minderwertig‘ zweckentfremdetet und es damit in strikter Opposition zur Wir-Gruppe der Sprachproduzenten benutzt. Dabei sind es nicht notwendigerweise Juden, die als Gegner konzeptualisiert werden, wie die „Juden-Jena“-Gesänge belegen. Die gegnerische Mannschaft ist ‚der Feind‘. Jude hat hier den Status eines Abstraktums, das jederzeit als Ausdruck der Verachtung und des Hasses für Missliebiges benutzt werden kann. 117 Jude bezieht sich in solchen Beschimpfungen nicht auf tatsächliche Juden. Daher kann es in so vielen verschiedenen Kontexten als Fluch-, Schmäh- oder Schimpfwort benutzt werden. Seine eigentliche Bedeutung als Appellativum ‚Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft‘ rückt dabei in den Hintergrund. Sie ist aber immer die semantische Rückwand bei ansonsten flexiblen Lesarten. Das mentale Modell ‚Jude‘ mit seinen negativen Stereotyp-Rollen und der kollektiven Emotion Judenhass ermöglicht eine solche Sprachpraxis. Im Web spiegelt sich dies international wider: Auf russischen Facebook-Seiten werden z.-B. alle Politiker, die man besonders diskreditieren will, als Juden beschimpft. Tendenzen, die als besonders schlecht bewertet werden, erhalten die Bezeichnung jüdisch wie im Facebook-Eintrag „Russen mutieren endgültig zu Juden“ (Facebook, 6.4.2018). Dabei finden sich sowohl das pejorative Zhid als auch das neutrale Evrei (Hebräer). Aber auch ausländische Personen erhalten diese Zuordnung, so wurde 2018 Angela Merkel wiederholt in den russischen sozialen Medien als „Juden-Hure“ beschimpft, was auch im deutschsprachigen Web keine Seltenheit ist. Im gesamten Web 2.0 ist Jude längst in vielen Kommunikationsbereichen ein Quasi-Synonym für ‚Gegner‘ oder ‚schlechte Menschen‘. Solche konzeptuellen Verschiebungen blicken auf eine sehr lange Tradition zurück: Einen Hinweis auf die frühe Verwendung des Lexems Jude als Schimpfwort, ohne dass es auf Juden referiert, findet man, so der Historiker Joseph Shatzmiller, bei Bernhard von Clairvaux (11./ 12.- Jahrhundert). Zwischen 325 und 1139 hatte die Kirche die Tätigkeit des Zinsverleihs für Christen verboten. Und obgleich die Geistlichen in ihren Traktaten die angebliche Geldsucht der Juden attackierten sowie „Juden und Wucher“ gleichsetzten, griffen viele Klöster lebenspraktisch selbst auf den Zinsverleih zurück. Clairvaux verurteilte diese Praxis „der Juden“ und bezeichnet dann die christlichen Geldverleiher „als noch schlimmer als die Juden“. Christen, die Wucher betreiben, 118 würden so zu „getauften Juden“. Im 19.- Jahrhundert verdichtet sich diese Sprachgebrauchspraxis dann ganz massiv: Undeutsch und jüdisch werden wie Synonyme benutzt, etwa in Rezensionen zur Musik Mahlers, Offenbachs, Mendelssohn-Bartholdys. Und keinesfalls ist es nur Wagner, der sein Gift gegen jüdische Musiker versprüht. Komposita wie Judenmusik und Judenmusiker sind gängige Schmähwörter, lange bevor die Nationalsozialisten - dokumentiert durch Klemperers LTI - unzählige Zusammensetzungen (wie Zähnejuden für jüdische Zahnärzte) bilden und in den öffentlichen Sprachgebrauch werfen. In der Weimarer Republik kommen noch die jüdischen Börsenhyänen und der alljüdische Einfluss dazu (s. auch Eitz/ Engelhardt 2015). Albert Einstein wird als „Anti-Christ“ beschimpft und als „jüdischer Scharlatan“. Und zwischen den Zeilen vermittelt Heidegger typisch judenfeindliche Konzepte bei seiner Kritik an Cassirer, wenn er ihm vorwirft, ein „tieferes Verständnis von Menschlichkeit werde blockiert und keine wahre Produktivität“ sei zu erkennen. Als Jude oder jüdisch werden neben der antisemitischen Verwendung (jüdisch in Opposition zu deutsch; vgl. Kap. 8) aber auch oft nicht jüdische Menschen beschimpft und delegitimiert, die eine Meinung oder ein Verhalten an den Tag legten, das abgelehnt wird (s. hierzu auch Nirenberg 2013). Dadurch wird jüdisch als Fremdbezeichnung bedeutungserweiternd zu einem polysemen, einem mehrdeutigen Schimpfwort. Ideen von akademischen Opponenten und wissenschaftliche Ansätze werden als jüdisch oder verjudet bezeichnet, aber auch politische Gegner und deren Bestrebungen. Von der „Verjudung des deutschen Geistes“ ist die Rede. Die Kantstudien werden als verjudet gesehen, Vertreter der Wissenschafts- und Philosophie-Kommunikation bedienen sich vielfach dieser Vokabeln. Philipp Lenard, Nobelpreisträger für Physik, warnt seine Studenten vor zu viel Mathematik, da die „jüdischen Gedanken“ darin das Gefühl für natürliche Wissenschaft töte. Diese Sprachgebrauchs-Praxis ist so inflationär, dass die Central-Vereins-Zeitung, 119 eine jüdische Wochenzeitung von 1922-1938, dies am 30. November 1923 folgendermaßen zusammenfasst: „Gewissenlose Hetzer suggerieren der Welt, dass jüdisch alles ist, was missfällt.“ Das Wort Jude zweck- und sinnentfremdet als Schimpfwort zu benutzen, gehört zu den vielen wiederkehrenden Ausdrucksformen des Judenhasses in der europäischen Kultur.-Da ist es wenig hilfreich zu versuchen, das Lexem zusätzlich noch durch überzogene politische Korrektheit zu stigmatisieren, denn das geht genau in die falsche Richtung. In einem Buch über Rassismus, das 2021 erschien, schreibt die Autorin zu Jude „Auch wenn es teilweise als Selbstbezeichnung verwendet wird, bleibt es historisch belastet, wenn nicht-jüdische Personen diesen Begriff verwenden. Deswegen kürze ich das Wort Ju. in direkten Zitaten ab (als Ju. und nicht nur als J., weil dies das Signum war, das der NS jüdischen Menschen aufzwang) und spreche andernfalls von jüdischen Menschen oder Jüd*innen.“ - und merkt offensichtlich nicht, dass gerade diese Praxis Jüdinnen und Juden beleidigt und zudem eine Pejorisierung des Wortes vorantreibt. Nicht die Juden haben ein Problem mit ihrer Eigenbezeichnung, sondern wohl eher Nicht-Juden, die aus dem Wort ein Tabu-Phänomen machen: „Der dessen Name nicht ausgesprochen wird.“ Ich kenne jedenfalls keinen einzigen Juden, der sich gekränkt fühlt, wenn er als das bezeichnet wird, was er ist. Meine Studierenden entwickelten am Ende einen Fragebogen mit Geschichten aus dem Alltag von Jugendlichen (Zielgruppe Alter 13-18), der den Gebrauch von Du Jude als Schimpfwort untersuchen sollte. Damit die Befragten nicht erkennen sollten, dass es um Verbal-Antisemitismus ging, wurde die Befragung verschleiert unter „Jugendsprache“ ausgegeben. In den zwölf vorgelegten Geschichten waren neben dem Wort Jude immer jeweils vier weitere Bezeichnungen (z.-B. bei Geiz-Geschichte noch Schotte, Araber usw.; bei Empörung über Verhalten Volltrottel! Idiot! ) als ablenkende „Distraktoren“ eingebaut. Die Fragebögen wurden in Jugendclubs in Plauen (Sachsen) und Jena (Thüringen) verteilt, 120 wobei 85 ausgefüllt wurden. Das Ergebnis: Insgesamt 60-% der Befragten halten Jude für ein prinzipiell einsetzbares Schimpfwort. 26-%, also etwa ein Viertel aller Befragten, würde in den jeweiligen Geiz-, Hinterhältigkeits- und Empörungs-Situationen Jude ohne Probleme für geeignet halten, damit ihr Gegenüber zu kritisieren. Gibt das nicht zu denken? Jude in beleidigender oder verfluchender Funktion zu benutzen, ist eine No-Go-Kommunikation, die nicht unwidersprochen bleiben sollte. Dass dabei oft unabsichtlich antisemitisches Gedankengut als Botschaft vermittelt wird, schmälert nicht die toxische Wirkung. Gerade Kinder und Jugendliche sollten angesprochen und entsprechend sprachkritisch sensibilisiert werden. Dieses Thematisieren stigmatisiert sie nicht als Antisemiten, sondern gibt die Chance zu lernen, bewusst und verantwortungsvoll mit Sprache umzugehn. Das Wort Jude in beleidigenden Sprechakten zu benutzen, ist nie harmlos. Unabhängig von der Absicht der Sprachproduzenten wird die alte Denkschablone des judenfeindlichen Ressentiments aktiviert und in der Kommunikation reproduziert. Mit allen dazu gehörigen Assoziationen. Durch die wiederholte Verwendung der Religionsbezeichnung als Schmähwort könnte eine Bedeutungsverschiebung stattfinden, die aus den Assoziationen langfristig eine intersubjektive Konnotation, also eine von der gesamten Gesellschaft im Lexikon gespeicherte affektive Zusatzbedeutung, entstehen lässt. Dann hätten wir einen Sprachgebrauch wie in der NS-Zeit, als Jude zur Stigmatisierung aller Angehörigen des Judentums benutzt wurde wie in „Achtung Jude! “. Das Einschleichen und Festschleifen einer solchen antisemitischen Gebrauchsvariante wird mit jeder unwidersprochenen Du Jude-Konstruktion intensiviert. 121 11 Israelbezogener Antisemitismus und das Mantra seiner Strohmann-Abwehr Inwieweit Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim schon vor 500 Jahren eine Antwort hierzu hatte „Ich bin kein Antisemit! Wieso reagiert der Zentralrat der Juden nicht? Oder muss ich Angst haben, dass mein Haus bombardiert, und meine Verwandten ermordet werden? Israel ist ein rechtsradikal nationalsozialistischer Staat- … Israel ist schlimmer als das dt. Reich von 1933-1945-… Mein Name ist XY-… und ich bin kein Antisemit-… feige Mörder-… ICH BIN KEIN Antisemit.“ (E-Mail an den Zentralrat der Juden in Deutschland, 15.5.2021) „Corona gibt es gar nicht! “, „Corona ist eine Erfindung der Herrschenden“, „Das sind keine Corona-, sondern Erkältungs-Symptome“, „Ich kann kein Virus sehen“, „das angebliche Virus“. Solche irrationalen Äußerungen waren und sind im Querdenker-Diskurs auf der Straße und im Internet vielfach wahrzunehmen. Niemand in der Mehrheitsgesellschaft nimmt sie jedoch ernst. Man schüttelt den Kopf und wundert sich über die verbohrte Blindheit. Man richtet sich nach Aussagen der Experten, also den Epidemiologen oder Virologen. Man hält sich an empirisch belegbare Fakten. Warum nicht auch bei der Frage, wann eine Äußerung als antisemitisch einzustufen ist? Wird die sozial-, politik- und kognitionswissenschaftliche Antisemitismusforschung weniger seriös als die Medizin bewertet? Oder ist vielmehr das Bedürfnis, die Augen vor bestimmten Formen der Judenfeindschaft zu verschließen, so groß? Seit Jahren werden Antisemitismusforscher aller Disziplinen geschmäht als „Lügner, Wahrheitsverdreher“, „Scharlatane“, 122 „Pfuscher mit ungeeigneten Methoden“ und dergleichen. Doch zu diesen irrationalen Feindseligkeiten merkt kaum jemand auf. Weder die judenfeindliche Einstellung noch das Virus kann man sehen. Beide sind mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, und doch geht eine Gefahr von ihnen aus, die wir an den Symptomen festmachen können. Spuren des Virus sind körperliche Beeinträchtigungen und im schlimmsten Fall der Tod, Spuren der geistigen Judenfeindschaft sind u.-a. sprachliche Äußerungen mit bestimmten, sich seit Jahrhunderten wiederholenden Merkmalen. Das Gift des antisemitischen Ressentiments, es schlägt sich so am Ende sichtbar nieder. Und die Sprache zeigt sehr deutlich, welch Geistes Kind hinter einer Äußerung steckt. Kein seriöser Kritiker benutzt anti-judaistische Stereotype („Kindermörder“, „Land-Räuber“, „zionistische Pharisäer“, „alttestamentarische Rache“), NS- Vergleiche („SSrael“, „wie bei Hitler damals“, „erinnert an dunkle Zeiten“), Dehumanisierungsmetaphern („Pack, Unrat, Pest, Abschaum“), Dämonisierungen („Teufel, Weltenübel, Satan Israel“), Superlative („schlimmster Staat“, „größte Gefahr für Weltfrieden“), Dysphemismen („Genozid an den Palästinensern“, „zweiter Holocaust“, „ethnische Säuberung“) oder kollektiv delegitimierende Pejorativa („Apartheidstaat, Unrechtsregime“). Israelbezogener Antisemitismus ist Antisemitismus und nichts Anderes. Er weist alle Kennzeichen des klassischen Judenhasses auf, De-Realisierung, Differenzkonstruktion, Stereotypprojektion und kollektive Entwertung, ist also nichts Außergewöhnliches und auch nichts wirklich Neues - bis auf seine vehemente Leugnung auf allen Ebenen der Gesellschaft. Der israelbezogene Verbal-Antisemitismus basiert auf einer zeitgemäßen Substitution: Statt auf Juden/ Judentum wird auf Israel referiert. Und er folgt der langen opportunen Adaptationslogik des Judenhasses. Das bedeutet, dass der Hass auf Juden sich immer genau den Weg bahnt, der der bequemste ist, der am besten zum jeweiligen Zeitgeist passt. So nimmt die Feindschaft wie ein Chamäleon je nach Umgebung ge- 123 nau die Farbe an, um erfolgreich sein zu können, und rückt das in den Mittelpunkt, was gerade besonders gut geeignet ist, Hassobjekt zu sein. Seit zwei Jahrtausenden erhält der Judenhass kontinuierlich seine toxische Grundsubstanz, füllt sie nur in andere Flaschen: Religiöse Intoleranz und anti-judaistische Herabwürdigung bis zur Neuzeit, säkulare Verachtung in Aufklärung und Idealismus, rassistische und völkische Diskriminierung im 19.- Jahrhundert, darauf fußend der Auslöschungswahn in der NS-Zeit, und seit der Gründung Israels vermischen sich alle bisherigen Spielarten in Anti-Zionismus und Israelhass. Denn Israel, das Symbol für jüdisches Überleben und genuin jüdische Existenz, ist der Stachel im modernen antisemitischen Geist. Der Einfluss der klassischen Judenfeindschaft spiegelt sich auch in Stereotypanpassungen wider: aus dem mittelalterlichen Phantasma ‚Juden sind Krankheitsüberträger‘ wird ‚Israel ist Krankheit‘, aus der Blutkultlegende ‚Juden töten rituell Kinder‘, ‚Israelis töten willkürlich Kinder‘, das Stereotyp zur jüdischen Physiognomie ‚Juden sind hässlich‘ wird abstrakter zu ‚Israelis sind moralisch hässlich‘. Und auch der für den alten Judenhass typische Veränderungs- und Auslöschungswille wird auf Israel projiziert. Verlangt werden dann je nach politischer Richtung entweder die Zerstörung, Auflösung oder radikale Veränderung des jüdischen Staats (s. hierzu auch Schwarz-Friesel 2020, Ionescu 2020 sowie Rensmann 2021). Doch obgleich alle Studien der empirischen Forschung durch Umfragen und Korpusanalysen seit Jahren unzweideutig belegen, dass israelbezogener Judenhass die vorherrschende Manifestation beim aktuellen Antisemitismus und in allen politischen Milieus anzutreffen ist, erschallen regelmäßig wissenschaftsfeindliche Stimmen der Abwehr. Für die einen existiert er gar nicht (völlige Ausblendung von Realität), für die anderen muss er erst noch erforscht werden (Ausblendung von Forschung), manche sagen, er sei eigentlich nur politische Kritik (Umdeutung von Antisemitismus), manche sehen in ihm einen Ausdruck von Meinungsfreiheit 124 (Bagatellisierung von Hassrede). Und schließlich gibt es auch die, die ihn ganz einfach als Antisemitismus akzeptieren und praktizieren, weil sie Hass auf Juden und auf Israel für berechtigt und notwendig halten. Vor einigen Jahren war ich in Köln im Schnütgen-Museum bei einer Podiumsdiskussion über aktuellen Antisemitismus. Wir erklärten dem Publikum, wie sich antisemitischer Israelhass artikuliert. Zum Schluss sprang eine BDS-Aktivistin in der Zuhörerschaft auf und rief „Na gut, dann bin ich eben Antisemitin! “ Dies ist kein Einzelfall, wenngleich so in der Öffentlichkeit bislang eher selten zu hören. Im Post-Holocaust-Zeitalter wollen links orientierte und gebildete Personen eigentlich nicht als Antisemiten gesehen werden. Im Internet jedoch und in Tausenden von Schreiben an den Zentralrat der Juden und die israelische Botschaft findet sich dieses Bekenntnis mittlerweile regelmäßig: „…-gestern auf arte-tv-… Wer all die Berichte über Ihre Verbrechen liest, sieht und hört, muß einfach Antisemit sein“ schreibt etwa ein Arzt 2014 an den israelischen Botschafter, „Sie und ihresgleichen machen uns ja zu Antisemiten“ ein linker Aktivist an den Zentralrat der Juden in Deutschland. Bereits der erste Botschafter in Deutschland Asher Ben-Nathan, erhielt 1965 bis 1969 antizionistische Schreiben, in denen er als „Satan“, „Saujude“ und „Botschafter eines Verbrecherstaates“ attackiert und das „Weltjudentum“ angeführt wurde. Und auch die Täter-Opfer-Umkehr, die synonymische Gleichsetzung von Juden und Israelis, sowie die kollektive Schuldzuweisung wird bereits lange vor einer Eskalation des Konflikts durch die erste und zweite Intifada kommuniziert: „Wenn sich die Israelis vor dem letzten Weltkrieg gegen ihre Mitmenschen genauso benommen haben wie heute gegen ihre Nachbarländer, wird mir der weltweite Antisemitismus verständlich“ (1969 an Ben-Nathan) und ein anderer befindet „Wenn ihr Juden doch bloß mal begreifen würdet, Daß ihr das Gift der Welt seid.“ ‚Juden sind verantwortlich, wenn man sie hasst‘, ist das Credo, das seit zwanzig Jahrhunderten reproduziert wird. Und so lautet 125 auch eines der Hauptargumente in Bezug auf Israelfeindschaft, der Nahostkonflikt sei Grund und Katalysator für den Hass. Israel jedoch wird gehasst, weil es ist, weil es als jüdischer Staat existiert, weil es für Antisemiten jedweder Couleur die Rolle des „kollektiven Juden“ (Poliakov) innehat, und daran würde auch eine Befriedung mit den Palästinensern nichts ändern. Realitätsausblendung und Hamsterrad-Denken In Online-Kommentaren sind affektlogische Äußerungen wie „Wenn Antisemitismus bedeutet, Israel zu kritisieren, bin ich gerne Antisemit! “ üblich, zum Teil mit Prognosen weitgehender Entwicklungen: „Antisemit wird eines Tages ein Kompliment sein! “. Es ist also auch ein Kampf um Wörter und deren Bedeutungen, die bei Antisemitismusdebatten eine Rolle spielen. Faktenabweisende Leugnungs- und Umdeutungsstrategien, die die zuvor artikulierten Antisemitismen schönfärben und verharmlosen, gehören jedenfalls heute zum Standardrepertoire (s. hierzu Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013: Kap.- 11 sowie Schwarz-Friesel 2019: Kap. 8). Dadurch wollen sich die Produzenten nicht nur gegen den Vorwurf des Antisemitismus schützen und immunisieren, sondern auch ihr radikales Gedankengut formal entradikalisieren und damit akzeptabel machen. Sie gehen damit kommunikativ auf eine metasprachliche Ebene und drücken dem Gesagten zum Zweck der kommunikativen Akzeptanz den In-Ordnung-Stempel auf. Es ist geistig eine doppelte Vogelstrauß-Mentalität: Ich bezeichne den giftigen Inhalt meiner Äußerung als harmlos und stecke den Kopf in den Sand, um gegenteilige Argumente nicht zu hören. Während aber die kruden Leugnungsnarrative von Anti-Corona-Aktivisten müde belächelt oder empört zurückgewiesen werden, geschieht dies bei der Abwehr des israelbezogenen Judenhasses deutlich weniger. Dabei sind die Äußerungen nicht 126 weniger absurd und realitätsverzerrend: „Im Übrigen ist der ‚israelbezogene Antisemitismus‘ (als angeblich häufigste Form des Antisemitismus) erfunden worden, um Kritik am Zionismus zu skandalisieren.“ schreibt etwa 2020 ein Journalist der Qualitätsmedien auf seinem Twitter-Account und lässt sich auch nicht von anderslautenden Fakten umstimmen. „Angeblich“ diskreditiert und leugnet alle Ergebnisse der interdisziplinären empirischen Forschung, „erfunden“ beweist verschwörungsfantastisches Denken. Der Verstand ist hier auf der Strecke geblieben. Das ist dann ein Denken, „prinzipiell von Erfahrungen unbeeinflussbar und von der Wirklichkeit unbelehrbar.“ (Hannah Arendt). Das ist Hamsterradkognition. Nur das Imaginierte im kleinen Hamsterrad, was zum Sich-selbst-umdrehenden-Laufen passt, zählt, und die Realität wird außen vorgelassen (zum antisemitischen Hamsterrad s.-Schwarz-Friesel 2019: 127 ff.). Die antisemitische Argumentation ist allgemein geprägt durch Trug- und Fehlschlüsse. Dabei wird auf der Basis von etwas gar nicht Existierendem pseudo-rational so argumentiert, dass eine Behauptung entsteht, die plausibel erscheint, tatsächlich aber pure Irrationalität ist (s. hierzu Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013: sowie Becker 2021, die diese Formen im NS-Hetzblatt Der Stürmer untersucht hat). Dabei fällt vor allem die Strohmann-Taktik (die sogenannte Straw Man- Fallacy) auf, die in zwei Varianten auftritt: Entweder wird ein (Schein-)Argument attackiert, was jedoch zuvor gar nicht erwähnt wurde und tatsächlich gar nicht existiert. Das ist dann ein Hollow-Man-Argument, also etwas frei Erfundenes. Oder behauptet wird genau das, was zuvor explizit geleugnet wurde. Man stellt also in beiden Fällen einen rhetorischen Strohmann auf. Das häufigste Strohmann-Argument lautet „Kritik an Israel wird unterdrückt“, zumeist unmittelbar nach Verweisen auf kritische Presseberichte. Oder nach einem Vortrag über Judenhass, in dem mittels klarer Kriterien sowie Beispielen zwischen Kritik und Verbal-Antisemitismus unterschieden wurde, kommt als Hinweis „aber Kritik 127 an Israel muss doch erlaubt und möglich sein! “ Ein Strohmann im doppelten Sinne, denn erstens ist Kritik ja erlaubt und problemlos möglich, wie der tagtägliche Blick in die Medien zeigt und zweitens dreht die Aussage genau das ins Gegenteil, was zuvor genannt wurde. Nach der Aussage „Selbstverständlich ist legitime Kritik an Israel erlaubt.“, kommt regelmäßig die Replik „Man will uns legitime Kritik nicht gestatten.“ Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Gegenposition findet nicht statt, sie ist reine Fiktion. Der Kopf von Antisemiten ist zu, hermetisch geschlossen für die Fakten der Welt. Deren „Wahrheit“ existiert ausschließlich im Hamsterrad ihrer subjektiven Gefühlswelt. Überzeugte Antisemiten kann man daher kaum kognitiv erreichen. Sie wehren alles ab, haben für alles eine „Erklärung“. Und so tauchen fast immer unter Interviews oder Artikeln zu israelbezogenem Judenhass als erstes Kommentare auf wie „Man muss unterscheiden zwischen legitimer Kritik an der israelischen Politik und Antisemitismus.“ Genau das wird zwar in der Forschung gemacht, doch es kommen stets nur Strohmann- Sätze, die künstlich etwas herbeireden. Ähnlich verläuft es auch bei Äußerungen, die den eigenen Antisemitismus leugnen, jedoch explizit klassische Stereotype kodieren (s. hierzu das Beispiel am Anfang des Kapitels). Diese durch Widersprüche gekennzeichneten Realitätsverweigerungen ergeben sich aus der starken emotionalen Basis des Antisemitismus und seiner toxischen Irrationalität. Nein, Kritik an Israel ist nicht per se antisemitisch. Ja, israelbezogener Antisemitismus ist nicht nur die häufigste Form des Judenhasses, sondern auch der Klebestoff, der alle antisemitischen Milieus verbindet. Nein, berechtigte Kritik an israelischem Vorgehen wird nicht reflexhaft als Antisemitismus abgewehrt. Ja, unter dem Vorwand, politische Kritik zu artikulieren, wird oft lupenreiner Antisemitismus verbreitet. Nein, es gibt weder ein Kritiktabu an israelischer Politik, noch halten sich deutsche Medien bei diesem Thema zurück. Ja, israelische Politik wird in Presse und öffentlichem Diskurs sogar besonders oft und scharf kritisiert. Nein, mit 128 sachlicher Kritik hat Hassrede gegen Israel nichts gemeinsam. Ja, man kann sehr wohl die Sprachhandlung Kritik von Verbal-Antisemitismus abgrenzen. Nein, der Nahostkonflikt ist nicht die Ursache für Israelhass. Ja, der Konflikt fungiert als Vorwand, um diesen Hass zu legitimieren. Nein, rechter Judenhass ist nicht der „wahre“ Antisemitismus. Ja, gerade die Akzeptanz von Israelfeindschaft öffnet besonders weit das Einfallstor für Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft. Denn die in den Feuilletons publizierten Abwiegelungen und Umdeutungen ver- und bestärken Extremisten, Radikale und Fundamentalisten in ihrem Selbstlegitimierungsgefühl, halten ihnen den Rücken frei für ihre Tiraden und liefern Juristen Scheinargumente, Hass als „politische Empörung“ freizusprechen (so geschehen 2014 nach einem Molotowcocktail-Anschlag auf die Wuppertaler Synagoge). Kritik ist ein Sprechakt, der eine problemlösungsorientierte Beanstandung gibt. Kritik schlägt dann um in ein geistiges Giftgebräu, wenn der Kritisierte gar keine Chance erhält, wenn er in seiner Existenz negiert und verdammt wird. Dann sind es Sprechakte der Diffamierung und Delegitimierung. Entscheidend sind Auswahl und Dosierung der Wörter sowie der Argumente. Giftig ist Kritik immer auf die eine oder andere Weise, denn sie schlägt ja eine verbale Kerbe, legt den mahnenden Finger auf eventuell Veränderungswürdiges. Sie gibt jedoch auch Optionen und ist daher kein Befehl. Damit lässt sie dem Kritisierten Würde und Selbstbestimmung. „All Ding’ sind Gift und nichts ohn’ Gift; allein die Dosis macht, das ein Ding kein Gift ist“ schrieb Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim). Die Art und Weise der verbalen Gestaltung, die spezifische Dosierung, mit der etwas bemängelt wird, zieht eine sehr klare Linie zwischen Kritik und Hassrede, die sich als „Kritik“ ausgibt. Deshalb benötigen seriöse Kritiker auch keine Abwehr- und Leugnungsäußerungen oder Meinungsdiktat-Fantasien. Warum halten Antisemiten an ihrem Glauben fest gegen alle Aufklärungsversuche, alle Fakten, gegen alles, was in der realen 129 Welt zu sehen und zu hören ist? Weil dieses Glaubenssystem so fest und so lange verankert ist im kollektiven Bewusstsein, dass es weiter toxisch strahlt? Weil es ihnen hilft, die Probleme der Gegenwart scheinbar besser zu bewältigen, wenn es eine Kategorie für ‚das Böse‘ in ihrem Leben gibt, der sie Schuld zuweisen können? „Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln des Menschen.“ schreibt Max Weber. Und die Weltbilder, „welche durch Ideen geschaffen, sie geben vor ‚wovon‘ und ‚wozu‘ man ‚erlöst‘ sein“ will. Irrationalität ist für Menschen offenbar wesentlich wichtiger, als der Gedanke der vernunftgeleiteten Aufklärung uns dies erlaubt. Vielleicht ist das Bild vom Juden der letzte Mythos purer Irrationalität erhalten in einer modernen digitalisierten, entzauberten Nach-der-Aufklärung-Welt? 131 12 Euphemismen und ihre Verschleierungsfunktionen Warum BDS in der Praxis ein Akronym für Brüllen, Drangsalieren, Stigmatisieren und dysphemistische Hasssprache keine Meinungsfreiheit ist „Normale Menschen boykottieren Israel! “ (Plakat an Bushaltestelle in London, 2021) „Aber ich wiederhole und glaube es: mich beseelt nicht der entfernteste ‚Judenhass‘“. (Wilhelm Marr 1879, Antisemit und Verfasser des judenfeindlichen und verschwörungsfantastischen Pamphlets Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum) Euphemismen sind sprachliche Ausdrücke, die statt brutaler, anstößiger und brisanter Wörter benutzt werden, um verhüllende, mildernde oder beschönigende Umschreibungen für Sachverhalte und Personen zu liefern. Dies kann die Camouflage oder Umgehung von Tabuthemen betreffen, um Gefühle nicht zu verletzen, oder als Manipulationsmittel benutzt werden, um von der tatsächlichen Redeabsicht abzulenken, indem diese in verbaler Verharmlosung zum Ausdruck kommt. Von seiner ursprünglichen, aus dem Griechischen stammenden etymologischen Bedeutung her ist es „Unangenehmes angenehm sagen“. Und genau so wird der Terminus auch heute noch benutzt. Viele der jährlich gewählten Unwörter des Jahres zeichnen sich dadurch aus, dass sie in zynischer Weise brutale Sachverhalte der Welt mittels neutraler oder beschönigender Ausdrücke bezeichnen. Menschenmaterial wurde z.- B. als Unwort des 20.- Jahrhunderts gekürt, es diente als Umschreibung von Menschen die im I. und II. Weltkrieg „verbraucht“ wurden. Es besteht also eine erhebliche Diskrepanz zwischen der 132 dehumanisierenden Wortbedeutung und der tatsächlichen Referenz (Tod unzähliger Menschen). Bis 1945 brauchten erklärte Antisemiten auf solche beschönigenden und verharmlosenden Wörter nicht zugreifen, sondern konnten ihre judenfeindliche Einstellung offen und ohne Konsequenzen artikulieren. Allerdings war und ist das Wort Antisemitismus, das im 19.- Jahrhundert kreiert wurde, euphemistisch. Es wird seit 1879 anstelle der Bezeichnungen Judenhass, Judenfeindschaft oder Anti-Judaismus benutzt, um die Ablehnung gegenüber Juden mit wissenschaftlichem Anschein zu verbrämen. Es handelte sich seinerzeit um einen Neologismus, also eine Wort-Neuschöpfung, die den Sachverhalt des Judenhasses beschönigend und aufgewertet mit einer neuen Konnotation der Faktizität bezeichnen sollte. Damit wollte man sich einerseits abgrenzen vom religiösen Judenhass und stattdessen das völkischrassistische Verständnis von Juden betonen, andererseits den Anspruch untermauern, eine faktenbasierte und wahrheitsorientierte Begründung für die Ablehnung von Juden zu haben. Der „Vater des modernen Antisemitismus“ Wilhelm Marr war eigentlich ein radikaler Demokrat und hatte in frühen Schriften sogar heftige Kritik an reaktionären Tendenzen in Deutschland geübt. In Marrs einflussreicher antisemitischer Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, in der alle wesentlichen Konzepte und Argumente moderner Judenfeindschaft zu finden sind, leugnet er auch, etwas per se gegen Juden zu haben („Aber ich wiederhole und glaube es: mich beseelt nicht der entfernteste ‚Judenhass‘“, Marr 1879), und stellt seine fantastischen Behauptungen (dass etwa Juden, damals keine zwei Prozent der Bevölkerung im Kaiserreich und zudem auf allen Ebenen diskriminiert, die Presse und öffentliche Meinung beherrschten: „meine Freunde und ich sind in der Journalistik wehrlos gegen das Judenthum.“) als abgesicherte Tatsachen hin. Es sei ein „Kampf der Unterdrückten“, der „allein der Wahrheitsbekundung“ und „berechtigter notwendiger Kritik“ diene. Eine für Antisemiten typische Realitätsverdrehung und ein 133 selbst-legitimierendes Argument, das bis heute dominant in der antisemitischen Kommunikation ist. Kaum eine Äußerung des israelbezogenen Judenhasses wird ohne diese Rechtfertigungsbekundungen vorgebracht. Antisemitismus wird so umgedeutet als ehrbarer Kampf für die Meinungs- und Pressefreiheit und gegen Unrecht sowie Ungerechtigkeit in der Welt. Dabei ist die wortwörtliche etymologische Bedeutung von Antisemitismus ‚gegen Semiten‘ irreführend, denn zu den Semiten zählen alle Gemeinschaften, die eine semitische Sprache sprechen, worunter nicht nur Hebräisch, sondern z.-B. auch das Arabische fällt. Abwiegelnde Äußerungen, wie sie trotz aller Aufklärung durchaus öfter im Internet zu lesen sind wie „Ich kann kein Antisemit sein, ich bin selbst Semit“ ignorieren also, dass Antisemitismus trotz seiner wortwörtlichen Bedeutung stets nur eine konventionelle Lesart hatte und hat: Judenfeindschaft. Das Lexem Antisemitismus wird heute als semantisch übergeordneter Terminus für alle Formen von moderner Judenfeindschaft benutzt, doch sollte man im Blick behalten, dass Judenhass und Judenfeindschaft das Phänomen wesentlich klarer und treffender bezeichnen. Die Nationalsozialisten nutzten neben ihrer aggressiven und rassistischen Feindbildrhetorik und Hasssprache voller Pejorativausdrücke durchaus auch Euphemismen. Reichskristallnacht ist der euphemistische Ausdruck für die staatlich organisierte Gewalt-, Zerstörungs- und Mordaktion in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, vom Regime als „berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes“ verbalisiert. Konzentrationslager steht tatsächlich für Vernichtungslager. Und die dort zu lesenden Torsprüche wie „Arbeit macht frei“ und „Jedem das Seine“ (zynisch vom ursprünglichen Suum cuique der antiken Philosophie, wo die Phrase für Verteilungsgerechtigkeit steht, umgedeutet in ‚Die Vernichtung gebührt den Insassen dieses Lagers‘) verhöhnten die Insassen. In der bürokratischen und offiziellen Akten- und Korrespondenzsprache bezeichnen Sonderaktionen die Sortie- 134 rung in die Gaskammern und Sonderbehandlungen bedeuten de facto Massentötungen. Lebendfrisches Material für medizinische Versuche ist der Ausdruck des in Auschwitz experimentierenden Mediziners und Arztes Dr. Kremer für Leber, Milz und Bauchspeicheldrüsenextrakte, die frisch durch Operationen an noch lebenden Menschen entnommen wurden. Endlösung schließlich ist die offizielle Bezeichnung für die systematische und totale Ausrottung der europäischen Juden. Im April 1933 leiteten die Nationalsozialisten mit der „Boykottaktion“ gegen die Geschäfte jüdischer Deutscher im ganzen Land ihre Diskriminierungs- und Diffamierungspolitik mit dem Slogan „Deutsche, wehrt Euch, kauft nicht bei Juden! “ ein. Eine kausale Verdrehung des tatsächlichen sozialen Sachverhalts, denn wehren hätten sich die Juden müssen gegen Lügen, Schikane und physische Gewalt. Stattdessen wurden Juden als Schädlinge des deutschen Volkes konzeptualisiert. Schon vor der Machtübernahme 1933 hatten sich Nationalsozialisten durch ihre brutalen Schrei- und Gewaltaktionen gegenüber jüdischen Deutschen hervorgetan. Hitler hatte bereits 1920 in seiner Münchner Hofbräurede erklärt, „warum wir Antisemiten sind“ und angekündigt, dass den „Worten Taten folgen würden“. Ab 1933 stehen SA-Leute vor jüdischen Geschäften und schüchtern die nicht-jüdische Kundschaft massiv ein, diese nicht zu betreten. Dabei wurden zwei Ziele verfolgt: Systematische Schädigung jüdischen Eigentums und Verunglimpfung jüdischer Deutscher sowie die propagandistische Sprachlenkung zur Legitimierung der Unrechtstaten. Nicht-jüdische Deutsche werden zu Opfern stilisiert, die sich gegen die „Schädlinge“ „wehren“ müssen. Jüdisches Leben einzuschränken und einzugrenzen: Diese Strategie blickt auf Jahrhunderte judenfeindlicher Aktionen. Ihnen christliche Berufe zu verbieten und nur den verpönten Geld- Handel zu erlauben, sie in Ghettos zu pferchen und zu isolieren, ihnen Bürgerrechte vorzuenthalten, ihre Aktivitäten drastisch zu beschränken. Und sie mit Wörtern als böse und verbrecherisch 135 zu brandmarken, wobei diese Merkmale überhaupt erst durch die Diskriminierung und Stigmatisierung einen konzeptuellen Stellenwert erhalten. Sprachlenkung, also verbale Tätigkeiten, mit denen zielgerichtet auf gesellschaftliche Kommunikationssysteme und Institutionen Einfluss genommen werden soll, spielte in der NS-Propaganda von Anfang an eine wichtige Rolle: Das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung durch immerfort wiederholte Schlagwörter und -sätze (die NS-Vokabular enthielten) einzustimmen auf die Ideologie und den nonverbalen Staatsterror. Und so war gemäß der antisemitischen Gedankenlenkung auf jeder ersten Seite des Hetzblattes Der Stürmer fett gedruckt stets der Satz „Die Juden sind unser Unglück! “ zu lesen. Der Boykott, ein zynischer Euphemismus im antisemitischen NS-Diskurs, denn in Realität war es die Stigmatisierung, Zerstörung und spätere Enteignung jüdischen Eigentums, war einer der ersten offiziellen Schritte zur sozialen Isolierung und Entfernung jüdischer Deutscher aus dem Rechts- und Staatswesen. Modern adaptiert richten sich heute aggressiv artikulierte Boykottforderungen gegen den jüdischen Staat und alle seine Bürger. Die Propagandakampagne BDS (Boykott, Divestment, Sanctions), weltweit unterstützt von vielen Aktivisten und Sympathisanten, will den jüdischen Nationalstaat vom Rest der Welt durch gezielte Diffamierungskampagnen absondern und setzt sich für einen umfassenden globalen Boykott Israels in den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Sport und Wirtschaft ein. Somit betreibt BDS eine für die Judenfeindschaft typische Kollektivverurteilung, denn sie will ohne Ausnahme alle jüdischen Israelis, die sich nicht uneingeschränkt zu BDS bekennen, von Veranstaltungen fernhalten und diskreditiert prinzipiell alles, was aus Israel kommt, als schlecht (s. hierzu z.-B. den Pink Washing-Vorwurf, Israel sei nur deshalb tolerant gegenüber Schwulen und Lesben, um von seiner „Apartheidpolitik“ abzulenken). Ihre Protestkundgebungen sowie ihre jährliche „Israeli Apartheid Week“ zeugen vom Ungeist der Intoleranz. 136 Toxisch ist nicht nur ihre dämonisierende und stigmatisierende Sprache, auch ihre kommunikative Praxis zeichnet sich durch ein hohes Aggressionspotenzial aus: Sie üben verbale Gewalt durch Brüllen und Beschimpfungen aus. Im öffentlichen und medialen Sprachgebrauch bedient man sich allerdings zum Zwecke der Selbstlegitimierung ausgiebig der Strategie Euphemisierung und reklamiert für sich den Status einer Menschenrechtsorganisation. Judenhasser wollen die BDS-Anhänger ausdrücklich nicht genannt werden. Diesen Vorwurf weisen sie so vehement von sich, wie das schon der Antisemit Marr tat. Von Anhängern und Verteidigern wird BDS als „eine Bewegung des gewaltlosen politischen Widerstandes“, die lediglich kritische „Meinungsfreiheit“ praktiziere, bezeichnet. Durch solche beschönigenden Floskeln wird verdeckt, dass die Rhetorik der BDS geistige Gewalt ist und sich auf der physischen Ebene der Kommunikation durch aggressive Störaktionen und den Mangel an Bereitschaft, in einen konstruktiven Dialog einzutreten, auszeichnet. Eine Untersuchung des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, geleitet von der Ethnologin Susanne Schröter 2021, wies zudem nach, dass BDS „entscheidend von terroristischen Gruppen mitbeeinflusst“ wird (s. hierzu auch die Studie von Feuerherdt/ Markl 2020). Vor Supermärkten stehen BDS-Aktivisten mit Plakaten, die „blutende Orangen“ zeigen und fordern Händler auf, israelische Produkte aus den Regalen zu nehmen. Eine gewisse Komik haben dabei noch ihre Tanz-und-Sprüche-Einlagen, die an pubertäre Cheerleader-Akrobatik erinnern (s. hierzu u.-a. den beeindruckenden Film von Nadav Eyal Hate, A Journey into the Dark Heart of Racism, zur BDS-Kampagne vor einem Londoner Kaufhaus), doch sollten diese unfreiwillig lächerlichen und harmlos erscheinenden Auftritte nicht über die wahre destruktive Ausrichtung und Bedrohung hinwegtäuschen. BDS ist obsessiv israelfeindlich und trachtet schlussendlich nach der Auflösung des jüdischen Staates. Die BDS betreibt seit ihrer Gründung massive Sprachlenkung, und 137 zwar mit dem Mittel des Dysphemismus. Beim dysphemistischen Sprachgebrauch (auch Kakophemismus genannt) wird das Bezeichnete in drastischer Weise herabgesetzt. Dabei kommt es zu einer massiven Realitätsverzerrung, da keine Abbild-Relation mehr zwischen Sprache und Welt besteht, sondern vielmehr ein krasses Missverhältnis. Anders als bei den Pejorativa, also direkt beleidigenden Schimpfwörtern wie Tiernamen und Unratsmetaphern (Scheißjude, Drecksjuden, Judensau, Bazillen, Pack, Geschwür), die qua Semantik eine negative Bewertung vermitteln, erzeugen Dysphemismen durch hyperbolische Übertreibungen und De-Realsierungen eine Pseudo-, eine Fantasierealität. Diese entspricht dem kommunikativen Zweck, das Kritisierte im schlimmstmöglichen Licht erscheinen zu lassen. Neutrale Ausdrücke, die Bestandteil sachlicher Kritik sind, werden nicht verwendet. Wörter, die für extreme Ausnahmesituationen und furchtbare Menschheitsverbrechen stehen, werden benutzt, um politische, soziale oder militärische Handlungen Israels zu kriminalisieren und delegitimieren. Ein Bemühen um Frieden und Verständigung ist nicht zu sehen. Einzig die Abschaffung Israels. So wird in der BDS-Hass- und Schmährede aus Siedlungspolitik ethnische Säuberung, aus kriegsbedingter Flucht wird Genozid oder zweiter Holocaust, aus Regierung wird das zionistische Unrechtsregime, das demokratische Israel wird wider alle Fakten zum Apartheidsstaat, seine Gründung zur Kolonialisierung oder zum Landraub, die israelische Bevölkerung wird zur Besatzungsmacht. Vor den Supermärkten erklären BDS-Aktivisten dann, dass „Israel einen Holocaust an den Palästinensern verübe“ und brandmarken „Zionismus als Rassismus“. Gaza, eine Stadt am Meer mit Kinos, Restaurants, Supermärkten, wird ein „israelisches Konzentrationslager“ oder „weltgrößtes Open- Air-Gefängnis“. BDS-Anhänger stören durch Schreierei und wüste Beschimpfungen, statt zuzuhören, sie beleidigen, statt Argumente zu artikulieren, sie attackieren, bedrängen, bedrohen, werfen wild 138 Flugblätter, lassen keinen Diskurs der Verständigung zu und wehren problemlösende Kommunikation ab. Der komplexe Nahost-Konflikt wird aus selektiver Tunnelperspektive reduziert auf einen monokausalen Sachverhalt, in dem Israel die alleinige Schuld gegeben und damit perspektiviert in die alte anti-judaistische Sündenbockrolle gesetzt wird. Dass es Gewalt und Widerstand gegen einen Friedensprozess auf der anderen Seite gibt, wird ausgeblendet. Die Beschwörung eines Feindbildkonstrukts steht im Mittelpunkt der Aktivitäten. Das Narrativ der dysphemistischen BDS-Rhetorik evoziert folgendes Bild (ich verdanke diesen Hinweis Evyatar Friesel). Ein gefilmter Boxkampf, der in zwei Teile zerschnitten wurde, in dem nur ein Akteur zu sehen ist: Er schlägt in die Luft, sieht dadurch aggressiv und unkontrolliert aus, ohne erkennbare Motivation verteilt er Schläge, zeigt ein hässliches verzerrtes Gesicht, sendet Gewaltschläge aus. Dadurch entsteht der Eindruck, der Agierende habe Interesse an der körperlichen Betätigung als l’art pour l’art um der Ausübung willen, er tobe sich grundlos aus und habe Freude an Gewalt. So wird Israel von BDS perspektiviert. Dass auf der Gegenüberseite des Kampfes ein anderer realer Akteur steht, einer, der auch zuschlägt, der eine Bedrohung ist, gegen den man sich wehren muss, um nicht zu Boden zu gehen, wird ausgeblendet. Monoperspektivierung, intensive Emotionalisierung und kollektiver Fanatismus ersetzen dabei rationales Denken und Faktizität. Die Texte und Aktionen der BDS üben keine Kritik, sondern sie diffamieren. Die geistige Basis ihrer Argumentation fußt auf der gleichen Semantik wie der klassische Judenhass: Israelis werden als homogene Gruppe der totalen Verdammnis unterworfen, es findet eine kollektive Negativ-Bewertung statt, ohne Unterschiede zwischen Regierung, Militär und Bevölkerung zu ziehen. Und so richten sich die Botschaften und Handlungen der BDS keineswegs nur gegen Militäraktionen und Siedlungspolitik, sondern gegen Israel per se. Auch arabische und palästinensische Künstler, die 139 auf künstlerische Begegnung setzen, werden von BDS gemobbt und schikaniert. Die Kampagne versucht stets mit allen Mitteln zu verhindern, dass Kontakte zu Israelis bestehen bleiben. Und so zwingt sie z.-B. viele Musiker, geplante Konzerte in Israel abzusagen (s. z.-B. zuletzt der Rapper Emsallam). Der BDS ist es auch gleich, ob Palästinenser durch ihre Aktionen zu leiden haben und ihren Arbeitsplatz verlieren, so u.-a. geschehen bei der Schließung und Verlegung von Soda-Stream (ein Vorbild für friedliche Koexistenz am Arbeitsplatz), bei der 500 Palästinenser arbeitslos wurden (und die BDS deshalb scharf kritisierten) und der Kosmetikfirma AHAVA. Es ist also de facto nicht die Verbesserung der Situation der Palästinenser, sondern die Stigmatisierung Israels, dessen Isolierung durch die Verhinderung von Austausch und Aktivitäten des gemeinsamen Lebens. Ihr Sprachgebrauch offenbart, welch Geistes Kind sie sind: Ihr Gründer Omar Barghouti wünschte sich eine „Euthanasie des Zionismus“. Kein noch so unverhältnismäßiger Vergleich ist ein Tabu in ihrer Rhetorik. Ihre Obsessivität überlagert jedwedes Scham-, Respekt- oder Anstandsgefühl und schreckt auch nicht vor der Verhöhnung und Beleidigung von Holocaust-Überlebenden zurück. Im Sommer 2017 wurde eine Diskussionsveranstaltung an der Humboldt-Universität Berlin von BDS-Unterstützern massiv gestört und die als Rednerin eingeladene israelische Shoah-Überlebende Dvora Weinstein niedergebrüllt. Für mich war dies eine besondere Erfahrung, hatte doch Dvora tags zuvor in meinem Seminar über Antisemitismus an der TU Berlin über ihre Kindheitserfahrungen gesprochen, über die schleichende Entrechtung ihrer Familie, die Ghettoerfahrung und wie ihre kleine Schwester eines morgens tot neben ihr lag, verhungert, entkräftet, vor Kälte erstarrt. In über 30 Jahren Lehre habe ich nie ein Seminar so still erlebt (und nie war ich stolzer auf meine Studierenden): Im großen voll besetzten Seminarraum konnte man das Atmen und Schlucken der Studierenden hören. Nach Wochen der abstrakten Analysen 140 von Judenhass erlebten sie einen realen Menschen, der unter Judenhass gelitten hatte und beinahe gestorben wäre, der einen geliebten Menschen verloren hatte. Als ich am nächsten Tag hörte, wie diese mitfühlende und mutige Frau, die sich für Verständigung und gegenseitigen Respekt aussprach, wenige Stunden später von BDS-Aktivisten als Mörder angeschrien wurde, sie lebe im falschen Staat und ihre Heimat sei ein Verbrecherregime, wurde mir klar, wie verblendet-brutal, wie destruktiv-kompromiss- und rücksichtslos BDS tatsächlich ist und dass Politik und Zivilgesellschaft alles tun müssen, diese Bewegung in ihre Schranken zu weisen. Die Kommunikationspraxis von BDS lässt sich durch die Anfangsbuchstaben ihres Akronyms wiedergeben: Sie brüllen, statt zu argumentieren, sie drangsalieren, statt zu überzeugen, sie stigmatisieren, statt aufzuklären oder Problemlösungen zu diskutieren. Die menschliche Kognition funktioniert aber nun so, dass, je öfter man eine bestimmte Nachricht hört oder liest, desto höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich Gedächtnisspuren bilden, dass eine neuronale Programmierung mit der Kategorisierung und Bewertung ‚etwas Wahres muss daran sein‘ einsetzt, ganz gleich, wie unsinnig oder falsch die Behauptung auch ist. Was beständig monoton wiederholt wird, erhält automatisch im Glaubenssystem von Menschen einen besonderen Status, insbesondere dann, wenn schon eine kollektive Bewusstseinsprädisposition für die Inhalte vorhanden ist. Wie einflussreich die Propagandakampagne der BDS ausgerechnet in linken Künstlerkreisen und identitären Anti- Rassismus-Gruppen zum Teil ist, belegen die folgenden Fallbeispiele. Der Musiker Roger Waters ließ in seiner „The Wall“-Show 2013 ein großes Plastik-Schwein durchs Stadion gleiten, das u.- a. einen Davidstern trug. Das Schwein, so Waters in seiner Erklärung dazu, „repräsentiere das Böse eines fehlgeleiteten Staates“. Selbstverständlich „sei er kein Antisemit“. Der als Post-Kolonialismusforscher bekannte und renommierte Wissenschaftler Achille Mbembe schrieb für den Sammelband Apartheid Israel: The Politics 141 of an Analogy ein Vorwort. Dem jüdischen Staat dichtete er eine Apartheid „schlimmer als in Südafrika“ an, warf ihm „fanatische Ausrottung“ vor, forderte seine „weltweite Isolation“ und nannte die „Okkupation Palästinas“ den „größte[n] moralische[n] Skandal unserer Zeit“. Mbembe sorgte mit anderen BDS-Sympathisanten 2018 auch dafür, dass eine renommierte Forscherin von einer Konferenz ausgeladen wurde, nur, weil sie jüdische Israelin war. Die britische Schriftstellerin Sally Rooney, deren Romane sich millionenfach verkaufen und in 46 Sprachen erscheinen, ließ über ihren Verlag kundtun, dass es keine Übersetzung mehr ins Hebräische geben würde. Sie müsse die Zusammenarbeit mit ihrem israelischen Verlag einstellen, solange „die israelische Regierung die Palästinenser derart schlecht behandele“. Durch diesen Hebräisch- Boykott wird das kulturelle Israel kollektiv an den Pranger gestellt, als einzigartig schlecht in der Staatengemeinschaft perspektiviert (wobei die Autorin kein Problem mit Übersetzungen ins Chinesische oder Farsi hat, totalitäre Staaten also kontrastiv zum Hebräisch-Boykott legitimiert). Ein Sprachboykott. Schriftsteller sollten geistige Welten öffnen, nicht schließen, sollten Kommunikation fördern, nicht das Verstummen. Der israelfeindliche Plakattext am Anfang des Kapitels bezieht sich intertextuell auf einen Buchtitel von Rooney, nämlich „Normal people“, wodurch die Boykottentscheidung der Autorin durch die generische Aussage bekräftigt wird. Anfang 2022 erschien ein britischer Amnesty International Report, der die realitätsverzerrende Argumentation von BDS fast wortwörtlich übernahm und Israel Apartheid vorwarf. Die Erfahrung Auschwitz hat viele Menschen nicht sensibilisiert für die Gefahren von Hass und Hetze. Einer der besten Entschlüsse im Kampf gegen Antisemitismus in seiner dominanten israelbezogenen Variante fand am 17. Mai 2019 im Bundestag durch einen gemeinsamen Antrag von CDU/ CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten - Antisemitismus bekämpfen“ 142 statt. „Der Bundestag beschließt, …-keine Organisationen finanziell zu fördern, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Keine Projekte finanziell zu fördern, die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen.“ Wohl gemerkt, es ging um die Finanzierung israelfeindlicher Gruppierungen, nicht um deren (Rede)Verbot. Zu Recht betonte der Resolutionstext, dass viele Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Kampagne als antisemitisch anzusehen seien. Rechtlich bindend ist der Entschluss allerdings nicht. Doch während aktuelle Antisemitismusforschung und zivilgesellschaftliche Institutionen diesen Entschluss einhellig als wichtiges Signal gegen modernen Judenhass begrüßten, trat ein Jahr später, zu Beginn des jüdischen Chanukka-Fests, eine Initiative, getragen von 200 Vertretern aus Kunst, Kultur und Wissenschaft, mit dem wohlklingenden Namen Weltoffenheit auf die mediale Bühne und kritisierte diesen Entschluss als „Beschränkung“ der Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. „Kritische Stimmen“ würden so ausgesondert, es käme zu einem Klima der „Zensur“, notwendiger „Dissens“ würde verhindert. „Lasst die Räume offen“ forderte ein Teilnehmer. Da man den kulturellen Austausch für grundlegend halte, „lehne man zwar den Boykott Israels durch den BDS ab“, bewerte aber auch den Bundestagsbeschluss als „Logik des Boykotts“ für gefährlich. Die Frage schließt sich zwingend an, ob die Initiative Weltoffenheit dann den Kommunikationsraum auch für Neonazis, Rechtsextremisten und Islamisten offenhalten will. Solche Akteure werden nämlich auch nicht von der Bundesregierung finanziert. Drohungen, Holocaustleugnungen, Diffamierungen als freie Meinungsäußerung? Denn das wäre die logische Konsequenz der Forderung: Auch wenn Personen oder Gruppen mit Sprache anderen Gewalt antun, so wie die BDS es tut, andere diskriminieren, stigmatisieren und diffamieren, alles Meinungs- oder Kunstfreiheit? Hatten die „Weltenöffner“ womöglich nur auf die euphemistische 143 Selbstlegitimierung der BDS und nicht auf deren dysphemistische Intoleranz- und Hass-Rhetorik geblickt? Und warum war die Sorge in Bezug auf „freie Meinungsäußerung“ einzig in Bezug auf das kleine demokratische Israel so groß, warum kein Hinweis auf die massiven Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen in totalitären Staaten? Würde die BDS für kritische Reflexion und Kommunikation, problemlösende Argumentation sowie Verständigung und Kooperation suchenden Austausch stehen, für ernsthafte gemeinsame Aktivitäten zur Lösung des Konflikts, wäre es nachvollziehbar, sich für deren Meinungsfreiheit einzusetzen. Die BDS aber führt vor, wie Debattenkultur eben nicht aussehen sollte, und sie trägt zur Verrohung des kritischen Streitstils bei. Wer es ernst meint mit „gegen Antisemitismus“, der muss darauf pochen, dass eine toxische Rhetorik nicht benutzt werden soll. Wer Hasssprache und Niederschrei-Kommunikation Freiraum geben will, wer sie als legitime Kritik aufwertet und sie dadurch salonfähig macht, der verliert nicht nur seine Glaubwürdigkeit, sondern ist auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft immer selbstbewusster zu Tage tritt. Solche Stimmen, so wohlklingend sie sich auch präsentieren mögen, tragen den Judenhass durch ihre Akzeptanz mit, leisten der Ausbreitung und Normalisierung judenfeindlichen Gedankenguts unter dem modernen Deckmantel der „legitimen Kritik an Israel“ Vorschub, erweisen sich als blind gegenüber den Gefahren einer Brachialrhetorik, die schon einmal so viel Unheil brachte. Hierzu hat Popper alles schon gesagt, was relevant für eine wirkliche Weltoffenheit ist: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, 144 dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen […] Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.“ (Popper 1945) Dem ist nichts hinzuzufügen. 145 13 Wenn die Sprache versagt: Die Einsamkeit der jüdischen Trauer und warum der Bundestag hätte weinen müssen „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan) Der israelische Historiker Jacob Katz stellte 1975 am Ende eines Artikels zum Holocaust die Frage, ob es langfristig einen anhaltenden kathartischen Effekt geben würde, um „endlich einen Weg der geistigen Versöhnung zwischen Judentum und seinen Gegnern zu erhalten oder ob das alte Paradigma der Abwertung jüdischen Lebens“ bleibe: „The answer to it is written in the womb of time“. Heute, 50 Jahre später, wissen wir, dass es keine grundlegende Katharsis, keine tiefgreifende Zäsur gab, keine geistige Zusammenführung. Judenhass artikuliert sich weiterhin, und das Trauma der Shoah tragen Juden alleine - und allzu oft sprachlos angesichts der Empathielosigkeit und den gefühllos artikulierten Forderungen der nicht-jüdischen Gesellschaft. Da ist das Ringen um Wörter, die kollektive Trauer und Sorge auf der jüdischen Seite, das Beklagen und vor Selbstmitleid triefende Jammern, völliges Desinteresse und auch das Beschuldigen und Einfordern auf der anderen Seite. Am 5. Februar 2021 schreibt Herr Prof. Dr. aus der Medizin an den Zentralratsvorsitzenden Dr. Josef Schuster und erklärt ihm in einem vier Seiten langen Brief seine Sicht der Dinge zur Erinnerungskultur: Dieser ist durchsetzt von zahlreichen Vorsichtsfloskeln wie „bitte verstehen Sie mich nicht falsch“ oder „nicht, dass Sie mich missverstehen“, und der Autor bekundet mehrfach seine „Sympathie für das Judentum und Israel“. Der Professor beklagt dann „die ständige und erzwungene Beschäftigung mit der Shoah ist unangenehm“. Als „den größten Genozid aller Zeiten“ nennt er die „Ausrottung der Indianer in Amerika“. Er mahnt, es solle auch 146 daran erinnert werden, dass es „deutschen Widerstand gab“ und dass „die Deutschen mit dem Schuldkomplex belastet“ seien und die „Häme und Verachtung der anderen Völker ertragen“ müssten. Dieses Schreiben spiegelt die Haltung vieler (auch gebildeter) Menschen in Deutschland wider: Sie legen statt einer gemeinsamen Wir-Kategorie die alte geistige Antonymie zwischen ‚Juden und Deutschen‘ zu Grunde, setzen damit wie selbstverständlich zwei verschiedene Erinnerungskulturen an, in denen „das deutsche Erinnern“ mit Scham, Schuld, Schande als aufgezwungen und destruktiv bewertet wird. Von Juden fordern sie nichts Geringeres als Zurückhaltung, Rücksichtnahme auf die deutsche Volksseele und weniger nach außen getragene Betroffenheit. Ein Zeugnis des deutschen Versagens im Umgang mit der Shoah. Was vor 20 Jahren in der Nationalzeitung und in den Kolumnen der Jungen Freiheit im Rechtsaußen zu lesen war, findet sich mittlerweile auch in den Feuilletons der Qualitätspresse, und zwar in den sophistischen Texten von Akademikern, die dieses Gedankengut als „liberalere Erinnerungskultur“ verkaufen. „Der Holocaust ist an die Stelle Gottes getreten-… an den Holocaust muss man glauben-…“ schrieb Günter Zehm alias Pankraz 2000 in der Jungen Freiheit (09/ 00 vom 25.2.2000). Heute, zwanzig Jahre später, darf ein australischer Professor mit einer Re-Aktivierung dieser miefigen rechten „Schuldkult“-Legende sowie der „Sakralisierungsthese“ durch die Mitte der Gesellschaft tingeln. Man hätte es einfacher haben können: Die Texte von Zehm kopieren und abdrucken. Der Post- Kolonialismus- und Genozid-Forscher kritisiert den „Katechismus der Deutschen“, die „Heilsgeschichte“ und nennt Historiker, die die Singularität des Holocausts betonen „Hohepriester“ (Geschichte der Gegenwart, 23.05.2021). Realitätsverzerrung kommt da gleich nebenbei mit daher. Den Holocaust „sollte man mit den vielen fundamentalen Verbrechen der westlichen Zivilisation zusammendenken“. Die Empathie abwehrende Kälte von Professoren, die „den Deutschen“ ein Recht auf Vergessen wünschen, die das 147 Verhältnis von „Deutschen und Juden“ nicht belastet sehen wollen durch ein „ausuferndes Erinnern“ oder eine „deutsche Holocaust- Orthodoxie“, gar eine „Holocaust-Obsession“, die eine „natürliche Entemotionalisierung“ für gut und erstrebenswert sehen, hat Konjunktur, ist en vogue. Den affektiven Abwehr- und Überdruss- Reflexen einer Gesellschaft nachzugeben und das Bedürfnis nach „unbelasteter Normalisierung“ wissenschaftlich verbrämen sowie rechtfertigen, das ist der gebildete Populismus vom Gefährlichsten. Doch als solches Gedankengut im Januar 2022 in der FAZ abgedruckt wurde, war es ein Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, der als erster einen entsetzten Leserbrief dazu schrieb. Auf die Geschichtsverzerrungen im Die Zeit-Artikel vom Juli 2021 antwortete Saul Friedländer. In der langen Geschichte der Judenfeindschaft fällt immer wieder auf, dass es am Ende stets die Juden selbst waren, die sich allein gegen Hass und Hetze wehren mussten (s. Kap. 8). Noch bis in die Moderne des 20.- Jahrhunderts hinein ist dies zu beobachten, sei es der Berliner Antisemitismusstreit, die Weimarer Zeit und in der NS-Diktatur. Als Martin Walser 1998 seine Paulskirchen-Rede mit den Aussagen von der „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ und der „Moralkeule Auschwitz“ hielt, blieb einzig Ignatz Bubis mit versteinertem Gesicht sitzen. Als 2014 auf den Straßen Deutschlands lautstark Antisemitismen gegrölt wurden, riefen in erster Linie jüdische Verbände zu einer Solidaritätsdemonstration vor dem Brandenburger Tor auf. Die Politspitze kam, die Bevölkerung nicht. Als 2016 Mahmud Abbas im Europaparlament eine Rede mit klassischen Antisemitismen hielt, bekam er Standing Ovations. Der damalige Präsident Martin Schulz nannte die antisemitische Hetzrede gar „inspirierend“. Obgleich Judenhass eine kulturelle Geistes-Krankheit von Nicht-Juden ist, bleibt es allzu oft den Juden überlassen, dagegen anzugehen. So darf es nicht wundern, dass Juden sich allzu oft im Stich gelassen fühlen und keine Normalität jüdischen Lebens in Deutschland 148 sehen (s. hierzu etwa Ben Salomo 2021). Sie sind einsam mit ihrer großen Sorge vor Judenhass, einsam in einer Gesellschaft, die von Auschwitz nicht gelernt hat, wachsam-sensibel zu sein und ernsthaft Verantwortung zu übernehmen. Einsamkeit ist auch der emotionale Begleiter beim jüdischen Trauern, denn die deutsche Mehrheitsgesellschaft, sie versagt. Das Verb versagen ist doppeldeutig: Es bedeutet zum einen die Unfähigkeit, etwas zu tun, weil die Kräfte nicht ausreichen, zum anderen die Unfähigkeit, das Richtige oder Erwartete leisten zu können, weil man nicht willens oder geeignet dafür ist. Beide Phänomene spielen beim Judenhass und seiner kommunikativen Bewältigung eine Rolle, insbesondere bei der Erinnerungskultur, beim Gedenken und Aufarbeiten. Hierbei zeigt sich das Auseinanderklaffen von jüdischem und nicht-jüdischem Erleben und Bewerten. Zwischen den beiden Formen des Versagens stehen jüdische und nicht-jüdische Deutsche an den am meisten auseinanderliegenden Polen. Die Kluft könnte nicht größer sein: Jeder vierte gibt in Umfragen an, Juden „nützten den Holocaust für ihre Zwecke aus“. Jeder fünfte befragte Deutsche bejahte Aussagen wie „die Juden würden zu viel über den Holocaust reden“ und man „solle die Vergangenheit ruhen lassen“. Wer so denkt, strömt Gefühlskälte aus. Vor allem aber zeigt der, der so spricht, dass er die Bedeutung der Shoah als Zivilisationsbruch für die Welt und die menschliche Existenz nicht begriffen hat. Gerade den nichtjüdischen Menschen sollte es ein dringendes, ein zwingendes moralisches Bedürfnis sein, die Erinnerung wach zu halten, gerade die nicht-jüdische Welt sollte das „Nie Wieder! “ als kategorischen Imperativ im kollektiven Bewusstsein internalisieren. Wenn schon keine Empathie vorhanden ist, warum gelingt es nicht wenigstens, Juden in Würde trauern zu lassen? Woher kommt dieses Bedürfnis, Juden ihre Trauer vorhalten zu wollen? Man mutet den Juden viel zu in diesem Land, im Land, das den Massenmord plante und ausführte: Ihre Ängste werden klein 149 geredet, oft gar als „Hysterie“ abgetan. Ihre Warnungen werden beiseite gewischt mit dem Hinweis, es gäbe heute schlimmere Diskriminierungen, und virulenter Judenhass sei Vergangenheit oder nur im Rechtsaußen lokalisiert. Ihr Trauma wird als überzogen, als mit dem Wunsch „endlich Schlussstrich ziehen“ nivelliert, ihre Trauer dadurch würdelos herabgesetzt, das unikale Menschheitsverbrechen an ihnen durch krude Vergleiche relativiert. Floskelkultur und Antisemitismus light Und die Floskelkultur des offiziellen politischen Deutschlands mit seinen Sonntagsprüchen „entschieden entgegentreten“, „wehret den Anfängen“, mit aller Härte des Gesetzes“ sowie „kompromisslos gegen jede Form des Antisemitismus“ kann nur noch wie Hohn in den Ohren klingen, da die verbalen Versprechen und Beschwörungen einer Realpolitik entgegenstehen, die eben nicht alles tut, nicht konsequent und ohne Ausnahme Judenfeindschaft bekämpft. Statt ernsthaft und wirkungsvoll etwas zu tun, pflegt man eine Ad-hoc-Betroffenheit, die schnell wieder abgelegt wird. Das politische Geschäft geht weiter und Antisemitismusbekämpfung steht nicht ganz oben auf der Agenda. „Antisemitismusbekämpfung light“ bestimmt das politische Geschehen: Rabauken und Extremisten, rechte Populisten und islamistische Hassprediger als antisemitisch zu kritisieren, stößt kaum auf Widerstand und kann als bequemer Konsensus betrieben werden. Denn Antisemiten sind immer die Anderen, sind die aus dem anderen politischen Milieu. Bloß nicht im eigenen Kreis aufmerken und nur nicht die internationalen Partner durch Kritik verprellen. Bei ausländischen Präsidenten, die Antisemitismen artikulieren, ist man dann plötzlich taub. Wie wenig die wunderbare Rhetorik von Solidarität und Menschlichkeit allgemein bedeutet, wenn es um interessengeleitete Realpolitik geht, demonstrierte die Bundesregierung auch nach 150 der berührenden Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im März 2022. Kein Erbarmen, sondern Business as usual. Seit Jahren ist zu beobachten, dass die Mitte und auch viele Medien das Gefühl verloren haben für die Brisanz und das Gift bestimmter Äußerungen. Es mangelt am Bewusstsein, was Sprache anrichten kann, und an Fingerspitzengefühl für die Gefühle der Opfer und Opferangehörigen. In einem Interview in Die Zeit, online am 27. April 2021, zum Thema Holocaust-Gedenken fragt der Journalist eine Historikerin, ob es ein Ausdruck von Desinteresse gewesen sei, dass die nicht-jüdischen Deutschen so wenig zur Judenverfolgung zu Papier gebracht haben, die sich doch vor ihren Augen abspielte. Die Historikerin: -„Vor allem zeigt es, wie isoliert die Juden in der deutschen Gesellschaft waren.“ Man stolpert sofort über diese Antwort, und alle Juden, die diese gelesen haben, rieben sich befremdet die Augen, bedient sie doch ein Stereotyp, das mit der Realität nicht viel zu tun hat. Isoliert? Als zwischen 1933 und 1938 Schaufenster zerschlagen und Türen beschmiert wurden, erfuhren viele Deutsche in den jeweiligen Städten zum ersten Mal, dass ihre Nachbarn, ihre Ärzte, Anwälte, Lehrer und die Besitzer von Läden überhaupt jüdisch waren. So integriert waren jüdische Deutsche. Für manche Juden selbst kam ein Schock durch die brutale Wegnahme ihrer deutschen Identität. Inge Deutschkron beschreibt dies in ihren Memoiren, wie sie plötzlich nicht mehr als Person, sondern nur noch als Jüdin gesehen wurde. Sie ist ein Teenager, als die Mutter ihr klar macht: Du bist Jüdin, Inge. Ihr war es vorher nicht bewusst, so Berlinerisch war sie aufgezogen. Bei unseren vielen Kaffeetrinknachmittagen in ihrer Wilmersdorfer Wohnung oder den Abendessen beim Italiener um die Ecke rief Inge oft mit vor Empörung bebender Stimme „Die Nazis haben mich zur Jüdin gemacht, sie haben mir mein Deutschsein einfach gestohlen! “ Ähnlich fassungslos reagierten - so zeigen es Tagebuchaufzeichnungen und Briefe - die meisten Juden, viele von ihnen mit ausgeprägter nationaler Gesinnung. Sie konnten sich anfangs 151 nicht vorstellen, dass in „ihrem kultivierten Heimatland“ wirklich Schreckliches mit ihnen, den Bürgern, den stolzen Deutschen, passieren könnte. Juden, als sie schikaniert und zum Vergasen abgeholt wurden, waren keine Fremden, es waren Deutsche, Tür an Tür mit nicht jüdischen Nachbarn. Es waren die Ärzte, Handwerker, die Händler, Schauspieler und Künstler, die Kommilitonen, Nachbarn, Freunde und Mitschüler, die Ehegatten, die in den Tod abgeholt wurden. Hierin liegt das Unikale, dass Juden als Juden ausgerottet wurden, ohne dass ökonomische, soziale oder politische Gründe vorlagen bzw. vorgeschoben werden konnten. Der „Erlösungsgedanke“ allein stand im Nationalsozialismus im Vordergrund: die Welt von der Existenz der Juden zu „erlösen“ (s.- hierzu Poliakov 1956 und später Friedländer). Grundlos und ohne Anlass, ohne Zweckgerichtetheit, einzig dem anti-judaistischen Phantasma folgend. Die „Endlösung“ entsprach der kausalen „Begründung“, Juden, obgleich diese höchst produktiv und erfolgreich im deutschen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kunstleben waren und eine Bereicherung darstellten, zum „Wohle der Menschheit“ auszulöschen. Sogar gegen die Interessen des Staates: Eichmann erhielt auch im letzten Kriegsjahr noch seine Züge für den Abtransport, obgleich die Wehrmacht diese gut hätte gebrauchen können. Daher greifen Ansätze zur Frage „Warum die Juden? “ zu kurz, die Sozialneid oder wirtschaftliche Gründe anführen, sie verzerren die wahren Beweggründe (s. hierzu auch kritisch den Holocaustforscher Yehuda Bauer 1985 sowie Steinbacher 2021). Auch bitterarme Menschen wurden umgebracht. Und ohne Bedenken Tausende von Säuglingen und Kleinkindern ermordet, denen man nichts missgönnen oder rauben konnte - nur ihr Leben. Die bürokratisch kalte Monstrosität der Shoah basiert auf einer Form der Inhumanität, die in der menschlichen Geschichte einmalig und mit keiner Erfahrungs- oder Reflexionsinstanz zu (er-)fassen oder zu vergleichen ist. Wie soll man über das Grauen sprechen, ohne sprachlos zu werden, wie soll man gedenken, ohne in Entsetzen und Trauer zu ver- 152 stummen? Dies schwingt in Adornos bekanntem Diktum „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ mit. Weil die Sprache an ihre Grenzen stößt. Walter Benjamin nannte schon „Sprachlosigkeit“ und „Ausdrucksohnmacht“ als „Urerlebnis“ des Leids: „mit der Depotenzierung des Leibes im Grauen fällt auch der Gegenpol der Sprache weg“. Primo Levi schrieb über seine Gefangenschaft im Lager: „Da merken wir zum ersten Mal, daß unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, diese Vernichtung eines Menschen-… Wir sind in der Tiefe angekommen.“ Alles bislang Erfahrene wird transzendiert. Die Konfrontation mit einer zerstörten Realität und einem Ausmaß an Leid bringt so auch die Darstellungsfunktion der Sprache an ihre Grenzen. Und auch die zeitliche Distanz zum Erlebten, in normalen Trauersituationen ein Garant für Bewältigung bzw. Abschwächung der Intensität des Schmerzes, bietet keine Entlastung: „Je weiter Auschwitz entfernt ist, desto näher kommt es, die Jahre dazwischen sind weggewischt. Auschwitz ist Realität, alles andere Traum.“ (Grete Weil). Die Trauer von Juden ist allumfassend. Die Trauernden leiden nicht nur am persönlichen Verlust, sondern erleben auch die Verzweiflung an einem Leben, das aus den Fugen geriet, einer Welt, die in Stücke ging - und die mangelnde Empathie der Mitmenschen. Das Gefühl des Verlusts umschließt nicht nur die Todeserfahrung, sondern die gesamte jüdische Welt und ist daher eine existenzielle Trauer. Und sie hat somit eine kollektive Dimension. Das Trauern bezieht sich immer auch auf das jüdische Volk und seine fast vollständige Ausrottung. Das jüdische Trauma, es ist transgenerational, es wird weitergegeben an die Nachkommen, wie viele psychologische Studien längst gezeigt haben (s. Grünberg/ Markert 2015). Kinder und Enkelkinder haben die Alpträume ihrer Eltern und Großeltern, die namenlose Angst vor dem verschlingenden Abgrund. Der bürokratisch betriebene Massenmord war ein Kollektivtod, der Juden einer Ent-Individualisierung und De-Humanisierung unterwirft, einer monströsen Logik der Todes-Bringer aus Deutschland. So- 153 wohl Innenals auch Außenwelt sind zerstört, der Verlust ist damit ein totaler: Dies manifestiert sich sprachlich in Gedichten u.-a. von Nelly Sachs, Rose Ausländer, in den Briefen und Tagebüchern. Schmerz und Leid artikulieren sich nie nur hinsichtlich des Verlustes der getöteten Personen, sondern hinsichtlich der gesamten conditio humana. Leid bedeutet hier Verzweiflung und Zweifel am Mensch-Sein, am Leben und seinen monströsen Auswüchsen. Und die jüdische Trauer ist bis heute sehr einsam. Denn sie wird nicht geteilt, nicht verstanden. Sie wird zu oft kritisiert und abgelehnt. Deutschland gestattet sich die unerträgliche Leichtigkeit einer Vergangenheitsbewältigung, die ohne viel Pein und ohne große Mühen betrieben werden kann. Es ist so leicht und so bequem, Judenhass in eine große Schublade zu packen, in die alles kommt, was irgendwie mit Feindseligkeiten zu tun hat. Die geläufige Sammelkategorie „Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit“ mit dem Oberbegriff „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ erlaubt eine Aufklärung light mit einer Soft-Definition von Antisemitismus. Diese klammert die lange Kultur-Geschichte aus, und macht den Umgang mit judenfeindlichen Taten pflegeleicht. Alles ist Genozid, alles ist Kolonialismus, ist weiße Vorherrschaft. Alles weichgespült. Zudem muss man sich dann auch nicht mehr besonders schämen für die Vergangenheit, denn fremdenfeindlich und aggressiv ist doch jedes Land irgendwie mal, oder? In Deutschland erhebt man sich so über die besondere Verantwortung (auch wenn diese bei jeder Gelegenheit in den Raum gestellt wird) und blendet das Singuläre des Judenhasses aus. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen gilt vielen als besonders gelungen. Seit einigen Jahren wird sogar vermehrt die angeblich „mustergültige Aufarbeitungspolitik“ Deutschlands ins Feld geführt. „Von den Deutschen lernen? “ Was genau soll man von den Deutschen, die sechs Millionen jüdische Menschen kaltblütig umbrachten, denn lernen? Dass sie „Meister des Todes“ im Morden waren, wie Celan es in 154 seiner Todesfuge ausdrückte? Dass sie sich nach 1945 über zwei Jahrzehnte hartnäckig sträubten, dieses Menschheitsverbrechen überhaupt zu thematisieren, geschweige denn aufzuklären? Dass sie sich bis heute davor drücken, ernsthaft gegen den sich immer weiter ausbreitenden Alltags- und Kultur-Judenhass vorzugehen, dass sie achselzuckend ihrem Desinteresse frönen, statt Solidarität zu zeigen? Dass es nie gelungen ist, tiefe einsichtige Empathie zu entwickeln für das Ausmaß des Leids? Dass sie es am Ende den jüdischen Menschen in Deutschland, also den Opfernachkommen, überlassen, ernsthaft zu mahnen? Dass sie dieses Mahnen als Zumutung empfinden? Dass sie bis heute nicht begriffen und weder kognitiv noch emotional internalisiert haben, dass die Zerstörung jüdischen Lebens auch ein Stück die Zerstörung der kulturellen Integrität Deutschlands und Europas sowie den Verlust des Glaubens an Prinzipien der Aufklärung und Menschlichkeit und keineswegs nur individuell-partikular die kleine jüdische Minderheit, sondern universell die Menschheit betraf ? Dass sie nicht realisierten, wie ein vitales Stück Deutschlands für immer zerstört wurde? Ihr Versagen der Erkenntnis, dass Erinnern nur gemeinsam eine Zukunft hat und nicht aufgespalten werden darf in eine jüdische und eine nicht-jüdische Erinnerungskultur? All dies können wir in der Tat von den Deutschen lernen! „Vorbildliche Vergangenheitsaufarbeitung“? Die Untersuchungen u.-a. des Historikers Eike Wolgast und der Lexikologin Heidrun Kämper belegen seit langem datenreich die Verdrängungs- und Marginalisierungsprozesse der Shoah unmittelbar nach Kriegsende 1945, die massive Schuld- und Erinnerungsabwehr sowie der Täter-Opfer-Umkehr, die Opferinszenierung und die ungebrochene Kontinuität judenfeindlichen Denkens (zusammengefasst hat dies zuletzt noch einmal Samuel Salzborn 2020). „Schuldabwehr und Rechtfertigung sind kommunikative Akte, mit denen nach 1945 eine ganze Nation identifiziert wurde und die zu nationalen Stereotypen gerieten, welche bis heute Gültigkeit haben“ (Kämper 155 2005: 496). Der Vergleich des in jedem Deutschunterricht behandelten Nachkriegsautors Wolfgang Borchert, der stets das Leid der Nachkriegsdeutschen in den Mittelpunkt rückte und kein Wort der Empathie für die jüdischen Opfer des deutschen Massenmords fand, ist symptomatisch und typisch für das Versagen eines Deutschlands, das sich der Verantwortung nicht stellen wollte, das nach vorne schauen wollte, den Ballast der Vergangenheit abzuschütteln suchte. „Hatten die Häftlinge Hunger? Den haben wir auch. Haben die Häftlinge gefroren? Das tun wir auch. Häuften sich die Toten vor den Krematorien? Wenn es so weitergeht, werden sie das bald wieder tun. Waren die Häftlinge eingesperrt? Das sind Tausende von Kriegsgefangenen auch.“ (Borchert 1947) Nicht die Gefühle von Entsetzen, Schande und Scham waren vorherrschend, nicht das Mitleid mit den Opfern und den Überlebenden der Vernichtungslager, sondern vielmehr Selbstmitleid. Schweigen und Desinteresse sowie Abwehr und Gleichgültigkeit prägten emotional die Einstellung gegenüber den toten und lebenden Juden. Der großartige Film Mord auf Raten von Ilona Ziok über Fritz Bauer dokumentiert, gegen welch massive Widerstände und Gegenwehr Bauer in Politik, Justiz und Zivilgesellschaft kämpfen musste, um die Auschwitzprozesse Ende der sechziger Jahre (mit über zwanzig Jahren Verspätung) durchführen zu können. Dass die Ermordung des europäischen Judentums keinen hohen Stellenwert in den Nachkriegsjahrzehnten hatte, zeigt sich auch am mangelnden Bedürfnis, ein Wort dafür in die Kommunikation einzubringen. Wie schnell geschieht dies sonst, wenn neue Phänomene einen Namen brauchen. Holocaust-wurde in Deutschland erst durch die gleichnamige amerikanische Fernsehserie geläufig, das hebräische Wort Shoah durch Claude Lanzmanns gleichnamigen Film. Beide also erst dreißig Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager. Die deutsche Gesellschaft ruht sich insgesamt zu sehr aus im Wohlfühl-Habitus, man habe doch genug getan. Ein zu „viel an 156 Erinnerungskultur“, so lautet es mittlerweile, könne womöglich gar feindselige Gefühle gegenüber Juden entfachen. Dabei stehen sich die Kenntnisse der Wissenschaft und die der Gesellschaft diametral gegenüber. Dem gefühlten Zuviel entspricht kognitiv ein Zuwenig, denn Erhebungen zeigen seit Jahren, dass die Kenntnisse über jüdisches Leben und Geschichte rudimentär und begrenzt sind. Eben weil so viele Deutsche nichts aus der Vergangenheit gelernt haben, kommen jetzt die alten Gespenster aus allen Kellern machtvoll ans Licht. Weder Prävention durch Aufklärung noch Repression durch Verbote und Gesetze reichen im Kampf gegen Antisemitismus aus. Sie sind keine Instrumente, um das geistige Gift aus der Gesellschaft zu verdrängen. Es braucht ein inneres Umdenken in der Zivilgesellschaft, das nicht nur kognitiver, sondern auch emotionaler Intelligenz folgt. Dieses setzt voraus, dass Gefühle wie Empathie und Identifikation gebildet und internalisiert werden. Ohne diese emotionale Dimension der geteilten, der gemeinsamen Erinnerung gibt es keine gemeinsame Zukunft. Dabei spielt die als belastend zurückgewiesene Scham eine entscheidende Rolle. Das haben all die längst verstanden, die sich im inter-religiösen Gespräch auf Augenhöhe engagieren, die Verantwortung leben. Scham muss nicht etwas Belastendes und Destabilisierendes sein, wenn man verstanden hat, dass es zur moralischen Größe und Integrität gehört, ein Verantwortungsgefühl in sich zu tragen. Scham als eine Emotion, die positiv und stabilisierend für das eigene Selbstbewusstsein und für das kollektive Erinnern ist. Das Eingeständnis, dass Menschen anderen Menschen unvorstellbar Schreckliches zufügen können und man sich gegen dieses Unrecht wenden muss, um eine humane Gesellschaft aufrecht zu erhalten und in den Spiegel schauen zu können, das ist keine Schwäche, das ist Menschlichkeit und Mensch-Sein im besten Sinne. Ohne diese emotionale Einsicht und eine gemeinsam gefühlte Erinnerung wird die jüdische Trauer jedoch immer einsam blei- 157 ben. Am 27. Januar, dem Gedenktag anlässlich der Befreiung von Ausschwitz durch die Rote Armee 1945, gedenkt das offizielle Deutschland des Menschheitsverbrechens durch die Nationalsozialisten. Im Jahr 2022 kamen als Sprecher die Shoah-Überlebende Inge Auerbacher und der Präsident der Knesset, Mickey Levy. Beide wurden am Ende ihrer Reden von den Gefühlen so überwältigt, dass sie mit den Tränen kämpfen mussten und sich schließlich weinend in die Arme fielen. Um sie herum die Abgeordneten des Bundetages mit feierlich gesetzten Mienen. Als ich durch den eigenen Tränenschleier die Szene sah, fiel mir auf, was dabei nicht stimmte und was fehlte. Warum weinten nur die Opfer? Warum weinte nicht der Bundestag? Hatten die Volksvertreter Deutschlands keinen Grund zu trauern und zu weinen? Weinen um den Zivilisationsbruch? Weinen um ein Deutschland, das einen höchst vitalen und kostbaren Teil seiner Bürger vertrieben und vernichtet hatte? Um ein Deutschland und Europa, das verstümmelt wurde? Am Ende steht trotz aller salbungsvollen Beteuerungen und Versprechen des offiziellen Deutschlands nach über 70 Jahren nur eine einzige Gewissheit: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ (Primo Levi) 159 14 „Den blinden und verstockten Juden helfen“: Ratschläge und Moralpredigten vom Podest der hohen Moral Oder die natürliche Intoleranz der Toleranten „Ich vermisse bei den jüdischen Organisationen die kritische Komponente-…Ich wünsche Ihnen allen viel Weisheit“ (Sozialwissenschaftler am 31.12.2020, E-Mail an den Zentralrat der Juden in Deutschland) „Deutschland muss Israel unter die Arme greifen, damit es ein besserer Staat wird. Von Deutschen lernen - das sollte das Motto sein“ (Kommentar im Internet, 2020) Juden vorzuschreiben, wie sie zu glauben und zu leben haben, hat eine sehr lange Tradition in der Geschichte der Judenfeindschaft. Sei es in Form von Anweisungen, Drohungen, Geboten, Ermahnungen oder Ratschlägen. Im frühesten Stadium des christlichen Anti-Judaismus waren es die Aufrufe, zum Christentum überzutreten. Weil Jesus nicht als Messias und Erlöser anerkannt wurde, wird Juden Blindheit und Verstocktheit vorgeworfen. Der „ungläubige Jude“ der „mit Blindheit geschlagen" ist, ist ein biblisches Motiv etwa bei Johannes (9,1-7), wo metaphorisch-allegorisch der blinde Kranke in Kontrast gesetzt wird zum sehenden Gesunden. Und die jüdischen Schriftgelehrten, die Pharisäer, werden als blind im übertragenen Sinne charakterisiert. Sie verkörpern aus Christensicht das geistige Versagen des Judentums, den „wahren Erlöser“ anzuerkennen. Der verbalen Verdammnis folgten als Konsequenz physische Maßnahmen u.- a. in Form von Zwangstaufen. Nicht, dass dies viel geholfen hätte. Man beargwöhnte konvertierte Juden, in Spanien wurden sie als Marranos, wörtlich Schweine, im Übertragenen auch Gauner, bezeichnet, auch und obgleich sich die 160 Mehrzahl der Zwangsgetauften erfolgreich in die christianisierte Welt einlebte. Auch das Wort Taufjude belegt, dass das Konzept des ‚ewigen Juden‘, des Ahasver, bereits im späten Mittelalter tief sitzt und an die prä-rassistische Doktrin der „Reinheit des Blutes“ (limpieza de sangre) geknüpft ist. Juden wurden oft gezwungen, sich unter Geheimhaltung ihrer wahren Religion, anzupassen. Die Inquisition, eine der obsessivsten Institutionen der katholischen Kirche, entstand im 13.- Jahrhundert, um Ketzer und versteckte Ungläubige, „falsche Christen“, also Juden, zu entlarven. Altchristen verfolgten und bekämpften die Conversos mit Misstrauen. Auch im säkularisierten Antisemitismus lebte dieser Gedanke weiter und wurde als „Mimikry“ bezeichnet. Dahinter stand die Vorstellung, Juden würden sich scheinbar anpassen, tatsächlich aber der Gesellschaft Schaden zufügen. Achim von Arnim, der berühmte romantische Dichter, hielt z.- B. 1812 in Berlin vor der Tischgesellschaft (die auch getaufte Juden nicht als Mitglieder zuließ) eine solche Rede. Judenmissionen ziehen sich durch die Jahrhunderte bis in unsere Zeit: Die katholische Karfreitagsliturgie beinhaltete seit dem sechsten Jahrhundert bis ins 21.-Jahrhundert die Bitte „um Erleuchtung der Juden“ und im Gebet pro perfidis Judaeis die Bekehrung der „treulosen Juden“. Erst im Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 kam es zu einer Reform. Doch 2008 wünschte sich Papst Benedikt XVI darin die folgende Textstelle: „Lasst uns auch beten für die Juden, dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Heiland aller Menschen erkennen.“ Insbesondere die konservative Piusbruderschaft, deren Bischof Williamson 2008 den Holocaust leugnete und dafür 2012 ausgeschlossen wurde, hält hartnäckig an solchen Bekehrungspassagen fest und vermag nichts Verwerfliches daran zu sehen: „Aber das ist doch kein Antisemitismus, wenn man wünscht den Juden, dass sie auch Jesus als ihren Messias erkennen“ befand vor einigen Jahren Pater Gaudron. Was ist es denn dann, muss man hier wohl fragen, wenn Christen, die für die Verdammnis und Verteufelung 161 der Juden verantwortlich sind, in ihrer Intoleranz verhaftet bleiben und aus ihrer Notwendigkeit der Bekehrung zum „wahren Glauben“ Juden als verblendete Wesen charakterisieren, die aus dem „Heil der Welt“ fallen? Aus der Vorstellung der religiösen Verstocktheit entwickelten sich vom Podest der „christlichen Erleuchtungsmission“ im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche säkulare Stereotype. In Folge der Aufklärung verändern sich die „Maßnahmen“, verlieren jedoch nie ihren Charakter der hochmütigen Selbst-Gewissheit, etwas Besseres als die Juden zu sein. Es wächst und wurzelt eine natürliche Überheblichkeit, die sich auf alle Lebensbereiche ausbreitet. Juden muss man sagen, wo es lang geht, Juden können den wahren Weg nicht allein finden. Und ‚prinzipiell ist Jüdisch-Sein eine niedere Existenzform‘, so die Hybris. Als Ende des 18.- Jahrhunderts in Frankreich im Zuge von Emanzipationsüberlegungen eine Debatte zur „Judenfrage“ angestoßen wird mit dem Thema „Gibt es Mittel, die Juden glücklicher und nützlicher in Frankreich zu machen? “ erhalten zwei Autoren besonderes Lob. C.W. Dohm entwickelt 1781 in Über die bürgerliche Verbesserung der Juden ein Konzept, das u.-a. auf der folgenden Aussage fußt: „Wenn man indeß zugiebt, daß die Juden in gewisser Absicht sittlich verderbt sind-…“ und er formuliert „Ideen, wie die Juden glücklichere und bessere Glieder der bürgerlichen Gesellschaft werden könnten“. Und Abbé Grégoire, 1788, formuliert es so: „Machen wir die Juden zu Bürgern; physisch und moralisch wieder verjüngt, werden sie ein gesünderes, stärkeres Temperament, Einsicht und Ehrlichkeit erlangen. Ihr Herz von der Tugend geleitet, ihre Hände von der Arbeit abgehärtet, werden der großen Gesellschaft zum Nutzen gereichen“. Die Implikaturen sind klar: ‚Bislang sind Juden kein Nutzen für die Gesellschaft. Einsicht und Ehrlichkeit müssen sie erst noch erlangen‘. Zieht man in Betracht, dass diese Schreiber aufrichtig die Lage der Juden in Europa verbessern wollten, verströmen diese Zeilen die Natürlichkeit, die Selbstverständlichkeit des anti-jüdi- 162 schen Denkens und Fühlens. Die Autoren wären wohl tief empört gewesen, hätte man ihnen aufgrund ihrer Texte Judenfeindschaft vorgeworfen. Diesbezüglich hat sich bis zum heutigen Tag nichts verändert. Die aktuellen Moralisten beraten und ermahnen die Juden selbstverständlich auch nur aus lauteren Gründen. „Die Judenfrage“ oder „das Judenproblem“ wird im Bildungsbürgertum des 19.-Jahrhunderts auch in Deutschland intensiv erörtert. Und endet zumeist in der Antwort, dass Juden als Juden verschwinden und ganz und gar in der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft aufgehen sollen (s. Kap. 8). Der Philosoph und Professor Fries drückt dies 1816 radikal, und auch tatsächlich eliminatorisch gemeint, aus: „Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum ausrotten“. Richard Wagner formuliert 1850 dies etwas sublimer als „Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden-… aufhören, Jude zu sein.“ Der renommierte Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke befindet 1880 in Ein Wort über unser Judenthum: „Schreitet das Judentum weiter auf der-… Bahn-… dann müßte sich unter den Christen unfehlbar der Ruf erheben: hinweg mit der Emanzipation“. Er knüpft die Emanzipation an das „zukünftige Wohlverhalten“ der Juden. Die Einforderung „jüdischen Wohlverhaltens“ - hierin spiegelt sich die natürliche Anmaßung und Überheblichkeit von Nicht-Juden, die sich auf legitimer Podest-Höhe sehen und keinerlei Zweifel an der Berechtigung ihrer Maßregelungen haben. Stets finden sich in allen Texten zum „Judenproblem“ die Beteuerungen, alles sei nur „zum Guten aller“ und folge einem moralischen Verantwortungsgefühl. Die pervertierte Rechtfertigung für die „Endlösung der Judenfrage“ präsentiert demgemäß Himmler im Oktober 1943 „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht-…, dieses Volk-… umzubringen.“ In der Post-Holocaust-Phase treten die gebildeten „Mahner“ im Oberlehrerduktus auf, rechtfertigen sich mit der „christlichen Moral“ und ihrem „aufgeklärten Humanismus“. Es „treibt die Sorge“ 163 sie an und ihre „humanistische Gesinnung“. Diese Tugendwächtermentalität ist im 21.- Jahrhundert stark ausgeprägt, und in den Texten spiegelt sich die alte Hybris wider. Ein Psychologieprofessor erinnert 2012 in seiner E-Mail an die Israelische Botschaft in Berlin mahnend die „brutalen, mitleidlosen Israelis“: „Unsere Gesellschaft basiert auf den christlichen Tugenden, auf Respekt, Liebe, Mitleid.“ Und ein Sozialwissenschaftler wirft 2020 dem Zentralrat der Juden in Deutschland vor, er „vermisse bei den jüdischen Organisationen die kritische Komponente-…“ und „Ich wünsche Ihnen allen viel Weisheit.“ Zwei Beispiele von Tausenden. Das Gleiche im Internet: „Juden sollten/ müssten“ sowie in Anpassung „Israel sollte/ müsste“ ist in den sozialen Medien vielfach zu lesen. Es finden sich fortwährend solche Modalverb-Sätze und Imperative, die Juden anweisen, sich „richtig zu benehmen“, sich „anständig“ zu verhalten. Der langen Tradition herablassender Gewissheit folgend, auf der richtigen Seite der Welt zu stehen, werden Juden und jüdische Israelis wie unmündige Kinder abgekanzelt, mit erhobenem Zeigefinger belehrt. Arroganz und Besserwisserei sind eine vorherrschende Komponente insbesondere in der Kommunikation akademischer Kritiker, die ihre „Toleranz“ bei jeder Gelegenheit thematisieren. Sie fordern Selbstbestimmungsrecht für alle Menschen und Völker, mit einer Ausnahme: Es darf kein genuin jüdischer Nationalstaat sein, denn das wäre „diskriminierend gegenüber den nicht-jüdischen Bürgern“. Natürlich dürfe Israel existieren, aber nur unter bestimmten Bedingungen, die von außen diktiert werden. Denn schließlich gehe es doch um „Gerechtigkeit und den Weltfrieden“. Israel muss man daher „unter die Arme greifen“. Vieler Deutschen liebstes Hobby und Herzensanliegen sind Ratschläge, wie Israel seine Zukunft zu gestalten habe. Vor allem die „durch die Vergangenheit geläuterten Deutschen“ sind da gefragt. Das sind die Judenbelehrungen von Biedermann und den geistigen Brandstiftern, den toleranten Intoleranten. Im Gegensatz zur affektiven 164 Hassrede kommt der Hass hier (pseudo)rational und politisch korrekt zum Ausdruck (s. hierzu auch Haubl/ Caysa 2007). Der rational verbrämte Hass, er artikuliert sich weise und bedächtig, verantwortungsvoll, edel und so zivilisiert. Dennoch bleibt es Hass. Die Erfahrung Auschwitz wird nicht als ethischer Fingerzeig für sprachsensible Besonnenheit, sondern vielmehr geradezu im Umkehrschluss als Legitimation für ein besonderes, überhöhtes Selbstbewusstsein gegenüber den Nachkommen der Opfer benutzt. Den Israelis, die als Juden angeblich nichts aus der Geschichte gelernt haben (so lautet allzu oft der kollektive Vorwurf), erteilen sie Strafpredigten und werfen ihnen moralische Verkommenheit vor: „Haben Sie denn gar kein Herz, kein Mitgefühl? “ (E-Mail 2021 an die Israelische Botschaft), und sie geben Hinweise, wie sich der Zentralrat zu benehmen habe: „Betreiben Sie Versöhnung! “ (E- Mail 2020 an den ZJD). Viel behauptet wird dabei, es gebe „Zurückhaltung“ der Kritik gegenüber Israel aufgrund der deutschen Vergangenheit. Was für eine Realitätsverdrehung. Ein „Katechismus“ der Erinnerungskultur, der die Deutschen in ein Prokrustesbett zwängt, wie ein australischer Kolonialismusforscher es 2021 in den deutschen Qualitätsmedien behaupten darf ? Das Gegenteil ist der Fall. Aus der spezifischen historischen Verantwortung Deutschlands ist ein universaler Anspruch - eine Art Weltethik - für Gegenwart und Zukunft abgeleitet worden, sich von nun an gegen alle Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen auszusprechen. Dass am Ende diese Tugendwächtermentalität sich vor allem und oft unikal nur auf Israel und den Nahostkonflikt richtet, wird dabei nicht reflektiert. Aus dem Mantra, man habe die „Lehren gezogen“ und würde „nie wieder schweigen angesichts von Leid und Unterdrückung“, fordern diese Personen von deutschen Juden und Israelis, „endlich Einsicht zu zeigen“, „Liebe“ und „Menschlichkeit walten zu lassen“. Sie unterstellen diesen also prinzipiell kognitive und emotionale Defizite und tradieren damit das uralte 165 anti-judaistische Konzept des ,unmenschlichen und grausamen Juden‘: „Da ist kein Menschlich Herz- …“ (Luther 1543). „Wiltu je Liebe und Barmhertzigkeit erzeigen, so erzeige sie den Armen Leuten, welche die Juden- … schinden, beschweren aussaugen“ (Nigrinus 1570). Dass in anti-judaistische Muster gegriffen wird, führt die gesamte Argumentation dieser Moralisten ad absurdum. Zeigt sie doch, dass sie nichts aus der Geschichte gelernt haben. Klassisch anti-jüdische Rhetorik zu benutzen, entlarvt vielmehr die Abwesenheit der so vielfach beschworenen Läuterung. Die „Fallhöhe“ der Israelis wird durch die Leiderfahrung des jüdischen Volkes noch pseudo-historisch intensiviert. Nicht einmal der Holocaust habe aus Juden „moralisch integre Menschen, die mit den Palästinensern mitfühlen“ machen können. Akademische Schreiber kommunizieren ihren Missionarsdrang als Moralappelle und artikulieren ihre „gut gemeinten Ratschläge“ auffällig oft zusammen mit klassischen Stereotypen. „Die Legitimationsbasis all Ihrer Verbrechen ist wohl die zionistische Idee, ein auserwähltes Volk zu sein“ schreibt etwa ein Jura-Professor an den Zentralrat der Juden. Der Holocaust wird stets verurteilt und bedauert. Zugleich findet sich durchweg ein auffälliger Dualismus: Die gebildeten Verfasser unterscheiden zwischen „guten“ und „schlechten“ Juden, wobei „gute“ Juden entweder tot sind oder sich durch besonders scharfe Kritik an Israel auszeichnen. Diese werden dann gerne und viel als „Autoritäten“ zitiert (s. hierzu Friesel 2019). ‚Schlechte Juden‘ sind die gern in Israel Lebenden und die, die Israel verteidigen (s. hierzu bereits Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013: 376 ff.). Solche Antonymien findet man auch im öffentlichen und medialen Kommunikationsraum. Eine bekannte Literaturwissenschaftlerin etwa verkündet in der Frankfurter Rundschau vom 4.5.2020 „Jetzt verläuft eine Trennungslinie zwischen denen, die bemüht sind, den Staat Israel mit ihrer Kritik zu unterstützen und zu verbessern, und denen, die entschieden sind, ihn gegen jede Kritik zu immunisieren“. 166 Ist es angemessen, sprachsensibel, geschichtsbewusst, wenn Deutsche ankommen und mit erhobenem Zeigefinger den jüdischen Staat „verbessern wollen“? Jeder, der nur einen Bruchteil über die Vergangenheit und die Geschichte der „Judenbelehrungen und Verbesserungsvorschläge“ weiß, sollte sich bei solchen Äußerungen unbehaglich fühlen. 167 15 „Gestern die Juden, heute-…“: Multifunktionale NS-Vergleiche und falsche Analogien als Sprachkonstruktionen, die in die Irre führen „babycaust.de“, „Bombenholocaust“, „Klimaholocaust“, „Holocaust auf dem Teller“, „Nazi-Juden“, „SSrael“, „Hitler-Staat“, „Muslime tragen den neuen Judenstern“, „Impffrei“. Ein Kind von Impfgegnern, das seine Isolation mit Anne Franks Situation vergleicht, eine Rednerin, die sich wie Sophie Scholl fühlt, Aktivisten, die einen gelben Judenstern mit „Ungeimpft“ tragen oder den Slogan „Impfen macht frei“ plakatieren. Demonstranten, die der Bundesregierung „SS- und Gestapo-Methoden“ andichten, Politiker, die als Nazigrößen beschimpft, Virologen, die als „Corona-Mengele“ diskreditiert werden. Masken mit dem Schriftzug „Lügen wie 33-45“ oder Schilder mit „Nürnberger Kodex“. Es gipfelt in „Ausgangsbeschränkungen sind sozialer Holocaust“. Auf diese Weise wollen sich Impfgegner und Corona-Leugner als staatlich verfolgte Minderheit darstellen. Durch direkte und indirekte Gleichsetzungen mit Juden in der NS-Zeit kreieren sie eine irreale Opfer-Pose und imaginieren einen totalitären Staat, als dessen diskriminierte Leidtragende sie sich sehen. Um dies besonders wirkungsvoll in Szene zu setzen, scheuen sie sich nicht, völlig unverhältnismäßige Parallelen zur dunkelsten Stunde der Geschichte zu ziehen. Viele haben seit Beginn der Pandemie auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland geschrieben und darum gebeten oder gefordert, dieser solle sich aufgrund „seines Einflusses auf die deutsche Regierung“ und des „eigenen Leids und Diskriminierung in der Vergangenheit“ doch einschalten. Dass sie mit solchen Äußerungen auch antisemitische Stereotype artikulieren, 168 kommt ihnen wohl nicht in den Sinn. Geschichtsrelativierende und opferverhöhnende NS-Vergleiche hatten und haben in diesen Kreisen Konjunktur. Und sie finden Unterstützung bei der AfD: Es zeigt sich eine argumentative Linie der NS-Relativierung von der „Vogelschiss-Geschichte“ bis zur „Corona-Diktatur“. NS-Vergleiche gerieten zwar durch die Pandemie in den breiteren Blick der Öffentlichkeit, doch sie haben bereits eine lange Tradition sowohl in der Alltagskommunikation als auch in der politischen Auseinandersetzung sowie im antisemitischen Diskurs. Und keineswegs benutzen nur Querdenker, Rechtsextreme, Reichsbürger, Verschwörungsfantasten, fanatische Aktivisten oder Populisten solche kruden Vergleiche. So wie Bildung bzw. gute Kenntnisse über die NS-Zeit auch nicht deren Artikulation verhindern. Es sind vielmehr Sprachkonstruktionen, die seit 1946 immer wieder benutzt werden, um Aufmerksamkeit zu erhalten, Gegner zu diffamieren, Sachverhalte besonders zu kritisieren, geschichtsrevisionistisches Gedankengut zu verbreiten, die Shoah zu relativieren und/ oder Juden und Israelis zu dämonisieren. Und schließlich eignen sie sich auch dafür, bestimmte Zusammenhänge zu konstruieren, indem sie unterschiedliche Phänomene wie Antisemitismus und Muslimfeindschaft durch Sprüche wie „Gestern die Juden, heute die Muslime“ unter ein gemeinsames Dach der sozialen Diskriminierung bringen und damit nicht nur das Ausmaß des jüdischen Leidens in der NS-Zeit schmälern, sondern auch das Verständnis von Judenhass mit seiner kulturellen Verankerung verwischen. NS-Vergleiche sind multi-funktional. Das macht sie so beliebt. Sie sind vielseitig einsetzbar und finden sich (international) im gesamten politischen und sozialen Spektrum. Vergleiche tragen die Semantik ‚X ist wie Y‘ und basieren somit immer auf einer Analogie. Als rhetorisches und stilistisches Mittel werden sie seit der Antike benutzt. Prinzipiell sind sie wie Metaphern ein sehr ge- 169 eignetes sprachliches Mittel, um abstrakte oder unbekannte Sachverhalte durch die Relation zu etwas Bekanntem verständlicher zu machen oder bestimmte Aspekte zu fokussieren. Problematisch wird ein Vergleich aber dann, wenn er manipulativ-demagogisch, realitätsverzerrend oder beleidigend-diskriminierend eingesetzt wird. Bei NS-Vergleichen werden Personen des aktuellen Zeitgeschehens explizit mit dem Vergleichspartikel wie oder implizit durch grammatische Konstruktionen mit Personen der NS-Zeit verglichen. Bevorzugt benutzt werden bekannte Namen von Nazi-Größen wie Hitler, Goebbels, Mengele, Göring und/ oder aktuelle Handlungen/ Zustände/ Institutionen mit Sachverhalten und Prozessen (mit Wörtern wie Auschwitz, KZ, Endlösung, Holocaust) und in eine Ähnlichkeitsrelation gesetzt. Dadurch wird höchstmöglich angefeindet und herabgesetzt, sind doch die Nationalsozialisten im modernen Bewusstsein der Nachkriegszeit Exponenten für die größtmöglichen Verbrechen an der Menschheit. Vergleicht man somit X mit Y wird zwangsläufig die Relation ‚X-hat-Merkmalevon-Y‘ erstellt, welche Relevanz und Berechtigung des Vergleichs impliziert. Auf Rezipientenseite wird eine emotionale Reaktion über das semantische Netz ‚Inhumanität, Monstrosität, größtmögliche Verbrechen‘ antizipiert, wobei die Gefühle bezüglich Y auf X übertragen werden sollen. Somit sind NS-Vergleiche persuasive, d.- h. absichtlich bewusstseinsbeeinflussende Kommunikationsmittel. Provokation, Sensationalismus und skandalisierende Aufmerksamkeitserheischung sind die primären Beweggründe für die Produktion von NS-Vergleichen. Als Entgleisungen, also unabsichtliche Herausrutscher, kommen sie eher selten vor. Vielmehr werden sie zumeist mit Kalkül artikuliert. Es ist Affektinszenierung um der emotiven Mobilisierung willen. Während Entgleisungen in der Regel sofort nach ihrer Produktion als solche bemerkt und dann vom Sprecher umgehend korrigiert werden, beharren Produzenten von NS-Vergleichen auf ihre Rechtmäßigkeit und verteidigen deren Legitimität durch selbst-genehme Umdeutungen. 170 So besonders drastisch geschehen im österreichischen Diskurs. Nachdem Corona-Impfgegner in Wien mit der zynischen Intertextualität „Impfen macht frei“ aufgetreten waren, verteidigte der FPÖ-Parteichef und ehemalige Innenminister Herbert Kickl dies mit „Das ist eine Kritik am Nationalsozialismus, sonst gar nichts.“ Die KZ-Sprüche „Jedem das Seine“ und „Arbeit macht frei“ waren an den Toren angebracht worden, um deren Insassen zu verhöhnen: ‚Das, was ihr hier erlebt, ist für Euch angemessen‘ war die zynische Botschaft. Diese Situation auf die Corona-Impflage und eine für die Gesundheit der Bevölkerung wichtige Maßnahme zu übertragen und für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, ist schon pietätlos. Dies als „Kritik am Nationalsozialismus“ verkaufen zu wollen, spottet jeder Beschreibung. Nach dem Berliner Mauerbau finden sich in den westdeutschen Medien zahlreiche NS-Vergleiche, von „Ulbrichts großem KZ“ und „den KZ-Wächtern“ ist die Rede (s. zu den frühen NS-Vergleichen vor allem Eitz/ Stötzel 2009). In der politischen Auseinandersetzung werden über die Jahrzehnte hinweg aus allen Lagern NS-Vergleiche artikuliert, um Gegner besonders polemisch und wirkungsvoll zu kritisieren (s. hierzu auch Schwarz-Friesel 2 2013: 199 ff.). Willy Brandt nennt Heiner Geißler in der ZDF-Sendung Bonner Runde im Frühjahr 1985 einen „Hetzer, seit Goebbels der schlimmste Hetzer in unserem Land“, wird dafür heftig von Helmut Kohl attackiert, der wiederum ein Jahr später im US-Nachrichtenmagazin Newsweek Gorbatschow mit Goebbels in Verbindung bringt. Helmut Schmidt befindet 2008 auf n-tv über Oskar Lafontaine „Auch Adolf Nazi war ein charismatischer Redner. Oskar Lafontaine ist es auch.“ Keine deutsche Charakteristik: Godfrey Bloom, britischer Abgeordneter im Europaparlament, attackierte den deutschen Abgeordneten Martin Schulz im November 2010 mit den Worten „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Der palästinensische Fatah-Politiker Radschub nennt im Januar 2021 Netanjahu „das hässliche Gesicht von Mussolini und Hitler“. Und US-Präsident George Bush hatte 171 Saddam Husein im Irak-Krieg „barbarischer als Hitler“ genannt. Redeverbote für Politiker seiner Partei in Deutschland bezeichnete 2017 der türkische Präsident Erdogan als „Nazi-Praktiken“. In der antisemitischen Kommunikation kommen NS-Vergleiche regelmäßig in diskreditierender und dämonisierender Funktion vor: „Nazi-Juden, SS-Israel, KZ-Juden“ oder „Netanjahu, Hitler des Nahen Ostens“ charakterisieren Juden und Israelis generell mit Verweisen auf nationalsozialistische Gesinnung und Handlungen. Den logischen Widerspruch, die Opfer dieses Regimes nun als äquivalente Täter zu deuten, nimmt man für den Zweck der Diskreditierung in Kauf. Juden oder dem jüdischen Staat Israel das höchstmögliche Maß an Diffamierung durch negative Bewertung zukommen zu lassen, ist die Absicht dieser Hassrede. Geprägt von der irrationalen Affektlogik des Antisemitismus (s. hierzu Schwarz-Friesel 2019: 127 ff.), kommt es so auch durchaus vor, dass man in ein und derselben E-Mail als „Nazi-Schlampe“ und zugleich als „zionistische Mossad-Agentin“ und „Hasbara- Troll“ attackiert wird. Neben den zahlreichen Kodierungen in den Zusendungen an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Israelische Botschaft finden sich auch in den sozialen Medien mit zunehmender Tendenz eine Vielzahl grammatisch und inhaltlich ähnlich gestrickter antisemitischer NS-Vergleiche in Modalitäts-, Komparativ- und Superlativvergleichen wie „Mit den Palästinensern geschieht jetzt das gleiche wie mit den Juden damals“ oder „Ihr seid schlimmer als Hitler! “ oder „das größte Konzentrationslager aller Zeiten: Gaza“ oder „das Warschauer Ghetto Palästina“ (s. hierzu auch die Korpusstudie von Giesel 2019). Frequent genutzt sind auch Kombinationen mit dem ersten Teil des Hitlergrußes und jüdischen oder israelischen Personen oder Gruppen wie in „Heil Israelis! “. Dies geschieht zumeist bei Tradierung weiterer Stereotype, z.- B. ‚Juden als Nicht-Deutsche‘ in einer Äußerung wie „Ihr Heimatland foltert Unschuldige wie die Nazis damals“ (E-Mail an den ZJD). Besonders dominant in 172 der antisemitischen Kommunikation, die NS-Vergleiche kodiert, ist die für den israelbezogenen Judenhass typische Verschmelzung und Gleichsetzung von jüdischen und israelischen Belangen: „solange Sie nicht begreifen, dass Ihr Terror-… keine Verständigung herbeiführen kann, solange werden Sie zu Recht von humanistisch geprägten Menschen verachtet“ schreibt etwa ein Jura-Professor an den Zentralrat. Dadurch wird deutschen Juden kollektiv Schuld am Nahostkonflikt zugesprochen und das Stereotyp ‚Juden sind keine Deutschen (sondern Israelis)‘ manifest. Häufig findet sich die Variante des intertextuellen Verweisens mit Versatzstücken wie „Israel will wohl den totalen Krieg? “, „Endlösung garantiert? “ oder „Um 5.45 zurückgeschossen? Ihr Nazi-Juden mit eurer Auge-um- Auge-Rache“, wobei Zitate aus der NS-Zeit adaptiert werden, um Parallelen auszudrücken. Und auch in aller Öffentlichkeit benutzt man wiederholt auf deutschen Straßen NS-Vergleiche, die Israel als Unrechtsregime und Verbrecherstaat verunglimpfen (zu den Plakaten der Al Kuds Demonstrationen s. Weiß 2021). Die Organisation mit dem Euphemismus-Namen „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nah-Ost“ tritt immer wieder mit Formulierungen zu Tage, welche die israelische Politik mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Verbindung bringen. Dieser vergiftende Sprachgebrauch sieht dann „eine Wiederbelebung rassistischer Politik“, „eine Politik, wie sie gegen Juden in den dunkelsten Zeiten unserer Geschichte angewandt wurde“ und Israel solle seine „ethnischen Säuberungen“ beenden. Solche Radikal-Dysphemismen sind typisch für den israelbezogenen Judenhass (vgl. Kap.-12). Holocaust-Relativierungen Neben den antisemitisch diffamierenden und delegitimierenden sowie hyperbolisch dämonisierenden NS-Vergleichen gibt es die Manifestation der (nicht immer absichtlich) Shoah-relativierenden 173 Konstruktionen, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen. In der Werbung fanden z.-B. Nokia und Tchibo nichts dabei, den KZ-Spruch „Jedem das Seine“ in geringfügiger Abwandlung zu benutzen. „Arbeit macht frei“ frohlockte 2008 in einer TV-Call-Show eine Moderatorin und lachte laut über ihren eigenen „Witz“. Der CDU-Politiker Roland Koch warf dem damaligen Ver.di-Bundeschef Frank Bsirske im hessischen Landtag 2002 vor, in der Vermögensteuerdebatte Namen reicher Deutscher genannt zu haben. Dies sei „eine neue Form von Stern an der Brust“ und „eine schlimme Parallele zu anderen Zeiten“. Arnstadts Bürgermeister befand 2010, die Rechten würden „heute wieder ausgegrenzt, wie im Dritten Reich die Juden“. Ifo-Präsident und Ökonom Hans-Werner Sinn äußerte sich 2008 anlässlich der Finanzkrise und Managerkritik, bei der Weltwirtschaftskrise von 1929 habe „es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager“. Er entschuldigte sich dafür, auch beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Nicht immer jedoch kommt es zu Entschuldigungen oder der Einsicht, sich verbal inadäquat ausgedrückt zu haben. Auf dem Parteitag der Grünen wurde eine Videobotschaft der Publizistin Carolin Emcke eingespielt, in der diese im Zusammenhang mit Wissenschaftsfeindlichkeit und Bereitschaft zu Gewalt die Vermutung äußerte, dass „es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen seien, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.“ Mit solchen Äußerungen kommt immer eine Semantik der Relativierung und Nivellierung des Opferleids in den öffentlichen Diskursraum, auch wenn dies nicht beabsichtigt ist. Um auf die Gefahr der Ausgrenzung und Stigmatisierung bestimmter Personengruppen hinzuweisen, muss man keine historisch schiefen, unverhältnismäßigen Parallelen ziehen. Es gibt andere rhetorische Mittel, seine Message effektvoll in Szene zu setzen. Dass sollte eine wortgewandte Publizistin wissen. Die Tierschutzorganisation PETA startete 2004 eine Plakatkampagne mit dem Slogan „Der Holocaust auf ihrem Teller“ und 174 zeigte unter „lebende Skelette“ nackte KZ-Insassen neben Fotos ausgemergelter Rinder sowie Bilder mit einem Stapel menschlicher Leichen neben geschlachteten Schweinen. Dass nicht nur das Elend der KZ-Insassen bagatellisiert wurde, sondern auch eine nicht zu steigernde Beleidigung durch die Dehumanisierung vermittelt wurde, die an das NS-Gedankengut von Juden als Tieren anknüpft, vermochten die Aktivisten nicht einzusehen. Sie klagten gegen das deutsche Verbot, die Plakate weiterhin zu zeigen. Der linke Extinction-Rebellion-Mitbegründer Roger Hallam tat 2019 kund, der Holocaust sei „nur ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte“, sehr ähnlich zur „Vogelschiss“-Metapher des rechten AfD-Politikers Gauland. In einem zweiten Interview legte er nach und verglich seine Aktivität mit der Weißen Rose und beschrieb den Klimawandel als „das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt“. 2020 setzte ein Kandidat der Linken am Holocaust-Gedenktag die Klimakrise mit der Shoah gleich. Ähnliche Analogien finden sich bei radikalen Abtreibungsgegnern, die Kofferwörter wie Embryocaust oder Babycaust benutzen und im Internet auf die rhetorische Frage, ob es „eine Steigerungsform der grausamen Verbrechen im Holocaust gibt“ als Antwort präsentiert „Ja, es gibt sie. Gestern KZs, heute OPs.“ Noch deutlicher lässt sich der Holocaust eigentlich kaum relativieren: Frei gewählte medizinische Eingriffe werden auf eine Ebene mit dem Massenmord an Juden gestellt. Die deutsche Justiz sah jedoch bislang keinen Grund, die Website „babycaust.de“ zu verbieten, denn man sieht „keine Volksverhetzung“. Dass Frauen, die abtreiben, und Ärzte, die dabei involviert sind, kriminalisiert und potenziell gefährdet werden, wurde Anfang 2022 von der Staatsanwaltschaft Mannheim bestätigt. Warum aber vermochten die Juristen die Verhöhnung und Schmähung aller Opfer der Shoah nicht zu sehen? Holocaustrelativierungen werden auch regelmäßig von katholischen Bischöfen und Kardinälen artikuliert. Der damalige Kölner Kardinal Meisner zog in seiner Predigt zum Dreikönigstag 2005 175 die Linie vom Kindermord des jüdischen Königs Herodes über den Massenmord Hitlers und Stalins zur aktuellen Abtreibungspraxis. Bischof Walter Mixa führte diesen Gedankengang 2009 noch weiter aus: „Es hat diesen Holocaust sicher in diesem Umfang mit sechs Millionen Getöteten gegeben. Wir haben diese Zahl durch Abtreibungen aber bereits überschritten“. Mixa trivialisiert dadurch nicht nur den Holocaust; mit der Angabe, die Zahl der Toten sei „bereits überschritten“ wird impliziert, Abtreibungen seien eine verwerflichere Tat. Die Aussage stammt von einer Aschermittwochsveranstaltung der CSU zum Thema „Werte, Moral und Ethik“. Zwei deutschen Bischöfen fiel nach dem Besuch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem 2009 in Ramallah nichts Besseres ein, als einen Vergleich zum Warschauer Ghetto-zu ziehen. Der italienische Vatikan-Theologe Pater Cantalamessa verglich 2010 die Kritik an der katholischen Kirche im Zuge des Missbrauchsskandals mit der „kollektiven Gewalt“ gegen die Juden. Ein verbaler Dauerbrenner in der rechten Szene ist das Kompositum Bombenholocaust. „Holocaust of Dresden“ wurde 1977 von dem britischen Historiker und später als Holocaustleugner bekannten David Irving benutzt, der 1990 in Dresden vor Neonazis sprach und diese als „Überlebende des Holocausts von Dresden“ begrüßte. Irving betonte das „Reale und Singuläre“ des Angriffs vom 13. Februar 1945 und nannte zugleich den wirklichen Holocaust in den Gaskammern der Nazis eine „Erfindung“. Die NPD und andere Neonazis sprechen seitdem bei jeder Gelegenheit vom „Bombenholocaust“, so 2005 der NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel im sächsischen Landtag anlässlich des 60.-Jahrestages der Bombardierung. Zuletzt marschierten Rechtsextreme und Neonazis am 13. Februar 2022 mit einem Bombenholocaust-Banner durch Dresden. Dieses Kompositum vermittelt gleich mehrfach toxische Inhalte: Neben der Diffamierung der Alliierten wird ein Geschichtsrevisionismus sowie eine Verzerrung und Bagatellisierung des gezielten 176 Massenmordes an den europäischen Juden kommuniziert. Der Bombenangriff auf Dresden war eine militärische Handlung, die im zweiten Weltkrieg durchgeführt wurde, um Nazi-Deutschland in die Knie zu zwingen. Tragisch und entsetzlich für Dresden, aber in keiner Weise mit der industriellen Massenvernichtung der Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus gleichzusetzen. Die geschichtsrevisionistische Relativierung der Shoah erfolgt in der Wortzusammensetzung mittels der Diffamierung und Dämonisierung der Alliierten durch simultane Gleichsetzung mit dem antisemitischen Massenmord. Die Staatsanwaltschaft jedoch vermag keine Volksverhetzung zu sehen, wenngleich in der Antisemitismusforschung seit langer Zeit Einigkeit darüber besteht, dass dieses Kompositum Post-Holocaust-Antisemitismus durch Täter- Opfer-Umkehr tradiert (s. hierzu auch Soric 2005 und Botsch 2019). Bei dieser Schuldabwehr und sogar -umkehr werden die Kriegstaten der Alliierten als verwerflich maximiert, die Verbrechen der Deutschen dadurch minimiert. Verbunden werden also in dem mentalen Modell, das durch das Wort Bombenholocaust aktiviert wird, die antonymisch zueinanderstehende Verharmlosung (des wirklichen Holocaust) und die aufbauschende Dämonisierung (der Bombardierung Dresdens). Behält man dabei zudem im Hinterkopf, dass ein notorischer Holocaustleugner das Kompositum Bombenholocaust in die rechte Szene brachte, wird nicht nur unzweideutig die Bagatellisierung des Holocaust kommuniziert, sondern prinzipiell auch dessen Leugnung als Implikatur in den öffentlichen Raum gestellt. Zugleich findet stückweise eine brisante konzeptuelle Verschiebung in der Kommunikationspraxis statt. Sprachwandelprozesse zeigen, wie Bedeutungen von Wörtern entweder enger oder weiter werden: Aus dem mittelalterlichen Wîp, seinerzeit neutral für Frau benutzt, wurde, semantisch enger, das Pejorativum Weib, aus der Bezeichnung frouwe, ursprünglich nur für die adlige Dame von Rang, nun semantisch weiter, die Bezeichnung für alle weiblichen Menschen. Wenn das Lexem 177 Holocaust nun immer wieder de- und re-kontextualisiert wird, also aus seinem ursprünglichen semantischen Feld ‚Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden‘ herausgerissen und in andere Ko- und Kontexte gesetzt wird, besteht langfristig die Gefahr einer Bedeutungsnivellierung und ausufernden Generalisierung: Die Bedeutung des Ausdrucks Holocaust könnte am Ende dieses Sprachwandelprozesses so abstrakt sein, dass nicht nur alle Genozide und Gewaltverbrechen damit gemeint werden (können), sondern alle Missliebigkeiten, die zu kritisieren sind. Dies zeichnet sich bereits in der inflationären Verwendung ab. Damit hätte dann das einzige Wort, das je international als Sammelbegriff für die präzedenzlosen NS-Verbrechen an den Juden Europas eingeführt wurde, nicht mehr die ihm zugehörige Bedeutung, und es käme zu einer gedanklichen Verwischung. Wenn immer mehr und unwidersprochen NS-Vergleiche öffentlich benutzt werden, setzen irgendwann Normalisierungseffekte und Habitualisierung ein. Und dann würde es kein Wort mehr für das einzigartige Menschheitsverbrechen geben. Alle angeführten Äußerungen sind keine Ausrutscher, sondern wissentlich benutzte persuasive Mittel, um Aufmerksamkeit für die eigene Sache zu erlangen und dem Kritisierten das höchstmögliche Maß an negativer Bewertung zukommen zu lassen. NS-Vergleiche sind intentional und bewusst eingesetzte Sprachgebrauchsmuster, die das historische Bewusstsein ihrer Zuhörer sowie deren emotionale Reaktion antizipieren und bewusst in die beabsichtigte Wirkung mit einbeziehen. In dem Moment, in dem zwei Entitäten in eine Analogie gesetzt werden, findet im menschlichen Gehirn automatisch ein Check nach Ähnlichkeit oder Äquivalenz statt. Auch wenn sie nicht absichtlich antisemitisch benutzt werden, sind sie toxisch. Damit einher geht eine Relativierung der NS-Zeit durch inflationären Sprachgebrauch sowie die Beleidigung der Opfer, die diese Zeit erleiden mussten. Es handelt sich um einen Sprachgebrauch, der das Leid der Holocaust-Opfer immer wieder verhöhnt. 178 Daher sollte bedacht werden, was NS-Vergleiche mental und emotional in kollektiven Bewusstseinsprozessen bewirken können. Tauchen sie fortwährend in banalen Kontexten auf, so kann sich der Blick auf Judenhass in einer Trivialdarstellung verlieren. Als Konsequenz könnten (insbesondere junge und jüngere) Menschen, deren Bewusstsein über die Dimensionen von Judenfeindschaft ohnehin eher vage ist, weder Erkenntnis noch Empathie entwickeln. Und so könnte langsam auch gesamtgesellschaftlich die Erkenntnis über die Tragweite und das Besondere des Holocaust verloren gehen. Allerdings muss man generell berücksichtigen: Relevant bei der Bewertung von NS-Vergleichen ist, ob es ein Tertium Comparationis als konzeptuellen Bezugspunkt gibt, als gemeinsame Schnittstelle, welche den Vergleich legitimiert, und welche Vergleichsgrößen in Analogie gesetzt werden. Wie groß ist die Gemeinsamkeit von ‚X und Y‘? Je größer das Tertium Comparationis, desto nachvollziehbarer die Analogie. Wenn also Putins Ukraine-Politik mit Hitler verglichen wird, gibt es eine Reihe ersichtlicher Gemeinsamkeiten wie brutaler Angriffskrieg, Sprachlenkung, Zensur, Unterdrückung der Presse und der freien Meinungsäußerung, Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, um nur einige Merkmale zu nennen. Umgekehrt gilt: Je geringer die Schnittmenge, desto verwerflicher und unangemessener der Vergleich. Juden als Nazis zu beschimpfen und Israel als SS-Regime zu diffamieren, dafür braucht es eine große Menge antisemitischen Hasses und Verblendung. Auf Geschichtsausblendung basieren auch die immer wieder artikulierten heterogenen Vergleiche, also das Ziehen von Parallelen zwischen nicht kompatibel vergleichbaren Realitätsbereichen, z.-B. zwischen Antisemitismus und Muslimfeindschaft. Das einzige gemeinsame Merkmal ist Feindschaft, ansonsten sind die Unterschiede vorherrschend. Juden wurden staatlich diskriminiert, öffentlich gedemütigt, misshandelt, enteignet, ihrer Stellen enthoben, gesetzlich zerschnitten in „Voll-Halb-Viertel-Juden“, schließlich 179 wie Vieh abgekarrt zur bürokratischen Massenvernichtung. „Gestern die Juden, heute die Muslime“? Solche Sprüche sind genauso krude und abwegig wie die Vergleiche der Corona-Leugner. Doch diese inadäquaten Konstruktionen finden sich nicht nur in Rap- und Hiphop-Songs wie bei Xavier Naidoo als „Muslime tragen den neuen Judenstern“. Im Film Jud Süß 2.0 über aktuellen Antisemitismus auf Arte bekam man im Januar 2022 zu hören „Im Grunde ist es heute nicht so viel anders, nur dass es eben Muslime sind“, nachdem zuvor Nazi-Propaganda-Filme gezeigt worden waren, in denen Juden als schmutzige verlumpte Außenseiter in Szene gesetzt wurden. Damit wird nicht nur ausgeblendet, dass deutsche Juden Bürger waren, die brutal aus ihrem Leben gerissen wurden, auf allen gesellschaftlichen Ebenen, ohne vehementen Widerspruch der Bevölkerung oder der gebildeten Eliten. Dies geschah hoch offiziell von den Behörden, man nahm ihnen die Rechte als Staatsbürger, dann als Menschen, man raubte ihnen die Würde und dann das Leben. Nichts davon widerfährt den Muslimen in Deutschland. Juden waren damals ganz und auf sich allein gestellt. Es gab keine Anti-Diskriminierungsstellen, keine Menschenrechtsaktivisten, keine institutionelle Stimme, die sich für sie erhob. Dagegen unternimmt man in Deutschland auf offizieller Ebene seit Jahren alles, um Muslime zu integrieren und sie vor Diskriminierung zu schützen (s. Schwarz-Friesel/ Friesel 2012 zu einer wissenschaftlichen Zurückweisung des „Islamophobie- Vergleichs“). Und so verhöhnen und verharmlosen auch diese Vergleiche das Leid jüdischer Menschen, minimieren das Ausmaß ihrer staatlichen Verfolgung und Demütigung. Sie sollten daher vermieden werden. Vergleichen ist nicht gleichsetzen, heißt es vor allem immer dann, wenn die Vergleiche unangemessen sind, und Vergleichen helfe, Differenzen klarer zu erkennen. Das ist richtig. Meist ist das jedoch eine argumentative Mogelpackung. Denn wer vergleicht, um Unterschiede herauszustellen, kommt dann eben nicht zu Äußerungen wie „Der Holocaust steht in einer Reihe mit 180 anderen Genoziden“ oder „Damals die Juden, heute die Muslime“, die die Shoa trivialisieren. Und wer den Holocaust in einem (historisch falschen) Atemzug und in Linie mit dem Kolonialismus setzt, betont ja gerade nicht die fundamentalen Unterschiede, sondern, dessen Einzigartigkeit nivellierend, das hypothetisch angenommene Gemeinsame. Bei jedem Vergleich ist also Sprachsensibilität gefragt und zu überlegen, ob es tatsächlich eine Vergleichsbasis gibt, die die Analogie sinnvoll und erkenntnisfördernd macht, oder ob er lediglich der Effekthascherei und Aufmerksamkeitssteigung, Polemik und Dämonisierung oder einer Ideologie mit geschichtsverfälschender Instrumentalisierung dient. 181 16 Jews are News und Bad Jews are Good News: Massenmedien und ihre toxischen Narrative „Gott vergibt, der Rabbi nicht.“ (Frankfurter Rundschau, 18.4.2008 und 18.4.2018) „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können.“ (Niklas Luhmann) Seit Jahren zeigen Umfragen, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden, eine ablehnende Haltung vieler Deutscher gegenüber dem jüdischen Staat Israel. Dies führt zu bizarren Ergebnissen: Dem antisemitischen NS-Vergleich „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ stimmen kontinuierlich zwischen 30 und 40-Prozent der Befragten zu. Hier muss man fragen, woher solche Ein- und Vorstellungen herkommen. Hinweise liefern die vielen Schreiben, die an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die Israelische Botschaft in Berlin gesendet werden. Menschen, die nach eigenem Bekunden noch nie in Israel waren, schreiben im Brustton der Überzeugung von den „Gräueltaten“, dem „Genozid an den Palästinensern“, dem „Unrechtsregime mit SS-Methoden“ und den „Massakern, inklusive Kindermord, die Israelis verursachen“ würden. Zahlreich sind dabei Verweise auf Presseberichte der Art „Wie ich gestern im Radio hörte“ oder „Als ich heute Morgen in der Zeitung las- …“ (s. hierzu Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013: Kapitel 7.3). Manche Schreiber greifen explizit im Fernsehen oder Radio Gehörtes auf, wie 2014 beim Gaza-Krieg die Brachialvokabel „Bombardierungsorgien“ oder realitätsabgehobene NS-Vergleiche 182 und nehmen dies zum Anlass, wüste antisemitische Beschimpfungen und Drohungen auszustoßen. Dass viele Menschen dann nicht nur an die Botschaft, sondern auch mehrheitlich an den Zentralrat schreiben und diesen mitverantwortlich erklären für „Ungerechtigkeit und Leid“, belegt die Israelisierung der antisemitischen Semantik (s. Schwarz-Friesel 2020). Es werden nicht nur klassische Stereotype (wie ‚Kindermord‘, ‚Rache und Vergeltung‘, ‚Länderraub‘) auf Israel projiziert, sondern alle Juden werden unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit als ein einheitliches Konzept gesehen und diesen entsprechend Kollektivschuld am Nahostkonflikt zugesprochen. Dass dieser geistige Prozess maßgeblich vom alten antijudaistischen Hass-Ressentiment geprägt ist, illustrieren Briefe an den Zentralrat wie „Ich war zwar noch nie in Israel, aber ich hasse Euch, weil Ihr so grausam zu den Arabern seid! “ oder „Könnt Ihr nach 2.000 Jahren Gewalt und Bosheit nicht endlich aus Eurer Vergangenheit lernen und friedlich sein? “ Menschen, die sonst sehr skeptisch gegenüber den Massenmedien sind, haben kein Problem damit, zu Israel ihre Informationen allein aus Berichten der Presse zu ziehen. Das „Gerücht über die Juden“ wird dann offiziell bestätigt durch die Qualitätsmedien. Generell gilt, dass Qualitätsmedien nach wie vor einen hohen Glaubhaftigkeitsfaktor zugesprochen bekommen; auch wenn es populistische Attacken gegen die „Lügenpresse“ gibt und viele junge Menschen nur noch aus den sozialen Medien ihre Informationen über die Welt beziehen. Wenn dann viel gelesene Journalisten das alte Klischee der jüdischen Rachsucht und Machtausübung sowie den „Kreislauf der Rache“ bedienen, Gaza metaphorisch mystifiziert „einen Ort aus der Endzeit des Menschlichen“ nennen, in Talkshows gerne eingeladene Publizisten Gaza als „weltgrößtes Konzentrationslager“ und Israel geschichtsverfälschend als „europäische Kolonie auf arabischem Boden“ bezeichnen, erhält die Leser- und Zuschauerschaft genau den Stoff, aus dem Antisemitismus fabriziert ist. So bauen sich Textweltmodelle auf, die selektiv Nachrichten auf- 183 greifen, passend zu bereits gespeicherten ressentimentgeladenen Vorstellungen. Welche Verantwortung trägt also die „vierte Macht“ der Medien mit ihren Berichten hinsichtlich der Verbreitung und Verfestigung antisemitischen Gedankenguts heute? Wird sie ihrer Rolle als kritischer und neutraler Prüfinstanz gerecht, oder hat sie womöglich nicht unerheblich Anteil daran, dass trotz der Erfahrung Auschwitz eine judenfeindliche bzw. potenziell zu antisemitischen Stereotypen verführende Feindbildrhetorik benutzt wird? Und warum reagieren Journalisten, wenn sie mit dem Vorwurf der Antisemitismusbeförderung konfrontiert werden, mit Achselzucken, Ausflüchten und fast nie mit Einsicht? Dass die Medienberichterstattung sowohl zu Israel als auch zum Themenkomplex Judentum keineswegs immer objektiv und neutral, und mitnichten nach den ethischen Maximen eines gut recherchierten und kritischen Journalismus verläuft, haben schon viele Studien veranschaulicht (s. z.B. Beyer 2016, Markl 2018). Dass die Presse seit Jahrhunderten kein Ruhmesblatt in Bezug auf Antisemitismenverbreitung ist, ist ebenfalls eindeutig belegt (s. u.a. Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte, herausgegeben von Deutsche Presseforschung Bremen). „Die ausländischen Medien kreieren ein fiktives Image, weil sie einen marginalen Aspekt des israelischen Lebens ins Zentrum stellen. Wenn ich Israel durch die Brille deutscher Medien kennenlerne, muss ich den Eindruck gewinnen, dass 70- Prozent der Bevölkerung Soldaten sind, 29-Prozent verrückte, fanatische Siedler in der Westbank und ein Prozent wunderbare Intellektuelle, die sich für den Frieden einsetzen.“ beklagte schon Amos Oz 2004 in einem Interview in Bezug auf die Unausgewogenheit der Berichterstattung zu Israel. Daran hat sich wenig geändert. Informationell grob eingeschränkte und stereotypbehaftete Berichte und Kommentare prägen allzu oft das Medienbild. Bei jeder (auch nicht passenden) Gelegenheit werden 184 Fotos von ultra-orthodoxen Juden oder Soldaten, die das Gewehr auf wehrlose Zivilisten richten, eingestreut. Ausgerechnet in einem Artikel zur Diskussion über israelbezogenen Antisemitismus wird etwa in der Frankfurter Rundschau als illustrierende Beigabe das Foto eines israelischen Soldaten gezeigt, dessen Gewehr auf eine Palästinenserin/ Araberin gerichtet ist. Die Opfer von Israelhass werden somit als Täter abgebildet, und der Hass erhält dadurch eine Begründung. Krasser kann man das Missverhältnis einer Text- Bild-Relation kaum noch gestalten. Auch Analogien zur Teilung Deutschlands sind beliebt, wenn es um Israels Sicherheitspolitik geht, werden dann Fotos von der Berliner Mauer gezeigt. Oder affektive Vergleichsmetaphern benutzt: „Wie eine überdimensionale High-Tech-Version des Berliner Monstrums“ wird die Sicherheitsanlage zur Vermeidung terroristischer Überfälle im Stern-Beitrag „Die Mauer von Jerusalem“ im Januar 2004 bezeichnet (s. Schwarz- Friesel 2 2013: 230). Und immer steht bei Israel der Nahost-Konflikt im Mittelpunkt, noch immer fällt es Journalisten offenbar schwer, jenseits der Krisensituation über andere und positive Lebensbereiche des jüdischen Staates zu berichten, noch immer schleichen sich sogar Nazi-Jargon-Wörter ein, wenn es um Juden geht. Eine von mir im Jahr 2020 durchgeführte Fragebogen-Umfrage unter 25 deutschen Journalisten, die sich mehrfach mit Israel-Berichterstattung und dem Thema Judentum beschäftigt hatten, bestätigt dieses ernüchternde Bild. Zwei Drittel der Befragten klagten darüber, dass sie unter der anti-israelischen Einstellung in ihren Redaktionen leiden würden. Nach Sendungen mit kritischen Stimmen gegen das anti-israelische Narrativ seien oft abwertende und abwehrende Kommentare von Kollegen zu hören. Nicht Anti-Israel, sondern vielmehr Pro-Israel ist in Deutschland vielerorts ein Problem, was auch stets die giftigen Kommentare in den sozialen Medien als Reaktion auf pro-israelische oder um Neutralität bemühte Sendungen zeigen. Aufklärung und kritische 185 Aufarbeitung dieser Zustände stoßen zum Teil auf heftigen Widerstand oder verlaufen zögerlich und kontrovers. So geschehen bei über Jahre hinweg artikulierten Antisemitismen und Holocaustverzerrungen von arabischen Mitarbeitern der Deutschen Welle oder bei dem heftig diskutierten Fall einer WDR-Journalistin, die israelfeindliche Twittereinträge gepostet hatte. Die Reaktion von Arte und WDR auf den Film Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa, der 2017 versuchte, dem eingefrorenen Stand-Bild der gängigen Massenmedien eine andere Sicht entgegenzusetzen, führt drastisch vor Augen, wie schwer es ist, dem anti-israelischen Narrativ und dem gängigen Vorurteil, Judenhass käme primär von rechts, etwas entgegenzusetzen. Der Film sollte laut WDR nicht gezeigt werden. In der Begründung hieß es, er habe handwerkliche Mängel und entspräche nicht dem Niveau des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Erst nach öffentlichem Druck brachte der WDR die Ausstrahlung - aber auf unseriöse und hoch peinliche Weise. Es gab fortwährend eingeblendete Unterzeilen mit Warnhinweisen, als handele es sich um ein Neonazi-Machwerk, das volksverhetzende Inhalte brächte. Parallel wurde im Internet eine als „Faktencheck“ inszenierte Bündelung von Gegenthesen gebracht. Dieser Faktencheck beinhaltete so viele Fehler und Falschaussagen, dass man eine eigene Abhandlung à la „Faktencheck gegen den Faktencheck“ hätte schreiben müssen. Der Fall macht deutlich: Die untrennbare Verbindung des immer selbstbewusster auftretenden aktuellen Antisemitismus und der Dämonisierung Israels will nicht überall zur Kenntnis genommen werden. Einseitigkeit und handwerkliche Mängel sowie Qualitätssicherung jedenfalls sind für den WDR wohl nicht immer ein Grund, etwas nicht auszustrahlen. Mehrere Sendungen ließen sich hier wissenschaftlich kritisieren. Anfang 2022 kam auf WDR 3 eine einstündige Radiosendung zum „Vorwurf Antisemitismus“, die sich hinsichtlich sensationalistischer Aufmachung, Monoperspektive und Ausblendung von Forschungsergebnissen kaum noch toppen lässt. 186 Unikaler Fokus und Doppelstandard In den Massenmedien dominiert seit den 1970er Jahren, genauer seit dem 6-Tage-Krieg, in dem Israel mehreren arabischen Staaten eine schwere Niederlage zufügte, ein einseitig perspektiviertes und allzu oft negatives Israel-Bild. In diesem wird die Rolle des aktiven Aggressors oft unverhältnismäßig dem jüdischen Staat zugeschoben. Dies spiegelt sich besonders deutlich in der Informationsanordnung von Schlagzeilen wider (s. hierzu Schwarz-Friesel 2 2013: Kap. 6.3). Es gibt unzählige Beispiele aus den letzten zwei Jahrzehnten aus den Leitmedien wie ARD, ZDF, DLF, FAZ, Der Spiegel und Süddeutsche, um nur einige zu nennen, dafür, wie Ursache und Wirkung durch Schlagzeilen in umgekehrter kausaler Reihenfolge erscheinen und Aggressor-Opfer-Rollen vertauscht werden. „Israel beschießt“ und „Israel greift an“ heißt es dann mit dem generischen, den ganzen Staat bezeichnendem Nomen „Israel“ immerfort. „Israelischer Raketenangriff “ findet sich in der Schlagzeile der Thüringer Allgemeinen am 11. April 2003, wobei der Leser erst im vierten Satz des kleingedruckten Fließtextes erfährt, dass diese Aktion eine Reaktion auf einen palästinischen Terroranschlag auf ein Militärgebiet mit zwei getöteten Israelis war. Die sprachliche Ereignisdarstellung in diesen Beispielen entspricht nicht der in der Realität stattgefundenen Ereignisabfolge, Ursache und Folge werden durch die Informationsstrukturierung umgekehrt. So entsteht über die Textsemantik ‚Israel ist Agens‘ die Konzeptualisierung ‚Israel ist Aggressor‘. Am 22. Januar 2019 erschien beim Spiegel „Palästinenser von israelischen Soldaten getötet“ mit der untergeordneten Information, dass dieser Palästinenser mit einem Messer auf Israelis losgegangen war. Aufschlussreich ist auch, dass Der Spiegel dabei vermerkt: „der in der Mitteilung als ‚Terrorist‘ bezeichnete Mann“. Warum wird das Wort in Anführungszeichen gesetzt? Um anzudeuten, dass nur die Israelis diese Bewertung vorgenommen haben? Generell fällt immer wieder die Zurückhaltung 187 auf, palästinische Attentäter und Terroristen auch als solche zu benennen. Stattdessen benutzen die Journalisten Euphemismen wie Widerstandskämpfer oder neutrale Ausdrücke wie Palästinenser. Auffällig ist auch, wie unausgewogen über Gewalttaten berichtet wird: Kaum eine Erwähnung z.-B. fanden im Zeitraum November bis Dezember 2021 die palästinischen Lone-Wolf-Terroristen, die in drei Wochen allein zehn Israelis durch Messer-, Auto- und Pistolenattacken verletzten und umbrachten. Der Scheinwerfer ist oft nur in eine Richtung gesetzt. Am 21. November 2021 sendete heute XPRESS vom ZDF die Headline „Israel: Palästinenser erschossen“. Tatsächlich hatte ein palästinensischer Terrorist einen Israeli umgebracht und war deshalb getötet worden. Ein Re-Framing hilft, sich die Unverhältnismäßigkeit solcher Schlagzeilen vor Augen zu führen. Man stelle sich vor, das ZDF hätte zum islamistischen Terroranschlag auf Charlie Hebdo die Schlagzeile gebracht: „Paris: Polizei erschießt mehrere Araber“. Oder „Pariser Polizei tötete Freiheitskämpfer“ mit der dann nachkommenden Information „nachdem diese die Charly Hebdo-Redaktion ermordet hatten“. Warum sind gerade Schlagzeilen besonders toxische Giftschleudern? Schlagzeilen sind das Erste, was der Leser wahrnimmt und liest. Sie sind der Aufhänger für die Aufmerksamkeitslenkung, das „Lasso um den Hals des Lesers“ wie der Medienwissenschaftler Mittelberg diese Funktion treffend umschrieb. Sie sind als Eye-Catcher Einstieg in den detaillierten Leseprozess und geben eine bestimmte Perspektive, eine spezifische Bewertung vor, die die Einordnung des weiteren Fließtextes beeinflusst. Angesichts der zahllosen Kausalitätsverdrehungen deutscher Schlagzeilen muss es also nicht wundern, wenn die Zuschauer und Hörer ein negatives Image von Israel als Aggressor oder Täter erhalten. Denn die Informationsanordnung ist nicht die einzige Strategie. Unangemessene Lexik und Rhetorik mit anti-judaistischen Assoziationen findet sich ebenfalls häufig. Die SZ, die in den vergangenen Jahren immer wieder durch inadäquate Vokabeln und 188 dämonisierende Monster-Karikaturen aufgefallen ist, bedient z.-B. das alttestamentarische Rachekonzept durch falsch interpretierte Zitate, so wie der folgenden Überschrift: „Auge um Auge - Wer bricht den Kreislauf der Gewalt im Nahen Osten? “ (SZ, 2.6.2020). Dass die Gewalt auf beiden Seiten eskaliert und Spirale der Gewalt sind die meistbenutzten Floskeln im Nahostkonflikt, nicht nur in der Presse, sondern auch aus dem Mund von Politikern. Dadurch wird beiden Seiten gleichermaßen Aggressivität zugeschrieben. Eigentlich kommt die Phrase Spirale der Gewalt aus dem Kontext ‚häusliche Gewalt‘ und meint das Aufschaukeln einer Täter-Opfer- Beziehung zwischen gewalttätigem Mann und erleidender Frau. Es handelt sich also um eine unpassende De-Kontextualisierung, diese Redewendung auf den politischen Konflikt zu beziehen. Würde die Presse auch von einer Spirale der Gewalt sprechen, wenn Deutschland aus einem angrenzenden Land mit Raketen beschossen und sich gegen die kriegerischen Attacken verteidigen würde? Wohl kaum. Warum dann immer wieder diese Zuschreibung, wenn islamistische Terroristen Raketen auf Israel feuern und Israel zum Schutz seiner Bevölkerung reagiert? Hier stellt sich die Frage, wie ein Staat denn angemessen reagieren soll, wenn er angegriffen wird. Soll Israel die Hände in den Schoß legen und geduldig abwarten, bis alle Raketen von der Hamas abgeschossen wurden? Einzigartig ist auch eine Forderung aus der TAZ vom 23. Juli 2014: „Es muss in einem freien Land möglich sein, straflos das Existenzrecht Israels infrage zu stellen.“ Warum sollte das denn unbedingt möglich sein? Weil Israel einen Konflikt hat oder weil es der einzige jüdische Staat in der Welt ist? Oder weil es dem Bedürfnis des Journalisten entspricht? Es gibt keine ähnliche oder auch nur vergleichbare Delegitimierung in Bezug auf andere Länder. Das Existenzrecht der USA in Frage stellen wegen Vertreibung der Ureinwohner, Trump oder Rassismus, das Existenzrecht Russlands wegen Putin und Ukrainekrieg, das der Türkei wegen Erdogan, historischem Genozid an den Armeniern und Menschenrechtsver- 189 letzungen? Diese Länder werden nie kollektiv und als Ganzes in Frage gestellt. Die unikale Stigmatisierung, sie trifft ausschließlich das jüdische Israel. Immer wieder, seit Jahren, trotz aller Hinweise, dass ein solcher Doppelbewertungsstandard nur einen Grund hat: eine feindselige Einstellung. Kulturgeschichtlich ist bei den Narrativen über Juden eine Täter-Opfer-Täter-Abfolge zu erkennen: Von den aktiven „Gottesmördern und Brunnenvergiftern“ werden Juden nach der Shoah in den Erzählungen zunächst in der Opfer-Rolle gesehen, um dann im Post-Holocaust-Umkehrschluss nach der Entwicklung Israels zur Militärmacht zu „besonders üblen, da durch das Leid nicht geläuterten Tätern“, als „Landräuber“, „Usurpatoren“ oder „Aggressoren“ erklärt. Diese Trias mit ihrer Täter-Opfer-Umkehr jedoch wird bei Nahostkonfliktberichten nicht reflektiert. Wäre es angemessener für die deutsche Presse, wenn Juden in Israel Gewalt erleiden, ohne sich zu wehren? Soll es ein Ding der Unmöglichkeit sein, über palästinisches Leid, Elend und auch Ungerechtigkeit im Nahostkonflikt zu berichten, ohne Invektive, anti-judaistische Bilder und antisemitische Klischees zu benutzen? Gibt diese Überlegung der auf ihre kritische Berichterstattung sonst so stolzen Medienlandschaft nicht zu denken? Eine intentionale Israel- oder Judenfeindschaft bei den Produzenten solcher Texte muss dabei gar nicht notwendigerweise angenommen werden. Allzu oft ist es Bequemlichkeit, auf hergeholte Floskeln zu greifen, ist es Sensationslust und Boulevardtechnik, möglichst affektive Wörter zu benutzen, ist es Zeitdruck, Informationen nicht gewissenhaft zu überprüfen. Wenn z.- B. mit Empörung berichtet wird, wie sich israelische Attacken auf Krankenwagen richteten, und später stellt sich heraus, dass diese umfunktioniert wurden, um Waffen zu transportieren. Die Klarstellung kommt dann, wenn überhaupt, immer sehr klein und am Rande, aber derweilen ist die emotionsgeladene Nachricht schon von einem Millionenpublikum rezipiert worden. Antonymisch 190 ausgelegte Erzählstrukturen im plakativen Schwarz-Weiß-Modus spielen ebenfalls eine Rolle. Das evangelische Magazin Chrismon zeichnet sich seit Jahren durch emotionale Einzelschicksal-Portraits à la Pallywood aus und verbreitet dabei subkutan israelfeindliche Klischees. Mittels der narrativen Form „Augenzeugenberichte von Sympathieträgern“ entstehen Textweltmodelle, die auf affektiven Kontrast setzen und das friedvolle, ländliche Leben und Leiden der Palästinenser in Opposition zur brutalen High-Tech- Militärmacht Israels mit ihren mutwilligen Zerstörungsaktionen setzen. Oft schwingt dabei die alte anti-judaistische Zweiteilung der Welt in gut-böse, in christliche Nächstenliebe sowie Vergebung versus jüdische Unnachgiebigkeit und Egoismus mit. In der Chrismon-Januar-Ausgabe von 2018 nennt eine Literaturprofessorin die Theokratie Iran mit Israel in einem Atemzug und wirft beiden Diskriminierung Andersgläubiger vor. Eine De-Realisierung. Einen Warn- oder Distanzierungshinweis der Redaktion gibt es dazu nicht. Im November 2019 darf ein israelkritischer Aktivist u.- a. ohne Widerspruch kundtun: „Das Oberste Gericht in Israel ist eines der großen Instrumente der Besatzung“ und damit die Implikatur in die Welt setzen, die Justiz sei nicht neutral. Das oberste Gericht jedoch ist de facto ein Bollwerk gegen Korruption, Ungerechtigkeit und Willkür. In Israel kommen auch ehemalige Ministerpräsidenten vor Gericht und ins Gefängnis. Im Dezember 2021 wird ein palästinensischer Arzt unter der Schlagzeile „Ihr sollt nicht hassen“ portraitiert. Selbstverständlich ist es völlig legitim, seine Leiderfahrungen zu schildern, aber warum wird dabei mit keiner Silbe das Leid auf der anderen Seite des Konflikts erwähnt, warum gibt es nicht genauso häufig Einzelschicksal-Portraits von israelischen Zivilisten, die bombardiert oder durch Terrorattacken verletzt wurden? Warum wird den Israelis „blinde Verbohrtheit“ attestiert und der Gazastreifen realitätsfern „das größte Gefängnis der Welt“ genannt? Seine Aussage, er fühle sich wie Hiob, „habe immer nur Gutes getan“, intensiviert die strikt binäre Konfliktinter- 191 pretation mit der Lesart ‚Israel übt grundlos Gewalt aus‘. Warum wird nicht thematisiert, dass die Hamas sich bewusst hinter Zivilisten verschanzt und in all den Jahren des Konflikts keine Schutzmaßnahmen wie Bunker für ihre eigene Bevölkerung getroffen hat, sondern stattdessen Tunnelsysteme für ihre Waffen ausbaute? Mit dem Hinweis, dass die Familie „vor der Staatsgründung Israels 1948 wohlhabende Bauern“ waren, verstärkt sich der Eindruck einer großen und vor allem willkürlichen Ungerechtigkeit, ohne den Hinweis, dass 1948 arabische Staaten den jungen Staat Israel mit Krieg überzogen und es dadurch zu Vertreibungen kam. Durch die simple, aber wirkungsvolle Strategie des Auslassens von Informationen kommt es in den Medien immer wieder zu höchst einseitigen Perspektiven. Texte wie die in Chrismon wecken intensive Gefühle, Wut, Zorn, Empörung, und konträr zum Titel „Ihr sollt nicht hassen“ natürlich auch Hass bei Menschen, die ohnehin juden- oder israelfeindliche Einstellungen haben. Gerade ein christliches Magazin sollte solche Reaktionen durch eine ausgewogenere Darstellung und etwas mehr Verantwortungsgefühl beim Sprachgebrauch eigentlich zu vermeiden suchen. Spotlight-Technik mit Lupeneffekt fällt auch auf, wenn z.- B. in den 4-Minuten-Radio-Nachrichten des Deutschlandfunks am 6.- Januar 2022 inmitten allgemein relevanter Meldungen direkt nach dem Kurzbericht zu Dutzenden von Toten und 1.000 Verletzten in Kasachstan die folgende Meldung zu hören ist „Ein Palästinenser wurde bei einer israelischen Razzia in Nabus von israelischen Soldaten erschossen“. Es folgte dann der Hinweis, dass „kein Israeli dabei ums Leben kam“. Nun ist jeder Tod eines Menschen höchst bedauerlich, aber warum bringt der DLF (übrigens zum wiederholten Male, beliebt sind auch Meldungen mit Empörungspotenzial zu einzelnen Abrissen illegal gebauter Häuser) solche eher partikularen Vorfälle aus Nahost in seinen Nachrichtensendungen? An dem Tag starben weltweit unzählige Menschen durch Unfälle, Polizeigewalt, Folter, Hunger. So wurden im Sudan drei 192 Menschen bei Protesten erschossen, kamen 13 Menschen bei einem Hausbrand in Philadelphia und sechs in Neu-Delhi bei einem Fabrikunglück ums Leben. Das war nicht erwähnenswert? Und warum kommt in der sehr knappen News-Zeit noch völlig überflüssig der zweite Hinweis? Um wieder einmal insinuierend ins Bewusstsein zu klopfen, dass ‚immer allein die Palästinenser Opfer israelischer Gewalt seien‘? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Nach der Devise Bad Jews are Good News bringt Der Spiegel vom 4. Januar 2021 mit viel Boulevard-Rhetorik unter der Überschrift „Der große Beutezug“ einen Beitrag über „die lange verdrängten Verbrechen“ von „Jüdischen Zivilisten“. Es muss das Wort Verbrechen sein, nicht mal das Morphem Kriegwird benutzt, um klarzumachen, dass Vertreibungen und Grausamkeiten schlimme Begleiterscheinungen militärischer Auseinandersetzungen sind. Das alte Stereotyp des ‚grausamen, andere Völker ausplündernden Juden‘, fester Bestandteil des judenfeindlichen Sprachgebrauchs seit fünf Jahrhunderten, kommt da schnell in den Kopf geschossen. Noch drastischer und gleich das Kern-Motiv des Judenhasses kodierend ist der Beitrag in der Badischen Zeitung: „Nach dem Krieg bekamen die Juden endlich ein Land, in dem sie leben können. Der Staat Israel hat dafür die Palästinenser vertrieben und behandelt sie schlecht.“ (Beitrag für Kinder zum Thema Antisemitismus aus der Kulturredaktion der Badischen Zeitung, 26. Mai 2020 unter der Rubrik „Erklär’s mir“). Implikatur: ‚Die bösen Juden, die ein Land geschenkt bekommen und dann andere schlecht behandeln‘. In einem Beitrag für Kinder. Der Ressortleiter bedauerte den Vorfall mit „Verkürzt und falsch dargestellt“ nach massiven Protesten. Besser wäre es aber, solche Antisemitismen erst gar nicht zu verfassen und abzudrucken. Und einer Journalistin, die mit „Erklär’s mir“ betraut wird, vorher etwas Nachhilfeunterricht zum Thema zukommen zu lassen. Denn der gesamte Text war fehlerhaft: Nicht erst „im Mittelalter“ gab es Judenhass. Woher er ursprünglich kommt, wird nicht erklärt, er wird fälschlicherweise mit Rassis- 193 mus gleichgesetzt, und der Nebensatz in der Aussage „Kritik an der Politik Israels zu üben, ist nicht automatisch Antisemitismus, obwohl viele deutsche Politiker das so sehen“ geht an der Realität vorbei und bedient ein Klischee des antisemitischen Diskurses. Kein Einzelfall. Viele mediale Texte zum Thema Judenhass zeichnen sich durch grobe Schnitzer und mangelnde Recherche sowie Unkenntnis von historischen Fakten aus. Und durch permanente Wiederholungen von längst widerlegten Aussagen wie „Der Antisemitismus hat die Mitte erreicht.“ So oft, wie den Schlagzeilen der Presse zufolge dies schon in den letzten Jahren geschehen ist, kann man gar nicht mehr zählen. Eigentlich hätte er doch dann wenigstens beim 100sten Mal angekommen sein müssen. Zudem wieso „erreicht“? Judenhass kam immer aus der gebildeten Mitte, denn dort saßen und sitzen die verantwortlichen geistigen Täter, und er hat diese nie verlassen. Die Macht der Sprache: Ein einzelnes Wort kann den ganzen Unterscheid machen. Ob man Kriegs- und Anti-Terror-Aktionen mit einem Verb wie umkommen, töten, ermorden oder niedermetzeln bezeichnet, ob man Verteidigung, Vergeltungsschläge oder Israels Rachekrieg schreibt, entscheidet über den Deutungsrahmen der jeweiligen Handlung. Viele massenmediale Texte sind in diesem Sinne nicht nur informationsvermittelnd, sondern auch meinungsbildend und Ressentiment verstärkend. Sie legen oft israel- und auch judenfeindliche Interpretationen nahe, aktivieren alte klischeehafte Judenbilder. Und trotz der zum Teil auch von Journalisten kritischen Thematisierung dieses Problems (z.-B. wiederholt und seit Jahren von Esther Schapira und Georg Haffner; s. auch den Die Zeit-Artikel von Mirjam Fischer vom 13. April 2016), zeigt sich wenig Einsicht oder Veränderung. In vielen Medien existiert nicht nur ein Tunnel-und-Lupen- Blick in Bezug auf Israel und den Nahostkonflikt. Viele Texte und Berichte der Presse kommunizieren explizit und implizit anti-jüdische Stereotype und tragen dadurch maßgeblich (wenn auch in 194 vielen Fällen sicher nicht absichtlich) dazu bei, dass uralte Fantasie- Konzepte der Judenfeindschaft in der breiten Öffentlichkeit erhalten und gefestigt werden. Die häufigsten medialen Verbalmuster greifen dabei auf die uralte anti-judaistische Antonymie-Semantik ‚Juden-versus-Nicht-Juden‘ zurück: • Scheinwerfer-und-Lupe-Setzen auf das Merkmal jüdisch. Bei dieser Rhetorik der informationellen Überspezifikation, also Überflüssigkeit, wird im Duktus der Nazi-Ideologie die Abstammung einer Person in den Mittelpunkt gesetzt. Im Dezember beim Hören der kurzen DLF-Nachrichten merkt man auf. Da wird der rechtsextreme französische Politiker Zemmour mit dem Attribut „algerisch-jüdischer Abstammung“ erwähnt. Ebenfalls im Dezember berichtete der Deutschlandfunk über „Eric Zemmour - Polemiker vom rechten Rand-… algerisch-jüdischer Abstammung-…“ (DLF, 8.11.2021), und immer wieder „Zemmour, selbst Jude algerischer Herkunft“. Bei der rechtsextremen Politikerin Le Pen fiel noch nie auf, dass ihre Religion oder „Abstammung“ eine Rolle spielte. Die Analyse von 24 Online-Artikeln zu Zemmour und Le Pen ergab, dass Zemmour in diesen entweder stets „als Sohn jüdischer Eltern“ oder mit dem Zusatz „jüdischer“ bzw. „algerisch-jüdischer Abstammung“ bezeichnet wird, obwohl diese Information in keinem der Artikel inhaltlich relevant, also höchst redundant, ist. Bei Marine Le Pen findet sich kein einziges Mal in der Berichterstattung der Hinweis auf ihr katholisches Elternhaus oder ihre Religion. Besonders auffällig und aufschlussreich sind dabei Beispiele, in denen beide Kandidaten in einem Satz erwähnt werden, jedoch nur der radikale Éric Zemmour mit der Zusatzinformation seiner jüdischen Herkunft bedacht wird: „Verändert hat sich Zweierlei: Zwei rechtsextreme Kandidaten konkurrieren um die Kandidatur, Marine Le Pen und der Journalist Éric Zemmour; er ist algerisch-jüdischer Abstammung.“ (Tagesspiegel 2022). Dies ist keine deutsche Mediensprachspezifik. Im schweizerischen 195 Tages-Anzeiger lautete 2020 die Schlagzeile anlässlich des Todes einer Holocaustüberlebenden „Die Jüdin zerrte die Schweizer Banken vor Gericht“, und im Januar 2022 wurde eine Schweizer Politikerin, betitelt mit dem verschwörungsfantastischen „Die Frau mit dem Spinnennetz“, wiederholt als „jüdische Frau“ bezeichnet. Nach Protesten kamen lapidare Entschuldigungen zu „missglückte Formulierungen“ und die Beteuerung, dass all dies „unbeabsichtigt geschieht.“ • Einmal vielleicht, aber mehrfach? Wissen die Journalisten, die so schreiben und die Redaktionen, die das abnicken, wirklich nicht, dass hier eine rassistische Kategorie angelegt wird? Ist es schlicht Sensationalismus und Boulevard-Jargon, der zu solchen Texten führt oder das Echo der Nazivergangenheit mit ihrer eingebrannten Rhetorik? Was ist das für ein Denken, das stets nur bei Juden die „Abstammung“ für relevant hält? Tatsache ist, dass Bad Jews are good News wiederholt als Motto in der Presse zu beobachten ist (während der Hinweis auf die „jüdisch-amerikanische Abstammung“ bei diversen Nobelpreisträgern in den letzten Jahren nicht zu verzeichnen war). Und hinsichtlich der Wirkung und des Beeinflussungspotenzials spielen die Beweggründe der Produzenten auch keine Rolle: Ihre Sprachmuster tradieren in jedem Fall antisemitische Denkmuster. • Exotisierung und Fremd-Schema-Konstruktion. Wenn Juden als exotische Fremde perspektiviert werden wie 2019 in der Spiegel-Sonderausgabe mit der Titelblattinformation „Jüdisches Leben. Die unbekannte Welt (von) nebenan“ zusammen einem Bild von Ultra-Orthodoxen aus dem alten Berliner Scheunenviertel, dann wird das Stereotyp der jüdischen Andersartigkeit aktiviert. 2016 hatte die Aargauer Zeitung dieses Zerrbild fast identisch kommuniziert: „Jüdischer Alltag: Wo eine fremde Welt im eigenen Quartier beginnt“. Dass Juden integrierte, von anderen Deutschen nicht zu unterscheidende Bürger sind, sollte auch bei den Redaktionen mittlerweile angekommen sein. Und 196 auch, dass Ultra-Orthodoxe und religiöse Juden nicht die Mehrheit stellen und nicht repräsentativ für deutsches Judentum sind. • Kodierung klassischer anti-judaistischer Stereotype. Nicht nur das antisemitische Konzept des fremden Außenseiters bedient Klischees aus der völkisch-nationalistischen Judenfeindschaft. Das viel kritisierte Konzept der jüdischen Rachsucht, seit Jahrhunderten ein antisemitischer Dauerbrenner, wird ungebrochen artikuliert: „Ultraorthodoxe-… Diese Leute-… Sie folgen dem Gesetz der Rache“ steht in einer Spiegel-Kolumne, und der linke Verfasser fand trotz massiver Kritik gar nichts Kritikwürdiges an seiner Formulierung. Die Frankfurter Rundschau befand 2008 in einem Beitrag über eine antisemitische Attacke auf einen Rabbiner „Gott vergibt, der Rabbi nicht“. 2018 publiziert die FR genau diesen Text unter der Rubrik „Vor 10 Jahren“ noch einmal mit der semantischen Opposition vom mächtigen, starken Rabbiner und dem kleinen Attentäter: „Bud Spencer- … schmächtiges Kerlchen, …-gerät an den Unrechten: Denn Gott vergibt, der Rabbi nicht“. Der attackierte Jude als „Unrechter“, der keinerlei Vergebung und Milde walten lässt und damit sogar Gott gegenübersteht. Eine effektheischende Kontrastierung, um das Emotionspotenzial des Textes zu erhöhen, ohne auf die antisemitische Semantik zu achten. Das ist ein Textweltmodell, aus dem das Gift des alten Judenhasses nicht nur tröpfelt, sondern fließt. • Antisemitismusbagatellisierung durch die kommunikative Strategie des Zweifel-Streuens. Dabei wird das Adjektiv angeblich besonders gern benutzt, um antisemitische Vorfälle umzudeuten oder kleinzureden. So wie im Text der Märkischen Allgemeine „Pink-Floyd-Veteran Roger Waters zeigt aufblasbares Schwein mit Judenstern. The Wall: Jüdische Gemeinde will Boykott. Der frühere Pink-Floyd-Bassist und Israel-Kritiker Roger Waters wird nun auch in Deutschland scharf wegen angeblich antisemitischer Symbolik in seiner Bühnenshow ‚The Wall live‘ kri- 197 tisiert- …“ (Märkische Allgemeine, 30.8.2013). Durch das Wort angeblich wird die Klassifikation ‚ein aufblasbares Schwein mit Judenstern ist ein antisemitisches Symbol‘ quasi aufgehoben bzw. deutlich abgeschwächt, da durch die Semantik von angeblich (‚vermeintlich‘, ‚nicht sicher‘) Zweifel geweckt wird. Lesern, die nicht wissen, dass verunglimpfende Abbildungen des Judensterns (insbesondere in Verbindung mit Bildern von Schweinen) zur langen Tradition eindeutig judenfeindlicher Diffamierungen und Stigmatisierungen gehören, wird somit vom Zeitungstext nahegelegt, es sei womöglich gar nichts Verwerfliches an der Aktion. Dadurch wird die antisemitische Symbolik in Abrede gestellt. Zweifel an der Brisanz des aktuellen Judenhasses kann man aber auch durch den Einsatz von „Autoritäten-Gastbeiträgen“ streuen. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, dass viele Redaktionen stärker auf Laienmeinungen setzen als auf fachliche Expertise: Immer häufiger kommen in den Feuilleton-Seiten der Qualitätspresse Stimmen zum Thema Antisemitismus zu Wort, die rein subjektive Einschätzungen geben, weit entfernt von den empirischen Ergebnissen aus Forschung und Wissenschaft. Publizisten, Aktivisten, Schriftsteller dürfen - ohne kritische Anmerkungen der Redaktionen - kundtun, was sie über aktuellen Judenhass so denken. Dadurch entstehen alternative Fakten. Immer wieder finden sich dann Falschaussagen, etwa es gäbe ein „öffentliches Tabu in Bezug auf Kritik an Israel“, oder „Kritik an der israelischen Regierung sei von Antisemitismus bislang nicht zu unterscheiden“. Oder die notwendigen Debatten über aktuellen Judenhass seien „hysterisch“, „übertrieben“, die „Antisemitismusbeauftragten würden lächerliche Arbeit“ leisten. Ausgerechnet am Auschwitzgedenktag, dem 27. Januar 2022, brachte Die Zeit großseitig einen solchen Beitrag einer österreichischen Romanschriftstellerin. Dichtung und Wahrheit gehen fließend ineinander über; das Gefährliche daran ist, dass viele Leser die Fantasien solcher „Experten“ für bare Münze 198 nehmen und die toxischen Abwehr- und Umdeutungsfiktionen glauben. Diese Laien-statt-Experten-Kommunikation, die inflationär beim Thema Antisemitismus anzutreffen ist, wäre schwer vorstellbar in einem anderen Setting wie z.- B. Corona: Etwa einen Romancier oder Dichter, einen Aktivisten oder Corona- Leugner und nicht einen auf Virologie spezialisierten Mediziner zu fragen, wie die aktuelle epidemiologische Lage zu bewerten ist. Beim Thema Antisemitismus sind solche unseriösen Einlagen gang und gäbe. • Selektive und verengte Perspektive: Viele Beiträge zu Juden und Judentum folgen nicht nur verbal einem Tunnelblick, der jüdisches Leben als außen vor, antiquiert, seltsam, entfernt von der deutschen Alltagsnormalität setzt, sondern man sieht ihn auch z.- B. beim Fotoportal Imago, das auch viel von den Massenmedien genutzt wird. Zum Schlagwort „Judentum“ unter den ersten hundert Treffern fanden sich im letzten Jahr (2021) vor allem Bilder von Stolpersteinen, Friedhöfen, Mahnmalen und Museen. Alles steht mit Verweisen auf die Opferrolle in der NS- Vergangenheit. Mit dem realen und lebendigen, produktiven und die deutsche Gesellschaft auf so vielen Ebenen bereichernden Judentum hat dies nicht viel gemeinsam, weder historisch noch aktuell. Massenmedien erzeugen „Hintergrundrealitäten“ (Luhmann), „alternative Welten“ (Searle), Textweltmodelle, die maßgeblichen Einfluss auf das individuelle und das kollektive Bewusstsein nehmen können. Der jeweilige Sprachgebrauch vermittelt durch die Wahl der Mittel und die Art ihrer Anordnung stets eine spezifische Realitätsdarstellung. Dabei kann jeder Sprachbenutzer im Produktionsprozess mittels seines Kontrollmonitors entscheiden, wie er seine Äußerungen gestaltet. Lexikon und Grammatik liefern ein Reservoir an unterschiedlichen Wörtern für Benennungen sowie die Möglichkeit, syntaktische Strukturen flexibel auszuwählen, um Inhalte interessant und kritisch darzustellen. Wie kann es dann 199 sein, dass Medienvertreter trotz aller Kritik immer wieder zu Wiederholungstätern beim Tatort Sprache in Bezug auf Juden werden? Wie können Redaktionen unbeeindruckt bleiben, wenn durch ihre Schlagzeilen und ihre Rhetorik antisemitische Gedanken und Gefühle aktiviert werden können? Warum führen bei denen, die sich ihrer politischen und journalistischen Verantwortung bewusst sein sollten, diese doch verstörenden Befunde nicht zu einem grundlegenden Umdenken? Das Arbeitsmaterial von Journalisten ist die Sprache, sie handwerklich so einsetzen, dass informative, aufklärende und kritische Texte zu Stande kommen, ist ihr Metier. Dabei ist eines jedoch nicht verhandelbar: die Menschenwürde. Gerade diejenigen, deren Handwerk verbal ist, sollten also verantwortungsvoll und sensibel mit dieser „scharfen Waffe Sprache“ - so einst Tucholsky - umgehen. Warum tun es dann viele nicht? 201 17 Wo die Meinungsfreiheit enden und die Verantwortung anfangen sollte „Man darf nie aufhören, sich die Welt vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre.“ (Friedrich Dürrenmatt) Immer wieder wird dem Antisemitismus der Kampf angesagt. Die gängige Praxis des Wegschauens und Abwiegelns, des nicht Strafverfolgens und des Umdeutens und In-die-Zukunft-Schiebens, steht jedoch den zwar feierlich vorgebrachten, doch längst zur Floskelkultur erstarrten Sonntags- und Gedenkrede-Sprüchen mit ihren Beteuerungen, man tue alles, um Judenfeindschaft energisch zu bekämpfen, konträr gegenüber. Antisemitismen werden seit einigen Jahren wieder selbstbewusster und unverhohlener artikuliert, nicht nur auf der Straße und der sich diesbezüglich geradezu überschlagenden Internethasskommunikation. Auch die Beiträge in den Feuilletons und in den Sphären von Wissenschaft und Kultur beinhalten immer öfter Formulierungen, die an anti-judaistisches Gedankengut anknüpfen. Zugleich werden diese bedenkenswerten Sprachgebrauchsmuster in vehementen Leugnungsnarrativen „als über jeden Verdacht erhaben“ abgewehrt und nicht einmal dem Benefit of Doubt unterzogen. Keine selbstkritischen Zweifel, keine Einsicht. Im besten Fall kommt ein lahmes Bagatellisieren als „das war eine unglückliche Wortwahl“ oder „das war so nicht gemeint“, im schlimmsten Fall ein Beharren, nichts Anstößiges gesagt zu haben mit Opferpose und viel Empörungs-Chose. Wie wohltuend und aufklärerisch im besten Sinne, wie dringend notwendig wären Stimmen des Bedauerns, des Fehlereinräumens ob des Missgriffs in die verbale Kiste der antisemitischen Rhetorik. Stattdessen euphemistische Umdeutungen und realitätsverzerrende Unterdrückungsszenarien: Wer heute in Deutschland von „Antisemitismuskeule“, „Zensur und Kritik- 202 tabu“ oder „vorauseilendem Gehorsam“ spricht, wer gar einen „McCarthyismus“ oder eine „Gesinnungsdiktatur“ sieht, der sollte beschämt ob solcher Maßlosübertreibungen den Blick auf Länder wie Russland, Belarus, Nord-Korea oder China lenken, wo es tatsächlich Zensur gibt und wo Menschen für ihre Meinungsfreiheit weg- und eingesperrt oder getötet werden. Das alte Gift des Judenhasses, es ist da, und es bleibt und breitet sich aus, wenn es keinen flächendeckenden, energischen und kompromisslosen Widerstand in Politik, Justiz und Zivilgesellschaft erhält. Oder um es mit George Steiner, dem bedeutenden Universalgelehrten, auszudrücken: Man kann eine mit Verachtung und Lügen gefüllte Sprache nur durch „drastischste Wahrheiten reinigen“. Der aktuelle Antisemitismus lebt und nährt sich nicht nur vom Ausgesprochenen, sondern auch vom Dulden, Wegschauen, Achselzucken und Leugnen. Ganz gleich, in welcher Form und von wem auch immer artikuliert: Judenfeindliche Äußerungen müssen ohne Ansehen der Person und ohne Wenn und Aber ohne Ausnahme angesprochen, kritisiert und zurückgewiesen werden. Die Hoffnung, dies würde sich als Kommunikationspraxis nach dem Grauen und den Schrecken der Shoa etablieren, hat sich längst zerschlagen. Die Lehren, die mit Jahrzehnten der Verspätung gezogen und eher zögerlich sowie oft halbherzig umgesetzt wurden, erfassen weder die Ursache noch den zentralen Kern der Alltagsnormalität oder die breite Selbstverständlichkeit, den Habitus von judenfeindlichem Denken, Fühlen und Sprechen mit der Tiefe seiner kulturellen Verankerung. Vor den Gaskammern von Auschwitz gab es über 19 Jahrhunderte lang ununterbrochen judenfeindliche Kommunikation als Norm, wohl gemerkt als Regel, nicht als Ausnahme. Gegen Juden gerichtete Hetzschriften, Predigten, Pamphlete, Witze, Romane, Gesänge, Tafeln, Postkarten, Parteiprogramme, Petitionen. Wie sollen gerade fünf Jahrzehnte zaghafte Aufklärungsbemühungen, die wie Tropfen auf die Wüste Gobi des Hasses fallen, die große Wende bringen, wenn nicht ein- 203 mal der Zivilisationsbruch von Auschwitz ein Umdenken bzw. ein Anderssprechen brachte? Erfasst und behandelt werden allzu oft lediglich die Symptome der Vergiftung, nicht aber deren toxische Wurzeln und elementare Bestandteile. Über diese wissen wir nach Jahrzehnten der Forschung immerhin so viel, dass niemand mehr eine ernsthafte Diagnose für die Therapie mit dem Hinweis, man wisse noch zu wenig, in die Zukunft verschieben muss. Und so erweist sich die wiederholt vorgebrachte Behauptung, man müsse erst im Konsens erklären, was „Antisemitismus genau sei“, als eine bloße Verschiebetaktik. Wir „können nur bekämpfen, was wir verstehen“ lautete der Anfang einer bundespolitischen Kampagne zur Förderung von Projekten zum Thema Antisemitismus. Dabei gibt es eine Fülle exzellenter Standardwerke sowie Detail-Analysen zum historischen und aktuellen Judenhass. Wir benötigen keine am Anfang beginnende Grundlagen-Forschung zur Frage, was Antisemitismus ist. Wir benötigen vielmehr weiterführende Untersuchungen, warum die Leugnung und Abwehr der bisherigen Forschung so ausgeprägt ist, welche Funktionen die Verdrehung von Fakten und Analysen insbesondere bei der dominanten Variante des israelbezogenen Judenhasses vor allem im links-intellektuellen Milieu hat, und warum auch hohe Bildung und das Wissen um die Gräueltaten in der NS-Zeit nicht notwendigerweise zur Vermeidung verbal-antisemitischer Äußerungen führen, und wieso die Kluft zwischen dem „Nie-wieder-Credo“ des Staates und dem „Immer-wieder-und-jetzt-erst-Recht-Antisemitismus“ der Bürger immer größer wird. Wir wissen in der Antisemitismusforschung, wie sich Judenfeindschaft als Ressentiment verbal und non-verbal manifestiert und können aufgrund der immer gleichen sprachlichen Muster und Mittel klar Auskunft geben, wann eine Äußerung antisemitisch ist. Judenfeindliche Sprache und Kommunikation zeigen stets eines: die Wiederholung der Wiederholung. Über die Jahrhunderte hinweg schallt das Echo der Vergangenheit durch unsere 204 Gesellschaften, seine Spuren sind tief eingegraben im kollektiven Gedächtnis. Wir wissen, wie die Sprachhandlung der legitimen Kritik abzugrenzen ist von Sprechakten der Diskriminierung, Diffamierung und Delegitimierung. Wir kennen die Mechanismen impliziter Antisemitismen sowie ihrer gefährlichen Implikaturen und können zielgenau erörtern, wann sich zwischen den Zeilen und ohne jeden Zweifel für Hörer/ Leser toxische Lesarten ergeben. Wir wissen aus Neuro- und Kognitionswissenschaft, dass die Rezeption von Sprache wie ein Reflex im Gehirn abläuft, dort mentale Modelle aktiviert werden, und dass man insbesondere die emotionale, die affektive Bedeutungsaktivierung von Wörtern und Sätzen, die automatisch und nicht kontrollierbar verläuft, nicht verhindern kann. Wir wissen zugleich, dass man die Sprachproduktion mit Verstand, Verantwortungsgefühl und etwas gutem Willen so steuern und regeln kann, das sie andere nicht destruktiv attackiert, ausgrenzt und verletzt. Eine kleine Sache, die jeder einzelne praktizieren könnte, wäre den Sprachproduktionsmonitor bewusst einzuschalten und sich zu fragen, ob die Äußerung, die man produziert, zuträglich für ein gemeinschaftliches und respektvolles Miteinander ist. Die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist) so gestalten, dass sie dem selbst gewählten Anspruch der empathischen Menschlichkeit entspricht. Denn jeder kann darauf achten, die Gefühle anderer nicht zu verletzen, jeder kann geschichtsbewusst und sensibel mit der scharfen Waffe Sprache umgehen. Kommunikative Ethik Eine kommunikative Ethik, die (frei nach den Maximen in Goethes Torquato Tasso) dem Anspruch der grenzenlosen Freiheit „Erlaubt ist alles (was dem Sprecher gefällt)“ die moralische Einschränkung „Erlaubt ist, was sich ziemt (und den Hörer nicht in seiner 205 Würde angreift)“ entgegensetzt. Eine Ethik, die die Macht und das Gewaltpotenzial der Sprache berücksichtigt, die Verletzungen zu vermeiden sucht und bei aller benötigten Meinungsfreiheit dann Einspruch erhebt, wenn giftige und vergiftende Wörter benutzt werden. Die Einhaltung einer Ethik der Kommunikation ist also nicht unmöglich. Da liegt es nahe, sich auf Kant und seinen kategorischen Imperativ als Bestimmung des guten Willens zu beziehen. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wer will Brutalität, Verhöhnung, Lüge, Intoleranz als allgemeines Gesetz? Die Begrenzung eben solcher Gesinnungen und Aktivitäten machen doch am Ende eine wirklich aufgeklärte und humane Gesellschaft aus. „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranten nicht zu tolerieren.“ schrieb daher auch Karl Popper mit Blick auf die „offene Gesellschaft“. In der Bereitschaft auf den Verzicht antisemitischen Sprachgebrauchs zeigt sich, ob die viel beschworenen Sprüche zu Aufklärung und Humanismus nur Worthülsen oder wirklich internalisierte Maximen sind. Niemand muss bei seiner berechtigten Kritik-, Kunst- und Meinungsfreiheit auf Dämonisierungen zurückgreifen, alte Klischees bedienen, tradierte Stereotype artikulieren, und niemand muss opferverhöhnende NS-Vergleiche benutzen, um Gehör und Aufmerksamkeit zu erhalten. Was wäre also konkret zu tun? Verantwortung übernehmen bedeutet nicht, Sprach- und Aufführ-Verbote zu verhängen und einer Zensur durch Sprachpolizei Vorschub zu leisten. Cancel Culture ist der falsche Weg. Denn beim Canceln stellt sich immer die übergeordnete Frage, wer denn am Ende entscheiden soll, was wie verändert wird? Die Politiker? Historiker? Juristen? Lektoren? Pädagogen? Hier liegt eine enorme Gefahr für die demokratische Meinungsfreiheit. Unsere Geschichte und ihre Manifestationen beschneiden, kürzen, modifizieren, in welche Richtung? In wessen 206 Hände soll man diese Verantwortung legen? Löschen die Linken die Rechten, die Religiösen die Säkularen und umgekehrt? Wohin soll eine solche Cancel-Praxis führen? In Richtung Sprachlenkung, d.-h. zu einem Sprachgebrauch, der alles außen vorlässt, was (der jeweiligen Machtinstanz) gerade nicht genehm ist, der Geschichtsstücke ausradiert, historische und soziale Fakten cancelt? Sollen wir Voltaire, Fontane, Dickens, Wilde, Hegel, Fichte und die halbe abendländische Kulturgemeinschaft auf einen Index setzen, weil sie judenfeindliche Gedanken versprachlichten? Ihre Werke verändern, die Stellen mit den judenfeindlichen Topoi herausschneiden? Auf keinen Fall! Diese Texte atmen den Zeitgeist, dokumentieren das Ausmaß und die Selbstverständlichkeit judenfeindlicher Kommunikation. Sie mahnen zu mehr Verantwortung und Sensibilität. Weil sie belegen, wie tief der kulturelle Gefühlswert der Judenfeindschaft eingegraben und habituell war. Man muss sie kennen. Das gleiche bei Straßennamen und Plätzen: Hunderte umändern, die Stadt-Historie tilgen? Mit Nichten. Dass wir keine Goebbels- oder Eichmann-Kasernen, keine Lagarde-, Treitschke- oder Arndt- Universitäten akzeptieren, ist eine Sache. Aber die Judengasse und den Jüdenberg, den Lutherplatz, die Richard-Wagner-Allee, die soll man nicht einfach streichen, die Judensau an den Kirchen nicht abschlagen, sondern vielmehr deutlich zu sehende Informationstafeln anbringen, die darüber aufklären, wie weit verbreitet Judenhass war. Wo soll es enden, und was soll es denn ernsthaft bringen, wenn Wörter gestrichen oder artifiziell umgeändert in N-, I-, und Z-Wörter mit einem Bann belegt werden, wenn alte Inschriften umgeschrieben oder überklebt werden? Wie sollen wir sensibilisieren für geschichtliche Diskriminierungsprozesse, wenn es aufgrund der Löschungsaktionen keine Spuren mehr davon gibt? Die Aktivierung der moralischen Substanz einer Gesellschaft muss freiwillig und aus Einsicht heraus ohne Repression gefühlt, getragen und gelebt werden von den Menschen, die diese Gesellschaft ausmachen. 207 Benötigt wird nicht eine Voldemort-Tabuisierung, bei dem man beängstigende Dinge nicht ausspricht oder sie tilgt, sondern vielmehr die Rumpelstilzchen-Methode des offenen Austauschs und der Debatte, des Aus- und Ansprechens. Es klingt so einfach und simpel, wäre aber die effektivste Waffe gegen Antisemitismus in der Gesellschaft: Antisemitische Äußerungen als das zu kritisieren, was sie sind. Statt immer neue rigide Regelungen einzuführen, die viele Menschen nicht bereit sind, mitzutragen, gilt es ein breites Bewusstsein zu schaffen für die Macht der Sprache, für die geistige Verletzbarkeit und den Schaden, den ein erbarmungslos rücksichtsloser Sprachgebrauch auch für die, die ihn nutzen, anrichtet. Wie viel wäre gewonnen, wenn nicht immer nur die kleine überschaubare Schar der immer gleichen engagierten Personen, den Mund öffnen würde, um Solidarität zu bekunden und Kritik zu üben. Wie anders wäre die Situation, wenn nicht nur einige betroffene Juden, sondern Fluten von Leserbriefen an Presse und Politik gingen, Gegenkommentare die Online-Foren fluten würden, wenn Antisemitismen gepostet werden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit diesem wunderbaren Satz beginnt unser Grundgesetz. Warum wird dann die jüdische Würde ununterbrochen beschmutzt und demoliert? Weil zu wenig im Alltag beachtet wird, dass Würde in erster Linie ein geistiges Konzept ist. Und den Geist von Menschen würdelos anzutasten, ihn zu beleidigen und zu attackieren, sollte mindestens einen so hohen Stellenwert in unserer Gemeinschaft haben wie der Schutz und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Der Paragraf zur Volksverhetzung hilft da nicht weiter. Und er ist viel zu eng für eine adäquate Rechtsprechung. Wer andere verletzt, beraubt, tötet, muss mit Konsequenzen rechnen. Sollte dies nicht auch für den Tatort Sprache gelten? Ein Tatort, der oft nicht als solcher gesehen wird, weil es geistige Gewalt ist? Die Macht der Sprache mit ihren jahrhundertealten Beeinflussungsstrukturen wird jedoch nicht hinreichend ernst genommen. Trotz umfangreicher neu- 208 ro- und kognitionswissenschaftlicher Forschung zur Aktivierung, Ausbreitung und Konsolidierung von feindseligen Einstellungen insbesondere durch emotionsausdrückende Sprachmuster, marginalisiert man diese Macht- und Gewaltausübung als „nur Sprache“ oder „solange es nur Sprache ist“. Dabei gäbe es keinen Judenhass in der westlichen Denkwelt ohne die entsprechenden Sprachkonstruktionen, die ihn geistig und jenseits jedweder Realität erzeugt haben. Sprachliche Strukturen haben das antijüdische Ressentiment vor zwei tausend Jahren durch die Verdammungsrhetorik der frühchristlichen Schriftgelehrten in die Gedankenwelt der Menschheit gebracht, haben es im Laufe der Zeit konzeptuell und kommunikativ zu einer kollektiven Kategorie verdichtet, seine toxische Wirkung über die Jahrhunderte eintröpfeln lassen bis hin zur Katastrophe, und sie tradieren das geistige Gift bis heute weiter. Nicht nur über grobe und vulgäre Hasssprache mit ihren expliziten Beschimpfungen und Drohungen, sondern auch und gerade oft unbewusst über die Rhetorik der verbalen Samthandschuhe und die Sprüche der Nicht-Nachdenkenden. Die halbherzigen Aktionen von politischer Seite, die noch immer Ausflüchte finden, wenn der Vorwurf des Antisemitismus im eigenen Milieu nicht genehm scheint, und immer dann die Expertise aus der Wissenschaft ignorieren, wenn es gerade nicht in Real-, Partei- oder Außenpolitik passt, werden die Ausbreitung von Judenhass nicht unterbinden. Im Gegenteil: Jeder öffentlich artikulierte Verbal-Antisemitismus, der nicht mit aller Entschiedenheit als solcher angesprochen wird, verstärkt das Normalisierungsgefühl, bestätigt das Gefühl der Berechtigung von Antisemitismen als Formen der Meinungsfreiheit. Und je mehr man ihn in der scheinbar „Über-jeden-Verdachterhobenen-Klientel“ ohne Widerspruch hinnimmt, desto offenkundiger und selbstbewusster wird er sich in der Zukunft artikulieren. Es ist nämlich eine Sache, den Satz aus der Wissenschaft zu wiederholen, dass „Judenfeindschaft ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und in der Mitte verankert“ ist, und eine ganz andere, 209 weniger bequeme diese Erkenntnis in der Praxis, im eigenen Alltag anzuwenden. Judenfeindschaft ist nicht nur mitten in der Gesellschaft verankert, sondern durchaus auch bei klugen, erfolgreichen, sehr gebildeten, fortschrittlich denkenden und gefühlvollen Menschen zu beobachten, bei Menschen, die sich anti-rassistisch artikulieren, für multikulturelle, offene und tolerante Gesellschaften plädieren. Dies zu ignorieren oder abzuwiegeln, konterkariert jeden Versuch, ernsthaft etwas gegen Judenhass zu unternehmen. Ebenso kontraproduktiv sind Sprüche wie „Wir sollten uns auf den ‚wahren Antisemitismus‘ konzentrieren“. Was ist denn „wahrer“ und was „falscher“ Antisemitismus? Gemeint ist die rechte, die obszöne, die extremistische Variante, die aber eben nur eine unter vielen Erscheinungsformen ist. Verbal-Antisemitismus ist geistiges Gift, ganz gleich, von wem und wo er artikuliert wird. Wenn aber in Deutschland mittlerweile in weiten Kreisen der Kultur- und Bildungsbranche die Empörung über den (berechtigten) Antisemitismusvorwurf, wenn er das eigene Milieu trifft, größer ist als der Antisemitismus selbst, dann haben wir ein gravierendes Wahrnehmungsproblem. Und zweierlei Maß im Umgang mit judenfeindlichen Äußerungen. Sind es angesehene Kulturschaffende oder Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller, Journalisten, Anti- Rassismus-Aktivisten, Publizisten oder Musiker, die dem eigenen Spektrum angehören, setzen reflexhaft Verteidigungen ein. Während die gleichen Äußerungen, seien es israelfeindliche Dämonisierungen mit judenfeindlichen Stereotypen oder Relativierungen des Holocaust durch krude Vergleiche, bei rechtsradikalen Hetzern und Populisten unisono gebrandmarkt werden, bescheinigt man den links-liberalen Bildungsbürgern „kritische Reflexionen“ und „eine liberalere Erinnerungskultur“. Zudem besteht eine Scheu, judenfeindliche Äußerungen bei Mitgliedern von Minderheiten zu kritisieren, weil diese selbst Opfer von Diskriminierung waren und sind. Wie oft ducken sich die Vertreter der öffentlichen Meinung über klar antisemitische Äußerungen von Muslimen 210 oder Schwarzen hinweg, thematisieren sie nicht als das, was sie sind. So geschehen in Bezug auf die Black Lives Matter-Bewegung oder muslimische Verbände, in denen offen judenfeindliches Gedankengut verbreitet wird. Wenn dann zusätzlich noch die Kritik an deren antisemitischen Äußerungen als Islamfeindlichkeit oder gar Rassismus diskreditiert wird, schließt sich ein Kreis des Nicht- Sehen-und-Hören-Wollens. Das ist Eyes wide shut. Wer Intoleranz und Diskriminierung bekämpft, muss das bei allen tun. Während Antisemitismus zwar oft als eine Form des Rassismus definiert wird, weist ausgerechnet die Praxis der Anti-Rassismus-Diskriminierung einen eklatanten Widerspruch auf. Denn dort wird Judenhass gerade nicht wie der Rassismus gegenüber Schwarzen und anderen Minoritäten verurteilt, sondern geduldet. Shitstorms erhält, wer Mohrenkopf sagt oder Indianerhäuptling oder Zigeunerschnitzel. Kindermörder Israel, jüdische Lobby, und Zionismus ist Rassismus dagegen erfahren kaum Zurückweisung in diesen Kreisen. Hier wäre ein kritisches Aufmerken, ein sensibleres Gehör, ein Reflexionsprozess dringend geboten. Solange nicht alle antisemitischen Äußerungen jedweder Herkunft und Couleur thematisiert und zurückgewiesen werden, solange wird sich nichts verändern. Nur ein wenig Gegengift gegen bestimmte einzelne Symptome oder einige Wenige, das funktioniert nicht. Wie in einer Pandemie, müssen alle erfasst werden. Und gerade und besonders die Äußerungen von bekannten und renommierten Personen dürfen nicht sakrosankt sein, da sie den Extremisten und Populisten Rückhalt sowie Legitimierung, den Jugendlichen und Kindern Imitationsschablonen bieten. Mit Zivilcourage hat dies nichts zu tun, denn wir leben in einer Demokratie, in der niemand Angst haben muss, seine Meinung frei kundzutun. Die innere verantwortungsbewusste Einstellung muss aber vorhanden sein und die Erkenntnis, dass, wer hasst und Hass zulässt, der Welt schadet und sich selbst - Antisemitismus ist destruktiv nach innen wie nach außen. Am Ende ist niemand über den Verdacht 211 des Verbal-Antisemitismus erhaben, denn die im kommunikativen Gedächtnis gespeicherten Muster sowie die unbewussten Gefühlssedimente der langen judenfeindlichen Vergangenheit können jeden Kommunikationsakt toxisch prägen, jede Sprachproduktion unbewusst beeinflussen und antisemitische Äußerungen in die Gesellschaft tragen. Die Präsenz und soziale (wie auch strafrechtliche) Akzeptanz solcher Formulierungen in der Öffentlichkeit verstärkt deren Normalisierung; ein Prozess, der im doppelten Sinne zurückgeht in eine Vergangenheit, in der judenfeindliche Kommunikation zum guten Ton gehörte, in der judenfeindliches Denken und Fühlen tolerierte Kulturwerte waren. Die Vergangenheit lässt sich nicht ausblenden und ausmerzen, sie durchdringt, wenn auch oft unsichtbar und kaum merklich, mit Wucht unsere Gegenwart und wird die Zukunft weiterhin gestalten, wenn man sich ihr nicht stellt und sie explizit beim Namen nennt. Doch solange dieser Persilschein, dieses Weiß-Waschen alle schützt, die im Namen von „Kritik, Kunstfreiheit oder politischer Empörung“ Antisemitismen verbreiten, solange wird Antisemitismus inmitten der Gesellschaft bleiben und sein geistiges Gift ungehindert verbreiten. Und wir werden zurück und rückwärts in die Zukunft gehen. Macht der Vernunft Ist es so naiv, auf die Maximen der Aufklärung und die Macht der Vernunft hinzuweisen? Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre mit ihrer digitalen Radikalisierung und Verrohung im Internet, den krisenbedingten Ausbrüchen von realitätsverzerrenden Verschwörungsfantasien und gewaltbereitem, undemokratischen Egoismus sowie einem brutalen Krieg in Europa mit einer staatlichen Sprachlenkung in Russland, die Orwells Newspeak noch übertrifft, sollte man durchaus die Frage stellen, in welcher Welt wir zukünftig leben wollen, in welcher Gesellschaft wir wie mitei- 212 nander kommunizieren. Gerade in einer Zeit der „kulturellen Verzweiflung“ (Fritz Stern), ist die Besinnung auf Gebote der Menschlichkeit und der Wahrheitsverteidigung von Nöten. Die Vernunft ermöglicht uns, das Sittengesetz zu erkennen, schreibt Kant. Freiheit ohne ethische Begrenzung und Verantwortung verliert sich in Egoismus, Intoleranz, Aggressions- und Ideologieauslebung, Rücksichtslosigkeit. Zur Freiheit eines offenen und toleranten Diskurses, gehören auch Selbstzweifel und die Bereitschaft, Dinge in Frage zu stellen. Fragen stellen, auch unbequeme und zudem immer wieder sich dabei selbst und den eigenen Kopf in Frage stellen, das ist die Quintessenz des rationalen wissenschaftlichen Arbeitens und prinzipiell auch jeder Form aufgeklärten Denkens. Dreierlei wäre notwendig: ein Re-Strukturierungsprozess in der Bewertung, der ein für alle Mal klar macht, dass Judenfeindschaft kein Vorurteil unter vielen ist, keine Fremdenfeindlichkeit und kein Rassismus nur „der dummen Kerls“, sondern ein Denk- und Gefühlsmuster, ein kultureller Habitus. Dieses ist daher auch bei hoch gebildeten, anti-rassistischen und freiheitlich-demokratischen sowie liberalen Personen anzutreffen. Doch noch immer orientiert man sich an der viel zu engen und realitätsfernen Vorstellung, judenfeindliche Gedanken und Gefühle kämen nur von ungebildeten Rechten und fanatischen Islamisten. Hier braucht es dringend einen Paradigmenwechsel. Zweitens benötigen wir eine emotionale Verschiebung und Neu-Bewertung der noch immer festsitzenden und toxisch strahlenden Antonymie zwischen Christen- und Judentum. Insbesondere die Medien könnten mithelfen, den jahrhundertealten Negativstereotypen die Vielfalt und den Reichtum des Judentums entgegenzuhalten. Und dabei Juden als normale Bürger und nicht als Exoten darstellen, mit den vielen positiven und beeindruckenden Leistungen jüdischer Menschen. Damit nicht auch die nächsten Generationen auf die Frage, was ihnen zu Juden einfällt, immer nur Opfer- und Krisenaspekte nennen, sondern auch die großen jüdischen Namen aus Geschichte, 213 Religion, Wissenschaft und Kultur. Schließlich benötigen wir die gerade beschriebene Besinnung auf eine kommunikative Ethik. Nicht Zwang, sondern einfühlsame Einsicht und Rücksichtnahme ist von Nöten; die Besinnung, dass ein sensibler und geschichtsbewusster Umgang mit Sprache oft den ganzen Unterschied ausmacht. Den Bruchteil einer Sekunde überlegen, ob die Äußerung in ihrer geplanten Formulierung diskriminierend, verletzend, verhöhnend und Klischees bedienend ist. Dazu sind wir vor dem Artikulationsprozess kognitiv nämlich in der Lage. Und sollte doch ein verbaler Antisemitismus herausgerutscht sein, diesen mit Bedauern zurücknehmen. Angesichts sechs Millionen umgebrachter Menschen aufgrund von kollektivem Wahnsinn, wäre diese kleine Selbstverpflichtung ein großer Schritt. Würde diese kommunikative Ethik internalisiert, könnte die Gesellschaft auch effizienter und glaubwürdiger gegen die Unbelehrbaren und kaum mehr zu Erreichenden vorgehen, die mit hermetisch geschlossenem Weltbild und aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft eine bedrohliche Gefahr sind. Und man hätte auch einen Maßstab für all diejenigen, die an Antisemitismen wie NS-Vergleichen, anti-judaistischen Vokabeln, pejorativer Brachialrhetorik, an dämonisierenden Stereotypkodierungen und intoleranten Superlativ-Belehrungen festhalten und diese weiterhin produzieren wollen. Denn dann hätte man einen Indikator und Sensor, welch Geistes Kind sie tatsächlich sind. Was wir brauchen, ist eine kollektive Bewusstseinsveränderung und eine gefühlte Verantwortung. Eine Illusion? Vielleicht. Sicher ist es eine Illusion zu hoffen, je einen völlig diskriminierungsfreien Sprachgebrauch zu bekommen. Gewalttätige Sprachhandlungen gehören zum Menschen, so wie Aggressionen und negative Emotionen. In der Wissenschaft beobachten wir die Realität, wir beschreiben und erklären sie. Unsere Aufgabe ist es, Phänomene möglichst exakt und klar zu analysieren sowie sie in größeren Zusammenhängen begreifbar zu machen, sie in Modellen intersubjektiv darzustellen. Sollen wir praktische Vorschläge unterbreiten, 214 Problemlösungen anbieten? Forschungserkenntnisse sind nicht nur für die Wissenschaft da, sondern auch, um unsere Gesellschaft vor Schaden zu bewahren und sie verständlicher, eventuell sogar besser zu machen. Und auch Wissenschaftler wollen hoffen, denn sonst würden sie eines Tages verstummen und nicht weiter forschen. Und die sonst eher trocken-rational im Fachjargon Schreibenden müssen ab und an mit Leidenschaft argumentieren, mit Zorn, Trauer und Sorge das Beobachtete darstellen. Nach zwanzig Jahren nüchterner und ernüchternder Analysen zum aktuellen Antisemitismus erlaube ich mir somit als Wissenschaftlerin am Ende dieses Buches den Konditional des Wünschens und Hoffens. Am Ende bleibt immer nur eines: Wahrheitsgemäß die Realität so beschreiben und erklären, wie sie sich im analytischen Blick des faktenbasierten Verstandes zeigt. Wie Thukydides dies vor ca. 2.500 Jahren niederschrieb „…-wer aber das Gewesene klar erkennen will und damit auch das Künftige, das wieder einmal, nach der menschlichen Natur, gleich oder ähnlich sein wird, der mag es so für nützlich halten, und das soll mir genug sein: zum dauernden Besitz-… ist es aufgeschrieben.“ 215 Bibliografie Weitere wichtige Quellen- und Literaturhinweise finden sich in der frei zugänglichen Bibliografie des Buches Die Sprache der Judenfeindschaft im 21.-Jahrhundert. Online unter: www.degruyter.com/ document/ doi/ 10.1515/ 9783110277722/ html? lang=de Literaturverzeichnis Arendt, H., 1963. 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Ausländer, Rose 153 Bacon, Francis 18 Barenboim, Daniel 81 Barghouti, Omar 139 Bauer, Fritz 155 BDS 13, 58, 86, 124, 131, 135-143 Benedikt XVI 160 Benjamin, Walter 152 Ben-Nathan, Asher 124 Bernhard von Clairvaux 117 Bloom, Godfrey 170 Borchert, Wolfgang 155 Brandt, Willy 170 Brentano, Clemens von 69 Bsirske, Frank 173 Bubis, Ignatz 147 Bülow, Hans von 95 Busch, Wilhelm 69 Bush, George 170 Bushido 83 Cantalamessa, Raniero 175 Celan, Paul 145, 153 Chamberlain, Houston Stewart 95 Deutschkron, Inge 150 Dickens, Charles 67f. Die Rechte 74, 84, 114 Ditfurth, Jutta 83 Dohm, Christian Wilhelm 161 Dostojewski, Fjodor M. 67f. Dühring, Eugen 95 Dürrenmatt, Friedrich 201 Eco, Umberto 21 Einstein, Albert 118 Elsässer, Jürgen 83 Emcke, Carolin 173 Emsallam 139 Ende, Michael 70 Erdogan, Recep Tayyip 171, 188 Eyal, Nadav 136 Fassbinder, Rainer Werner 70 Feder, Gottfried 42 Fichte, Johann Gottlieb 62 Fontane, Theodor 91 Förster, Hans 54 FPÖ 170 Freud, Sigmund 7, 22 Freytag, Gustav 67 Friedländer, Saul 36, 147 Fries, Jakob Friedrich 63, 92 Gansel, Jürgen 175 Geißler, Heiner 170 Glagau, Otto 95 Goethe, Johann Wolfgang von 78 Grass, Günter 70 Grattenauer, Carl Wilhelm Friedrich 92 Grégoire, Henri 161 226 Gregor von Nyssa 50 Grimm, Jacob 63, 67, 102 Grimm, Wilhelm 67 Habermas, Jürgen 23, 86 Haffner, Georg 193 Haftbefehl 83 Halbwachs, Maurice 21 Hallam, Roger 174 Hamas 58, 188, 191 Hauff, Wilhelm 69 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 63 Heidegger, Martin 118 Heldt, Petra 110f. Herr, Moshe David 44 Himmler, Heinrich 162 Hitler, Adolf 49, 78, 134, 175, 178 Horkheimer, Max 38 Humboldt, Wilhelm von 21 Hundt-Radowsky, Hartwig von 35, 92 Irving, David 175 Jesus von Nazareth 45f., 49, 53, 75, 78, 108f. Johannes (Evangelist) 48, 159 Joshua. Siehe-Jesus von Nazareth Justin, der Märtyrer 50 Kafka, Franz 29 Kahneman, Daniel 31 Kant, Immanuel 19, 205, 212 Katz, Jacob 145 Kazan, Elia 109 Kickl, Herbert 170 Klemperer, Victor 9, 23, 118 Koch, Roland 173 Kohl, Helmut 170 Kollegah 83 Lafontaine, Oskar 170 Lagarde, Paul de 95 Lanzmann, Claude 23, 155 Lenard, Philipp 118 Le Pen, Marine 194 Levi, Primo 152, 157 Levy, Mickey 157 Liebermann, Max 45 Luhmann, Niklas 181, 198 Luther, Martin 35, 78, 91, 165 Lyons, John 21 Macknik, Stephen 19 Marcuse, Herbert 53 Markus, Mario 106 Marr, Wilhelm 78, 94, 102, 131f. Mbembe, Achille 59, 75, 140 Meierhof, Otto 104 Meisner, Joachim 174 Merkel, Angela 117 Mixa, Walter 175 Mommsen, Theodor 94 Naidoo, Xavier 25, 76, 179 Nigrinus 35, 48, 165 NPD 99, 175 Oz, Amos 183 Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim) 128 Pascal, Blaise 51 Paul, Hermann 100 Paulus von Tarsos (Apostel) 49, 51 Peres, Shimon 99 PETA 79, 173 Petrenko, Kirill 71 Platon 19 Poliakov, Léon 36 Popper, Karl 20f., 143, 205 227 Raabe, Wilhelm 67 Raheb, Mitri 110 Reich-Ranicki, Marcel 70 Rooney, Sally 141 Sachs, Nelly 153 Said, Edward 111 Sanders, Daniel 63, 100 Schapira, Esther 193 Scheler, Max 39 Schmidt, Helmut 170 Schulz, Martin 147, 170 Schuster, Josef 145 Searle, John 198 Seneca 23 Sharif, Omar 81 Shatzmiller, Joseph 117 Sinn, Hans-Werner 173 Sperber, Hans 104 Steiner, George 202 Stern, Fritz 212 Stoecker, Adolf 95 Thielemann, Christian 71 Thoma, Ludwig 69 Thukydides 214 Treitschke, Heinrich von 46, 63, 92ff., 97, 162 Tucholsky, Kurt 199 Tutu, Desmond 58 Volkov, Shulamit 37 Voltaire 61f. Wagner, Richard 162 Walser, Martin 70, 147 Waters, Roger 140, 196 Watzlawick, Paul 17, 73, 86, 99 Weber, Max 129 Weigand, Karl 102 Weil, Grete 152 Weinstein, Dvora 139 Wilde, Oscar 67f. Williamson, Richard 160 Wittgenstein, Ludwig 17 Zehm, Günter 146 Zemmour, Éric 194 Ziok, Ilona 155 Zöllner, Karl Friedrich 95 Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft Renommierte Geisteswissenschaftler: innen berichten in den Bänden der Dialoge von ihrer Forschung zu Themen, die auch außerhalb der Hochschulen die Gesellschaft aktuell bewegen. Die Bände gewähren anschaulich Zugang zu geisteswissenschaftlichen Fragestellungen, Denkweisen und Lösungsansätzen. Dabei sucht die Reihe den Dialog zwischen Fachwissenschaftler: innen, Studierenden und interessierten Leser: innen. Bisher erschienene Bände: Monika Schwarz-Friesel Toxische Sprache und geistige Gewalt Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen 1. Auflage 2022, 227 Seiten, €[D] 17,99 ISBN 978-3-89308-466-1 eISBN 978-3-89308-666-5 Christine Römer Streit um Wörter Sprachwandel zwischen Sprachbeschreibung und Sprachkritik 1. Auflage 2022, ca. 100 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-465-4 eISBN 978-3-89308-665-8 Lukas Ohly Ethik des Notstandes Theologische Hintergründe 1. Auflage 2022, 130 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-468-5 eISBN 978-3-89308-668-9 Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft Martina Stemberger Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie 1. Auflage 2021, 119 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-464-7 eISBN 978-3-89308-664-1 Martina Stemberger Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur 1. Auflage 2021, 98 Seiten, € [D] 14,99 ISBN 978-3-89308-462-3 eISBN 978-3-89308-662-7 Kordula Schnegg Antike Geschlechterdebatten Die soziale Verortung der Frauen und Männer in der griechisch-römischen Antike 1. Auflage 2021, 91 Seiten, € [D] 14,99 ISBN 978-3-89308-459-3 eISBN 978-3-89308-659-7 Paul Metzger Zum Teufel! - Die Frage nach dem Bösen 1. Auflage 2020, 106 Seiten, € [D] 14,99 ISBN 978-3-89308-461-6 eISBN 978-3-89308-661-0 Lukas Ohly Kirche und Krisen Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form 1. Auflage 2020, 117 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-460-9 eISBN 978-3-89308-660-3 Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft Joachim Knape, Olaf Kramer, Dietmar Till (Hrsg.) Populisten - rhetorische Profile 1. Auflage 2019, 106 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-454-8 eISBN 978-3-89308-654-2 Eva Gredel Digitale Diskurse und Wikipedia Wie das Social Web Interaktion im digitalen Zeitalter verwandelt 1. Auflage 2018, 90 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-453-1 eISBN 978-3-89308-653-5 ISBN 978-3-89308-466-1 W W W . N A R R . D E Jüdinnen und Juden sind nicht nur mit physischer, sondern auch mit geistiger Gewalt konfrontiert: Diese äußert sich durch explizite Hassrede ebenso wie durch harmlos anmutende Muster der Alltagssprache. Judenfeindschaft und Sprache stehen seit zweitausend Jahren in einer untrennbaren Symbiose. Das Gift judenfeindlichen Denkens und Fühlens ist Teil unserer Kultur, und antisemitische Sprachgebrauchsmuster sind tief in unser kommunikatives Gedächtnis eingeschrieben. Auf diese Weise sorgen sprachliche Antisemitismen dafür, dass judenfeindliche Stereotype von Generation zu Generation weitergegeben werden. Der Band macht diesen Zusammenhang anhand authentischer Beispiele anschaulich und verständlich. Er deckt die toxischen Sprachstrukturen mit ihrer Wirkung auf das kollektive Bewusstsein auf und weist auf die dringende Notwendigkeit eines sensiblen und geschichtsbewussten Sprachgebrauchs hin.