Holocaust-Tagebücher

Momentaufnahmen der Verfolgung

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Auf dem Cover ist eine handgeschriebene Tagebuchseite zu sehen, darüber sechs SW-Porträts von Jugendlichen und der Buchtitel.
30 Tagebücher von jüdischen Jugendlichen hat der Historiker Wolf Kaiser für sein Buch "Der papierene Freund" zusammengetragen. © Deutschlandradio / Metropol Verlag
Von Stefanie Oswalt · 26.08.2022
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Nicht nur Anne Frank, auch andere jüdische Kinder und Jugendliche quer durch das besetzte Europa haben in der NS-Zeit Tagebücher geschrieben. Der Historiker Wolf Kaiser hat eine Anthologie dieser Zeugnisse im Berliner Metropol-Verlag herausgegeben.

Paris, 7. März 1940. Es ist 7 h und ich „feiere“ Geburtstag. Ich hatte wirklich noch nie einen so traurigen Geburtstag, noch nie war ich am Geburtstag allein. Vati ist im Lager ... Heute habe ich mir mein Geburtstagsessen selber gekocht und jetzt sitze ich in der Küche, schreibe ins Tagebuch und bin traurig. Ich bin heute 16 Jahre alt.

Elisabeth Kaufmann

Donnerstag, 6. November 1942. Alle rennen herum und suchen nach Kontakten, um arische Papiere zu erhalten. Nur Entkommen. Wir völlig deprimiert und verzweifelt. Mutter sagt, wir seien ganz ohne Familie zurück geblieben. Sie übertreibt wie üblich, denn das stimmt nicht ganz.

Ephraim Sternschuss

Diese Einträge schrieben Elisabeth Kaufmann und Ephraim Sternschuss, der sich später Sten nannte, in ihre Tagebücher. Beide waren jüdische Jugendliche und der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt.
Die in Wien geborene Elisabeth Kaufmann floh mit ihren Eltern 1938 nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs nach Frankreich, Ephraim Sternschuss erlebte die Verfolgung in Ostgalizien, er sah seinen Vater sterben, der eine Massenerschießung zwar überlebte, infolge dessen aber einen Herzinfarkt erlitt.

Erstmalige Veröffentlichung auf Deutsch

Die Berichte der beiden gehören zu den 30 Tagebüchern, die der Historiker Wolf Kaiser in einem dicken Band zusammengetragen hat. Jetzt ist er im Berliner Metropol-Verlag unter dem Titel „Der papierene Freund. Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher“ erschienen.
Bis auf eine Ausnahme, so Wolf Kaiser, ist keiner der Texte bisher auf Deutsch publiziert worden, acht Texte sind bisher gänzlich unveröffentlicht.

„Ich hab versucht, Tagebücher zu finden, die eben beides haben: Sowohl diesen persönlichen Zugang, die besondere Wahrnehmung und die Beschreibung der eigenen Entwicklung, als auch die Beobachtung der Umgebung und die sich zuspitzende Verfolgung der Juden.“

Wolf Kaiser, Herausgeber

Ursprünglich sind die Tagebücher in verschiedenen Sprachen geschrieben – unter anderem auf jiddisch, ungarisch, russisch, polnisch oder französisch. Wolf Kaiser hat sich um Übersetzungen gekümmert und für seine Edition auch Kürzungen vorgenommen.
Wichtig war ihm, Tagebücher zu publizieren, die nicht im Nachhinein bearbeitet worden sind, sondern die Gegenwart der Vergangenheit möglichst authentisch dokumentieren – den Augenblick, in dem die Mädchen und Jungen den Fortgang der Geschichte noch nicht kannten, in dem auch unklar war, ob sie die Verfolgung, so wie Elisabeth Kaufmann und Ephraim Sternschuss, letztlich überleben würden.

Ein empathischer Blick

Die Unmittelbarkeit dieser Schriften ermögliche Leserinnen und Lesern einen besonders empathischen Blick auf die Geschichten der Menschen, einen, der sie nicht zu bloßen Opfern degradiere, so Kaiser:
„Ich denke, sie sind neben Briefen die einzigen Dokumente, aus denen wir die mehr oder weniger unmittelbare Reaktion auf die Verfolgung ablesen können und damit auch das häufig mit dem Wort des Opfers verbundene Bild, es handelt sich um Menschen, die etwas passiv ertragen, korrigieren können.
Das erscheint mir sehr wichtig, auch wenn die Handlungsmöglichkeiten, sozusagen in physischem Sinne meist sehr begrenzt waren, so sind diese Menschen doch nicht passiv: Sie setzen sich aktiv intellektuell, psychisch, moralisch und so weiter mit der Situation auseinander und versuchen auch, zu überleben.“

Individuelle Lebensumstände

Naturgemäß sind die Tagebücher so unterschiedlich wie ihre Autorinnen und Autoren, die aus unterschiedlichen Milieus stammen, aus Ländern in Ost-, Mittel- und Westeuropa. Wolf Kaiser stellt die Tagebuch-Auszüge in ihren historischen Kontext, er hat die Biografien der Autorinnen und Autoren und die teilweise abenteuerlichen Geschichten ihrer Tagebücher recherchiert.
Jedem Dokument stellt er eine biografische Skizze voran, jüdische oder regionalspezifische Begriffe werden in Fußnoten erklärt. Deutlich tritt so die Individualität der Jugendlichen zutage – und es zeigt sich: Die Zuschreibung „jüdisch“ ist vor allem eine von den Verfolgern gewählte Kategorie.
„Ihre Haltung zum Judentum ist sehr unterschiedlich. Und das hängt natürlich auch damit zusammen, dass sie durch ihre Herkunft und ihre Umgebung geprägt sind. Die mitteleuropäischen und westeuropäischen Juden waren ja häufig entweder durch ein reformiertes Judentum geprägt oder sie waren überhaupt der jüdischen Tradition ziemlich distanziert gegenüber aufgewachsen.
Im östlichen Europa findet man unterschiedliche Haltungen: Chassidische Tendenzen, zionistische sehr unterschiedlicher Art: religiös-zionistische und auch sozialistisch-zionistische und insbesondere in Litauen findet man auch das von der Aufklärung, der Haskala, geprägte Judentum, das sich auch sehr deutlich zeigt in diesen Texten.“

Gemeinsamkeiten in extremen Lebensumständen

Und doch gibt es in den Berichten auch Gemeinsamkeiten: So vermissen die Jungen und Mädchen ihre sozialen Kontexte, bedauern, dass sie vom Schulbesuch ausgeschlossen sind, dass sie von ihren Eltern getrennt wurden, und sie schwanken zwischen emotionalen Extremen:
„Es ist so, dass diese Tagebuchschreiber ja in einer Situation ihre Einträge machen, in der sie nicht wissen, was der nächste Tag bringt. In der sie aber zugleich Gerüchte, Nachrichten wahrnehmen, die äußerst bedrohlich sind. Und in dieser Situation gibt es so ein Schwanken zwischen völliger Verzweiflung und der Hoffnung, doch überleben zu können.“

Ephraim Sternschuss schreibt in seinem Tagebuch:

Montag, 29. Dezember 1941: Es ist gut, dass es dieses Tagebuch gibt. Ich habe Mutter und Vater immer alles erzählt. Aber es gibt eine wachsende Zahl von Vorkommnissen, die eigentlich nicht mitgeteilt werden sollten. Wenigstens kann man sich auf Papier von der Last befreien.“

Ephraim Sternschuss

Lena Jedwab und ihr "Papierener Freund"

Das sah Lena Jedwab aus Bialystok ähnlich. Sie wurde im Juni 1941 als 16-Jährige vom Überfall der Deutschen in Litauen überrascht, wo sie Kinder in einem Ferienlager betreute. Sie wurde nach Udmurtien am westlichen Rand des Urals evakuiert und überlebte dort als einzige in ihrer Familie den Krieg – auch dank ihres Tagebuchs, das sie als ihren „Papierenen Freund“ bezeichnete.
Wolf Kaiser hat nun seiner Anthologie diesen Titel gegeben und ermöglicht uns einen bewegenden Einblick in die Gedanken, Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte und Sorgen dieser 30 von den Nationalsozialisten verfolgten Jugendlichen. Elf von ihnen verloren in der Shoah ihr Leben.

Der papierene Freund. Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher
Herausgegeben von Wolf Kaiser
Metropol-Verlag, Berlin 2022
39 Euro

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