L. J. Linares: German Politics and the 'Jewish Question', 1914–1919

Cover
Titel
German Politics and the 'Jewish Question', 1914–1919.


Autor(en)
Linares, Lucia J.
Reihe
Weimarer Schriften zur Republik
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
233 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Weber, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

Die Arbeit von Lucia J. Linares untersucht, wie sich in öffentlichen Diskursen zu sogenannten „Judenfragen“ die Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft von Jüdinnen und Juden wie auch das nationale Selbstverständnis widerspiegelte. Dabei geht sie auf Abstand zu einem engen Verständnis des Begriffs „Judenfrage“ und sieht darin mehr als ein lediglich von Antisemit:innen aufgeworfenes Problem. Vielmehr zeichnen sich „Judenfragen“ seit den Emanzipationsdebatten des 18. Jahrhunderts durch eine Vielzahl von Debattenteilnehmer:innen aus.

Im Einstiegskapitel beschreibt die Autorin in sechs exemplarisch ausgewählten Texten das semantische Feld der „Judenfragen“, in denen sich das politische Bewusstsein von Akteur:innen spiegelte, die vom Standpunkt des deutschen Nationalstaats aus sprechen. Damit will sie zu ihrem eigentlichen Thema der nachfolgenden Kapitel hinführen, wie Fragen der Zugehörigkeit von deutschen und osteuropäischen Juden im Kontext des Weltkriegs sowie auf dem Weg in die Weimarer Demokratie in der politischen Öffentlichkeit diskutiert wurden. Die Zusammenstellung der sechs exemplarischen Stellungnahmen zur „Judenfrage“ (S. 31–76) wirkt allerdings etwas beliebig: Zwar thematisieren die aufgeführten Texte, die von Bruno Brauer zu Heinrich von Treitschke, von zionistischen Pamphleten über Vorträge von Werner Sombart zu der von Moritz Goldstein entfachten „Kunstwart“-Debatte von 1913 reichen, allesamt jüdische Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Die oberflächliche Beobachtung, es sei als ihre Bedingung stets die religiöse und kulturelle Reform der jüdischen Gemeinschaft eingefordert worden, geht über die sehr unterschiedlichen Kontexte der genannten Debatten doch weitgehend hinweg. Die semantischen Überschneidungen und Ähnlichkeiten allein weisen noch keinen zusammenhängenden Diskurs aus. Auch die Interpretation der einzelnen Stimmen überrascht dabei teils sehr: Bauer erscheint als politischer Reformer und nicht als maßgeblicher Wegbereiter des modernen Antisemitismus. Treitschke wird als Vertreter eines Liberalismus dargestellt, der lediglich einem logischen Widerspruch aufsitze, wenn er die Assimilation der Juden einforderte und ihnen zugleich die Fähigkeit dazu absprach. Der Befund der „liberal ambivalence“ (S. 39) wird der Bedeutung Treitschkes jedenfalls nicht gerecht, da dieser die antijüdische Stereotypisierung entscheidend weiterentwickelte und diese im Bürgertum verankerte. Auch die Einschätzung Linares, dass sich die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) nicht in Reaktion auf den Antisemitismus formierte, sondern ausgerechnet von Treitschke die Behauptung der Juden als nicht integrierbare Nation als positiven Impuls empfangen habe, erscheint problematisch. Die Autorin verkennt zudem, dass es kein zentrales Anliegen der deutschen Zionisten war, nationaljüdische Identität mit einer nationaldeutschen zu versöhnen, nur weil sie betonten, dass sie trotz ihres Zionismus loyale deutsche Staatsbürger blieben. Gewiss vertrat die ältere Generation der deutschen Zionisten um Max I. Bodenheimer auch einen deutschen Patriotismus, was tatsächlich wichtig für das Verständnis der in den folgenden Kapiteln untersuchten Debatten ist. Die Entstehung und die Praxis des Zionismus aber komplett vom Abwehrkampf gegen den Antisemitismus abzutrennen und den deutschen Patriotismus als gleichberechtigten Faktor im Selbstverständnis neben die nationaljüdische Identität zu stellen, ist für die Gesamtheit der deutschen Zionist:innen mindestens übertrieben. Die Autorin berücksichtigt wenig die innerzionistischen Diskussionen und generationellen Brüche, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg unter den deutschen Zionist:innen vollzogen haben: Die jüngere Generation um Kurt Blumenfeld, der erstaunlicherweise im Buch gar nicht vorkommt, grenzte sich mit der Forderung des „Palästinozentrismus“ von der älteren Generation um Bodenheimer ab und bestimmte Palästina als Fixpunkt der zionistischen Identität. Das wäre wichtig gewesen, um den instrumentellen Charakter der zionistischen Annäherungsbemühungen bei deutschen Behörden während des Weltkriegs zu begreifen.

Es folgen vier Kapitel über „Judenfragen“ im Zusammenhang mit deutscher Politik: zunächst die Judenpolitik der deutschen Militärbesatzung in Osteuropa während des Ersten Weltkriegs sowie die Beschäftigung mit dem Zionismus als politisch nützlichem Faktor im Orient. Linares betrachtet die zahllosen Memoranden von Zionist:innen sowie dem Komitee für den Osten, das sich für den Status unter deutschen Einfluss geratener osteuropäischer Jüdinnen und Juden einsetzte, die tatsächlich seit 1914 im Auswärtigen Amt und bei anderen deutschen Behörden eingingen. So behauptete etwa Bodenheimer, dass aufgrund sprachlicher Verwandtschaft eine politische Interessensgemeinschaft zwischen dem osteuropäischen Judentum und dem Deutschen Reich bestehe. Er hoffte auf eine jüdische nationale Autonomie unter deutschem Schutz als „Pufferstaat“ im Osten. Dass sich deutsche Regierungsvertreter dieses und manch anderes vortragen ließen, liest die Autorin als „unprecedented collaboration between the German Foreign Office and German Jewish organisations“ (S. 200). Es mag zwar zunächst überraschen, dass solche Postulate überhaupt Gehör fanden, eine erfolgreiche politische Einflussnahme oder gar Partnerschaft, verraten sie indes nicht. Auch wenn es sich überwiegend um gescheiterte Initiativen handelte, wäre das allein selbstverständlich kein Grund, sich nicht mit diesen Themen und Quellen zu beschäftigen. Allerdings fördert die Autorin keine neuen Quellen zutage und führt über weite Strecken kein selbstständiges Quellenstudium durch. Sie folgt oft älterer Literatur und stolpert nicht selten über deren Irrtümer: Ohne diese Bestände im Auswärtigen Amt selbst eingesehen zu haben, übernimmt die Autorin die keineswegs zutreffende Annahme von Isaiah Friedman, dass neben dem Komitee für den Osten auch der Zionismus ein Bündnispartner der deutschen Politik gewesen sei und Jüdinnen und Juden als Mittler deutscher Interessen in Osteuropa und im Orient dienten.1 Neuere Forschung verweist darauf, dass die ZVfD, ähnlich wie das Komitee für den Osten, eine Interessensgemeinschaft zwischen dem jüdischen Siedlungswerk in Palästina, dem Deutschen und dem Osmanischen Reich zwar postuliert hatte, aber am Widerstand der deutschen Diplomaten scheiterte, da diese die Beziehung zum Osmanischen Reich nicht gefährden wollten.2 Die Arbeit fällt auch hinter die Standardwerke von Egmont Zechlin und Zosa Szajkowski zurück, in denen die Quellen breit ausgewertet und dabei auch der Frage nach dem ausgebliebenen Erfolg des Komitees für den Osten sowie der Zionisten nachgegangen werden.3

In den folgenden beiden Kapiteln beschreibt die Autorin, wie die Rechte nationaler Minderheiten in die Weimarer Verfassung eingingen sowie auf den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg zum Mittel einer nationalen Interessenspolitik wurden. Die Deutschen versuchten mithilfe eines neu entdeckten Einsatzes für jüdische Minderheitenrechte moralischen Kredit in den Verhandlungen mit den Siegermächten zu erlangen sowie die polnischen Juden als kulturell nahestehenden und deutschen Auslandsinteressen dienlichen Faktor zu nutzen. Dabei vermag der Rezensent auch hier nicht zu erkennen, was die Autorin den (vielfach zitierten) Studien von Steven Aschheim und Jürgen Mathäus Neues hinzuzufügen weiß. Grundlegende Arbeiten von Francis Nicosia und Markus Kirchhoff sucht man in der Bibliographie indes vergebens.4

Das abschließende Fazit der Autorin über das Wesen einer pluralistischen Gesellschaft ist zudem von zum Teil naiven und apologetischen Schlüssen der Autorin geprägt: Den vom Kaiser ausgerufenen „Burgfrieden“ wertet sie nicht als Kriegspropaganda, sondern lässt die „Ideen von 1914“ als erstrebenswerte Vision des Multikulturalismus hochleben. Selbst Werner Sombart wird als Vertreter des Multikulturalismus präsentiert. Sombart aber redete das Scheitern einer deutsch-jüdischen Symbiose herbei und forderte die kulturelle Absonderung der Juden. Er eskamotierte sein Ressentiment, indem er in zoologischer Manier die Juden als Art erhalten und sich selbst als Freund der Juden verstanden wissen wollte. Tatsächlich bekannte er sich zum rassenhygienischen Diktum, wonach „Rassenmischung“ zum Niedergang der Menschheit führe. Es sei beiden Seiten gedient, so Sombart, die fortgesetzte „Blutsmischung der jüdischen Rasse mit den Nordvölkern“5 einzudämmen. Ausgerechnet diesen Autor ruft die Autorin im Schluss (S. 199–215) als Paradebeispiel „of a larger claim to a multi-cultural or culturally pluralist German Empire” (S. 213) ins Gedächtnis, um damit die heutige Debatte über Multikulturalismus zu befruchten. Mit derart problematischen Befunden endet eine insgesamt enttäuschende Lektüre.

Anmerkungen:
1 Isaiah Friedman, Germany, Turkey, and Zionism. 1897–1918, Oxford 1977 (als Dissertation bereits 1964 eingereicht).
2 Tatsächlich hatten die deutschen Zionist:innen Erfolg darin, einen Teil der kolonialpublizistischen Öffentlichkeit des späten Kaiserreichs für ihre Sache zu überzeugen; im Auswärtigen Amt und bei den eigentlichen politischen Entscheidungsträgern gelang dies jedoch nicht, vgl. dazu ausführlich Fabian Weber, Projektionen auf den Zionismus. Die nichtjüdische Wahrnehmung des Zionismus im Deutschen Reich 1897–1933, Göttingen 2020, S. 83–120. Zum osteuropäischen Kontext, vgl. Tobias Grill, “Pioneers Of Germanness In The East”? Jewish-German, German, And Slavic Perceptions Of East European Jewry During The First World War, in: Ders. (Hrsg.), Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories. Berlin 2018, S. 125–159.
3 Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969; Zosa Szajkowski, The Komitee fuer den Osten and Zionism, in: Herzl Year Book. Essays in Zionist History and Thought 7 (1971), S. 199–240.
4 Francis Nicosia F. R. Nicosia, Jewish Affairs and German Foreign Policy during the Weimar Republic. Moritz Sobernheim and the Referat für jüdische Angelegenheiten, in: Leo Baeck Institute Yearbook 33 (1988), S. 29–42; Markus Kirchhoff, Gil Rubin, „Jewish Questions“ in International Politics. Diplomacy, Rights and Intervention, Schwerpunkt, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 15 (2016), S. 101–305.
5 Wener Sombart, Die Zukunft der Juden, Leipzig 1912, S. 43.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension