Mehr als Museumsstück und Ziel von Antisemitismus?

Marina Weisband und Eliyah Havemann geben einen ungewohnten Einblick in jüdisches Leben

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Braucht es noch ein Buch über jüdische Religion, Riten, Kultur? Ja, braucht es! Und vor allem dieses Buch. Marina Weisband, Anfang der 90er Jahre als Kind aus der Ukraine mit der Familie nach Deutschland immigriert, und Eliyah Havemann, der Deutschland Richtung Israel verließ und mittlerweile mit seiner Familie in Ra´annana lebt, öffnen für dieses Buch sprichwörtlich ihre Wohnungstür und geben einen allgemeinen und privaten Einblick in jüdisches Leben. Dabei sind mehrere Aspekte erstaunlich. Zum ersten sind beide keine jüdischen Gelehrten oder Religionswissenschaftler*innen, haben also nicht den Anspruch, umfassend und objektiv über verschiedene Bereiche des Judentums zu berichten. Trotzdem funktioniert das Buch wunderbar als Einstieg in jüdischen Alltag, zumal in jedem Kapitel weiterführende Literatur empfohlen wird. Ein Jude und eine Jüdin berichten über ihr (religiöses und kulturelles) Leben – so profan und doch so spannend ist es manchmal. Das schadet der Lektüre aber kein Stück, denn zweitens sind der rote Faden des Buches Fragen von Menschen, die einfach Interesse an jüdischem Leben hatten. Weisband, wie Havemann sehr aktiv in den sozialen Medien, hat im Herbst 2020 auf Twitter ihre Follower*innen aufgefordert, Fragen rund um die Themen Judentum und Antisemitismus zu stellen. Daraus wurden rasch fast 500 Fragen und gemeinsam haben Weisband und Havemann, die sich auch erst über soziale Medien kennengelernt haben, daraus zunächst fünf Antwort-Videos für YouTube produziert (tolles Extra: ein QR-Code zu den Videos). Als die Fragen unter #FragEinenJuden nicht abrissen, entschlossen sich beide, ein Buch folgen zu lassen. Es täte vielen Sachbüchern gut, ebenfalls Rezipient*innen beim Erstellen eines Textes einzubeziehen und stärker wirklich ‚für die Leser*innen‘ zu schreiben. Drittens schreiben beide aus einer gemeinsamen und doch unterschiedlichen Perspektive. Beide sind nicht religiös aufgewachsen, beide haben zwar familiäre und damit irgendwie kulturell bedingte jüdische Wurzeln, aber beide haben sich für einen Weg tiefer hinein in die Religion entschieden. Da der Weg der beiden unterschiedlich verlaufen ist (Havemann konvertierte zum Judentum und lebt heute modern-orthodox, Weisband beschreibt sich als gläubig, aber nicht religiös), haben beide auch eine etwas andere Sicht auf die Themen jüdischen Lebens. Das macht das Buch zu einem interessanten Dialog, auch wenn die Passagen ruhig häufiger wie ein echtes Gespräch hätten gestaltet werden können, so wie es z. B. sehr gelungen zur Schicksalsgemeinschaft oder zum Giur passiert ist. 

Diese drei Besonderheiten machen das Buch schon lesenswert, aber auch die Themen bieten interessante, auch für fachkundige Leser*innen durchaus erhellende Informationen. Nach einem sehr schönen Vorwort des Beauftragten der baden-württembergischen Landesregierung gegen Antisemitismus, Michael Blume, der Erklärung, wie das Buch zustande kam, und den beiden kurzen Lebensbeschreibungen von Weisband und Havemann schließen sich fünf Kapitel an (Wer sind Juden?ReligionFeiertageJüdische KulturAntisemitismus). Im Feiertags-Kapitel werden ausgewählte religiöse und weltliche Feiertage vorgestellt, ohne explizit auf die dazugehörigen Fragen einzugehen. Insgesamt fällt auf, dass das Kapitel zum Antisemitismus das zweitlängste ist – eine traurige, implizite Aussage zur Relevanz des Themas in heutiger Zeit. In den Abschnitten erfahren wir – jeweils mit der vorangestellten Frage – in mal kurzen, mal längeren Antworten wissenswerte Dinge zum Judentum, immer wieder gespickt mit Anekdoten aus dem Leben Weisbands oder Havemanns. Das große Plus des Buches ist dabei, dass auch scheinbar ‚komische‘ Fragen (Habt ihr euch schon mal gewünscht, nicht jüdisch zu sein? Warum werden manchmal Tische mit Alufolie bedeckt? Was sind die witzigsten Riten? Darf man als Nichtjüdin den Gottesdienst besuchen?) beantwortet werden. Dieses Plus ist aber gleichzeitig das größte Manko. Einige Fragen von Interesse, die aber offenbar nicht gestellt wurden, bespricht das Buch nicht. Die Themen Beschneidung, Tod oder Heirat z. B. blenden beide aus und an manchen Stellen wie dem Shabbat oder Chanukka hätte man sich ähnlich wie bei den anderen Feiertagen etwas mehr Informationen zum Ablauf gewünscht. Und für eine spätere Ausgabe sei vielleicht die Hoffnung geäußert, dass das Schma-Gebet und/oder die Nationalhymne Israels als zwei wesentliche, im Buch auch erwähnte Texte, ergänzt werden. Ansonsten äußern sich Weisband und Havemann, teilweise auch sehr persönlich, zu den klassischen Aspekten des Judentums. Das gelingt beiden nicht nur wie beschrieben sehr informativ und kurzweilig, sondern auch ausgewogen und gelegentlich spannend und kontrovers. Ein wenig davon weicht dann das letzte Kapitel zum Antisemitismus ab, welches deutlich ernster und auch politischer ist.

Insgesamt ist das Buch eine dringende Leseempfehlung. Frag uns doch! bietet einen sehr individuellen Blick auf jüdisches Leben, es gibt einen Überblick zu wesentlichen Themenbereichen, ergänzt um eine persönliche Note. Aber viel zentraler ist: Es teilt Erfahrung, es ist Dialog und es will Dialog anregen. Das Buch will Jüd*innen im heutigen Alltag sichtbar(er) machen und das abseits von Gedenkstätten. Eins steht fest: Dieses Buch erfüllt definitiv das Gebot Tikun Olam, denn es ist ein Beitrag zur Verbesserung der Welt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Marina Weisband / Eliyah Havemann: Frag uns doch! Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
128 Seiten , 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974911

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