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Literatur

"Wer wir sind": Der neue Roman von Lena Gorelik

Sabine Kieselbach
25. Mai 2021

Seit den 1990er Jahren emigrierten hunderttausende Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Lena Gorelik erzählt ihre Familiengeschichte.

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Autorin Lena Gorelik lächelt in die Kamera
Lena Gorelik bei der lit.cologne 2019 in KölnBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

Die Kinder sollen es mal besser haben. Mehr Wohlstand. Eine Perspektive. Und: keinen Antisemitismus mehr erleben. Aber nach Deutschland? Dem Land, das für die Ermordung der europäischen Juden verantwortlich war? 

Zwischen 1991 und 2005 hatten Juden aus den ehemaligen Sowjetrepubliken die Möglichkeit, als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland zu kommen, mehr als 200.000 nutzten die Chance. Unter ihnen die Familie von Lena Gorelik, trotz aller Zweifel, ob dieser Schritt der richtige ist. Und dann landeten sie in Süddeutschland, fünf Personen eingepfercht in einem schäbigen Wohnheim. Sie mussten die deutsche Sprache lernen, jüdische Rituale, die sie daheim in Sankt Petersburg nicht praktizieren konnten, und sie mussten akzeptieren, dass sie hier nichts waren: Ihre Zeugnisse wurden nicht anerkannt, ihre Erfahrungen, ihre Geschichten interessierten niemanden.

Die Erlöser-Kirche in Sankt Petersburg, davor der Gribojedow-Kanal
Goreliks alte Heimat Sankt Petersburg im Jahr 1995Bild: Bodo Müller/dpa/picture-alliance

Auch mal nicht humorvoll sein

Lena Gorelik war damals 11, mit 23 hat sie den ersten Roman über ihre Einwanderung geschrieben - "Meine weißen Nächte" -, voll mit witzigen Anekdoten über den Clash der Kulturen. Weitere Romane und auch Sachbücher folgten. Ihr neuer autobiografischer Roman "Wer wir sind" ist so ganz anders im Ton, eine Art Selbstvergewisserung, woher sie kommt, was sie ausmacht, melancholisch, manchmal bitter.

Früher, sagt Lena Gorelik im Interview, wollte sie unbedingt leicht und witzig erzählen. Alles Schwere hinter sich lassen. "Jetzt erlaube ich mir, auch mal nicht humorvoll zu sein. Es ist  ein bewussteres, auch selbstbewussteres Schreiben. Ich habe mir viel Zeit gelassen für diesen Roman. Diesmal wollte ich wirklich von mir schreiben, meine eigene Geschichte erzählen."

Der Preis fürs Glück der Kinder

Nach ihrer Ankunft in Deutschland lernt Lena schnell, ist bald Klassenbeste, träumt vom Leben in einem Reihenhaus, von Tennis- und Klavierunterricht. Während ihre Eltern mit der zermürbenden deutschen Bürokratie kämpfen und Arbeit annehmen müssen, die weit unter ihren Fähigkeiten liegt. Deutschland hat sie zwar geholt, aber tut wenig, um sie in die Gesellschaft zu integrieren. 

Buchcover "Wer Wir Sind" von Lena Gorelik
Das Cover des aktuellen Romans "Wer wir sind" von Lena Gorelik

Lena träumt sich weg, schämt sich für ihre Herkunft, begehrt auf. Und sieht heute, welchen Preis ihre Eltern zahlten, damit sie es einmal besser hat, vielleicht sogar glücklich ist. "Sie sind für mich hergekommen, für uns Kinder, und das haben sie nun davon. Dass die Kinder alles dafür tun, um nicht mehr die ihren zu sein."

"Wer wir sind" ist nicht nur die Geschichte von Lena Gorelik, es ist auch die ihrer Eltern, ihrer Großeltern, die ihre Erinnerungen an die alte Heimat mit sich tragen, an die Menschen, die sie liebten, die dort starben. Und an den Geschmack und die Gerüche des Essens, der Pflanzen, die es in der immer fremden, neuen Heimat nicht gibt. Voller Wehmut, die aber nie ins Sentimentale kippt, die aber ahnen lässt, dass der Neuanfang mit vielen Verlusten verbunden ist. 

Eine Geschichte vom Fremdsein und Dazugehören

"Ich habe viel darüber nachgedacht", sagt Lena Gorelik, "welche Geschichten in Deutschland von denen geschrieben werden, die hierhin eingewandert sind. Alle Gruppen von Migranten, alle Minderheiten. Und ich hatte das Gefühl, dass ich mehr von diesen Geschichten lesen will."
Ihre ist eine davon. Die Geschichte der jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.

Eine Geschichte vom Fremdsein, vom Dazugehören, vom Erinnern und von den Träumen von einer besseren Zukunft. Und eine Geschichte darüber, dass es denen, die nach Deutschland kommen, nicht einfach gemacht wird: "Es bleibt für immer an mir kleben. Das Wohnheim, die russischen Sätze, der Eigengeruch."

Lena Gorelik, 1981 in Sankt Petersburg (damals noch Leningrad) geboren, hat mit "Wer wir sind" ihren sechsten Roman geschrieben. Sie ist auch Journalistin, schreibt Theaterstücke und derzeit ihr erstes Drehbuch. Lena Gorelik lebt in München.