Neue Forschungen zum Warschauer Ghetto

: The Doctors of the Warsaw Ghetto Brookline, MA 2022 : Academic Studies Press, ISBN 9781644697252 403 S. $ 129,00

: The Atrocity of Hunger. Starvation in the Warsaw, Lodz, and Krakow Ghettos during World War II. Cambridge 2023 : Cambridge University Press, ISBN 9781009100083 294 S. £ 75.00

: Warsaw Ghetto Police. The Jewish Order Service during the Nazi Occupation. Ithaca 2021 : Cornell University Press, ISBN 9781501754074 248 S., 31 Abb., 1 Karte $ 32.95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Roth, Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main

Nachdem Ghettos lange Zeit nur wenig und vor allem als Etappe der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik mit Blick auf die Interessen und das Kalkül der Täter untersucht worden waren, gibt es seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten eine Vielfalt von Untersuchungen, die einzelne Ghettos und die Ghettogesellschaften erfahrungsgeschichtlich in den Blick nehmen. Vielfach konzentrieren sich diese Studien auf die Großghettos in Warschau und Lodz sowie das gut dokumentierte Theresienstadt.1 Diese verdienstvollen Monografien ergänzen seit einigen Jahren Studien zu einzelnen Aspekten aus der Geschichte eines oder mehrerer Ghettos.2 Die drei hier zu besprechenden Publikationen folgen diesem Trend: Sie widmen sich den Ärzten im Warschauer Ghetto, dem dortigen Jüdischen Ordnungsdienst sowie dem Hunger in den Ghettos Warschau, Lodz und Krakau. Die Studien von Maria Ciesielska und Katarzyna Person sind Übersetzungen ihrer 2017 und 2018 auf Polnisch erschienenen Bücher; im Falle Ciesielskas handelt es sich um eine gekürzte Fassung.3

Allen drei Büchern gemeinsam ist, dass ihre Autorinnen die Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner der Ghettos in den Mittelpunkt rücken. Sie schreiben damit explizit keine Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik, die auf Grundlage der für diese Themen ohnehin nur recht fragmentarisch überlieferten Quellen aus den Täterapparaten kaum rekonstruierbar wäre, sondern wählen einen stärker erfahrungsgeschichtlich verankerten Zugang. Dementsprechend stützen sich die Autorinnen in hohem Maße auf Selbstzeugnisse verschiedener Art – zeitgenössische und nachträglich entstandene sowie mündliche und schriftliche in verschiedenen Sprachen. Mit Hunger und medizinischer Versorgung fokussieren Sinnreich und Ciecielska dabei Aspekte des Holocaust, die nicht nur in zeitgenössischen Selbstzeugnissen dominieren, sondern bereits in den Ghettos zum Gegenstand medizinischer Forschung geworden sind.4

Während Katarzyna Person und Helene J. Sinnreich ihre Themen vor allem in thematisch strukturierten Kapiteln in den Blick nehmen, verfolgt Ciesielska einen eher enzyklopädischen Ansatz. Sie gliedert ihre Untersuchung über die Ärzte des Warschauer Ghettos chronologisch in kleinteilig angelegte Kapitel, so dass sich darin teils sehr kurze Unterkapitel, etwa zur Rolle der Apotheker in der Vorkriegszeit, zu Beginn der deutschen Besatzung, nach der Einrichtung der Ghettos und nach den Deportationen im Sommer 1942 finden. Ergänzt wird diese Herangehensweise durch einen umfangreichen Anhang. Dort finden sich Listen jüdischer Ärzte in Warschau vor und nach der Errichtung des Ghettos (zum Teil inklusive ihrer Lebensdaten und fachlichen Spezialisierung), Listen der Apotheken und Lehrenden der Medizin im Ghetto und schließlich Kurzbiographien der Ärztinnen und Ärzte sowie in vielen Fällen auch Fotos von ihnen.

Ciesielska bietet somit einen soliden Überblick über jüdische Ärztinnen und Ärzte im polnischen Gesundheitswesen vor dem Krieg und dokumentiert ihre Bemühungen, unter deutscher Besatzung eine medizinische Versorgung sicherzustellen, obwohl alle Umstände gegen eine solche Arbeit gerichtet waren. Akribisch schildert sie die Arbeitsumstände der 700 bis 1.000 Ärztinnen und Ärzte im Ghetto, die sich – bei äußerst mangelhafter Versorgung mit der nötigen Ausstattung, Hilfsmitteln und Medikamenten – einer rasant gestiegenen Notwendigkeit medizinischer Versorgung gegenübersahen. Nicht einmal zur Bekämpfung der hoch ansteckenden Epidemien, vor denen die deutschen Besatzer selbst panische Angst hatten, wurden ihnen auch nur annähernd ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt. Neben einzelnen Ärzten und ihrer praktischen Arbeit oder ihrer Forschungstätigkeit geht Ciesielska auch dem Schicksal einzelner Einrichtungen nach. Sie schildert die Zerstörung des 1883 gegründeten Czyste-Krankenhauses infolge des deutschen Angriffs, dessen Umzug ins Ghetto, den Schmuggel von Medikamenten dorthin, die Probleme der alltäglichen Arbeit durch Diebstahl, Enge, Hungerrationen sowie die dortigen Forschungen von Dr. Emil Apfelbaum zu Hungerkrankheiten. Es ließen sich zahlreiche weitere Stränge herausgreifen, die Ciesielska minutiös dokumentiert und zu einem eindrücklichen Panorama medizinischer Arbeit im Warschauer Ghetto zusammenstellt.

Mit dem Problem des Hungers greift Helene J. Sinnreich ein eng mit der medizinischen Versorgung zusammenhängendes Thema auf, das alle Bereiche des Lebens beeinflusste und die Gesellschaften in den Ghettos insgesamt veränderte. Sie ruft einleitend in Erinnerung, dass Hunger keine bloße Nebenwirkung des Krieges, sondern vielmehr eine bewusst eingesetzte Strategie der Deutschen war. Im Bestreben, eine Alltagsgeschichte des Holocausts zu schreiben, die von den Erfahrungen der Menschen und ihrer agency ausgeht, nimmt sie die Seite der verantwortlichen Funktionäre in Verwaltung, SS und Polizei jedoch nicht näher in den Blick. Vielmehr führt sie eindrücklich vor Augen, dass Hunger nicht nur tiefgreifende Folgen für jeden einzelnen Menschen in den Ghettos hatte, sondern auch das Wertesystem angriff, indem er etwa dazu verleitete, Angehörige oder andere zu bestehlen. Wenngleich Hunger eine Konstante im Leben der meisten Menschen im Ghetto war, wies er Sinnreich zufolge unterschiedliche Dynamiken und Geschwindigkeiten auf. Zudem seien die individuellen Überlebenschancen durch etliche Faktoren mitbestimmt gewesen, darunter eventuell vorhandener Besitz, mit dem gehandelt werden konnte, soziale Netzwerke, „illegale“ Versorgungswege, die Wohnraumsituation und andere mehr. Diese Faktoren unterschieden sich von Ort zu Ort, wie Sinnreich deutlich macht. Beispielsweise waren die Ghettogrenzen in Krakau und Warschau unter anderem durch die zahlreichen Arbeitskommandos außerhalb des Ghettos erheblich durchlässiger als in Lodz, wo Handel durch eine eigene Ghettowährung zusätzlich erschwert war.

Hunger gehörte zu den zentralen Ursachen für eine Reihe von Normverschiebungen, die weit über die drei durch Sinnreich analysierten Ghettos hinaus wirksam waren. Er hatte Folgen für das Geschlechter- und Generationenverhältnis im Vergleich zur Vorkriegszeit, da nun die Arbeitsfähigkeit und der Besitz einer Arbeitsstelle entscheidend wurde, sodass mitunter Jugendliche zu Ernährern bzw. Ernährerinnen ihrer Familien wurden. Überdies legitimierte und normalisierte der allgegenwärtige Hunger Kriminalität und verschob Grenzen in den Moralvorstellungen. All dies arbeitet Sinnreich anhand einer Vielzahl von Quellen, vor allem Selbstzeugnissen, überzeugend heraus. Etwas willkürlich scheint nur der Anhang, da dort in einer Liste einzig öffentliche Küchen und Verteilstellen von Nahrungsmitteln für das Warschauer Ghetto aufgelistet werden, ähnliche Informationen für die anderen beiden Ghettos jedoch nicht aufgeführt werden. Welche Funktion dieser einzige Anhang haben soll, erschließt sich nicht.

Ein kontroverses Thema, das in fast allen zeitgenössischen Selbstzeugnissen ebenso wie in rückblickenden Texten auftaucht, betrifft den Jüdischen Ordnungsdienst (OD). Seiner Entstehung und Zusammensetzung, seinen Aufgaben und seiner Rolle im Zuge der Deportationen widmet sich Katarzyna Persons Monografie. Sie beschränkt sich auf das Warschauer Ghetto; für die Ghettos Krakau und Lodz stehen eingehende monografische Untersuchungen zum Ordnungsdienst weiterhin aus.5 Der Ordnungsdienst war nicht immer die umstrittene und vielfach verachtete polizeiähnliche Einheit, die er spätestens mit seiner erzwungenen Mitwirkung an den Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka im Sommer 1942 geworden war. Person macht in ihrer Studie deutlich, dass seine Einrichtung anfangs mit der Hoffnung auf ein Ende der Korruption verbunden war. Er sei teilweise, vor allem in der Anfangszeit, von einigen in der jüdischen Bevölkerung mit Stolz gesehen worden. Überdies seien darin durchaus Männer tätig gewesen, die ehrlich bemüht waren, zum Wohle der Gesellschaft im Ghetto zu arbeiten. Person kann sich in ihrer Arbeit auf eine Unmenge von Selbstzeugnissen der Ghettobevölkerung stützen. Darüber hinaus schrieben auch die OD-Männer selbst über ihre Arbeit und es sind Tätigkeitsberichte des OD überliefert.

Auf dieser breiten Quellenbasis entfaltet Person die Geschichte des Warschauer OD in zehn systematischen Kapiteln, die sich seiner Gründung, Zusammensetzung und den Aufgaben, der Rolle von Gewalt und Korruption, der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie seiner Mitwirkung in den zentralen Phasen der Geschichte des Ghettos widmen. Verhasst waren die OD-Männer der Bevölkerung laut Person bereits vor den Deportationen, da sie für jene Bereiche verantwortlich waren, die den Interessen der Menschen im Ghetto zuwiderliefen. Von ihrer Arbeit war nahezu die gesamte Ghettobevölkerung unmittelbar oder mittelbar und oft existenziell betroffen. Eine Meinung über die OD-Männer hatte aus diesem Grund jede und jeder und diese fiel in der Regel vernichtend aus.

Mit dem 22. Juli 1942 verschärfte sich die Konstellation in jeder Hinsicht, denn SS und Polizei begannen mit den Deportationen der Warschauer Jüdinnen und Juden in das Vernichtungslager Treblinka. Der Ordnungsdienst war hierin auf Befehl der Deutschen erheblich involviert: Die OD-Männer wurden gezwungen, Männer, Frauen und Kinder aufzuspüren und zum Umschlagplatz zu schaffen, der zentralen Sammelstelle, an der die Züge abfuhren. Weigerten sie sich oder konnten nicht genügend Menschen ausfindig machen, drohte ihnen selbst die Deportation. Das hatte zur Folge, dass nicht wenige OD-Männer unnachgiebig und äußerst brutal agierten; andere nutzten die Gelegenheit, sich zu bereichern. Im Kontrast dazu berichtet Person aber auch von OD-Männern, die sich dieser Aufgabe verweigerten und sich stattdessen selbst den Menschen am Umschlagplatz anschlossen. Person breitet das gesamte Spektrum der Kritik am Wirken des OD eindringlich vor den Leserinnen und Lesern aus und schildert dessen letztlich tragische Rolle während der Deportationen beeindruckend nüchtern und abwägend. Ihre gut lesbare Studie setzt Maßstäbe für dringend notwendige Untersuchungen zum Ordnungsdienst auch in anderen Ghettos, vor allem in den offenen oder geschlossenen Ghettos in kleinen Städten und Ortschaften.

Alle drei Bücher schöpfen aus dem Vollen einer reichhaltigen Quellenüberlieferung zu den drei Großstadtghettos Warschau, Krakau und Lodz. So sind sie wichtige Beiträge zu einer Erfahrungs- und Alltagsgeschichte des Holocaust. Anhand der zentralen Themen Hunger, medizinische Versorgung und Ordnungsdienst verweisen sie zugleich auf weiterhin bestehende Forschungslücken, die umso größer werden, je weiter man sich von den Metropolen und Großstädten entfernt und in die Ghettos der Provinz schaut. Während hier noch eine Menge Grundlagenforschung zu leisten ist, zeigen die Studien von Ciesielska, Person und Sinnreich die Bandbreite der agency der Menschen in den Ghettos, ihre Beweggründe und Strategien, ebenso wie manche Gegensätze und Konflikte in den Ghettogesellschaften auf.

Anmerkungen:
1 Andrea Löw, Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006; Markus Roth / Andrea Löw, Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung, München 2023; Yisrael Gutman, The Jews of Warsaw 1939–1943. Ghetto, Underground, Revolt, Brighton 1982; Anna Hájková, The Last Ghetto. An Everyday History of Theresienstadt, Oxford 2020; Barbara Engelking / Jacek Leociak, Getto warszawskie. Przewodnik po nieistniejącym mieście, Warszawa 22013; engl.: The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City, New Haven 2009; Adam Sitarek, Otoczone drutem państwo. Struktura i funkcjonowanie administracji żydowskiej getta łódzkiego, Łódź 2015; engl.: „Wire Bound State“. Structure and Functions of the Jewish Administration of the Łódź Ghetto, Łódź 2018; Philip Friedman, The Jewish Ghettos of the Nazi Era, in: Jewish Social Studies 16 (1954), vol. 1, S. 61–88; Isaiah Trunk, Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation, New York 1972.
2 Carlo Alberto Haas, Das Private im Ghetto. Jüdisches Leben im deutsch besetzten Polen 1939 bis 1944, Göttingen 2020; Svenja Bethke, Tanz auf Messers Schneide. Kriminalität und Recht in den Ghettos Warschau, Litzmannstadt und Wilna, Hamburg 2015.
3 Maria Ciesielska, Lekarze getta warszawskiego, Warszawa 2017; Katarzyna Person, Policjanci. Wizerunek Żydowskiego Służby Porządkowej w getcie warszawskim, Warszawa 2018.
4 Myron Winick (Hrsg.), Hunger Disease. Studies by the Jewish Physicians in the Warsaw Ghetto, New York 1979; Marta Janczewska, Starvation Research in the Warsaw Ghetto, in: Astrid Ley / Esther Cuerda-Galindo / Maria Ciesielska (Hrsg.), Medical Care and Crimes in German Occupied Poland, 1939–1945, Berlin 2022, S. 64–77.
5 In jüngster Zeit widmete Alicja Jarkowska-Natkaniec dem Krakauer Ordnungsdienst ein ausführliches Kapitel in ihrer Studie über Kollaboration von Juden in Krakau. Vgl. Alicja Jarkowska-Natkaniec, Wymuszona współpraca czy zdrada? Wokół przypadków kolaboracji Żydów w okupowanym Krakowie, Krakau 2018, S. 143–203. Svenja Bethke beleuchtete den Ordnungsdienst und seine Rolle bei der Kriminalitätsbekämpfung in den Ghettos Warschau, Lodz und Wilna. Vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 124–162. Andrea Löw hat den Ordnungsdienst im Ghetto Lodz in einem Aufsatz beleuchtet. Vgl. Andrea Löw, Ordnungsdienst im Ghetto Litzmannstadt, in: Paweł Samuś / Wiesław Puś (Hrsg.), Fenomen getta łódzkiego, 1940–1944, Łódź 2006, S. 155–167.

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