Mittwoch, 01. Mai 2024

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Benjamin Balint: "Kafkas letzter Prozess"
Warum ein Koffer Jahrzehnte lang die Justiz beschäftigte

Es ist einer der berühmtesten Koffer der Literaturgeschichte: der Koffer, mit dem Max Brod 1939 aus Prag floh - mit Manuskripten seines Freundes Franz Kafka. Er war Gegenstand eines Jahrzehnte dauernden Rechtsstreits. Der Journalist Benjamin Balint hat jetzt ein Buch darüber geschrieben.

Stefan Koldehoff im Gespräch mit Dina Netz | 11.04.2019
Benjamin Balint: "Kafkas letzter Prozess" / Zu sehen ist das Buchcover und eine Manuskriptseite des Romans "Der Prozess"
Unter anderem das Manuskript des "Process" befand sich in dem Koffer, um den sich "Kafkas letzter Prozess" drehte (Cover: Berenberg Verlag / Foto: dpa / picture alliance / Sophia Kembowski)
Die Schließfächer, um die sich die israelische Nationalbibliothek und eine dort lebende Familie seit einigen Jahren erbittert streiten, liegen tief unter der Erde und Tausende Kilometer entfernt: im Tresorraum einer Schweizer Großbank unter der Bahnhofsstraße in Zürich. Hierher war vor einem halben Jahrhundert, aus Angst vor Krieg in Israel, nicht nur der Nachlass des Schriftstellers, Kritikers und Kafka-Freundes Max Brod gebracht worden. Hier liegen auch jene Handschriften und – kaum bekannt – kleinen Zeichnungen, die ihm Kafka geschenkt oder hinterlassen hatte: Briefe, Kurzgeschichten und Manuskripte wie jenes zum "Process", das 1988 bei einer Auktion das Deutsche Literaturarchiv Marbach ersteigerte, der "Beschreibung eines Kampfes" oder der "Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande".
Was von Kafkas Hand stammt, gehört allerdings nicht zum Nachlass von Max Brod: Dieser hatte die Dokumente noch zu Lebzeiten, Anfang der 1950er-Jahre, seiner Sekretärin Ilse Ester Hoffe geschenkt und das auf den Mappen, in denen die Autografe aufbewahrt wurden, auch jeweils handschriftlich vermerkt: "Dies ist Eigentum von Ester Hoffe". Schenkungsurkunden mit Ort und Datum, an denen es eigentlich keinen Zweifel geben kann.
Israel betrachtet Kafka als jüdischen Autor
Warum der Staat Israel und die Erben von Ilse Ester Hoffe trotzdem jahrelang vor Gericht um den Inhalt der Schließfächer gestritten haben, beschreibt der amerikanisch-israelische Journalist Benjamin Balint in seinem Buch "Kafkas letzter Prozess". Der Staat betrachtet Kafka vor allem als jüdischen Autor, dessen Nachlass deshalb nach Israel gehöre. Dass der Schriftsteller – der Sprache gar nicht mächtig – versucht habe, Hebräisch zu lernen, sei ein Beleg dafür. Kafka starb allerdings, lange bevor Israel gegründet wurde; zionistische Äußerungen sind von ihm nicht bekannt. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das mit den Hoffe-Erben über einen Ankauf verhandelt hatte, sei der falsche Ort, hieß es bei den Gerichtsverhandlungen: Schließlich seien verschiedene Verwandte von Kafka von den Nationalsozialisten ermordet worden. Entsprechend urteilte das Oberste Gericht Israels im August 2016 in letzter Instanz: Alle Unterlagen aus den Schließfächern seien an Israel herauszugeben.
Balint beschreibt den Konflikt neutral und sachlich und greift nur gelegentlich zu weit aus, wenn er das literarische und persönliche Umfeld der Beteiligten – von Kafka bis zu den Hoffe-Erben – arrondiert. Wenn er Position bezieht, dann eher für die Familie Hoffe. Ob der Staat Israel das Urteil zu seinen Gunsten allerdings in der Schweiz wird umsetzen können, kann auch Balint nicht beantworten. Kafkas letzter Prozess ist noch nicht beendet.
Benjamin Balint: "Kafkas letzter Prozess".
Aus dem Englischen von Anne Emmert,
Berenberg Verlag, Berlin. 336 Seiten, 25 Euro.