K. Schlögel u. a. (Hrsg.): Das Schicksal der russischen Juden

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Titel
Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden. Eine Debatte in Berlin 1922/23


Herausgeber
Schlögel, Karl; Tschäpe, Karl-Konrad
Erschienen
Berlin 2014: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
762 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

In den frühen 1920er-Jahren diskutierten angesehene jüdisch-russische Emigranten in Berlin, der vorübergehenden „Hauptstadt des russischen Exils“ (S. 11), eindringlich über das Verhältnis von Judentum und Russischer Revolution, um der in der Öffentlichkeit verbreiteten Gleichsetzung von Juden und Bolschewisten entgegenzutreten. Wesentliche Texte dieser Debatte, die auch der Selbstverständigung der emigrierten Juden diente, werden in dieser Edition endlich wieder zugänglich. Karl-Konrad Tschäpe war für die editorische Betreuung zuständig und präsentiert auch den umfangreichen biografischen Anhang zu 15 Personen, die in der Debatte eine Rolle spielten. Karl Schlögel, der bereits mit mehreren Werken zur russischen Emigration hervorgetreten ist, verfasste eine ausführliche Einleitung, die wichtige Aspekte der Debatte erläutert und in größere Kontexte einordnet.

Den meisten Raum nimmt der Abdruck von Texten Daniel Samoilowitsch Pasmaniks (1869–1930) ein: einen Aufsatz von 24 Seiten im Sammelwerk des 1923 gegründeten „Vaterländischen Verbandes russischer Juden im Ausland“, der 1925 erschien, und sein 1923 veröffentlichtes Buch „Die Russische Revolution und die Judenheit“ mit rund 300 Seiten. Der Arzt Pasmanik war Anhänger des „synthetischen Zionismus“ – der Verbindung von politischer Arbeit für eine „Heimstätte“ des jüdischen Volkes und einer praktischen Siedlungstätigkeit in Palästina – geworden, setzte sich jedoch nachdrücklich für die rechtliche Gleichstellung der Juden in Russland und für eine Verbesserung ihrer sozialen Lage ein. Nicht-zionistische sozialistische Gruppierungen wie den Jüdischen Arbeiterbund bekämpfte er schon früh. Im Bürgerkrieg nach der Revolution von 1917 unterstützte er die Weiße Bewegung, im Bolschewismus sah er die größere Gefahr für die Juden als in der politischen Rechten. Das stieß auch unter vielen nicht-kommunistischen Juden auf Ablehnung. Für die Zukunft erstrebte er „eine aufgeklärt-zivilisierte und/oder konstitutionelle Monarchie“ (S. 708). Seine provokanten Ausführungen machen die Problematik, vor denen die jüdisch-russischen Emigranten standen, besonders deutlich.

Das wichtigste Argument Pasmaniks wie auch anderer Autoren im Sammelwerk des „Vaterländischen Verbandes“ ist die Befürchtung, dass die Gleichsetzung von Juden und Bolschewisten neuen Antisemitismus erzeuge, der sich verhängnisvoll auswirken werde. Deshalb müsse man mit allen Mitteln die Sowjetmacht bekämpfen und für einen neuen starken Staat in Russland eintreten. Die Autoren fühlen sich der russischen Kultur, die die Juden mitgeschaffen hätten, eng verbunden und wollen auch das einheitliche Imperium erhalten. Dass so viele Juden im Sowjetapparat vertreten seien, erkläre sich aus der Geschichte. Aber man müsse dem Eindruck entgegentreten, dass diese die Mehrheit der russischen Juden darstellten. Obwohl der Antisemitismus ein entscheidender Grund für das Scheitern der Weißen im Bürgerkrieg gewesen sei, bleibe nichts anderes übrig, als mit diesen gegenrevolutionären Kräften zusammen ein neues Russland aufzubauen.

Der „Vaterländische Verband“ war nicht der einzige Sprecher russischer Juden in der Emigration. Andere wie der Ökonom Boris Dawidowitsch Bruzkus (1874–1938), der Statistiker Jaakow Leschtschinski (1876–1966) oder der Literaturkritiker Juli Isajewitsch Aichenwald(1872–1928) argumentieren bei aller Kritik am Bolschewismus wesentlich differenzierter. Streitpunkte sind die Bewertung der Pogrome gegen Juden, aber auch die Einschätzung der Russischen Revolution selbst, die nicht nur Nachteile für die jüdische Bevölkerung, jedoch eine vollständige soziale Umschichtung gebracht habe. Der „intellektuelle und humane Mittelpunkt“ der Debatte, die Juden aus dem östlichen Europa in Berlin führten, war der Historiker Semen Markowitsch (Šimon Mejerovič) Dubnow (1860–1941). Schlögel bezeichnet deshalb dieses Berlin als „Dubnovs Haus“ (S. 67). Bei ihm „als Kommunikator und Netzwerker“ versammelte sich „die russisch-jüdische Welt jenseits der Grenzen Russlands“ (S. 71). Dubnow war ein entschiedener Gegner des russischen Kommunismus und lehnte die Beteiligung von Juden am Sowjetapparat ab, bekämpfte aber ebenso entschieden eine Zusammenarbeit mit der Weißen Bewegung. Somit gehörte er auch zu den schärfsten Kritikern Pasmaniks und des „Vaterländischen Verbandes“.

In seiner Einleitung ordnet Schlögel die Debatte zusätzlich in den Bezugspunkt „Vor dem Holocaust, nach dem Holocaust“ ein (S. 73). Die Kritik von Juden an den Bolschewiki und die nationalsozialistische Feindbildkonstruktion, die sich dieser Kritik bedient habe, müssten auseinander gehalten werden. Schlögel fordert, die Juden nicht nur als Opfer, sondern ebenso als Handelnde zu sehen, und die jüdischen Prägungen auch bei denjenigen zu untersuchen, die sich selbst nicht mehr als Juden verstanden hätten. Nach dem Holocaust und der Emigration zahlreicher Juden in der Endphase der Sowjetunion – „das Ende des russischen Judentums“ scheine gekommen zu sein (S. 77) – sei nun der richtige Zeitpunkt gegeben, an der damaligen Debatte anzuknüpfen und sie zu historisieren. Russland und die Ukraine seien zwischen 1917 und Mitte der 1920er-Jahre „Schauplatz einer Blüte jüdischer Kultur“, einer „jüdischen Renaissance“ gewesen (S. 83), bis dann die Umschichtungsprozesse und politischen Veränderungen „das Ende der jüdischen Lebenswelt“ bedeutet hätten (S. 85). Die Identifikation vieler Juden mit der Sowjetmacht sei schließlich in der antisemitischen Kampagne während des Spätstalinismus zerbrochen und habe eine neue „Suche nach der eigenen jüdischen Identität in Gang“ gebracht (S. 90). Schlögel widerspricht sich hier selbst. Die „jüdische Lebenswelt“ war offenbar nicht untergegangen, sondern hatte sich gegenüber ihren traditionellen Kennzeichen grundlegend verändert und wandelte sich nun erneut. Jedenfalls – und hierin ist Schlögel zuzustimmen – ist es heute notwendig, die Gedanken jener Menschen mit „in Stil und Haltung unüberbotenen Zivilität und Modernität“ wieder zur Kenntnis zu nehmen, die in einer produktiven „Spannung zwischen Jüdischsein und Russischsein“ die „Idee von einer ‚russischen Judenheit’“ verkörperten (S. 94).

Zu bedauern bleibt, dass Schögel und Tschäpe aus dem breiten Spektrum der Debatte lediglich ein Segment dokumentieren. Zwar gibt es hier durchaus unterschiedliche Akzente und Schattierungen, und es handelt sich wahrlich um eine gewichtige und besonders aufschlussreiche Stimme. Aber die Widersacher des „Vaterländischen Verbandes“ verdienen es ebenfalls, so präzise sie Schlögel auch referiert, im Zusammenhang gelesen zu werden. Gewiss sind Dubnows Erinnerungen jetzt leicht zugänglich, doch längere Auszüge hätten in Verbindung mit Texten anderer Autoren, die derzeit nur unter großen Mühen beschafft werden können, den Leserinnen und Lesern einen vertieften Einblick in die Argumentationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln verschafft.

Hier und dort fällt auf, dass die letzte Koordination zwischen den Herausgebern gefehlt hat. So schreibt Karl Schlögel, bei Pasmanik habe schon früh seine „gegen die jüdische Arbeiterpartei der Poalej Zion gerichtete Haltung“ festgestanden (S. 35). Hingegen stellt Karl-Konrad Tschäpe fest, dieser habe „als einer der ersten ein theoretisches Programm für die jüdische Arbeiterpartei ‚Poalej Cion’ (Arbeiter Zions)“ ausgearbeitet (S. 702). Derartige kleine Flüchtigkeiten lassen sich bei einer zweiten Auflage leicht beseitigen. Begrüßenswert wäre es dann auch, wenn einleitend ausführlicher auf die Anfänge einer Idee einer „russischen Judenheit“ während der Zarenzeit eingegangen und zudem die Lage der Juden in Sowjetrussland nach der Revolution ausführlicher dargestellt werden könnte. Dies gäbe den Leserinnen und Lesern Hilfen an die Hand, die Debatte in den frühen 1920er-Jahren mit mehr Hintergrundwissen zu verfolgen.

Insgesamt liegt eine Dokumentation von hohem Wert vor. Ihr ist zu wünschen, dass sie zahlreiche neue Forschungen zur jüdischen Lebenswelt und Kultur sowie zu den Bedingungen während der ersten Jahre nach der Russischen Revolution in Sowjetrussland wie im Exil anregen kann.

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