D. J. Hecht: Zwischen Feminismus und Zionismus

Cover
Titel
Zwischen Feminismus und Zionismus. Die Biographie einer Wiener Jüdin. Anitta Müller-Cohen (1890-1962)


Autor(en)
Hecht, Dieter J.
Reihe
L'HOMME Schriften 15
Erschienen
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele-Maria Schorn-Stein, Rüsselsheim

Das Interesse an der jüdischen Geschichte in Österreich, im konkreten Fall der Geschichte der jüdischen Frauenbewegung, hat in den letzten Jahren zugenommen. Ausgewiesene Kennerinnen der jüdischen Frauengeschichte, wie beispielsweise Margarete Grandner, Michaela Raggam-Blesch oder Elisabeth Malleier, haben sich intensiv dieser Thematik gewidmet. 1 Der österreichische Historiker Dieter J. Hecht, der sich in den letzten Jahren wiederholt mit der jüdischen Geschichte und hier speziell mit der jüdischen Frauenbewegung auseinandergesetzt hat, versucht mit seiner Biografie „Zwischen Feminismus und Zionismus. Die Biografie einer Wiener Jüdin. Anitta Müller-Cohen (1890-1962)“ eine Forschungslücke zu schließen.

Für den Autor erwies sich das Auffinden einer anlässlich des XIV. Zionistischen Weltkongresses im Jahr 1925 entstandenen Schallplattenaufnahme einer Rede von Anitta Müller-Cohen als prägende Erfahrung. Die Originalstimme, die auf der dem Buch beigelegten CD zu hören ist, ist ein rares zeitgeschichtliches Dokument und führte für Hecht zu einer Hinterfragung ihres bis dahin entstandenen Persönlichkeitsbildes (S. 16). Davon ausgehend zeichnet Dieter Hecht das Einzelschicksal einer der Protagonistinnen der österreichischen Frauengeschichte nach, wobei er vorausschickt, dass es sich bei seiner Arbeit nicht um eine chronologische Darstellung des Lebens von Anitta Müller-Cohen handelt, sondern vielmehr um eine thematisch strukturierte Biografie, wobei ihm die Themen Feminismus, Sozialarbeit, Politik, Journalismus und Zionismus als Untersuchungsachsen dienen (S. 14). Erwartet der Leser detaillierte Informationen über das Privatleben der Anitta Müller-Cohen zu erhalten, so wird im Verlauf der Studie rasch deutlich, dass dies aufgrund fehlender Privatkorrespondenz und der daraus resultierenden schwierigen Quellenlage nur ansatzweise möglich ist (S. 15).

Was war nun die Intention der Studie? Die Antwort findet der Leser in der Einleitung (S. 13ff.): Der Anlass über eine der außergewöhnlichsten jüdischen Frauenrechtlerinnen des beginnenden 20. Jahrhunderts eine Biografie zu schreiben war, so der Autor, die Erkenntnis, dass der einstigen Bekanntheit von Anitta Müller-Cohen eine Leerstelle im heutigen wissenschaftlichen Diskurs gegenüberstand (S. 13). Um diese Lücke zu schließen, versuchte Dieter J. Hecht mit dem ihm zu Verfügung stehenden Quellenmaterial und der Unterstützung der noch lebenden Töchter von Anitta Müller-Cohen, Ester Aharoni und Ruth Efrati, unter Einbeziehung des historischen Kontextes Einblick in die jüdische Frauengeschichte Österreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu geben. Dabei stellte insbesondere der Nachlass von Anitta Müller-Cohen eine einzigartige Quelle zum jüdischen Frauenleben in Österreich vor 1938 dar; Hecht wurde allerdings von Müller-Cohens Nachkommen nur eingeschränkter Zugriff auf diesen Quellenbestand gewährt (S. 15).

Die Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass auf anschauliche Art und Weise das Leben der Anitta Müller-Cohen, insbesondere ihre verschiedenen politischen Aktivitäten im Rahmen der Frauenbewegung, dargestellt werden. Müller-Cohen zählte zu ihren Lebzeiten zu den vermutlich bekanntesten jüdischen Frauen Wiens. Innerhalb weniger Jahre avancierte sie zu einer führenden Sozialdemokratin, Politikerin, Feministin, Journalistin und Zionistin (S. 13). Der Autor schildert in neun Kapitel die einzelnen sozialen und politischen Aktivitäten der Anitta Müller-Cohen bis in das Jahr 1934, als Müller-Cohen mit ihrem zweiten Mann Samuel Cohen und ihren Kindern nach Zwischenstationen in Luxemburg 1929 und London 1932 nach Palästina auswanderte, um dort nach zionistischen Grundsätzen leben zu können (S. 29). Eine der zentralen Fragestellungen von Hechts Studie ist, inwiefern der Zionismus das Leben der Anitta Müller-Cohen als Frauenrechtlerin, Politikerin und als jüdische Frau geprägt hat (S. 16).

Innerhalb der Studie nehmen Kapitel zwei „Die Familie Rosenzweig, Müller und Cohen“ (S. 43-63) und Kapitel fünf „Die Zionistin und Politikerin“ (S. 157-220) einen besonderen Stellenwert ein. Dort erfährt der Leser, wie bereits in der Kindheit der Grundstein für Müller-Cohens späteres sozialpolitisches Engagement gelegt wurde und wie stark der jüdisch-liberale Sozialpolitiker Julius Ofner (1845-1924), ein Freund der Familie, ihre Weltanschauung beeinflusste. Dieser engagierte sich stark für die Frauenemanzipation (S. 45).

Dieter J. Hecht kommt in seiner Biografie zu dem Ergebnis, dass Anitta Müller-Cohens vielfältiges Schaffen mit der Vernichtung des österreichischen Judentums durch die Nationalsozialisten in Vergessenheit geriet (S. 289). Trotz mancher Anfeindungen, wie etwa seitens der Antizionistin Bertha Pappenheim, der Gründerin des Jüdischen Frauenbundes in Deutschland, verfolgte Anitta Müller-Cohen ihre Berufung als Frauenrechtlerin und Politikerin konsequent. Als Wiener Gemeinderätin oder als Mitglied der Jüdisch Nationalen Partei konnte sie ihre Rolle als Verfechterin der Frauenrechte ausüben, als überzeugte Zionistin engagierte sie sich für Kriegsflüchtlinge aus der Bukowina und Galizien und für die Kinderfürsorge (S. 79; S. 92-99). Ihr vielseitiges Wirken, so folgert Hecht, zeigt die verschiedensten Lebenskonzepte für Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf (S. 289) und bietet somit die Gelegenheit, durch die Nachzeichnung ihres Lebens Leerstellen in der jüdischen Frauengeschichte zu schließen (S. 290).

Kritisch anzumerken ist, dass der Eindruck entsteht, der Autor habe es sich zur Aufgabe gemacht, jede einzelne damals existierende jüdische Organisation und deren jüdische Bezeichnung aufzuführen, auch wenn diese nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit Anitta Müller-Cohen standen (S. 146ff.). Dazu kommen zum Teil inkorrekte biografische Angaben, wie etwa zu Theodor Herzl, dem Begründer des politischen Zionismus, der nicht, wie Dieter J. Hecht schreibt, von1880 bis 1904 lebte, sondern von 1860 bis 1904 (S. 29). 2 Ungeachtet dessen stellt Dieter J. Hechts Werk einen wichtigen Beitrag zur Verankerung der Geschichte jüdischer Frauen im politischen Bewusstsein heutiger Feministinnen in Österreich dar und macht neugierig auf die von ihm bereits angekündigte Fortsetzung der Darstellung des weiteren Lebensweges von Anitta Müller-Cohen, die mit 72 Jahren am 29. Juni 1962 in Tel Aviv verstarb.

Anmerkungen:
1 Zum allgemeinen Verständnis siehe hierzu: Margarete Grandner / Edith Saurer (Hrsg.), Geschlecht, Religion und Engagement. Die jüdischen Frauenbewegungen im deutschsprachigen Raum 19. und 20. Jahrhundert, L’Homme Schriften 9, Wien 2005.
2 Michael Brenner, Geschichte des Zionismus, München 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension