Chr. Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie

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Titel
Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich.


Autor(en)
Tilitzki, Christian
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
1473 S. in 2 Bd.
Preis
€ 165,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christoph Rauh, Institut für Philosophie, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Keine wissenschaftliche Disziplin (außer natürlich die Geschichtswissenschaften selbst und vielleicht noch die Theologie) wurzelt so sehr in ihrer eigenen langen Geschichte, wie die Philosophie. Insofern gehört die Geschichte der Philosophie, bei aller besonderen lehr- und forschungsbezogenen Eigenständigkeit, immer schon von vornherein mit zur Gesamtheit von Philosophie überhaupt und deren Grundverständnis. Allein letztere bildet daher auch deren eigentliche theoretisch-geschichtliche Substanz und Wahrheit, wie wir vor allem seit Hegel, von ihm ebenso dargestellt, wissen. Ihre Geschichte ist somit selbst immanent philosophisch bestimmt, setzt also stets ein jeweiliges Philosophieverständnis, um nicht zu sagen definitiven Begriff von Philosophie voraus. Und man muss ihr, dem eigentlichen philosophischen Denken also, auch nicht noch zusätzlich irgendeine reduziert „einzelwissenschaftliche“, besondere personen- oder institutionenbezogene bzw. allein politisierende Geschichtlichkeit äußerlich irgendwie anzuhängen versuchen, auch wenn sie das scheinbar sehr sensationell-biografisch zu „beleben“ scheint. - Auf Diogenes Laeartios, der erklärten philosophischen Klatschbase der Antike: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, reduziert sich ja bekanntlich auch nicht unser eigentliches Wissen und Verständnis griechisch-antiker Philosophie.

Christian Tilitzkis unbeschreiblich empirisch-materialreiche (zweibändig, insgesamt 1475 Seiten) Darstellung der deutschen Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich versucht, angesichts einer solch eindeutig realgeschichtlichen Einbindung wie genauen ereigniszeitlich angesetzten Jahresbegrenzung 1919 bis 1945 (vor allem einleitend, aber auch ebenso uneingeschränkt durchgeführt): Das Verhältnis von Philosophie und Politik (so lautet zwar nicht hauptüberschriftlich der eindeutig realisierte, aber dennoch so nicht ausgesprochene Gesamtbuchtitel des voluminösen Zweiteilers!) in Deutschland zwischen 1918 und 1945 wesentlich personenbezogen bzw. biografisch aufzuklären und dies vor allem möglichst komplett archivarisch-aktenkundlich zu belegen. Fast schon „enzyklopädisch“ universitätsamtlichen Bericht erstattend, werden alle fachphilosophischen Habilitanten und schließlich berufenen Lehrstuhlinhaber dieser Jahre karrieremäßig erfasst und teilweise hinsichtlich ihrer damalig aktuell-politischen Bekundungen nunmehr uneingeschränkt aktenmäßig vorgeführt. Ohne diese erklärte Einschränkung aufs letztendlich Politisch-Institutionell-Personale wäre wohl eine solch beeindruckende Umfänglichkeit und Vollständigkeit, bei aller einsetzbaren modernen computertechnischen Speicherkapazität immer noch erstaunlich, sicher nicht möglich gewesen. Doch wie gesagt: eine derartig umfassende philosophische Namensliste des vormaligen Philosophie-Lehrkörpers aller deutschen Universitäten ergibt natürlich noch keine eigentliche Philosophiegeschichte derselben.

Auf jeden Fall betrifft Tilitzkis wesentlich personalgeschichtliche Darstellung aber in einer bestimmtem Hinsicht ohne Frage eine vielschichtig aufgereihte Gesamtheit deutscher Philosophie in der 1. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, sofern diese weniger werk-, ideen- oder auch lehrfachgeschichtlich, sondern vor allem „universitätspersonalistisch“ einen ganz bestimmten Personenkreis deutscher Intelligenz betrifft, der sich auf philosophischem Gebiet damals promovierte, habilitierte und privat dozierend schließlich lehrstuhlgerecht staatsverbeamtet berufen, derartig universitätsphilosophisch existierend, vor allem hinsichtlich seiner politischen Ansichten und Aktivitäten so zeitbezogen „ausgeschnitten“ bzw. historisch eingeschränkt „relativiert“ in Betracht gezogen wird. Aber jene reduziert sich als solche trotzdem nicht, erstmalig nun also als fortlaufend kurzgefasste „Personalakte“ ausgewertet und dokumentiert, wesentlich keineswegs auf diese ihre allein personaluniversitätsinstitutionelle Realisierung als Habilitationsvorgang und/oder Berufungsgeschehen. Denn eine derartig dokumentierte Personifizierung von Philosophie macht nicht schon wirklich ihre eigentliche Substanz, Wahrheit und Geschichte aus. Und auch als Universitätsphilosophie reduziert sich diese schließlich in keiner Weise vordringlich und ausschließlich auf das Verhältnis von Philosophie und Politik oder gar nur auf die Berufungspolitik im Fach Philosophie 1919 bis 1932 bzw. zwischen 1933 und 1945, wie die zwei großen Werk-Hauptteile A und B der Gesamtdarstellung daher überschriftlich völlig korrekt auch nur heißen können.

Der große daraus resultierende Anspruch soll (nach Einleitung, S. 28: Allein Ernst Noltes philosophiehistorische Studien!) offenbar und erklärterweise völlig neue Perspektiven für eine Historisierung(!?) der neueren Philosophiegeschichtsschreibung (S. 15) eröffnen. F.-R. Hausmann fragte schon völlig zurecht in einer früheren Rezension (SZ vom 19. 4. 2002), ob sich eine Fachgeschichte, in diesem Fall universitätsgeschichtlich gesehen also des Lehrfaches Philosophie, tatsächlich allein auf dieses, fast nur immer aktuell zeitgeschichtlich vermittelte Verhältnis von Philosophie und Politik, hier letztlich sogar nur noch „personalpolitisch“ ausgeführt, derartig philosophisch reduziert bzw. verkürzt auffassen und darstellen lässt.

Denn auch der umfängliche Anhang enthält zusammengedrängt auf 100 Seiten nochmals nichts anderes als „nur“ ein Verzeichnis der politisch-weltanschaulichen (!) Lehrveranstaltungen deutscher Philosophiedozenten zwischen dem WS 1918/19 und dem SS 1945. Spätestens an dieser Stelle fragt man sich schließlich, wie und warum sich eine solche eindeutig zeitweilige Politisierung von Philosophie, sozusagen „weltbürgerkriegerisch“ (wiederum nach E. Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, Berlin 1987) seit 1914-18 bzw. 1919 scheinbar so „überraschend“ aufbauen konnte und dann mit/nach 1945 auch schon wieder so „schlagartig“ vollkommen verschwinden sollte (sieht man von der besonderen nachkriegsostdeutschen, nochmals, nun aber „total“ politideologisierten Philosophie-Entwicklung in der SBZ/DDR hier einmal ab). Mit dem immer wieder kolportierten rechtsphilosophischen Hinweis auf Hegel: „so ist auch die Philosophie, Ihre Zeit in Gedanken gefaßt“ (1820), lässt sich jedoch ganzheitliche („historisierte“?) bzw. interdisziplinäre Philosophiegeschichtsschreibung nicht einmal umfänglich sozial- bzw. kulturgeschichtlich konzipieren und darstellen.

Dennoch bleibt Tilitzkis durchgängig exemplarisch zusammengesuchte Einblendung von Kommentare(n) zum Zeitgeschehen gerade wegen dieser anhaltend einschneidenden Phase deutscher Geschichte, eine sehr bemerkens- und anerkennenswerte Leistung. Und dies gerade weil die politische Seite neuester deutscher Philosophie tatsächlich solange verschwiegen und verdrängt bzw. oft genug auch nur sehr pauschal und immer noch ziemlich undifferenziert abgehandelt wurde und wird. Stellenweise ergibt das wahrlich eine erschreckend verspätete bzw. nun doch noch nachholende „Entnazifizierung“ zweier Philosophiegenerationen, die ja nach 1945 fast vollständig und zumeist ganz ungebrochen (offiziell mehr oder weniger politisch „bereinigt“) zumindest in Westdeutschland weiter, keineswegs etwa nur „rein“ universitätsphilosophisch wirksam blieb. Ihre heute schon wieder in zwei weiteren Nachfolgegenerationen führenden bundesdeutschen Universitätsphilosophen müssten sich eigentlich an diese ihre akademischen Lehrer der Nachkriegszeit (aber vielleicht gerade so überhaupt nicht!?) insgesamt oder im Einzelfall doch noch sehr gut erinnern.

In einer früheren Selbstanzeige des Autor heißt es ankündigend wie zusammenfassend zum Gesamtvorhaben dieser Publikation: „Den vielschichtigen Interdependenzen zwischen Philosophie und Politik, der Rolle der Philosophie als Repräsentant und Opponent des Zeitgeistes in der Epoche des Weltbürgerkrieges (!), geht die Untersuchung auf drei Ebenen nach: 1. institutionsgeschichtlich - gestützt auf erstmals für die Arbeit ausgewertete Quellen der Staats- und Universitätsarchive - mit der Frage nach der Personalpolitik (Berufungen, Habilitationen), 2. biografisch - unter Heranziehung einiger hundert Personalakten - in der Erfassung des persönlichen politischen Engagements in Hochschule, Parteien und Verbänden, und 3. ideengeschichtlich anhand der - von wechselseitiger Durchdringung des Prinzipiellen und Aktuellen geprägten - publizistischen Kommentare zum Tagesgeschehen zwischen Versailler Vertrag und nationalsozialistischer „Neuordnung Europas“ während des Zweiten Weltkrieges“ (Verlagsankündigung 2000, S. 22).

Damit ist ziemlich eindeutig angekündigt, hinlänglich komplex erklärt und dann auch ebenso konsequent von Tilitzki durchgeführt, worum es bei dieser, sich ganz offensichtlich teilweise aus der bisher so erfolgreich angelaufenen Wissenschaftsgeschichte wie auch allerneuesten Universitätsgeschichtsschreibung herleitenden Historisierung der neueren Philosophie-Geschichtsschreibung (natürlich nun aktuell in sehr polemischer Verdächtigung - da wird dann schon mal von „vermeintlich ideologiekritische Geisterbahnfahrt durch die Geschichte“, S. 913 gesprochen - wie auch prinzipieller Abgrenzung von jeder vorangegangenen marxistischen, oftmals tatsächlich problemgeschichtlich einseitigen, weil dominant ideologisch-klassenkämpferischen Aufarbeitung derselben, aber keineswegs gerade nur durch Lukacs bis Haug) nun also forschungs-„perspektivisch“ handeln soll.

Dem Rezensenten ist es angesichts der wahrlich erschlagenden personalen Materialfülle (es werden ja gerade nicht nur die allbekannten „Meisterdenker“ des Jahrhunderts nochmals universitätsphilosophisch, also kurzbiografisch-aktenkundlich vorgestellt - das sollte anerkennend nicht genug hervorgehoben werden, und dagegen kann es tatsächlich überhaupt keinerlei sachunkundige Polemik geben!) dennoch hier nur möglich, ebenso aufzählend zu referieren, worum es bei dieser mehrhundertfachen biografisch-chronologischen Abfolge der Berufungen und Habilitationen von fast 400 Philosophiedozenten 1919/45 (Ich selbst habe das aber nicht etwa nochmals wirklich nachgezählt!) insgesamt gesehen bzw. eigentlich dann doch wiederum nur universitätsstädtisch bzw. institutsgeschichtlich, neben- und nacheinander geordnet geht. Grundsätzlich bedeutsam ist, dass Tilitzki sich nicht nur auf die Besetzung aller traditionsreichen deutschen universitätsphilosophischen Lehrstühle beschränkt, sondern ebenso gründlich und umfassend wohl erstmalig auch die fachphilosophischen Berufungen an den Technischen Hochschulen in Deutschland seit 1925-32 erfasst.

Dennoch muss man sich informationshalber die jeweils drei- bis vierhundertfache, namentlich aufgelistete Philosophenabfolge personenbezogen, oftmals mehr als mühselig fortlaufend nachschlagend über das kleinstgedruckte Namenregister und die sowie schon politisch reduzierte Primär-Literaturliste aneignen, in der jedoch nun die universitätsphilosophisch eigentlich relevanten Promotions- und Habilitationsschriften bzw. -daten gerade nicht mehr vorkommen, ebenso wenig wie die einfachsten Ecklebensdaten der betreffenden Philosophen. Und da hilft bei aller, von Tilitzki sicher zu Recht festgestellten „Unvollständigkeit“, dennoch ziemlich grundlos abgelehnte, übersichtlich alphabetisch geordnete Philosophenabfolge des fast gleichen (NS-)Zeitraums von G. Leaman, im handlichen Argument-Sonderbändchen Nr. 205: „Heidegger im Kontext“, Hamburg 1993, dann doch immer noch am schnellsten weiter!

Was wird nun aber entsprechend der allgemeinen Grundorientierung zum Verhältnis von Philosophie und Politik hinsichtlich der A. Berufungspolitik im Fach Philosophie 1919-1932 (I. bis 1924; II. ab 1925) derartig zeitlich klassifizierend ausgeführt? Da ist nach der schon genannten, relativ kurz gehaltenen konzeptionellen Einleitung (S. 15-39) sofort und unvermittelt die Rede von 1. Politische Rahmenbedingungen (S. 43ff.), und zwar hinsichtlich der weltanschaulich-politischen Positionen der „Alt“-Ordinarien (1.1.) bzw. nicht beamteten Professoren und Privatdozenten (1.2.), die wiederum jeweils weitergehender politisch-ideologisch (um nicht zu sagen parteipolitisch) ausdifferenziert werden in: 1.1.1. Liberale, Sozialliberale, Sozialidealisten; 1.1.2.„Zentrumsphilosophen“ und 1.1.3. Deutschnationale und völkische Rechte. Allerdings wird diese merkwürdige politologische Zuordnung - da kommen dann aber an anderer Stelle noch Sozialisten bzw. Sozialdemokraten hinzu - nur bei Habilitationen so konsequent aufgeführt, während die Berufungen dieses Zeitraumes letztendlich doch nur eine universitätsstädtisch geordnete Abfolge ergeben (auf entsprechende Namenszuordnungen soll jedoch hier generell verzichtet werden!). Diesen Personal-Teil A 1919/32 abschließend werden III. ausgewählte Kommentare zum politischen Zeitgeschehen (S. 353ff.) wiederum von 1. Sozialidealisten, Katholiken und Liberale zur Innen- und Außenpolitik der Weimarer Republik/Deutschlands sowie 2. die Sammlung der Deutschnationale(n) und völkischen Rechte(n) in der Deutschen Philosophischen Gesellschaft (S. 473ff.) referiert. Exemplarisch für diese, völlig zu Recht nicht länger auszuklammernde „NS-Vorzeit“ bis 1933 wird sodann 3. noch Alfred Baeumlers Weg vom „Konservativen Revolutionär“ zum Nationalsozialisten (S. 545ff.) vorgestellt. Diese zwar direkt politisch-philosophischen Abschnitte gehören, tatsächlich auch philosophiegeschichtlich konkretisiert, ohne Frage zu den interessantesten Abschnitten der Gesamtdarstellung.

Und das setzt sich ebenso strukturiert im Teil B. Berufungspolitik zwischen 1933 und 1945, in dem wiederum „jahreszeitlich“ rein politikgeschichtlich, sicher bei der Gesamtanlage des Buches zum Verhältnisses von Philosophie und Politik nicht ganz ungerechtfertigt (Philosophie-immanent hingegen durchaus ganz anders denkbar!), an diese beiden letztendlich auch für die deutsche Universitätsphilosophie jener Zeit, in einer bestimmten Hinsicht einschneidenden, weil „hochpolitisch“ ungemein folgenschwere Ereignisjahre 1933 bzw. 1939 und 1945 unabdingbar eingegrenzt, unterschieden werden: I. Die Lehrstuhlbesetzungen von 1933-1939 (S. 595ff.) und II. Die Berufungspolitik während des Krieges 1939-1945 (S. 769ff.). Und wiederum wird (zumindest bei B/I) vorangehend, also nach der so genannten „Machtergreifung“ bzw. „Gleichschaltung“, mit dem aktuell politischen Tagesgeschehen begonnen. Denn nun geht es sofort um demonstrative Parteieintritte auch von Universitätsphilosophen in die NSDAP zwischen dem 30. Januar und 1. Mai 1933, wie natürlich fortlaufend danach, sowie um das Bekenntnis (auch von, uns späterhin allbekannten Philosophie-)Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat mit dem 1. philosophischen „Führerrektor“ Heidegger an der Spitze! Und alle Lehrstuhlbesetzungen wie Habilitationen jener Jahre vollziehen sich nunmehr grundsätzlich nach einem nationalsozialistisch veränderten 1. institutionelle(n) und rechtliche(n) Rahmen (S. 595ff.), der wie folgt von Tilitzki gegliedert wird: 1.1. Das Reichswissenschaftsministerium, seine hochschulpolitischen Konkurrenten und Widersacher (gemeint sind hier vor allem das Partei-Wissenschafts-“Amt Rosenberg“ und der NS-Reichsdozentenbund), 1.2. Das gesetzliche Instrumentarium nationalsozialistischer Personalpolitik (Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sowie die Reichs-Habilitations-Ordnung) und 1.3. Die ersten Entlassungswellen zwischen 1933 und 1935, der natürlich weitere Entlassungen (Zwischenbemerkung 4.1., S. 664ff.) folgen sollten.

Wie Tilitzki genaustens dokumentiert, erfolgen unter diesen neuen NS-Bedingungen nach 1933 durchaus fortlaufende Neuberufungen, insbesondere auch auf vorangehend schon „entjudedter“ bzw. nun zu „arisierenden“ („artdeutschen“) Philosophie-Lehrstühle sowie mit Kriegsbeginn auch in einigen „reichsheimkehrenden“ (österreichischen) Universitätsstädten. Dennoch vollziehe sich insgesamt gesehen, ein fortlaufender Abbau der traditionellen universitären Philosophie-Lehrstühle in Deutschland bis 1939, danach kriegsbedingt sowieso, wie Tilitzki immer wieder vermerkt (so zusammenfassend S. 850/51). Bis auf ganz wenige, tatsächlich vereinzelt konsequent entnazifizierte Ausnahmen werden jedoch alle bis dahin neuberufenen bzw. sich in diesen Jahren habilitierenden deutschen Universitätsphilosophen nach 1945 wie gesagt zumindest in Westdeutschland weiter in ihrem Philosophie -Lehramt verbleiben, was jedoch schon nicht mehr Gegenstand von Tilitzkis Analyse sein konnte; alle diesbezüglichen Personalien enden praktisch , sozusagen zeitgeschichtlich „abgeschnitten“ mit diesem welt-geschichtlichen Jahreseinschnitt des „Kriegsendes 1945“, offenbar ebenso schlagartig politisch „bereinigt“ bzw. dann gesetzlich geschützt “archiviert“ und so für etwa ein halbes Jahrhundert zeitgeschichtlich gut „aufgehoben“ weggelegt, aber eben nicht erledigt „aufgearbeitet“.

Die zum Teil B (1933/45) unter III. aufgeführten Kommentare zum Zeitgeschehen (S. 913ff.) betreffen (wiederum nur überschriftlich aufgezählt): 1. Die „Hochschulrevolution“ 1933/34; 2. Alfred Baeumlers Beitrag zur NS-Wissenschaftspolitik; 3. Philosophische Gesellschaften im Widerstreit zwischen Rust und Rosenberg; 4. Kommentierung der NS-Rasenideologie und Rasenpolitik; 5. Kommentare zu Ideal und Wirklichkeit des Führerstaates; 6. Kommentare zur Außenpolitik des Dritten Reiches. Auch diese genau 250 Textseiten erweisen sich wiederum als entscheidend für das Verständnis der Rolle deutscher Philosophen während der NS-Zeit, also ihrer vielfältigsten Einbindung wie auch direkten Beteiligung und Mitwirkung keineswegs nur bei der zeitweiligen Etablierung besonderer NS-philosophischer Projekte und Institutionen: sei es nun die Neuerarbeitung eines umfassenden Philosophen-Lexikons (das jedoch bereits 1937 scheiterte), die Durchführung einer besonderen Philosophentagung des NS-Hauptamtes Wissenschaft (Rosenberg) 1939 in Buderose, die abschließend noch versuchte Nutzung der „Kant-Studien“ zu NS-kriegsideologischen Zwecken oder die erschreckend antisemitische Nazifizierung des bekannten Krönerschen Philosophischen Wörterbuches in seiner 10. Auflage 1943 (Hoffmeisters Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, 1944 ganz ebenso).

Abschließend wird dann auch noch der fast schon unausweichlich erscheinende Philosophische Kriegseinsatz deutscher Philosophie-Professoren u.a. zur Bekämpfung der bolschewistischen Weltgefahr sowie des „Weltjudentums“ dokumentiert; universitär etabliert wurden jedoch auch reguläre Forschungs-, Lehr- und Berufungsgebiete zur Wehr- und Kriegsphilosophie. Von der Herausbildung einer eigenständigen NS-Philosophie könne jedoch auch nach Tilitzki trotzdem wohl nicht so ohne weiteres gesprochen werden; dieser Zeit ging es schlicht und ergreifend um eine neue praktikable NS-Weltanschauung bzw. akademisch vor allem aber um Politische Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Biologie usw.

Allein dieser abschließende, sehr konzentriert geschriebene und ungemein informative Großabschnitt würde für sich allein schon eine ausgezeichnete Kurzfassung der deutschen (politischen) Philosophieverhältnisse während der NS-Zeit darstellen. Und ebenso enthält praktisch Tilitzkis Gesamtdarstellung der deutschen Universitätsphilosophie jener Jahre, gewissermaßen in sich eingeschlossen fortlaufende/zusammenfassende Kurzgeschichten von mehr als 25 universitären Philosophie-Einrichtungen (s. dazu allein die Angaben zu den S. 1279ff. aufgeführten und vom Autor nicht nur hinsichtlich der Personalakten von Philosophen umfänglich ausgewerteten Universitätsarchive). Überhaupt kann man sich über diese wahrlich unvorstellbar umfangreiche Aktenflut, die Tilitzki offenbar in mehrjähriger intensivster archivarischer Forschungsarbeit zu bewältigen hatte, nur überaus anerkennend verwundern. Es ist ein ganz sicher nunmehr unveräußerliches Handbuch bzw. Nachschlagewerk zur Geschichte der (deutschen) Philosophie des 20. Jahrhunderts daraus geworden (vielleicht die aktuell allerbeste „universitätsphilosophische“ Ergänzung zu Kurt Wuchterls entsprechendem „Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts“, Darmstadt 1995), auf das man bei weiteren philosophischen Fragen speziell dieser Zeit 1918-45 erfolgreich personalbezogen wie institutionengeschichtlich nachschlagend zurückgreifen wird können; denn fortlaufend durchlesbar ist hier m.E. sowieso nichts.

Vielleicht sollte man vorab oder auch post festum überhaupt nur den Buchtitel Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich richtig lesen und deuten, um erst gar keinen „falschen“ bzw. unangebrachten universitätsphilosophischen Leseerwartungen zu erliegen. Denn von ersterer im eigentlich akademischen, rein geistesgeschichtlichen Sinne, also über ihr substantielles, begrifflich-theoretisches Sein und Werden ist kaum die Rede, aber um so mehr vordergründig über ihr universitätsinstitutionelles und sowie primär zeitgeschichtlich bestimmtes, aktuell politisches Dasein und Existieren in fast vollständiger personaler Abfolge während der Jahre 1919-45. Setzt man ersteres substantiell und ideengeschichtlich einfach nur voraus und versteht diese zusätzliche „Historisierung“ der neueren Philosophiegeschichtsschreibung so „perspektivisch“ richtig, dann hat Tilitzkis vielleicht (und ich bin mir da fast sicher!) ein einmaliges und bleibendes, aber sicher nicht beispielgebendes wie nachahmenswertes Standardwerk zur neueren deutschen Philosophiegeschichte erarbeitet und vorgelegt.

Eine ernstliche Erhebung der gut 25-jährigen Geschichte deutscher Universitätsphilosophie dieser Jahre jedoch mit einem derartig nichts sagenden, letztlich wohl auch völlig wirkungslos gebliebenen „nachrichtendienstlichen“ SD-Bericht über die politisch-weltanschauliche (!) Einstellung deutscher Universitätsphilosophen (BAP/ REM 49.01, Nr. 12444) von 1941/42 einleitend (S. 15f.) zu beginnen, ähnelt irgendwie in erschreckender Weise dem inzwischen „nachwendisch“ üblich gewordenen DDR-aufarbeitenden Verfahren, einer lediglich politisch-ideologische Verrechnung ihrer fast doppelt so langen Entwicklung, mit einer ganz analogen „streng geheimen“, ebenso personenbezogenen Stasi-Analyse der Feindtätigkeit innerhalb der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz (SAPMO-BA J IV 2/202/16) anzusetzen, was z.B. W. Mittenzwei in seiner ganz ähnlich material- wie namensreichen zeitgeschichtlichen Darstellung Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945-2000 (zeitgleich Leipzig 2001 bzw. Berlin 2003 erschienen) gerade nicht bewerkstelligt. Man kennt diese politikwissenschaftliche „Außenansicht“, dazu noch ganz ohne jede ostdeutsche Archivöffnung, schon von N. Kapferers „kaderphilosophischem“ Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945-1988 (Darmstadt 1990). Tilitzki standen nach 1991 nicht nur alle deutschen Staatsarchive, sondern ebenso erstmalig wieder gesamtdeutsch insgesamt (15) Universitätsarchive mit ihren entsprechenden professoralen Personalakten und Vorlesungsverzeichnissen zur Verfügung. Dies alles gründlichst ausgewertet und verarbeitet zu haben, ist wie gesagt überhaupt kein Kritikpunkt dieser Rezension. Und möglicherweise erweist sich Tilitzkis Vorgehens- und Darstellungsweise sogar zeitweilig als konzeptionell durchaus tragfähig, weil zumindest zeitgeschichtlich-biografisch ungemein informativ und aufregend. Aber solche Art politischer Einteilungen der deutschen Universitätsphilosophie gewissermaßen einem SD-Bericht „nachzustellen“, stimmt schon etwas nach(be-)denklich, denn fachphilosophisch bedacht oder politisch wirksam scheint das alles nicht allzu relevant gewesen zu sein.

Ebenso wenig stellen natürlich keine der lediglich jahreszahleinteilend, irgendwie „historisieren-periodisierend“ (?) angesetzten Daten 1919-1925-1933-1939-1945 überhaupt ein markantes Datum (Einschnitt oder Knotenpunkt) innerphilosophischer Entwicklung in Deutschland dar; sie dienen dem Autor offensichtlich wohl auch der rein quantitativen Materialbewältigung.

Dennoch, die deutsche Universitätsphilosophie jener, ohne Frage realpolitisch ungemein ereignisreichen wie folgenschweren Zeit, besonders natürlich die von 1933/45, thematisch rückbezüglich darauf eingeschränkt bzw. extern vor allem politikwissenschaftlich gesehen (das ist auch fachwissenschaftsgeschichtlich hinsichtlich des universitären Lehrfaches Philosophie m.E. keineswegs so vertretbar!), mag durchaus seine erklärbare „besondere“ Berechtigung haben (vor allem bezogen auf zeitgeschichtlich ausgesprochen bedeutsame Ereignisse/Phasen realer Politik und die darin entsprechend eingebunden agierenden Personen/Philosophen), lässt aber gerade intern, d.h. tatsächlich philosophiegeschichtlich betrachtet, deren eigentlich fachspezifischen bzw. systematischen Fragestellungen mehr oder weniger zwangsläufig außen vor bzw. in ihrer geistigen Eigenbewegung wie besonderen fachphilosophischen Begrifflichkeit (durchaus historisch 11-bändig gesehen!) weitgehend unberücksichtigt.

Bei einer allein regionaluniversitätsbezüglichen Darstellung der Philosophieentwicklung einer Universität, so wie z.B. noch von Max Wundt 1932 m.E. modellhaft In ihrem geschichtlichen Verlaufe für die Universität Jena dargestellt (gerade diese wird aber im umfänglichen, offenbar wiederum wesentlich politikbezogenen Literaturverzeichnis eigenartigerweise gar nicht erst aufgeführt) wäre das natürlich undenkbar und universitätsphilosophiegeschichtlich aus meiner Sicht gesehen einfach untragbar; von einem allein politbiografischen Abriss eines einzelnen Universitätsphilosophen (auch und gerade wenn es sich dabei z.B. seit Jahren immer wieder modellhaft um Heidegger handeln sollte!) hier einmal vollständig abgesehen. Jedoch Tilitzki führt uns gerade das in einer schon fast unglaublichen Totalschau sozusagen gleich 400-fach, letztlich jedoch dadurch wiederum nur nichts sagend verkleinert oder stark vergröbert vor!

Nicht das ich (noch dazu selbst aus der DDR-Philosophie und ihrer ebenso belastenden Ideologisierung herkommend!) dieses politisch-weltanschauliche Auflisten der deutschen Universitätsphilosophie dieser Zeit derartig umfänglich empirisch dokumentiert, nicht irgendwie als solches nachvollziehen könnte. Es entgeht aber in seiner konkreten Ausführung bei Tilitzki trotzdem nicht der unabwendbaren Gefahr einer sich „wissenssoziologisch“ bzw. „ideologiekritisch“ wiederholenden „schlechten“ Selbst-Politisierung oder gar erneut „falschen“ Ideologisierung. Sicher nicht mehr in einem so vulgär-marxistischen, “klassenkämpferischen“ Sinne, dafür aber nun parteien- und institutionsgeschichtlich bzw. „politbiografisch“ bis „charakteranalytisch“ ausgerichtet. Es gibt aber keine derartig unvermittelte Identität (also Ableitung, Reduzierung, Ineinssetzung usw.) von Philosophie - Politik und Personen in der deutschen Universitätswirklichkeit selbst jener NS-Jahre, also auch nicht von philosophischer Lehre, Forschung und Publikation mit Tagespolitik, wofür Tilitzki ja selbst in zahlreichen Einzelfällen - gewollt oder unbeabsichtigt - erstaunliche (erschreckende wie erfreuliche) empirische Belege liefert.

In keiner Weise ist damit etwas gegen eine - will man die Philosophie nicht länger als so genannte „reine“ Geisteswissenschaft (Was sie nach Schnädelbach nicht ist; und so sollte sie tatsächlich auch in der Darstellung nicht 1933 enden!) auffassen und darstellen - z.B. sachgerechte sozial- bzw. kulturgeschichtliche Auffassung und Darstellung derselben ausgesagt, ganz im Gegenteil! Aber das setzt wie gesagt natürlich ein ganz bestimmtes, ja unabdingbar immer auch schon selbst wesentlich philosophisch-geschichtlich bestimmtes Philosophieverständnis voraus. Es kann durchaus so sein, dass man sich bei einer demgegenüber bloß politikwissenschaftlich-historischen Behandlung der Universitätsphilosophie meint, scheinbar darum nicht weiter kümmern zu müssen. Doch unter zunehmender „Historisierung“ der laufenden/aktuelleren Philosophiegeschichtsschreibung würde ich in einem etwas traditionellen Hegelschen (aber keineswegs „geistesphilosophischen“!) Sinne (was hier nicht erläutert werden kann) dann doch etwas anderes (auch und gerade universitätsphilosophiegeschichtlich!) verstehen wollen.

Da es bei der vorliegender personalemprischen Materialfülle natürlich ganz und gar unmöglich ist, das realisierte Konzept einer nur philosohisch-politischen bzw. politisch-weltanschaulichen (das wechselt terminologisch oftmals bei Tilitzki hin und her, wird daher begrifflich auch nicht weiter streng unterschieden, geschweige denn fachphilosophisch irgendwo definiert; es kommt offensichtlich ganz unreflektiert aus dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch selbst, z.B. S. 625) Betrachtungsweise von Universitätsphilosophie (und eigentlich dann auch nur dieser) grundsätzlich zu überprüfen, so sei es zumindest lebenszeitlich begrenzt von 1933-1945 und personell-exemplarisch am „Jahrhundert-Philosophen“ Hans-Georg Gadamer (1900-2002), dem wahrscheinlich nicht nur ältesten, sondern beim Abfassen und Erscheinen von Tilitzkis Mammutwerk gerade noch einzig lebenden Altphilosophen aus dem behandelten Zeitraum 1918-1945 angeführt, worin eine solche politphilosophische Herangehensweise (Analyse und Bewertung von Umständen und Aktivitäten) von universitärer Philosophie bzw. genauer eines sich zeitgleich entwickelnden Universitätsphilosophen jener Jahre der Weimarer Republik und des Drittes Reiches allein mit Tilitzki betrachtet und beschrieben, nun tatsächlich besteht.

Wir setzen dazu alle Lebensdaten ebenso wie sein eigentliches philosophisches Denken, Werk und Wirken einfach (so wie Tilitzki dies natürlich auch nicht anders tut) als weitgehend bekannt voraus. Doch was bleibt dann an eigentlicher universitätsphilosophischen Substanz noch übrig? Das offenbaren recht deutlich, sich durch beide Teilbände gleichermaßen hindurch ziehende, mehr als 30 Registerereintragungen bzw. Namenserwähnungen Gadamers, die chronologisch nachgeschlagen und kurz gefasst folgendermaßen aussehen (und das geht nur so abgehackt-verkürzt vonstatten, weil es selbst so und nicht anders bei Tilitzki steht!).

Aufgeschlagen S. 340: gehörig zu einer habilitierten Dozentengruppe (3.5.) Politisch Indifferente (Marburg 1929), die ihren Lehrstuhl nach 1933 erhielten; S. 624f.: mit Kroners Vertretung 1934/35 in Kiel beauftragt; aber wegen seines „Platon-Buches“ keine Empfehlung von Baeumler für die Kieler Berufungsliste; S. 654: „anschauliches Beispiel dafür, welche äußeren Kompromisse jüngere, fachlich qualifizierte Dozenten [...] eingehen mußten, um die politische Erwartungen an den Nachwuchs zu erfüllen“; S. 663: „Cramer gelang es auch nicht, mit Unterstützung auswärtiger Gutachter , zu denen Gadamer zählte (v. 20. 6. 1943), seine Ernennung durchzusetzen.“; S. 692: als Dreiervorschlag mit Böhm und Metzke zur Nachfolge von Karl Jaspers (1937 in den Ruhestand versetzt) in Heidelberg; S. 695ff.: 4.2.7. Königsberg und Leipzig 1938: Die Berufungen von Arnold Gehlen und Hans-Georg Gadamer (Vorschlagsliste Nachfolge Gehlen in Leipzig, zusammen mit Haering und Lipps): „Bei allen Kandidaten fanden die politisch aktualisierten Aspekte ihrer Publikationen Bedeutung [...]“ (S. 697) und weiter: doch „Leider ist der entsprechende Bericht über Gadamer (dieser war erster Nachkriegsdirektor in Leipzig, Rh.) nicht überliefert [...] Der SD notierte 1941, daß Gadamer kein Parteigenosse, aber auch kein Gegner des Nationalsozialismus sei. Politisch farblos, ohne Aktivität und Einsatzbereitschaft, nur NSV-Mitglied, gehöre er in die Gruppe der „Indifferenten“ unter den deutschen Philosophen“ (S. 698); S. 705: wurden “auch mit Gadamer und Bollnow weniger potentielle Exponenten einer plakativ-rhetorischen „Nazifizierung“ des Faches ausgewählt“; S. 742: Bezug nehmend auf eine diesbezügliche Anfrage spricht Tilitzki von einer „zwischen Gadamer und Ebbinghaus vermutlich „abgekarteten“ fachlichen Anerkennung“ des Habilitanten Klaus Reich in Rostock 1939; S. 753: erneute Erwähnung in einer Aufzählung von 13 Dozenten, die nach 1933 ihren Lehrstuhl erhielten; S. 812ff.: Ein „tendenzielles ministerielles Desinteresse an der Philosophie [...] gefährdete die geplante Berufung Gadamers (nach Marburg). Vor allen anderen hatte Heidegger ihn der Kommission empfohlen. Er beurteilte den verfügbaren Nachwuchs nach seiner Vertrautheit mit griechischem Denken. Neben Gadamer zählte deshalb für ihn allein sein Schüler Walter Bröcker.“(S. 818), „Den demnach unzeitgemäßen Gadamer, der auch um den Preis finanzieller Einbußen zur Rückkehr bereit war, schlug die Fakultät mit der Begründung vor, er werde in Marburg neben wissenschaftlicher auch „politisch-geistige Aufbauarbeit“ leisten.“ (S. 813), lediglich in einer richtigstellenden Anmerkung erwähnt Tilitzki Gadamers Mithilfe bei „der Rettung des zur Spionageorganisation (!) „Rote Kapelle“ gehörenden Romanisten Werner Krauss“ 1944 aus Marburg (S. 814); S. 819: 1931/32 hatte Gerhard Krüger „sich mit Gadamer die mit 50 Reichsmark im Monat kärglich entlohnte Hilfsassistenstelle des Marburger Seminars geteilt.“; S. 823f.: Tilitzki bezweifelt Gadamers spätere (1977) lebensrückerinnernde Bemerkung über eine angeblich kriegsbedingt sich mildernde Partei-„revolutionäre Terrorisierung der Universitäten“(Gadamer) “einmal abgesehen davon, dass der Begriff „Terrorisierung“ auch die Verhältnisse vor 1939, als Gadamers eigene Berufung möglich war, kaum angemessen erfaßt“(S. 824); S. 837: gutachterliche Erwähnung zur Jenaer Berufung (Nachfolge Bauch) von Helmut Groos 1944; S. 852: erneute Heranziehung des so genannten SD-„Philosophen-Report“ 1941/42, der alle deutschen Philosophiedozenten qualifizierte und einteilte in :„Konfessionell Gebundene“, „Liberale“, „Indifferente“(unter den 25 Genannten also auch Gadamer), „Politisch positive Professoren“, und „Nationalsozialistische Philosophen“; S. 854: weitere Nennung in einer anderen, von Baeumler verschiedenen, nicht-nationalsozialistischen Philosophengruppe; S. 905f.: Gutachten zur Habilitation (mit einer Cusanus-Studie) von Volkmann-Schluck 1944/45 in Leipzig; S. 909: „Gadamers Staunen über die Intensität anscheinend zeitentrückten Philosophierens mitten im Schlachtenlärm (!) hätte sich wohl (noch) steigern lassen, wäre ihm das Ende“ eines anderen parallel laufenden Habilitationsverfahrens von Otto Hagelstein in Frankfurt Anfang 1945 zu Ohren bekommen; S. 913: Nicht vermeintlich „ideologiekritisch“ gesehen, „ist es aber eine Banalität, festzustellen, dass „Affinitäten“ zwischen den Staatsideen Sprangers, Gadamers oder Litts einerseits und den nationalsozialistischen Staatstheoretikern [...] andererseits auszumachen sind“; S. 921: Tilitzki in einer Anmerkung (nochmals dann S. 1126) kritisch zu Orozcos „Platonische Gewalt“ bzw. über „Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit“ (Hamburg 1995), „die sich mit den politischen Implikationen von Gadamers Plato-Deutungen zwischen 1933-36 befaßt“; S. 1011: „Gadamer weise auf „bemerkenswerte Weiterführungen aristotelischer Lehre“ bei Thomas von Aquin hin“; S. 1075: „Neuere Studien, etwa zu Freyer, Spranger oder Gadamer, bieten Material genug, um solche (undifferenzierten, angeblich NS-konformen Auffassungen zum Führerstaat, Rh.) zu revidieren.“; S. 1125ff.: zu einer „Kriegseinsatzarbeit“ Gadamers 1942: Platos Staat der Erziehung! (S. 1126), zu Gadamers außen- bzw. europapolitischen Positionen in seinem Herder-Vortrag 1941 in Paris und ein Aufsatz “Der europäische Mensch“ vom Dezember 1944 (S. 1127); S. 1134: Gadamer zu „Volksindividualität“; S. 1165f.: „Lediglich einige Monographien zu prominenten Philosophen wie [...] Gadamer sind inzwischen erschienen“; S. 1219: Belege für Gadamers „politisch-weltanschaulichen Lehrveranstaltungen deutscher Philosophen“:1932 zu Jaspers Schrift „Die geistige Situation der Zeit“ (1931); S. 1221: 1932/33 „Die Idee der Universität ( Vorlesung und Diskussion über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Hochschule)“; S. 1225: 1933/34 zu „Staat und Kunst (Einführung in die Ästhetik)“; S. 1250: 1938/39 zusammen mit Volkmann-Schluck zu „Hegels Geschichtsphilosophie und ihre Wirkungen“; S. 1260: SS 1941 zu Nietzsche „Wille zur Macht“ (der Nihilismus und seine Überwindung); S. 1262: 1941/42 zu Kunst und Geschichte (Einleitung in die Geisteswissenschaften); S. 1263: 1942 zu Platon; S. 1172: 1945 zu Platos Staat; S. 1315/16: im Literaturverzeichnis Gadamers „politisch-weltanschaulich relevanten Texte“; S. 1412: Gadamer Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt am Main 1977.

Selbstverständlich ist es im Rahmen einer solchen Rezension völlig unmöglich, dem Autor auch noch wohlmeinende Verbesserungsvorschläge oder Ratschläge zu erteilen; ebenso lässt die von Tilitzki gesichtete und verarbeitete archivale Materialfülle kaum eine ernsthafte/sachgerechte Überprüfung selbst im Einzelnen zu. Da jedoch Tilitzki im Fällen von Urteilen wie beim Austeilen von Kritik bei kleinlichsten formalen wie inhaltlichen Unrichtigkeiten stets mit spitzer Feder bzw. schneller Computertaste agiert, so sei es dem Rezensenten abschließend doch noch erlaubt, ihm auf einem einzigen universitätsregionalen Gebiet, das er etwas übersieht, nämlich dem der Greifswalder Universitätsphilosophie und eines ihrer Hauptrepräsentanten, die Tilitzki selbstverständlich auch alle vor Ort biografisch, institutionell und politisch-weltanschaulich erfasst hat, etwas genauer überprüfend „nachzubessern“, was hier aber auch nur stichpunktartig aufzählend absolviert werden kann.

Also allein zu Günther Jacoby (1881-1969), dem wohl wichtigsten Greifswalder Universitätsphilosophen der letzten 150 Jahre: Dass dessen wissenschaftlicher Nachlass in der UB Tübingen „bis heute wenig oder gar nicht beachtet“ wurde (S. 35), stimmt nur z.T. (1. Publikation 1993, die Tilitzki selbst auch auf S. 273 aufführt). Und ebenso wenig befindet sich Hans Pichlers Nachlass in irgendeiner „Privathand“ (ebd.), wie man leider gerüchteweise in Greifswald immer noch herumerzählt; er ist schlicht und einfach nach 1958 in unsachgemäßen Händen verblieben und so gar nicht mehr existent. Im Zusammenhang mit der kurzgefassten Berufungsgeschichte von Pichler 1921 nach Greifswald ist zwar in einer Anmerkung (Nr. 241, S.104) von Jacoby kurz die Rede, nicht aber auf S. 106, wie „fälschlicherweise“ im Namensregister angegeben.

Was die tatsächlich etwas verworrene und nirgends korrekt erfasste (am allerwenigsten aber vom „Betroffenen“ selbst, der dies ständig von sich aus ganz unsachgemäß „veränderte“!) Berufungsgeschichte von Jacoby betrifft, so gelangte dieser 1937-45 (Zeit seiner Zwangsberentung) überhaupt nur auf Extraordinariat (ungenau S. 72), wie dann von Tilitzki S. 272ff. korrekt ausgeführt, und erst nach der „Befreiung 1945“ durch sowjetrussischen Befehl (ähnlich wie Hans Leisegang in Jena) endgültig auf einen vollwertigen „Lehrstuhl“, was Jacoby aber in den nachfolgenden Vorlesungsverzeichnissen fortlaufend, schließlich sogar bis auf 1919 einfach zurück- bzw. „vordatieren“ ließ! Unsere eigenen Jacoby-Forschungen betrafen bisher vor allem Jacoby und die Anfänge der DDR-Philosophie (hinsichtlich seiner Denkschrift 1955), was tatsächlich noch „kaum etwas zu(seine)r Biographie vor 1945 beiträgt“(S. 273, Anm. 328). So ganz „fälschlich“ wird dabei jedoch von Rauh keineswegs auf dessen „erwiesene antifaschistische Vergangenheit“ verwiesen (ebd.). Tilitzki fand allerdings vor allem im Briefnachlass von Gerhard Lehmann nach 1933 ff. auch noch „andersartige“, leider direkt antisemitische Äußerungen von Jacoby, die uns bisher so einfach nicht zugänglich waren.

Jacoby in den Jahren 1910-18 derartig gezielt und umfassend in „kulturpolitischer Auslandsmission“(S. 272) zu sehen, scheint wahrlich überzogen, denn die Einladungen kamen wegen seiner ungewöhnlichen „Pragmatismusschrift“ von 1909 zunächst allein aus den USA; alle andere waren (ausgenommen der offiziell-ministerielle Lehreinsatz an der gerade gegründeten Universität Konstantinopel 1915/18) wohl mehr persönliche Vortrags- und Bildungsreisen, weil er zunächst einfach mit seiner mehr literaturwissenschaftlichen als fachphilosophischen Promotion (1907) wie (1909) Habilitation zu Herder keine sofortige Universitäts-Anstellung fand. Sein „Lebenswerk“ (S. 273) heißt auch genauer und vollständig besehen ganz bewusst Allgemeine „Ontologie der Wirklichkeit“(1925/55). Wie fast überall versteigt sich Tilitzki leider auch bei Jacobys Berufungsgeschichte (S. 272ff.) in einer fast unerträglichen bis peinlichen Weise, um nicht zu sagen oberlehrerhaften Begutachtungsmanier, zu charakterlichen Einschätzungen, die nun allerdings herzlich wenig etwas mit dessen sonstigen politischen Ansichten oder gar mit seiner stets ausgesprochen sachbezogenen, weil „subjektfreien“ ontologischen Grundposition zu tun haben. Der den entlassenen Jacoby (schon 1937) und „nicht (voll)arischen“ Pichler 1942 dann lehrauftragsgemäß „ersetzenden“ J. E. Heyde, ein „grundwissenschaftlicher“ Rehmke-Apologet aus Rostock, verließ die SBZ/DDR nicht schon 1948 (S. 894, Anm. 419), sondern erhielt erst 1950 einen Ruf an die TU in West-Berlin. Und Jacobys wichtigster Schüler, Bruno Baron von Freytag Löringhoff wurde von Jacoby nicht erst 1938 (da war dieser doch schon ein Jahr „dienstentlassen“) promoviert (S. 1027, Anm. 1027), sondern promotionsaktenkundlich „richtig gestellt“ bereits schon 1936.

Im „Verzeichnis der politisch-weltanschaulichen Lehrveranstaltungen WS 1918/19 - SS 1945“ (S. 1173ff.) bleibt zumindest hinsichtlich Jacoby (für 1925-1935 insgesamt 5x aufgeführt) m.E. völlig uneinsichtig, was dieselben nun tatsächlich, dem bloßen Titel nach Herders und Kants Kultur-, Geschichts- oder Staatsphilosophie betreffend, mit einer derartig politisierenden Zuordnung tatsächlich zu tun haben könnten oder sollten; ganz davon abgesehen, dass dies wohl generell fast nirgends wirklich dokumentiert oder persönlich überliefert ist. Wenn im Literaturverzeichnis zu Recht Jacobys nachtragender Gedenkartikel zu Pichler von 1963 (S. 1337 bzw. 1419) aufgeführt wird, dann sollte (gerade diese genauer besehen!) ebenso sehr die „Akademische Gedenkrede“ zu Wilhelm Schuppes 100. Geburtstag, Greifswald 1936, unbedingt mit aufgeführt werden.

Es muss hier unterbleiben, dies bei dem wahrscheinlich NS-Parteiältesten (1923!) Greifswalder Philosophen Hermann Schwarz ebenso, keineswegs nur besserwisserisch zu überprüfen, dessen Werkausgabe (1940: Bd.1 Politisch-philosophische Schriften noch dreibändig bis 1945 (!) fortgeführt wurde, und woraus zu dessen 100. Geburtstag 1964 in einem unverkennbar „neuvölkischen“ bzw. neonazistischen westdeutschen Verlag ein merkwürdiger Nachdruck erschien! In „Heidegger und die praktische Philosophie“ hatte Ernst Nolte 1988 in einem sicher auch für Tilitzki richtungsweisenden Beitrag Philosophie und Nationalsozialismus erstmalig überhaupt auf Schwarz aus Greifswald und dessen tatsächlich regelrecht gepredigten mythisch-„theologischen NS“ aufmerksam gemacht.

Der Rezensent kann sich trotz der philosophisch-konzeptionellen Vorbehalte allein den Autor betreffend, abschließend nur noch vorbehaltlos wissenschaftlich anerkennend über dieses so schnell und gründlich, umfänglich und ansehnlich realisierte Publikationsvorhaben des Berliner Akademie-Verlages äußern.

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