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Karrierestrategien jüdischer Ärzte im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Symposium mit Rundtisch-Gespräch zum 200. Todestag von Adalbert Friedrich Marcus (1753-1816)

von Gerhard Aumüller (Band-Herausgeber:in) Irmtraud Sahmland (Band-Herausgeber:in)
©2018 Sammelband 354 Seiten

Zusammenfassung

Adalbert Friedrich Marcus (1753-1816) setzte als bedeutender Mediziner zahlreiche gesundheitspolitische Innovationen durch. Eine Voraussetzung für diese weitreichenden Handlungsoptionen war die Konversion vom jüdischen zum christlichen Glauben. Die Beiträge dieses Bandes verorten Marcus in seinen familiären, gesellschaftlichen und kulturellen Bezügen und Vernetzungen. Im Vergleich mit anderen jüdischen Ärzten der Sattelzeit (Stieglitz, Herz, Wolf, Henle, Stilling, Eichelberg) werden Bedingungen des Wirkens und Strategien der Karriereplanung analysiert. Nicht alle konvertierten, so dass auch der persönliche Stellenwert ihrer Religionszugehörigkeit thematisiert wird. Das Rundtisch-Gespräch zielt auf eine strukturelle Zusammenschau und Bewertung der individuellen Strategien jüdischer Ärzte; sie werden in ihren Bedingungszusammenhängen diskutiert, um zugleich weitere Forschungsperspektiven zu konturieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • Adalbert Friedrich Marcus – Biographisches
  • Adalbert Friedrich Marcus und die Ärzte in seiner Verwandtschaft – Familiärer Hintergrund, schulische und universitäre Ausbildung, wissenschaftliche Orientierung (Gerhard Aumüller)
  • Kulturgeschichtliche Aspekte einer spätabsolutistischen Residenz (Birgit Kümmel)
  • Zur Biographie von Adalbert Friedrich Marcus in seiner Bamberger Zeit (Karin Dengler-Schreiber)
  • Ausbildungswege jüdischer Ärzte
  • Medizinerausbildung am Collegium Carolinum Kassel (Eberhard Mey)
  • Schwierige Wege zum Doktor. Jüdische Medizin-Studenten und akademische Judenfeindlichkeit im 18. Jahrhundert (Halle, Göttingen) (Marian Füssel)
  • Die jüdischen Studenten des Berliner Collegium medico-chirurgicum und die Universität in Bützow (1760–1789) (Hans-Uwe Lammel)
  • Wirkungsfelder und Berufsverständnis jüdischer Ärzte
  • Ärzte jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens im 19. Jahrhundert. Die Lebensläufe von Jacob Henle, Benedict Stilling und Leopold Eichelberg im Vergleich (Werner Friedrich Kümmel)
  • Zwischen Wissenschaft und Halacha – Die Berufsgeschäfte von Marcus Herz und Elcan Isaac Wolf (Christoph Leder)
  • Jüdisch geblieben – aber im säkularen Rahmen. Nicht konvertierte jüdische Ärzte der Zeit um 1800 am Beispiel von Marcus Herz (Eberhard Wolff)
  • Adalbert Friedrich Marcus – strukturelle Einbindungen und Verflechtungen
  • Die Bedeutung jüdischer Hoffaktoren für die Wirtschaft spätabsolutistischer Höfe (J. Friedrich Battenberg)
  • Ärzte, Kaufleute und Verleger – Die Netzwerke der Familie Marcus (Michaela Schmölz-Häberlein)
  • Sozialmedizinische Impulse bei Adalbert Friedrich Marcus und Bernhard Christoph Faust (Irmtraut Sahmland)
  • Rundtisch-Gespräch als Resümee der Tagung
  • Motivation, Strategien und gesellschaftliche Mechanismen beim Statusgewinn jüdischer und nicht-jüdischer Ärzte vor und nach 1800 (Moderation: Mark Häberlein)
  • Angaben zu den Autoren und Autorinnen
  • Reihenübersicht

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Einführung

Vorliegender Tagungsband präsentiert die Erträge eines Symposiums, das anlässlich des 200. Todestages von Adalbert Friedrich Marcus (1753–1816) vom 22. bis 24. April 2016 in Bad Arolsen ausgerichtet wurde, seinem Geburtsort ‒ wie auch der seines Neffen Johann Stieglitz, dessen 250. Geburtstag sich am 31. März 2017 jährte und der sich als kurfürstlich-hannoverscher Leibarzt Ansehen erwarb. Marcus, der – wie Stieglitz – in einer jüdischen Hoffaktorenfamilie zur Welt kam, fand sein Wirkungsfeld später als Leibarzt in Bamberg. Hier entfaltete er vielseitige Aktivitäten. Sie betreffen einerseits innovative und vorausweisende Planungen und Umsetzungen im Bereich der gesundheitspolitischen Daseinsfürsorge, insbesondere die Errichtung eines Allgemeinen Krankenhauses und eines Krankenversicherungssystems für Handwerksgesellen und Dienstboten, durch die er in der Medizingeschichtsschreibung bekannt ist. Sie betreffen andererseits sein weitgespanntes kulturelles Engagement, etwa für das Theater, und die damit erzielte Attraktivität des Kultur- und Geisteslebens in Bamberg. Zog das Krankenhaus als Lern- und Ausbildungsstätte, an dem zugleich die jeweils zeitgenössisch-aktuellen medizinischen Konzepte vertreten wurden, zahlreiche auswärtige Mediziner an, so galt das auf kultureller Ebene für Kunst- und Kulturschaffende, wie etwa E.T.A.Hoffmann. Insbesondere in letzterer Hinsicht ist Marcus in Bamberg in lebhafter Erinnerung, während er im Gedächtnis seiner Heimatstadt wenig präsent ist. Im Rahmen der regionalen Medizingeschichte sollte die Ausrichtung der Tagung in Bad Arolsen an ihn erinnern, was auch durch die Anbringung einer Gedenktafel an seinem noch erhaltenen Geburtshaus unterstrichen wurde.

Die Tagung wurde im weitgehend original aus der Jugendzeit der Protagonisten Marcus und Stieglitz erhaltenen spätbarocken Schreiberschen Haus ‒ annähernd zeitgleich mit deren Geburtshäusern erbaut ‒ durchgeführt, das mit dem benachbarten Christian Daniel Rauch-Museum (dem künstlerischen Werk des ebenfalls aus Arolsen gebürtigen, in Berlin tätigen Zeitgenossen beider Ärzte gewidmet) und der damals wie heute öffentlich nutzbaren Fürstlich-Waldeckischen Hofbibliothek etwas von der kulturellen Aura vermitteln sollte, die das Kindes- und Jugendalter der Protagonisten Marcus und Stieglitz geprägt hat.

Mit dem Untertitel der Tagung: „Bildungsziele und Karrierestrategien jüdischer Ärzte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Medizinhistorische, kulturwissenschaftliche und regionalgeschichtliche Aspekte“ ist die Vielschichtigkeit des thematischen Spektrums aufgerufen, das mit Marcus konnotiert ist. Die Zugangsweisen lassen sich als Einkreisungen beschreiben, die geeignet erscheinen, Marcus ← 7 | 8 → und sein Wirken durch Skizzierung erweiterter Kontexte einerseits sowie durch Vergleiche mit anderen jüdischen Protagonisten andererseits innerhalb struktureller Bedingungen und Gegebenheiten zu verorten. Dazu wurden die Lebensläufe jüdischer Ärzte wie Marcus, Johann Stieglitz, des Berliner Arztes Marcus Herz und anderer exemplarisch ausgewertet und nach allgemeinen Mustern der Karriereorientierung und der Bildungsziele von Ärzten mit jüdischem Hintergrund während der Spätaufklärung und der Reformära befragt. Als paradigmatische Eckpunkte sollten dabei das christliche Umfeld im Spätabsolutismus, die Kindheit und Erziehung im Spannungsfeld von Religion, Haskala und Spätaufklärung, aber auch Förderung und Widerstände während der Schulzeit und des Studiums, der formierende Einfluss einzelner akademischer Lehrer sowie die ärztliche Sozialisation thematisiert werden.

Abschließend wurden diese Ergebnisse zusammenführend diskutiert, um Faktoren zu identifizieren, die möglicherweise von entscheidender Bedeutung für die Lebenswege jüdischer Ärzte in ihren Chancen, Einschränkungen sowie ihren Selbstinszenierungen waren.

Die Beiträge des Bandes sind entsprechend einzelnen Themengruppen zugeordnet.

Der 1. Teil: Marcus – Biographisches stellt Marcus in seiner Biographie entsprechender chronologischer Anordnung vor.

Im Fokus des Beitrages von Gerhard Aumüller stehen die aus den eng verwandten Hoffaktoren-Familien Juda und Stieglitz hervorgegangenen Ärzte Israel/ später Adalbert Friedrich Marcus und Israel / später Johann Stieglitz sowie in der Nachfolgegeneration Carl Friedrich von Marcus und Carl Christian Heinrich Marc. Alle vier wurden erfolgreiche Mediziner, drei von ihnen erhielten eine Anstellung als Leibarzt. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die ihnen verfügbaren Bildungsangebote in ihrer schulischen und universitären Ausbildung, und die Ausführungen gehen der Frage nach, welche Beeinflussungen sie in dieser Lebensphase prägten. Der Beitrag greift damit eine für das ‚pädagogische Jahrhundert‘ naheliegende, gleichwohl bislang in der Forschung kaum näher untersuchte Dimension jüdischer Biographie auf. Wesentlich waren die familiären Ausgangsbedingungen, durch deren kulturell offene, moderne Atmosphäre ihre ambitionierten Ausbildungswege vorbereitet wurden. In der Vätergeneration bedeutend wurde das Korbacher Gymnasium und dessen pädagogische Leitung, die an den zeitgenössischen Diskursen über höhere Bildung unmittelbar partizipierte. An die so geprägte schulische Ausbildung schloss sich jeweils ein Studium an modernen Reformuniversitäten an. Die Konversion zum katholischen bzw. protestantischen Glauben stand im Vorzeichen beruflicher Karriereoptionen, sie wurde möglicherweise aber ← 8 | 9 → auch begünstigt durch den religiös-konfessionellen Druck der theologischen Erzieher, der trotz deren toleranter Haltung von ihnen ausging. Freilich steht jenseits dieser Einflussfaktoren die Dominanz ihrer je individuellen charakterlichen und geistigen Anlagen für die Lebensleistung dieser Ärzte außer Frage.

Birgit Kümmel schildert eindrücklich die kulturell-künstlerisch anspruchsvolle Atmosphäre im kleinen Territorialstaat Waldeck, das sich an internationalen Vorbildern orientierte. Hierbei wird die Rolle der Fürstinmutter Christiane hervorgehoben, die mehrfach interimsweise die Funktion der Statthalterin des Regenten einnehmen musste und eine Anbindung an europäische Kulturstandards anstrebte. Die malerischen und architektonischen Auftragsarbeiten zielten darauf, diesen Bedeutungsanspruch der Residenz des Duodezfürstentums auch ikonographisch symbolisch zu verdeutlichen. Diese kulturell ambitionierte Grundhaltung prägte den Waldecker Hof in Arolsen, überforderte jedoch zugleich dessen finanzielle Möglichkeiten, so dass das Fürstentum um 1780 am Rande des Staatsbankrotts stand.

Karin Dengler-Schreiber widmet sich in ihrem Beitrag der Bamberger Zeit Marcus’ (1777–1816). Nach der erteilten Erlaubnis, eine ärztliche Praxis zu führen, avancierte Marcus bald zu einem der Leibärzte des toleranten Fürstbischofs von Erthal, musste unmittelbar zuvor jedoch zum katholischen Glauben konvertieren. Marcus engagierte sich in vielfältigen Bereichen, wobei er die jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten und politischen Entwicklungen zu nutzen verstand. Neben seinen innovativen sozial- und medizinalpolitischen Reformprojekten hebt der Beitrag insbesondere die Bedeutung des Arztes für die kulturelle und bauliche Entwicklung der Stadt hervor. Auch die private Seite, die Amouren und außerehelichen Kinder des konvertierten Arztes, der gesellschaftlich weithin integriert und anerkannt war, werden thematisiert.

Der 2. Teil: Ausbildungswege jüdischer Ärzte beschäftigt sich detailliert mit einzelnen Settings akademischer Ausbildungsräume, die jüdischen Medizinstudenten offenstanden. Eberhard Mey stellt das Collegium illustre Carolinum in Kassel vor, das Marcus im Anschluss an seine schulische Ausbildung als Vorbereitung auf sein Medizinstudium besuchte. Das Collegium zeigte sich ausdrücklich tolerant gegenüber der Religionszugehörigkeit seiner Studenten, so dass sich unter ihnen, wenn auch vereinzelt, Juden befanden. Der Beitrag konzentriert sich auf die medizinischen Lehrangebote des Collegiums, seine Ausstattung und das Lehrpersonal und bewertet die Einrichtung vor dem Hintergrund der Diskussion und Entwicklung moderner Ausbildungsstandards vor allem in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Da das Collegium auch auf die Aus- und Weiterbildung von Militärchirurgen zielte, beinhaltete es im Vergleich ← 9 | 10 → zur Universität einen verkürzten Studiengang ohne Promotionsrecht, bot aber einen vergleichbaren Lehrstoff.

Hier schließt Marian Füssel an. Er untersucht die akademisch-universitäre Ausbildung am Beispiel der damaligen Reformuniversität in Göttingen, an der auch Marcus sich immatrikulierte und sein Studium mit der Promotion abschloss. Für Juden bestand die einzige akademische Option in einem Medizinstudium, wobei Füssel betont, dass sie zudem auf eine jüdische Gemeinde am Standort angewiesen waren. Im Vergleich Göttingens mit der Universität Halle wird das Aufkommen jüdischer Promotionsabschlüsse verfolgt, wobei sich diskriminierende Elemente im Ritual der Graduierung gegenüber der Promotion christlicher Studenten zeigen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert, so Füssel, flachen diese Unterschiede im akademischen Raum insbesondere infolge inneruniversitärer Transferprozesse deutlich ab.

Unmittelbar anschließend zeigt Hans-Uwe Lammel die Attraktivität auf, die das Berliner Collegium medico-chirurgicum für jüdische Medizinstudenten hatte, das ebenfalls eine Ausbildungsstätte ohne Promotionsrecht war. Manche dieser Studenten führte ihr weiterer Weg an die Universität im mecklenburgischen Bützow. Sie war vor pietistischem Hintergrund errichtet worden und war mit einer Dauer von nur 30 Jahren eine sehr kurzlebige Institution. Auch hier war die dortige jüdische Gemeinde, die Rückhalt und Unterstützung sowie gegebenenfalls Fürsprache bieten konnte, für ein erfolgreiches Studium sehr entscheidend. Diese strukturellen Zusammenhänge werden anhand der Rekonstruktion eines individuellen Fallbeispiels, Marcus Moses, exemplifiziert. Anhand der guten Quellenlage lässt sich hier zudem das Engagement einzelner Mitglieder des universitären Lehrkörpers für die Unterstützung des jüdischen Studenten und deren Motivationen sehr gut aufzeigen.

Der 3. Teil: Wirkungsfelder und Berufsverständnis jüdischer Ärzte erweitert das Blickfeld um weitere Protagonisten und fragt nach der praktischen Arbeit jüdischer Ärzte und ihrem Verhalten zwischen ihrer religiösen Ausrichtung einerseits und medizinischen Lehrmeinungen andererseits, zumal sich zwischen beiden Bereichen durchaus Konfliktpotentiale ergeben.

Werner F. Kümmel bezieht die nächsten 50 Jahre nach Marcus mit ein und stellt neben den beiden vornehmlich im hessischen Raum verorteten Ärzten Benedikt Stilling und Leopold Eichelberg auch Jacob Henle vor, der überregionale Bedeutung erlangte. Das Interesse richtet sich auf die Bedeutung ihres Judentums für ihre Biographie und berufliche Laufbahn. Während Henle bereits als Kind konvertierte, bleiben Stilling und Eichelberg ihrer Religionszugehörigkeit treu. Es wird deutlich, wie sich für diese jüngere Generation Spielräume ← 10 | 11 → für Lebensentwürfe allmählich erweitern, jüdische Ärzte nicht mehr auf eine freie ärztliche Praxis festgelegt bleiben, sondern auch staatliche Ämter für sie erreichbar waren, gleichwohl blieben für sie zum Beispiel Professorenstellen unerreichbar, sofern sie nicht zum christlichen Glauben übertraten. In allen hier vorgestellten Beispielen nehmen die Ärzte eher liberale Positionen ein, wobei zumindest unterschwellig auch weiterhin durchaus Vorbehalte gegen jüdische und ehemals jüdische Ärzte vermutet werden können.

Christoph Leder stellt in vergleichender Absicht den als Leiter des jüdischen Krankenhauses in Berlin wirkenden Marcus Herz und den in Mannheim und Metz praktizierenden Elcan Isaac Wolf vor. Das Erkenntnisinteresse ist auf die Frage der Vereinbarkeit rational-aufklärerischer Prinzipien der Medizin mit halachischen Grundsätzen im jeweiligen Berufsalltag dieser beiden ansonsten kaum Parallelen aufweisenden Ärzte gerichtet. In Bezug auf Herz, der als Anhänger Kants ein aufgeklärtes Verständnis religiösen Glaubens im Sinne einer Vernunftreligion vertrat, zeigt sich, dass sich für ihn – abgesehen von dem Beerdigungsfristenstreit – keine gravierenden ethischen Konfliktlinien zwischen beiden Lebensbereichen ergaben. Ähnliches findet sich auch bei Wolf, der sich in seinem Wirkungskreis an den aktuellen Fragen einer gesundheitsorientierten Lebensweise und Problemen der physischen Erziehung beteiligte. Auch ihm gelang es, die Argumente medizinischer Erfordernisse mit den jüdischen Religionsgesetzen in Einklang zu bringen. Die Vereinbarkeit beider stand für ihn allerdings unter der Voraussetzung, dass die Vorschriften des Glaubens ihrem wesentlichen Geist entsprechend geachtet und befolgt würden.

Der Beitrag von Eberhard Wolff setzt hier weitergehend an, indem er sich ebenfalls auf Marcus Herz konzentriert, um die Bedeutung des jüdischen Glaubensbekenntnisses eines nicht konvertierten Arztes für den Praxisalltag zu hinterfragen. Am Beispiel des Berliner Arztes wird ausgeführt, dass er in manchen privaten Kontexten das religiöse Ritual praktizierte, dass er es aber in Konfliktbereichen zwischen Medizin und jüdischem Glauben – und hier stehen wiederum die Begräbnisvorschriften im Mittelpunkt – medizinischen Erwägungen eindeutig unterordnete. Darüber hinaus war Herz bestrebt, das jüdische Glaubensverständnis im aufklärerischen Zeitgeist neu zu fassen, womit Wolff die Ausführungen von Christoph Leder bestätigt.

Im 4. Teil: Adalbert Friedrich Marcus – strukturelle Einbindungen und Verflechtungen sind Beiträge zusammengefasst, die auf Marcus zurückführend einzelne strukturelle Gemeinsamkeiten, Voraussetzungen, Bedingungen zu beschreiben suchen und damit einen weiteren Zugang zu dessen Lebensentwurf und Wirken ausloten. ← 11 | 12 →

Friedrich Battenberg stellt die Problematik des Hofjudentums vor, aus dem sich insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert die Hoffaktoren und Hoflieferanten rekrutierten. Sie waren typischerweise an zahlreichen territorialstaatlichen Residenzen vertreten, da sie die unter dem Vorzeichen kameralistisch-merkantilistischer Staats- und Wirtschaftsmaximen seitens der Regenten benötigten Geldmittel in Form von Darlehen und Wechseln bereitstellen konnten. Indem sie hierzu ihre weitreichenden kaufmännischen Vernetzungen nutzten, leisteten sie wertvolle Dienste. Die Attraktivität eines Hoffaktorenpatents, wie es auch die Familie Marcus in Arolsen besaß, bestand vorzugsweise in beruflichen Wettbewerbsvorteilen, während etwa eine soziale Integration in die adelige Hofgesellschaft ausgeschlossen blieb.

Michaela Schmölz-Häberlein adaptiert das in den Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelte Netzwerk-Theorem, um die vielseitigen Beziehungen und Geschäftsinteressen analytisch zu erfassen, die die Familie Marcus, ausgehend von den Verbindungen zum Arolser Hof, kontinuierlich ausgebaut hatte. Insbesondere A. F. Marcus’ Brüder verfügten über länderübergreifende, über England bis nach Amerika und Russland reichende Handelsbeziehungen, in denen sie ihre kaufmännischen Aktivitäten verfolgten. Schmölz-Häberlein zeichnet nach, wie auch der Mediziner neben seinen ärztlichen Kernaufgaben in diese Verflechtungen integriert war. In dem Maße, wie ihm der politische Rückhalt verlorenging, den ihm von Erthal geboten hatte, und die familiären Verbindungen durch den Tod zweier Brüder brüchig wurden, pflegte er sich bietende Geschäftsbeziehungen, insbesondere zu Bertuch in Weimar, sehr intensiv, um sie für seine Interessen zu nutzen.

Irmtraut Sahmland interessiert sich in ihrem Beitrag für die strukturellen Bedingungen, die Mediziner als Leibärzte im Ambiente von Fürstenhöfen kleiner und politisch eher unbedeutender Territorien vorfanden, um ambitionierte Projekte realisieren zu können. Hierzu dient ein Vergleich zwischen Marcus und Bernhard Christoph Faust, die nach ähnlichem beruflichem Werdegang beide in unmittelbarer Nähe politischer Entscheidungsträger situiert waren, denen sich aber völlig unterschiedliche Handlungsoptionen boten. Beide wurden als Förderer der öffentlichen Gesundheitsfürsorge wirksam, jedoch auf sehr verschiedene Weise. Es wird die These vertreten, dass jenseits anderer Faktoren auch ihr politisches Umfeld zu einer prägenden Komponente für die von ihnen verfolgten Handlungsstrategien wurde.

Der 5. Teil: Rundtisch-Gespräch: Motivation, Strategien und gesellschaftliche Mechanismen beim Statusgewinn jüdischer und nicht-jüdischer Ärzte vor und nach 1800 beinhaltet die originale Wiedergabe der abschließenden Diskussionsrunde. Sie wurde durch Mark Häberlein mit einem Eingangsstatement eröffnet und moderiert. ← 12 | 13 →

In den Diskussionsbeiträgen wurde versucht, die Komplexität der Thematik der Bildungsziele und Karrierestrategien jüdischer Ärzte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auf verschiedenen Ebenen der medizinhistorischen, kulturwissenschaftlichen und regionalgeschichtlichen Bezüge aufzubrechen. Ausgehend von Adalbert Friedrich Marcus wurde dies einerseits durch um die Einbeziehung anderer Ärzte erweiterte, vergleichende Betrachtungen erreicht, andererseits durch strukturell angelegte Überlegungen zu den Gegebenheiten und Bedingungen medizinischer Ausbildung und ärztlichen Wirkens im genannten Zeitraum. Die sehr vielfältigen Facetten und Aspekte galt es nun, abschließend zusammenzuführen und einige Merkmale einzukreisen, die sich durch diese Methodik herauskristallisiert haben.

Einige dieser Kristallisationspunkte waren der Stellenwert der jüdischen Glaubenszugehörigkeit, sei es, dass sie verlassen oder beibehalten wurde, für die ärztliche Arbeit, die verfolgten Strategien zur Vereinbarkeit religiöser Normvorstellungen mit säkularen medizinischen Inhalten sowie die Frage offener oder subtiler gesellschaftlicher Vorbehalte gegen jüdische Ärzte bei sich allmählich erweiternden beruflichen Spielräumen. Diskutiert wurden auch die Selbstinszenierung, das Self-fashioning der hier vorgestellten Protagonisten und die möglicherweise spezifischen Elemente im Selbstverständnis wie in der Außendarstellung bei Ärzten mit jüdischem Hintergrund (kompensatorische Wissenschaft). Bei den hier zu ergründenden Faktoren stellte sich immer wieder das methodische Problem einer zuverlässigen Identifikation von Besonderheiten innerhalb einer Entwicklung allgemeiner Rahmenbedingungen. Ferner wurde wiederholt betont, dass auf Basis der hier weitgehend verfolgten biographischen Zugänge gewonnene Einsichten eine Repräsentativität einstweilen nur unter großem Vorbehalt beanspruchen können. Eine Lösung – und zugleich ein Impetus für weitergehende Forschung – wird in der Vervielfachung der Rekonstruktion von Lebensläufen und beruflichen Werdegängen jüdischer Ärzte gesehen, bei denen jedoch die Komplexität ihrer zeitgenössischen Lebenswelt nicht ausgeblendet werden darf. Dieses konnte durch die Tagung am Beispiel Adalbert Friedrich Marcus’ eindrücklich demonstriert werden.

Gerhard Aumüller

Irmtraut Sahmland

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Adalbert Friedrich Marcus – Biographisches

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Gerhard Aumüller

Adalbert Friedrich Marcus und die Ärzte in seiner Verwandtschaft – Familiärer Hintergrund, schulische und universitäre Ausbildung, wissenschaftliche Orientierung

Details

Seiten
354
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631743621
ISBN (ePUB)
9783631743638
ISBN (MOBI)
9783631743645
ISBN (Hardcover)
9783631741245
DOI
10.3726/b13120
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Medizingeschichte Kulturgeschichte Medizinstudium Judaismus Sozialmedizin
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 353 S., 13 farb. Abb., 10 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Gerhard Aumüller (Band-Herausgeber:in) Irmtraud Sahmland (Band-Herausgeber:in)

Gerhard Aumüller studierte Medizin und Anthropologie. Er ist Medizinhistoriker und war Professor der Anatomie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Philipps-Universität Marburg. Irmtraut Sahmland studierte Geschichte und Germanistik. Sie ist Professorin für Medizingeschichte an der Philipps-Universität Marburg.

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Titel: Karrierestrategien jüdischer Ärzte im 18. und frühen 19. Jahrhundert
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