A. Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur

Cover
Titel
Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention


Autor(en)
Assmann, Aleida
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 16,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Leonhard, Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg

Das hier zu besprechende Buch ist einer „selbstkritische[n] Diskussion über Standortbestimmung und Entwicklungsdynamik der deutschen Erinnerungskultur“ gewidmet (S. 12). Seine Autorin, die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die hierzulande bekanntermaßen wesentlich dazu beigetragen hat, die (kultur)wissenschaftliche Forschung rund um die Konzepte Gedächtnis, Erinnern und Vergessen zu etablieren, greift darin „Stellungnahmen und Stimmungen“ auf, die ein „wachsende[s] Unbehagen“ an dieser Erinnerungskultur erkennen lassen (S. 13, anknüpfend an Sigmund Freud).1 Neben einer kritischen Würdigung der dabei vorgebrachten Argumente zielt ihre „Intervention“ darauf ab, „die Begrifflichkeiten zu schärfen und konkrete Probleme zu konturieren, um damit eine breitere Grundlage für diese wichtige Auseinandersetzung zu schaffen“ (S. 14). Assmann will ihre Ausführungen als einen Beitrag zur aktuellen Debatte um den ‚richtigen‘ Umgang mit der Vergangenheit seit 1945 verstanden wissen und präsentiert sie zugleich als Fortsetzung ihrer knapp anderthalb Jahrzehnte zuvor veröffentlichten Überlegungen anlässlich der Kontroverse um die Friedenspreisrede von Martin Walser (vgl. ebd.).2

Das Buch besteht aus drei Teilen: Im ersten, mit „Vergessen, Beschweigen, Erinnern“ überschriebenen Abschnitt, der fast die Hälfte des Buches ausmacht, wird nach einer Begründung des Gedächtnisparadigmas (und damit Assmanns eigenen Forschungsprämissen, Kapitel 1) die ‚Erinnerungsgeschichte‘ der Bundesrepublik rekapituliert (Kapitel 2). Dies dient als Grundlage für die Diskussion des auch im Buchtitel angesprochenen „Unbehagens“ an der aktuellen Erinnerungskultur (Kapitel 3). Ausgehend vom dreiteiligen Fernsehfilm „Unsere Mütter, unsere Väter“, der im Frühjahr 2013 im ZDF ausgestrahlt wurde3, setzt sich die Autorin hierbei insbesondere mit den Argumenten auseinander, die in den letzten Jahren von Hermann Lübbe, von Ulrike Jureit / Christian Schneider und den Teilnehmer einer von ihnen durchgeführten Tagung zum Wandel des Gedenkens an den Holocaust sowie zuletzt von Dana Giesecke / Harald Welzer entwickelt wurden.4

Der zweite Teil des Buches, der den „Praxisfeldern der deutschen Erinnerungskultur“ gewidmet ist, behandelt auf gut 30 Seiten Problemstellungen, welche zum einen „[d]ie Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen“ (Kapitel 4) und zum anderen das „Erinnern in der Migrationsgesellschaft“ (Kapitel 5) betreffen. Hierfür werden zunächst die Implikationen kursorisch zusammengefasst, die mit der Aufgabe einer ‚doppelten Bewältigung‘ von NS- und DDR-Vergangenheit verbunden sind. Anschließend geht es um die Probleme, die mit einer national kodierten, auf Vorstellungen einheitlicher Herkunft, Kultur und Sprache beruhenden Sicht der eigenen Vergangenheit einhergehen, sowie um die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Assmann verbindet ihre Überlegungen zu Erinnerung und historisch-politischer Bildung hier insbesondere mit Bezügen zu den so genannten NSU-Morden, die gegenwärtig im Rahmen eines Strafprozesses in München verhandelt werden.

Im dritten, etwa 50 Seiten umfassenden Teil des Buches werden schließlich „transnationale Perspektiven“ auf Vorgänge von Erinnern und Vergessen präsentiert. Unter der Überschrift „Opferkonkurrenzen“ (Kapitel 6) resümiert die Autorin zum einen die unterschiedlichen Bedeutungskomponenten, die mit dem Opferbegriff verbunden werden können, und diskutiert unter anderem anhand des bereits vielfach thematisierten Spannungsverhältnisses zwischen Holocaust- und GULag-Gedächtnis in Europa5 verschiedene Formen des Umgangs mit konkurrierenden Anerkennungsansprüchen. Zum anderen werden unter dem Titel „Vier Modelle für den Umgang mit traumatischer Erinnerung“ (Kapitel 7) verschiedene, durch empirische Beispiele jeweils kurz illustrierte Konstellationen aufgezeigt, die eine bestimmte Form des Erinnerns bzw. Vergessens kennzeichnen.

Dies leitet zu den am Ende des Buches vorgestellten „Prämissen der neuen Erinnerungskultur“ über: Die Autorin beschließt ihre Ausführungen mit einem Plädoyer für eine ethische Bindung der Erinnerung „an den universalistischen Wert der Menschenrechte“ (S. 207), die sie als Basis der seit den 1990er-Jahren in Deutschland wie anderswo auf der Welt etablierten Gedenkpraxis versteht. Deren Vorzug sieht sie namentlich darin, dass auf diese Weise Möglichkeiten für eine kritische gesellschaftliche Selbstreflexion geschaffen werden.

Wie diese kurze Skizze der einzelnen Kapitel verdeutlicht, eröffnet das Buch einen breiten Einblick in verschiedene Diskussionsstränge, die sich alle in irgendeiner Weise mit Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung befassen. Auf diesem Forschungsgebiet bereits kundige Leserinnen und Leser werden dabei wenig Neues erfahren, greift Assmann doch im Wesentlichen Argumente auf, die von ihr selbst oder von anderen Autoren bereits andernorts dargelegt wurden. Gleichwohl gelingt es ihr insbesondere im ersten Teil des Buches, einige zentrale Widersprüche in der aktuellen Debatte um das „Unbehagen“ an der Erinnerung in Bezug auf Nationalsozialismus und Holocaust plastisch zu markieren – beispielsweise indem sie die mitunter selbst recht normativ anmutende Kritik einer normativ am Erinnerungsimperativ ausgerichteten politischen Gedenkpraxis aufzeigt (vgl. S. 92f.). Auch bei den weiteren im Buch angeschnittenen Problemfeldern finden sich immer wieder bedenkenswerte Einlassungen oder interessante Verweise – allerdings zugleich die eine oder andere seltsam verkürzt erscheinende Verknüpfung tagespolitischer Einschätzungen mit Erkenntnissen, die sich aus der Analyse bestimmter empirischer Phänomene ergeben (wie zum Beispiel auf S. 198 der Hinweis auf die Externalisierung des Antisemitismus im Film „Unsere Mütter, unsere Väter“, durch die der „Dialog-Politik“ der polnischen Regierung unter Donald Tusk „ein schwerer Schlag versetzt“ worden sei).

Lenkt man den Blick weg von den einzelnen behandelten Themen und auf die Anlage des Buches in seiner Gesamtheit, fällt es darüber hinaus schwer, einen roten Faden zu entdecken, der die verschiedenen Abschnitte miteinander verbindet. Selbst innerhalb der Kapitel ist es bisweilen nicht ganz leicht, der oftmals assoziativ anmutenden Gedankenführung der Autorin zu folgen. Dies mag einer der Gründe sein, warum das Buch dem eingangs postulierten Ziel einer Schärfung der Begrifflichkeiten nur sehr bedingt gerecht wird. Zwar führt Assmann in Bezug auf das zentrale Konzept der Erinnerungskultur (vgl. S. 32f.), für den Ausdruck ‚Vergangenheitsbewältigung‘ (vgl. S. 114ff.) wie auch für den Opferbegriff (in Kapitel 6, siehe oben) unterschiedliche Konnotationen ein. Die von ihr an einer Stelle vorgenommene Entscheidung für eine bestimmte Bedeutungsvariante wird jedoch unter anderem durch die Einführung neuer Konzepte an anderer Stelle wieder verwässert. Vor allem aber werden die in den unterschiedlichen Kapiteln als zentral herausgestellten Begriffe nicht zueinander in Beziehung gesetzt. Es bleibt also der Leserin oder dem Leser weitgehend selbst überlassen, sich zu überlegen, was eine „ethische Erinnerungskultur“ etwa mit einer „neutral“ verstandenen Vergangenheitsbewältigung (S. 192) und/oder mit „dialogischem Erinnern“ (vgl. S. 195ff.) zu tun haben mag.

Alles in allem hinterlässt die Lektüre somit einen zwiespältigen Eindruck. Als eine öffentliche „Intervention“ verstanden, die sich an ein breites, politisch wie historisch interessiertes Publikum richtet, um aktuelle Ereignisse und Entwicklungen zu kommentieren, die auf verschiedene Weise den Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheiten betreffen, erscheint das Buch durchaus gelungen. Als Beitrag zu einer empirisch wie theoretisch fundierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen, die den Nutzen und Nachteil, aber auch die Bedingungen und Einflussfaktoren einer normativ am Erinnerungsimperativ ausgerichteten politischen Kultur sowie deren eigene Geschichtlichkeit betreffen, vermögen die hier zusammengetragenen Ausführungen jedoch weniger zu überzeugen.

Anmerkungen:
1 Assmann nimmt Freuds 1930 entwickelte Argumentation über das „Unbehagen in der Kultur“ explizit als Ausgangspunkt, um die schuldbezogene Grundierung des bundesdeutschen Umgangs mit der Vergangenheit nach 1945 einschließlich der sich daran festmachenden Kritik zu beschreiben.
2 Siehe Aleida Assmann / Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999 (rezensiert von Ulrike Jureit in: H-Soz-u-Kult, 11.05.2000, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=207> [08.01.2014]).
3 Siehe hierzu etwa Christoph Classen, Unsere Nazis, unser Fernsehen, in: Zeitgeschichte-online, April 2013, URL: <http://www.zeitgeschichte-online.de/film/unsere-nazis-unser-fernsehen> (08.01.2014).
4 Siehe Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007 (rezensiert von Reinhard Mehring in: H-Soz-u-Kult, 28.03.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-238> [08.01.2014]); Ulrike Jureit / Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010 (rezensiert von Cornelia Siebeck in: H-Soz-u-Kult, 11.03.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-181> [08.01.2014]); Ulrike Jureit / Christian Schneider / Margrit Frölich (Hrsg.), Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt am Main 2012 (rezensiert von Aleida Assmann in: H-Soz-u-Kult, 15.04.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-2-040> [08.01.2014]); Dana Giesecke / Harald Welzer, Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012.
5 Siehe als ein Beispiel von vielen: Stefan Troebst, Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa, in: Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), S. 381–400.

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