Politische Mythen gehören zum Fundus gemeinsamer Erinnerung und Selbstvergewisserung, auf die sich der Zusammenhalt von Nationen, Gruppen oder Gesellschaften stützt. Zwischen 1918 und 1938 waren verschiedene Mythen für die Identifikation deutscher und österreichischer Juden mit Staat und Nation wirkungsmächtig. Der Mythos der deutschen Kultur, den der Autor als Interpretament in den Mittelpunkt rückt, bildete in seiner Ausprägung und Variationsbreite einen zentralen Bezugspunkt für Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsdeutungen deutscher und österreichischer Juden – auch über die Zäsur von 1933 hinaus bis zu seiner Implosion im Anblick der nationalsozialistischen Verfolgung.
Die jüdische Presse dieser Zeit, die in diesem Band in neuer und umfassender Weise als Quellenmaterial herangezogen und analysiert wird, etablierte sich in beiden Ländern als mediales Sprachrohr für Kontroversen über das politische, kulturelle und religiöse Selbstverständnis. Durch den Vergleich der geführten Identitätskurse zeigt sich, wie nachhaltig die Selbstinterpretation deutscher und österreichischer Juden trotz divergierender nationaler Kontexte vom Mythos deutscher Kultur bestimmt wurde.