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Titel
Politik nach Auschwitz. Ausgangspunkte, Konflikte, Konsens. Ein Essay zur Geschichte der Bundesrepublik


Autor(en)
Rupp, Hans Karl
Reihe
Texte zu Politik und Zeitgeschichte 5
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
193 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Schmid, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg

Seit dem Ende der 1970er-Jahre hat die zeithistorische Publizistik immer wieder versucht, den schwierigen Umgang des westdeutschen Teilstaates mit Geschichte und Verbrechen des NS-Regimes aus der jeweiligen Gegenwart heraus bilanzierend zu deuten. Die mal mehr analytisch-deskriptiv, mal mehr von Meinungsstärke geprägten Arbeiten vor allem von Peter Steinbach, Jörg Friedrich, Martin Broszat, Peter Graf Kielmansegg, Christian Meier, Ralph Giordano, Wilfried von Bredow, Michael Jeismann und Peter Reichel haben hier in unterschiedlicher Hinsicht Maßstäbe gesetzt. In diese Publizistik reiht sich das Buch des Marburger Politologen Hans Karl Rupp ein.

Noch immer sei es kaum begreiflich, schreibt Rupp einleitend, wie nach 1945 wieder umstandslos „Normalität“ habe einziehen können. So stellt er die „immer wieder neu beunruhigende Frage“, was „aus jenem Menschheitsverbrechen des Holocaust“ (S. 5) für die Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik folgte – welche Veränderungen die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erbracht hat, was die demokratisch legitimierte Politik versucht und erreicht hat und ob Deutschland fähig ist, sich zu einer weltoffeneren, einer „Menschenrechts-Gesellschaft“ (S. 5) zu entwickeln. Rupp skizziert zunächst vier „Ausgangspunkte einer Politik nach Auschwitz“ im Nachkriegsdeutschland: die Erschütterung über das Geschehen, die Antworten von Zeitgenossen, die Vorgaben der Siegermächte und die Debatte um die neuen Verfassungen in Bund und Ländern. Periodisiert in die Zeitabschnitte 1949-1968 und 1969-1990 betrachtet Rupp unter der Überschrift „Konflikte“ dann die „alte“ Bundesrepublik, bevor er die mit „Konflikte und Konsens“ betitelte Phase seit der Vereinigung untersucht. Dem folgt ein Beitrag seines Doktoranden Jochen Fischer zur Debatte um das Berliner „Holocaust-Mahnmal“.

In der ersten Hälfte seines Buchs beschäftigt sich Rupp unter anderem mit der strafrechtlichen Aufarbeitung, der Entnazifizierung und der „Wiedergutmachung“, eingehender mit der „Kriegsverbrecherfrage“ und der normativen Integrationspolitik im Kontext der Prägung einer neuen politischen Kultur, ferner mit aufsehenerregenden Fällen von Antisemitismus und Kontroversen um die personelle Kontinuität von nationalsozialistisch belasteten Politikern. Dabei ist die Darstellung bis zum Ende der 1960er-Jahre weitgehend innenpolitisch orientiert; mit dem Übergang zur folgenden Dekade wechselt der Schwerpunkt zunehmend ins Außenpolitische. Hauptfokus ist für Rupp dabei die Frage nach dem Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel. Besonders im letzten Kapitel zur Situation seit 1990 steht die Frage nach dem vereinigten Deutschland als außenpolitischem Akteur im Mittelpunkt. Daneben widmet sich Rupp relativ ausführlich den fremdenfeindlichen Pogromwellen vor allem der Jahre 1991-1993. Einige Stichwörter zum Umgang mit der NS-Vergangenheit bilden den thematischen Abschluss.

Rupps bündiges Fazit lautet: „Eine die Demokratie zerstörende Dynamik ist kaum zu befürchten. Dafür sind die Lernergebnisse der politischen Kultur der Bundesrepublik schon zu gesichert.“ (S. 138f.) Dazu gehöre der Konsens über die „Unvergleich[bar]keit der Verbrechen von DDR und NS“, ferner „über die Singularität der NS-Verbrechen“, und „über die prinzipielle Solidarität mit dem Staat der Überlebenden, Israel“ sowie „über die Gebotenheit eines emphatischen [sic] Umgangs mit ethnischen und religiösen Minderheiten“ (S. 128f.). Dieser normative Konsens werde jedoch beispielsweise in der Einstellung zu Juden von beträchtlichen Teilen vor allem der älteren Bevölkerung nicht mitgetragen. Dennoch habe sich in der deutschen Gesellschaft die Mehrheitsposition umgedreht: Anders als in den ersten beiden Jahrzehnten der westdeutschen Geschichte dominiere heute in der Öffentlichkeit die „vergangenheitskritische, gegen ‚Schlussstrich’-Aufforderungen angehende Position“ (S. 137). Gefahren sieht Rupp in ökonomisch-politischen Krisen, wodurch tiefsitzende Vorurteile wieder in den politischen Diskurs gelangen könnten.

Das Buch hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Rupp beruft sich auf die gestalterische Freiheit der Gattung Essay; deshalb sei die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung „hochgradig selektiv“ (S. 6). Gleichwohl hat er eine chronologische Abhandlung vorgelegt, deren knapp 140 Textseiten mit einem wissenschaftlichen Apparat von 549 Anmerkungen versehen sind. Stilistische Erwartungen an einen Essay werden überwiegend enttäuscht. Rupps Text ist bestimmt von einem nüchternen Duktus; vergebens wartet man auf verdeutlichende Zuspitzungen, assoziativ-inspirierende Exkurse, Erprobungen neuer Blickwinkel oder die dezidiert subjektive Beleuchtung der Thematik.

Einerseits sind die fragend-deutenden Passagen lesenswert, in denen immer wieder die Entwicklung der politischen Kultur geprüft wird; hier liegt die Stärke des Buches. Andererseits stechen Oberflächlichkeiten, Einseitigkeiten und Lücken ins Auge. Beispiel Nürnberger Prozesse: Zu diesem fundamentalen Ausgangspunkt jedweder „Politik nach Auschwitz“ verliert Rupp ganze zehn Zeilen, in denen der Leser fast nichts über Voraussetzungen und Inhalte der Prozesse erfährt, sondern nur Spekulationen über die Wirkung des Internationalen Militärtribunals. Zu einem Großteil der behandelten Themen kennt bzw. benutzt er die einschlägige Literatur nicht oder stützt sich nur auf einen oder zwei Titel; oft genügt ihm sogar eine Chronik als Grundlage der Darstellung. Dass der für Rupps Fragestellung nicht unwichtige Kontext der deutschen Teilung konzeptionell ebenso unberücksichtigt bleibt wie die DDR als geschichtspolitischer, die westdeutschen Verhältnisse beeinflussender Faktor, erstaunt nicht wenig. Auch der starke außenpolitische Fokus der Darstellung ist mit der Konzentration auf das Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel viel zu eng geführt; das ebenfalls bedeutsame Verhältnis etwa zu Frankreich und Polen bleibt nahezu gänzlich ausgespart.

Dem Leser begegnet zwar das Gros der bekanntesten Ereignisse zum Umgang mit dem „Dritten Reich“, aber oft bleiben es nur kurz aufgerufene Stichwörter. Wer beispielsweise Näheres über die Geschichtskultur der Bundesrepublik erfahren möchte, ist mit diesem Buch schlecht dran: ein paar Zeilen zu Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985, ein Satz zur Jenninger-Rede zum 9. November 1988 und eine beiläufige Erwähnung des Gedenktages 27. Januar. Manches taucht gar nicht auf, anderes wird unvermittelt auf den letzten Seiten als Stichwort gleichsam nachgetragen (so die Hinweise auf die TV-Serie „Holocaust“ und die „Wehrmachtsausstellung“). Hinzu kommen ärgerliche Verkürzungen: Die Behauptung etwa, den „ersten Kontrapunkt“ zu einer in Sachen NS-Erinnerung mehrheitlich schweigenden Bevölkerung hätten „Aktionen der Studierendenbewegung ab 1967“ gesetzt (S. 137), ist ein von der Forschung zur frühen Geschichts- und Protestkultur der Bundesrepublik längst ad acta gelegtes Stereotyp. Und nicht nur einmal vermisst man ein professionelles Lektorat: So zitiert Rupp verschiedentlich „freihändig“ – und dadurch falsch (z.B. S. 52, 56). Mitunter sind auch die Details der ohnehin nur kursorisch skizzierten Ereignisse fehlerhaft (z.B. bei der Darstellung der Goldhagen-Kontroverse, S. 103).

Auf einer abstrakteren Ebene fallen weitere bemerkenswerte Leerstellen auf. Nicht nur, dass jede begriffliche Erörterung des Sujets unterbleibt („Vergangenheitsbewältigung“, „Geschichtspolitik“?) – auch die Potenziale der die epochale politisch-kulturelle Zäsur betonenden Wendung „nach Auschwitz“ bleiben ungenutzt. Wie kann man ein Buch über „Politik nach Auschwitz“ schreiben, ohne etwa den langen Weg von der Gründung der Vereinten Nationen über die UN-Konvention zur Verhütung von Völkermord bis hin zu dem Anfang der 1990er-Jahre gelungenen völkerrechtlichen Durchbruch mit den diversen UN-Tribunalen (von denen eines erwähnt wird) und dem nun arbeitenden Internationalen Strafgerichtshof zumindest für einen Problemaufriss zu berücksichtigen? Auch andere Deutungslinien, die für eine Beurteilung der „Politik nach Auschwitz“ relevant sind, werden nicht aufgegriffen: Inwiefern hat Auschwitz als moderner Genozid die Grundlagen und das Selbstvertrauen westlicher Zivilisation erschüttert, und was folgt daraus?

Jochen Fischers Exkurs zur Auseinandersetzung um das Berliner „Holocaust-Mahnmal“ und die damit verknüpfte „Walser-Bubis-Debatte“ ist zunächst dadurch etwas genauer, dass Fischer mehr als zehn Seiten für nur ein Thema zur Verfügung hat. Er stützt sich auf eine akzeptable Breite der ausgewerteten Literatur, verengt jedoch seinen Gegenstand beträchtlich: Die die Öffentlichkeit so sehr bewegende Kontroverse um die ästhetische Konzeption des Mahnmals findet bei ihm keine Berücksichtigung. Überdies reduziert er die breite öffentliche Kritik an dem Vorhaben auf die Position Martin Walsers und jener ablehnenden Stimmen im Bundestag, die er begründungslos pauschal als „problematische Tendenzen in dem Erinnerungsdiskurs“ einsortiert (S. 123); zudem wird Walsers Position nicht einmal in Ansätzen in dessen literarisch-politische Biografie eingeordnet.

Der Rezensent hat das Buch letztlich enttäuscht zugeklappt. Auch wenn es „Einsteigern“ möglicherweise dienlich sein kann, frustrieren die aufgezeigten Kritikpunkte ein tiefer gehendes Interesse. Rupp bleibt hinter den eingangs erwähnten Standardwerken in mehrfacher Hinsicht zurück; sie sind breiter fundiert, präziser, tiefschürfender – und besser geschrieben.

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