C. Müller u.a. (Hrsg.): Der Differenz auf der Spur

Titel
Der Differenz auf der Spur. Frauen und Gender in Aschkenas


Herausgeber
Müller, Christiane E.; Schatz, Andrea
Reihe
minima judaica 4
Erschienen
Berlin 2004: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 16,82
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miriam Rürup, Simon-Dubnow-Institut, Leipzig

Seit Beginn der 1980er-Jahre hielt allmählich eine neue Perspektive in die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung Einzug.1 Es ging um eine Erweiterung der Agenda deutsch-jüdischer Geschichte, indem der historisierende Blick sich nun auch auf deutsch-jüdische Frauen richten sollte. In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich, nicht zuletzt unter dem Einfluss aus dem angelsächsischen Raum eine Sichtweise, die Frauen zumindest in ihrer Rolle in der Familie vornehmlich im deutsch-jüdischen Bürgertum in die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung mit einbezog.2 Zunehmend öffnete sich vielerorts der Blick auf die Geschichte der deutschen Juden auch einer geschlechtergeschichtlichen Sicht, die sowohl die Rolle von Frauen als auch die von Männern gleichermaßen als sozial und entsprechend ihrer Geschlechtszuschreibung konstruiert betrachtete. Kirsten Heinsohn und Stefanie Schüler-Springorum schreiben in der Einleitung zu ihrem jüngst erschienen Sammelband: "Über die Untersuchung der sozialen, politischen und kulturellen "Platzanweisungen" an Frauen als "Andere" kann man viel über die deutsche Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert lernen."3 Diesen Gedanken kann man dahin fortführen, dass auch und gerade die Analyse von Geschlechterkonstruktionen in der jüdischen Minderheit Aussagen über die jeweilige Mehrheitsgesellschaft zulässt. Von zentraler Bedeutung dafür ist der doppelte Blick auf Marginalisierungen: Es geht um die Erfahrungen von Frauen in einer männlich, sowie – meist untrennbar damit verbunden – auch um die Erfahrungen von Jüdinnen in einer nicht-jüdisch geprägten Lebenswelt.

So wie der soeben erwähnte Sammelband von Heinsohn und Schüler-Springorum auf eine im Jahr 2003 veranstaltete Tagung in Hamburg zum Thema "Rethinking Jewish Women's and Gender History" zurückgeht, so fasst auch der hier anzuzeigende Band Beiträge einer Konferenz aus dem Jahr 1999 in Trier zusammen. Organisiert wurde die Konferenz zum Thema "Frauen und gender im aschkenasischen Judentum" vom Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, den Jüdischen Studien der Gerhard Mercator Universität Duisburg und der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden e.V. Christiane E. Müller und Andrea Schatz legen hier einen Band vor, dessen Beiträge über den historischen Blick auf die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte hinausgehen. Mit einem stringent durchgeführten Anspruch von Interdisziplinarität behandeln die Beiträge halachische, literaturwissenschaftliche und historische Fragen in einer breiten Zeitspanne von der Frühen Neuzeit bis in die neueste Zeit hinein. Wie die Herausgeberinnen feststellen, stellt der Band Antworten auf "neue Fragen, gerichtet an altbekannte Texte" (S. 12) vor.

In drei Abschnitten sind die Aufsätze zusammengefasst. Im ersten Teil geht es um bedeutende textuelle Überlieferungen aus Mittelalter und Früher Neuzeit. Tal Ilan (FU Berlin) betrachtet in ihrem Beitrag am Beispiel einiger Raschi-Kommentare Fragen von sexuell restriktiven Vorschriften für Frauen. Besonders interessant ist dabei, wie sie die Nachwirkungen von Raschis Kommentaren nachzeichnet, die in die Festlegung von Geschlechterzuschreibungen mündete und häufig mit einer Erotisierung und Sexualisierung des Talmuds (S. 26) einherging. Diese wirkten in den folgenden Jahrhunderten kanonbildend und werden noch heute zum Teil stereotyp in Arbeiten über den babylonischen Talmud verwendet. Judith R. Baskin (Oregon) analysiert Fragen von körperlicher Reinheit, wie sie in religiösen Texten zu den Vorschriften für die rituelle Reinigung von Frauen im Tauchbad, der Mikweh, thematisiert werden. Eine körperliche Reinheit, die letztlich Auswirkungen auf die Position der Frau in ihrem Eheleben hatte und die Baskin entgegen der gängigen Forschungsmeinung als eine handelnde – z. B. als "rebellische Frau" – liest. Die Frau als Akteurin konnte einen Diskurs um ihre Reinheit gleichsam dahingehend nutzen, dass sie "sexuelle Politik" betrieb, indem sie beispielsweise einen unliebsamen Ehemann so zu einer Scheidung drängen, also Macht entfalten konnte, die in den Vorschriften nicht vorgesehen war. Birgit E. Klein betrachtet unter der vergnüglichen Überschrift "Der Mann: ein Fehlkauf" anhand der spätmittelalterlichen rabbinischen Rechtsgutachten, der Responsenliteratur, wie am Beispiel des ehelichen Güterrechts Machtkämpfe zwischen Frauen und ihren Ehemännern ausgetragen und darüber die Geschlechterbeziehungen ausgehandelt wurden. Auch hier wieder lässt sich feststellen, dass aus Überlieferungen von Texten, die ausschließlich von Männern aufgezeichnet wurden, die Rolle der Frauen als Akteurinnen herausgelesen werden kann. Der Quellenkorpus von Ruth Berger (Frankfurt am Main) ist eine Auswahl aus einer Fülle von um 1600 verfasster jiddischer ethischer Literatur, die sich an ein gemischtgeschlechtliches Publikum richtete. Aus drei dargestellten Werken (von Moses Altschuler, Jizchaq aus Posen und Rivqa Tiktiner) heraus entwickelt sie ein schillerndes Bild von in Bewegung befindlichen Rollenzuschreibungen in der Familie, wie sie aus den drei Beispielen der "Ratgeberliteratur" herauszulesen ist. Leider kommt die Problematisierung der zwei Autoren und der einen Autorin ein wenig kurz, was doch gerade in einem Band zur Geschlechterperspektive zu erwarten gewesen wäre. Chava Turniansky (Jerusalem) schließlich rundet den ersten Teil des Bandes mit dem Versuch eines neuen Blickes auf einen "altbekannten Text" – sie fragt danach, welche Quellen und Literatur Glikl von Hameln, die berühmte Geschäftsfrau aus Hamburg4, ihren Memoiren zugrunde legte. Leider geht in ihrem Beitrag der Blick auf einen möglichen geschlechtergeschichtlichen Aspekt ihrer Fragestellung verloren.

Die drei Beiträge des zweiten Teils des Sammelbandes wenden sich nun der neueren Geschichte zu. Deborah Hertz (San Diego) zeichnet das Leben der Berlinerin Amalie Beer nach, die als Gastgeberin einen Salon führte, vor allem aber durch die bei ihr veranstalteten deutschsprachigen Reformgottesdienste Berühmtheit erlangte.5 Carsten Wilke analysiert eine Kontroverse deutscher Rabbiner, die sich um die Vorstellungen von Formen der jüdischen Eheschließung und insbesondere der "altorientalischen" Idee des symbolischen Brautkaufrituals im 19. Jahrhundert entspann. Die Debatte spiegelt letztlich die tiefe Eingebundenheit der deutschen Juden in die bürgerliche Vorstellung der Zuschreibung von "weiblich" und "männlich", indem die jüdischen Theologen dazu beitrugen, dass "das Ideal des wackeren Weibes altjüdischer Tradition mit dem der domestizierten Bürgersfrau verschmolz" (S. 181). Die Suche der Rabbiner nach der ursprünglichen Tradition der Eheschließung kommt hier einer Erfindung von Tradition (Volkov) sehr nahe. Desanka Schwara (Basel) legt hier einen Aufsatz vor, der Tagebücher von jüdischen Jugendlichen zur Quellengrundlage macht. Sie betrachtet diese Quellen sowohl mit dem Blick auf die Herkunft der Jugendlichen aus osteuropäischen, orthodoxen Familien, wie auch in Hinblick auf ihre Wertmaßstäbe, die sich häufig auf eine und im Kontakt mit der sie umgebenden säkularisierten Umgebung herausbildeten. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich die Jugendlichen letztendlich, trotz einer Zeit der Auflehnung die Werte ihrer Familie zu Eigen machten, aber diese um "neue Inhalte" (S.229) erweiterten.

Im dritten Teil schließlich finden sich drei Aufsätze gebündelt, die nicht nur die Schwelle zum 20. Jahrhundert übertreten, sondern darüber hinaus alle drei auf die in diesem Jahrhundert für die jüdische Geschichte relevanten Fragen von Zionismus, Auswanderung und Vertreibung verweisen. Michael Gluzman (Tel Aviv) stellt zwei Beispiele aus der modernen hebräischen Literatur vor (Schalom Jakob Abramowitsch und Joseph Chaim Brenner), die beide mit Motiven von Verwirrung der Geschlechterrollen, vor allem mit den Chiffren männlich/unmännlich arbeiten und daraus eine Kritik sowohl der Diaspora als auch des Zionismus herleiten. Iris Parush (Beer Scheva) nähert sich über die Analyse der Arbeiten von David Frischmann einer allgemeineren Fragestellung, die den Charakter von Sprache als "gendered" in den Blick nimmt und sich der damit verbundenen Debatte um die Bedeutung der Etablierung einer neuen hebräischen Literatur für die sich herausbildende jüdische Nation widmet. Astrid Schmetterling (London) schließlich verlässt die Pfade der puren Textualität und liest aus einem von der Berliner Künstlerin Charlotte Salomon im Exil gemalten Theaterstück die ganze denkbare Bandbreite von Differenz und Vielfalt, die letztendlich die Geschichte der jüdischen Minderheit als solche entgegen zuweilen homogenisierender Perspektiven in der Geschichtsschreibung ausgemacht hat.

Wie die Herausgeberinnen in der Einleitung schreiben: "Wer einer binären Geschlechterordnung auf der Spur ist, greift also zu kurz." (S.14]) Wenn man von dem Manko absieht, das viele Sammelbände gemein haben und das in der disparaten Ansammlung von Aufsätzen begründet ist, so haben die Herausgeberinnen mit "Der Differenz auf der Spur" die Forschung auf einen noch wenig ausgetretenen Weg gebracht, der historisch konstruierte Epochen wie Mittelalter, Frühe Neuzeit und Neueste Zeit sowie verschiedene Disziplinen vereint. Mit den sehr quellengesättigten Aufsätzen haben sie dabei gleich einige spannende Beispiele und vielversprechende Ansätze vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Ausgelöst wurde dies unter anderem durch eine Debatte auf einer Konferenz des Leo Baeck Instituts. Marion A. Kaplan war eine der Wortführerinnen in dieser Diskussion, die sie zunächst in einem Beitrag zu dem Tagungsband „Revolution and Evolution 1848 in German-Jewish History“ darlegte. Kaplan, Marion A., Family Structure and the Position of Jewish Women, in: Mosse, Werner E.; Paucker, Arnold; Rürup, Reinhard (Hgg.), Revolution and Evolution 1848 in German-Jewish History, Tübingen 1981, S. 189-203. Vgl. auch ihren programmatischen Aufsatz: Tradition and Transition. The Acculturation, Assimilationa and Integration of Jews in Imperial Germany. A Gender Analysis, in: Leo Baeck Yearbook XXVII (1982), S. 3-35.
2 Vgl. für einen Überblick: Baskin, Judith R. (Hg.), Jewish Women in Historical Perspective, Detroit 1998 und Frankel, Jonathan, Jews and Gender. The Challenge to Hierarchy, New York 2000.
3 Heinsohn, Kirsten; Schüler-Springorum, Stefanie (Hgg.), Deutsch-Jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 20.
4 Vgl. dazu: Richarz, Monika (Hg.), Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit, Hamburg 2001.
5 Vgl. zu den Salons auch: Wilhelmy-Dollinger, Petra, Die Berliner Salons, Berlin 2000. Sowie den Beitrag der Autorin: Hertz, Deborah, Jewish High Society in Old Regime Berlin, New Haven 1988; dies., Emancipation through Intermarriage? Wealthy Jewish Salon Women in Old Berlin, in: Baskin, Judith (Hg.), Jewish Women, S. 193-207.

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