U. Büttner (Hg.): Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich

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Titel
Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich.


Herausgeber
Büttner, Ursula
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernward Dörner, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Welche Verantwortung für die Verfolgung und Ermordung der Juden trägt die deutsche Bevölkerung? Wie nahmen die Deutschen die Verfolgungsmaßnahmen auf? - Fragen, die bis heute unzureichend wissenschaftlich untersucht sind.1 Der von Ursula Büttner herausgegebene, 1992 erschienene, lange Zeit vergriffene Sammelband sucht Antworten auf diese Fragen auszuloten.2 Die Beiträge sind zum Teil an den aktuellen Forschungsstand, vorrangig in den Literaturangaben, angepasst worden. Da die Entwicklung in den zwölf verstrichenen Jahren schnell fortgeschritten ist, sind nicht mehr alle Beiträge auf der Höhe der heutigen Forschung. Dennoch bleibt das Buch ein Standardwerk, dessen Neuerscheinung unbedingt zu begrüßen ist.3 Es fehlt immer noch an Gesamtdarstellungen zur Thematik, die Erkenntnisse aus Spezialstudien zu integrieren vermögen.

Ursula Büttner gibt in ihrem Eingangsbeitrag einen fundierten Überblick über die Forschungslage. Sie betont zurecht, dass eine schnelle Generalisierung nur in die Irre führen würde. Geduldige empirische Forschung mit dem Ziel, immer genauer zu unterscheiden, sei gefragt.

Heinz Boberach, der noch immer beste Kenner der Quellenlage zur NS-Zeit, setzt sich mit den Überwachungs- und Stimmungsberichten als Quellen für die Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Judenverfolgung auseinander. Er betont, dass diese Quellen es nicht zulassen „ein Urteil über die Einstellung der Deutschen zur Verfolgung der Juden zu fällen, das für alle Zeitabschnitte, für alle getroffenen Maßnahmen, alle Landschaften und Bevölkerungsschichten gleicherweise gilt“ (S. 62).

Mit mentalitätsgeschichtlichen Aspekten befasst sich Wolfgang Benz. Er betrachtet die „Abwehrkräfte und Verdrängungsmechanismen“ gegen die Erinnerung an die Ausgrenzung, Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Juden. Typische Topoi im Land der Täter: das Leugnen und Aufrechnen des Holocaust, die Entlastungs-Formel ‚Man habe von nichts gewusst’, die Beschwörung eigenen Leidens, die Forderung nach einem ‚Schlussstrich’, die „Überkompensationen durch einen beflissenen zur Schau getragenen Philosemitismus“ – Phänomene die nichts an Aktualität verloren haben.

Ursula Büttner untersucht den „Alltag“ der Judenverfolgung und dem „Anteil der Bevölkerung“ daran. Sie betont, dass die Verschärfung der ‚Judenpolitik’ von „der Mehrzahl der Deutschen hingenommen, wenn nicht unterstützt“ wurde. Ein Mangel an Empathie mit den jüdischen Nachbarn und Kollegen habe dazu beigetragen.

Die Erfahrungen jüdischer Jugendlicher und Kinder mit der nichtjüdischen Umwelt beleuchtet Werner T. Angress. Er macht deutlich, dass die Verfolgung diese Personengruppe besonders traf, weil die Kinder das Hereinbrechen der Verfolgungsmaßnahmen noch viel weniger verstehen und antizipieren konnten als ihre Eltern.

Dem Thema „Bürokratie und Judenverfolgung“ wendet sich Horst Matzerath zu. Er konstatiert, dass es bemerkenswert sei, „wie rasch und vollständig die Verwaltung sowohl im staatlichen wie im kommunalen Bereich die Grundsätze der nationalsozialistischen ‚Judenpolitik’ übernahm“. Er betont jedoch in Abgrenzung zu anderen Auffassungen (Pätzold, Hilberg), dass die „eigentliche Dynamik“ des Verfolgungsprozesses von Hitler, Goebbels, Himmler sowie von Partei und SS ausgegangen sei. Bezeichnend für die ‚Anpassungsfähigkeit’ der Verwaltungswissenschaft sei folgendes: Im Jahre 1944 sei das Thema ‚Juden’ für sie wohl ‚gelöst’ - es erscheint nicht einmal mehr als Stichwort in einem neu konzipierten Handbuch des Verwaltungsrechts.

Mit den Lagern für den „jüdischen Arbeitseinsatz“ in den Jahren 1938 bis 1943 und dem Verhalten der Bevölkerung beschäftigt sich Wolf Gruner. Er macht deutlich, dass bei der Betreibung der Arbeitslager viele Deutsche engagiert waren, die lange Zeit nicht als Täter berücksichtigt worden seien. Die aus der Deklassierung der Zwangsarbeiter sich ergebenden Profitmöglichkeiten seien tendenziell ausgenutzt worden. Nur vereinzelt hätten Deutsche den materiellen und psychischen Anreizen, sich an der Verfolgung zu beteiligen, widerstanden.

Wolfgang Petters Beitrag zum Thema „Wehrmacht und Judenverfolgung“ war einer der ersten, der dieser Thematik – vor der Wehrmachtaustellung und dem davon ausgehenden Impuls für die Forschung – die nötige Beachtung schenkte. Die Qualität des Aufsatzes zeigt sich darin, dass er – obwohl die einschlägige Literatur inzwischen expandierte – ohne große Änderungen immer noch einen sehr guten Einblick in die Problematik gibt.4

Der Aufsatz Werner Johes widmet sich der Beteiligung der Justiz an der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Seine Ausführungen sind im Kern zwar immer noch zutreffend, doch werden aktuelle Forschungsfortschritte nur zum Teil berücksichtigt.5

John A.S. Grenville setzt sich mit dem Verhalten der Ärzte während der Judenverfolgung auseinander. Er konstatiert eine breite Anpassungsbereitschaft der nichtjüdischen Ärzte sowie einen Mangel an Solidarität mit ihren „nichtarischen“ Kollegen. Durch den Holocaust sei die „deutsch-jüdische Ärztetradition“ für immer gebrochen.

Mit dem Verhalten der deutschen Unternehmer beschäftigt sich Avram Barkai. Er charakterisiert die Rolle der Unternehmerschaft im NS-System als der des „stillen Teilhabers“, der erhebliche Gewinne der ‚Firma’ bezieht, ohne jedoch Mitspracherechte bei deren Leitung und Geschäftsführung geltend machen zu können. Opportunistische Kalküle hätten auf dem Boden antisemitischer Traditionen rücksichtsloser ausgelebt werden können.

Die Mitwirkung der Deutschen bei der ‚Arisierung’ am Beispiel der rheinisch-westfälischen Industrieregion 1933-1940 nimmt Dirk van Laak in den Blick. Die ‚Arisierungen’, von denen nicht wenige Deutsche zunächst profitierten, hätten sie im Sinne der Regimes korrumpiert. Im Gegensatz zu Banken, Konzernen und Filialketten hätten die kleineren Erwerber jüdischen Besitzes - durch Abschöpfung der Finanzämter vor und durch die Rückerstattung nach 1945 - trotz zunächst großer Gewinnspannen „letztlich kein gutes Geschäft“ gemacht.

Bernd Nellessen setzt sich mit dem Verhalten der Katholiken auseinander. Er betont, dass das Schweigen der Kirche zur Judenverfolgung eine Folge ihrer früheren Versäumnisse gewesen sei. Nellessen kritisiert mit Recht, dass in dem gemeinsamen Hirtenwort der Fuldaer Bischofskonferenz, das im September 1943 von fast allen Kanzeln verlesen wurde, nur abstrakt auf das Tötungsverbot des Dekalogs hingewiesen wurde und das Wort ‚Jude’ fehlte. Seine Begründung, dass „aus dieser vagen Stelle des Hirtenbriefs […] nur derjenige den Mord an den Juden heraushören“ konnte, der „schon von ihm wußte – was aber 1943 für die Mehrheit der Bevölkerung auszuschließen“ sei, ist fragwürdig.6 Die meisten Deutschen wussten genug, um die Brisanz des Hirtenbriefs zu verstehen. Das Versagen der Kirche lag darin, dass sie nicht unmissverständlicher und früher die Verfolgung und Ermordung der Juden verurteilt hat. Die Predigten Bischof von Galens zu den „Euthanasie“-Morden verweisen darauf, was möglich gewesen wäre.

Martin Greschat untersucht die Haltung der evangelischen Kirche. Dass aus sozialen, politischen und theologischen Gründen eine antisemitische Grundhaltung im protestantischen Milieu vorgeherrscht habe, sei offenkundig. Wer das öffentliche Schweigen der Kirchenleitung zu durchbrechen suchte, stand im schroffen Gegensatz zum ‚Zeitgeist’.

Siegfried Hermle geht auf die Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung in der Evangelischen Kirche unmittelbar nach dem Ende der NS-Herrschaft ein. Es wird deutlich, dass fast alle Beteiligten nur mühsam und unzureichend den Genozid und ihr Versagen in der NS-Zeit reflektierten.

Die Auseinandersetzung um die Rückerstattung ‚arisierten’ Eigentums nach 1945 schildert Constantin Goschler. Der Widerstand der Restitutionspflichtigenlobby sei paradoxerweise zum „Motor für die Entschädigungsansprüche der NS-Verfolgten“ bei den alliierten Besatzungsmächten geworden.

Den Band beschließt ein Beitrag von Clemens Vollnhals zum Umgang mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. Er betont, dass neben dem dominanten Bedürfnis nach Verdrängung in der Gesellschaft erhebliche - auf die Dauer recht erfolgreiche - Bemühungen um Aufklärung der deutschen Verbrechen zu verzeichnen gewesen seien. Das kann man kaum bestreiten. Wahr bleibt aber auch, dass in einem Land, in dem kein Richter des Volksgerichtshofes von einem bundesdeutschen Gericht verurteilt worden ist und in dem jahrzehntelang viele Verfolgte keine oder nur völlig unzureichende Mittel erhalten haben, starke Elemente einer ‚zweiten Schuld’ (Ralph Giordano) unübersehbar sind.

Insgesamt kann man feststellen, dass die Neuausgabe dieses Sammelbandes - zu einem relativ erschwinglichen Preis - die Auseinandersetzung mit der immer noch unzureichend aufgearbeiteten Frage fördern wird, welchen Anteil die deutsche Bevölkerung in der NS-Zeit an den Verfolgungsmaßnahmen und Verbrechen hatte. Wer dieser Frage genauer nachgehen will, kann mittlerweile auf eine nur noch schwer zu übersehende Spezialliteratur zurückgreifen. Der Wert des vorliegenden Sammelbandes liegt - immer noch - darin, dass er einen guten Überblick liefert und einen Einstieg in die Gesamtproblematik ermöglicht.

Anmerkungen:
1 Ein am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technische Universität Berlin angesiedeltes Forschungsprojekt „Der Mord an den europäischen Juden und die deutsche Gesellschaft. Wissen und Haltung der Bevölkerung 1941-1945“ will den Forschungsstand auf ein neues Niveau heben; ein wichtiger Beitrag zur Dokumentierung der noch vorliegenden Quellen ist von einer Quellenedition zu erwarten, die im Herbst 2004 erscheinen soll: Kulka, Otto Dov; Jäckel, Eberhard (Hgg), Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945, Düsseldorf 2004.
2 Ein Beitrag ist in die nun erschienene Taschenbuchausgabe nicht übernommen worden, ohne dass dies weiter erläutert wird: Siegele-Wenschkewitz, Leonore, Auseinandersetzung mit einem Stereotyp. Die Judenfrage im Leben Martin Niemöllers.
3 Es wäre zu hoffen, dass auch eine so ausgezeichnete Studie wie die von Adler, H.G., Der Verwaltete Mensch, Tübingen 1974 (die seit langem vergriffen ist), neu erscheint.
4 Einen Überblick über den Forschungsstand bietet der Dokumentationsband zur ‚überarbeiteten Wehrmachtsausstellung’: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944.
5 So fehlen wichtige Veröffentlichungen zum Thema ‚Justiz und Judenverfolgung’, z.B.: Przyrembel, Alexandra, Rassenschande. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003; Essner, Cornelia, Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945, Paderborn 2002; Dörner, Bernward, Deutsche Justiz und Judenmord. Todesurteile gegen Judenhelfer in Polen und der Tschechoslowakei (1942-1944), in: Frei, Norbert; Steinbacher, Sybille; Wagner, Bernd C. (Hgg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, München 2000.
6 Die Ergebnisse des oben genannten Forschungsprojekts des Zentrums für Antisemitismusforschung weisen in eine andere Richtung.

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