G. Lindemann u.a. (Hrsg.): Politische Gewalt

Cover
Titel
… da schlagen wir zu. Politische Gewalt in Sachsen 1930–1935


Herausgeber
Lindemann, Gerhard; Schmeitzner, Mike
Reihe
Berichte und Studien 78
Erschienen
Göttingen 2020: V&R unipress
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jehne, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ein zentrales Wesensmerkmal der Weimarer Republik war die in ihr außerordentlich präsente Gewalt, die mit den blutigen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen seit Dezember 1918 ihren Anfang nahm. Diese Gewaltphase der ersten deutschen Demokratie ist durch die Studie von Mark Jones kürzlich erneut und durchaus kontrovers diskutiert in den Fokus der Forschung gerückt, denn Jones plausibilisierte entgegen bis dato vorherrschender Überzeugungen die These, dass Gewalt gegen die eigene Bevölkerung von staatlicher Seite – zum Teil bewusst – eskaliert wurde.1 In der nicht minder gewaltvollen letzten Phase der Weimarer Republik setzt der von Gerhard Lindenmann und Mike Schmeitzner herausgegebene Sammelband zu politischer Gewalt in Sachsen an.

Nachvollziehbarerweise wird das Ende des Untersuchungszeitraumes jedoch nicht einfach auf die makrohistorische Zäsur der NS-Machtübernahme am 30. Januar 1933 gelegt, sondern bis 1935, also damit auf die Phase der Machtsicherung und -konsolidierung der Nationalsozialisten, ausgedehnt. Einige der Beiträge – so die beiden Abschlussbeiträge von Mike Schmeitzner und Stefan Donth – thematisieren jedoch nicht schwerpunktmäßig den im Titel gewählten Zeitraum, sondern richten sich zu einem großen Teil auf andere Zeitabschnitte wie die sowjetische Besatzungsherrschaft und die DDR aus (bei Schmeitzner S. 255–266; bei Donth S. 275–285).

Untergliedert ist der Sammelband in vier verschiedene Abschnitte, die jeweils spezifische Formen von Gewalt behandeln. Im ersten, der nur aus dem Beitrag von Josephine Templer besteht, werden „Verbalisierte Gewalt und Straßengewalt“ untersucht. Anhand der NS-Zeitung „Der Freiheitskampf“ sowie der kommunistischen „Arbeiterstimme“ vergleicht Templer die Rezeption von politischer Gewalt und ihre Funktion in der sächsischen Presse von 1930 bis 1933. Sie gelangt dabei zu der Erkenntnis, dass Gewalt ein immanenter Teil der „politischen Kultur Sachsens“ war und dass die beiden von ihr untersuchten Presseorgane durch ihre Berichterstattung diese noch weiter befeuerten (S. 47–49). Im zweiten Abschnitt steht die „Gewalt in der Phase der Machteroberung“ im Zentrum der Analyse. Willy Buschak und Swen Steinberg untersuchen in ihrem Beitrag nationalsozialistische Gewalt gegen sächsische Gewerkschaften und Gewerkschaftshäuser zwischen 1930 und 1933. Sachsen war während der Weimarer Republik eine Gewerkschaftshochburg und hatte – wie die beiden Autoren ermittelt haben – reichsweit die meisten Gewerkschaftsmitglieder (S. 54). Die sächsischen Gewerkschaftsorganisationen und ihre Immobilien standen „früh im Fokus der Nationalsozialisten“ (S. 56). Nach der NS-Machtübernahme potenzierte sich die Gewalt noch einmal und führte zu Besetzungen von Gewerkschaftshäusern, in denen teils „wilde Konzentrationslager“ eingerichtet wurden (S. 63). Jürgen Nitsche betrachtet in seiner Abhandlung „Mörderische Gewalt gegen Juden“ in Sachsen drei Fälle in den Jahren 1927, 1931 und 1933. In den frühen Hochburgen der NSDAP in Südwestsachsen – wie Nitsche deutlich macht – waren ihre Anhänger schon weit vor der NS-Machtübernahme bereit, tödliche Gewalt gegen jüdische Menschen auszuüben (S. 103). Die letzte Abhandlung innerhalb der zweiten Rubrik hat die Bücherverbrennung an der Technischen Hochschule in Dresden am 10. März 1933 zum Gegenstand. Matthias Lienert gelangt hierin zu dem Schluss, dass diese formal organisierte Bücherverbrennung von ganz anderer Qualität war als vorherige spontanere Aktionen und durch ihren offiziellen Charakter eine höhere Akzeptanz in „bürgerlichen Kreisen“ erfuhr (S. 132).

Der dritte Teilabschnitt beleuchtet die „Institutionalisierte Gewalt“ in einzelnen Teilsystemen des nationalsozialistischen Staates nach der Machtübernahme. Johannes Gallus und Gerhard Lindemann wählen in ihren Beiträgen jeweils ein sächsisches Konzentrationslager für ihre Untersuchung. Gallus zeichnet unter mikrohistorischer Perspektive die Geschichte des frühen Konzentrationslagers Hohenstein nach, während Lindemann die Verfolgungsgeschichte gegen evangelische Pfarrer im KZ Sachsenburg analysiert. Im KZ Hohenstein war unmittelbare physische Gewalt systemimmanent und bestimmend für den Lageralltag der dort inhaftierten Menschen (S. 138), ebenso wie im KZ Sachsenburg (S. 155–159). Der dritte Beitrag – verfasst von Christoph Hanzig und Michael Thoß – hat die Rezeption „politisch motivierte[r] Tötungsdelikte“ im nationalsozialistischen Presseorgan „Der Freiheitskampf“ in den Jahren 1931 bis 1936 zum Gegenstand und es erscheint daher wenig plausibel, dass dieser Beitrag unter die Rubrik „Institutionalisierte Gewalt“ subsumiert wurde, da die beiden Autoren den Diskurs in der NS-Presse vor allem über Prozesse gegen tatsächliche oder vermeintliche kommunistische Gewalttäter/innen analysieren (S. 195–219). Anders als Gallus und Lindemann nehmen sie darin keine maßnahmenstaatliche Gewalt, wie sie in den Konzentrationslagern ausgeübt wurde, zur Grundlage ihrer Untersuchung. Im letzten Teil des Sammelbandes widmen sich die bereits angesprochenen Beiträge von Mike Schmeitzner und Stefan Donth „Gewalterfahrungen und politische[n] Konsequenzen“ anhand einzelner biografischer Beispiele prominenter sozialdemokratischer und kommunistischer bzw. linkssozialistischer Akteure der Weimarer Republik, NS-Zeit und der SBZ/DDR aus Sachsen. Schmeitzner zeichnet dabei das Leben des antiautoritären Schulpolitikers Erwin Hartsch nach, der sich dafür auch nach 1945 exponierte (S. 267). Donth untersucht die Lebenswege der persönlichen Freunde Erich Glaser und Gerhard Grabs, deren Freundschaft trotz zeitweiliger politischer Differenzen über sämtliche Systeme und Umbrüche bis in die DDR Bestand hatte.

Die Autor/innen und Herausgeber verfolgen einen extremismus- bzw. modernen totalitarismustheoretischen Ansatz, wonach – wie schon der Klappentext suggeriert, in dem von den „extremistischen Parteien NSDAP und KPD“ gesprochen wird – eine wie auch immer geartete demokratische Mitte existiert habe, die die Weimarer Republik gegen die „Ränder“ gleichermaßen zu verteidigen hatte. So hätte es am linken Rand mit der KPD und am rechten Rand mit der NSDAP jeweils eine „extremistische“ Partei gegeben, die strukturell gleich totalitäre Ideologien besaßen und in der gleichen Art und Weise entmenschlichende Gewalt propagierten und einsetzten (S. 9f.). Nicht nur in Bezug auf die politische Landschaft der Bundesrepublik, worauf die aus der Politikwissenschaft stammende neuere Extremismus- bzw. Totalitarismustheorie meist angewandt wird, erscheint das Modell der strukturellen Gleichheit von links und rechts wenig adäquat, worauf erst kürzlich der von Eva Berendsen und anderen herausgegebenen Sammelband nochmals ausführlich und überzeugend hingewiesen hat.2

Die Anwendung dieses Ansatzes auf die Weimarer Republik, die dem Sammelband zu Grunde liegt, überzeugt schon deshalb wenig, da die Weimarer Demokratie auch deswegen strukturell belastet war, weil es zu keinem Zeitpunkt stabile, demokratische Einstellungsmuster in der Bevölkerungsmehrheit gegeben hatte. Vielmehr scheiterte sie, wie beispielsweise Dirk Schumann in seinem Grundlagenwerk zur politischen Gewalt in der Weimarer Republik herausgearbeitet hat, bekanntlich auch daran, dass „große Teile des Bürgertums“ weiter ihren „autoritären Dispositionen“ anhingen.3 So ist es wenig überraschend, dass die Autor/innen und Herausgeber dem selbstgewählten Paradigma der Extremismustheorie mit ihren gewonnenen Erkenntnissen teilweise selbst widersprechen. So spricht Josephine Templer in ihrem Beitrag von „beide[n] extremistische[n] Gruppen“ (S. 28) oder „beiden radikalen Parteien“ (S. 47) und bezieht sich dabei theoretisch ausgerechnet auf Lothar Fritze, der mittlerweile die Nähe zur Neuen Rechten sucht (S. 34). In ihrem Beitrag gelangt sie dann jedoch zu der Erkenntnis, dass beispielsweise der Märtyrerkult in der NS-Bewegung eine wesentlich größere Rolle als in der kommunistischen spielte, was deutlich macht, dass diese in strukturell ganz anderer Form auf Opfer aus der eigenen Bewegung angewiesen war, während in der kommunistischen „Arbeiterstimme“ nur partiell auf die Säulenheiligen Lenin, Liebknecht und Luxemburg rekurriert wurde (S. 46f.). Aber schon der inhaltliche Aufbau des Sammelbandes, in welchem nachvollziehbarerweise schwerpunktmäßig nationalsozialistische Gewalt behandelt wird, die nach, aber auch schon vor der NS-Machtübernahme, von ganz anderer Qualität gewesen ist, wird die Suggestion der strukturellen Gleichheit von links und rechts wenig plausibel. Zudem arbeiteten das sozialdemokratisch-dominierte „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ und der kommunistische „Rotfrontkämpferbund“ – wie im Beitrag von Willy Buschak und Swen Steinberg ersichtlich wird – trotz Sozialfaschismusthese auf lokaler Ebene selbstverständlich auch gegen die SA zusammen (S. 61), was ebenso gegen das dichotome Schema der Extremismustheorie spricht.

Jenseits dieser methodischen Grundproblematik ist der Sammelband leider insgesamt wenig stringent. Zwar werden verschiedentlich Gewalttheorien und -definitionen wie von Jörg Baberowski oder Dirk Schumann angesprochen (S. 9, 11, 15, 27, 31), aber dann doch nicht konsequent angewandt. So lässt sich abschließend resümieren, dass mit dem gewählten Untersuchungsgegenstand des Sammelbandes zwar ein interessanter und fruchtbarer Ansatz zur Geschichte Sachsens in der Weimarer Republik gewählt wurde, der für die sächsische Regionalgeschichte Sachsens einen ersten Impuls liefert und durch Spezialstudien weiterverfolgt werden sollte. Die gewählten empirischen Grundlagen der Beiträge lassen bei dem oberflächlichen Analyserahmen allerdings nur wenig allgemeine Schlüsse zu. Daher wird das in der Grundanlage des Sammelbandes vorhandene Potenzial nicht ausgeschöpft.

Anmerkungen:
1 Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017.
2 Eva Berendsen / Katharina Rhein / Tom David Uhlig (Hrsg.), Extrem Unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von links und rechts, Berlin 2019.
3 Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik, Essen 2001, S. 368.

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