eBooks

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts

2021
978-3-7720-5747-2
A. Francke Verlag 
Katharina Bock
10.2357/9783772057472
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Dieser Band untersucht anhand ausgewählter dänischer Prosa im 19. Jahrhundert die Ambivalenz philosemitischer Literatur. Es wird gezeigt, wie bestehende Vorstellungen über Juden und Jüdinnen einerseits literarisch entlarvt und gebrochen werden, und wie andererseits jüdische Figuren weiterhin Projektionsfläche und christliches Phantasma bleiben. Philosemitismus wird als spezifisch literarisches Phänomen betrachtet, indem gefragt wird, welche Erzählmöglichkeiten sich durch die jüdischen Figuren im Text eröffnen und was diese Figuren literarisch so attraktiv macht. Obwohl die untersuchten Texte zumeist um das Thema Religion kreisen, interessieren sie sich kaum für das Judentum ihrer jüdischen Figuren. Vielmehr dienen die Juden und Jüdinnen dazu, das Christentum aufzuwerten und zu erneuern. Dabei spielen Fragen nach Politik und nationalem Selbstverständnis ebenso eine Rolle wie nach Geschlecht, Begehren und der Bedeutung von Kunst.

Philosemitische Schwärmereien Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts Katharina Bock Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser (Basel/ Zürich), Klaus Müller-Wille (Zürich), Anna Katharina Richter (Zürich), Lena Rohrbach (Basel/ Zürich), Lukas Rösli (Berlin), Thomas Seiler (Bø) Begutachtung: Die Bände der Reihe werden einem (Double blind-)Peer-Review Verfahren unterzogen. Ausführliche Angaben zu den Mitgliedern der Redaktion sowie zu deren Aufgaben und Funktionen und zur Manuskriptbegutachtung finden sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (http: / / www.sagw.ch/ sgss). Band 67 · 2021 Katharina Bock Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts Dr. Katharina Bock Humboldt-Universität zu Berlin Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät Nordeuropa-Institut 10099 Berlin https: / / orcid.org/ 0000-0003-1151-6566 DOI: https: / / 10.2357/ 9783772057472 Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8747-9 (Print) ISBN 978-3-7720-5747-2 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0135-2 (ePub) Umschlagabbildung: „Abraham empfängt die Verheißung“, in: Das Neue Testament unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi nebst dem Psalter nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Durchgesehen nach dem von der Deutschen evangelischen Kirchenkonferenz genehmigten Text. Illustrierte Ausgabe mit hundert Bildern nach Schnorr v. Carolsfeld. Preußische Haupt- Bibelgesellschaft Klosterstr. 71. Berlin 1908, S. 275 (Römer 4). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 1 11 1.1 12 1.2 13 1.3 15 1.4 18 1.4.1 18 1.4.2 19 1.4.3 21 1.5 23 1.5.1 23 1.5.2 26 1.5.3 28 1.6 29 2 37 2.1 37 2.2 38 2.2.1 39 2.2.2 40 2.3 43 2.3.1 43 2.3.2 45 2.3.3 48 2.4 49 2.4.1 49 2.4.2 52 2.4.3 55 2.5 59 2.6 63 2.7 66 2.8 67 2.9 70 3 73 3.1 73 Inhalt Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangspunkt und Fragezeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Gedanken über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache Dänemark und die Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . Jüdische Figuren in der dänischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textauswahl und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisch-methodische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung . . . . . . . . . . . Kulturpoetik und Zirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerstände und die Lust am Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosemitismus als literarischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den gamle Rabbin - Kontext und Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prototypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ‚schöne Jüdin‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der ‚edle Jude‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische und christliche Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgrenzung I: Im Hause des reichen Juwelenhändlers . . . . . . . . . Ausgrenzung II: Im Hause des assimilierten Juden . . . . . . . . . . . . . Ankommen: Im Hause der guten Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Künstler als Heiland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erschaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855) . . . . . . . . . . . . . . . . . Märchenhafte Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ewiges Wandern - Ahasverus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs II: Hans Christian Andersen: Fodreise (1829) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Figuren als Türöffner und Alleskönner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blichers Juden in Jütland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 75 3.3 76 3.4 77 3.4.1 78 3.4.2 79 3.4.3 80 3.5 82 3.5.1 83 3.5.2 85 3.6 88 3.7 91 3.8 93 3.8.1 94 3.8.2 95 3.9 98 3.9.1 98 3.9.2 99 3.10 100 3.11 101 4 103 4.1 103 4.2 104 4.2.1 104 4.2.2 106 4.2.3 108 4.2.4 109 4.2.5 110 5 113 5.1 113 5.2 115 5.3 116 5.3.1 117 5.3.2 119 5.3.3 121 5.4 122 5.4.1 122 5.4.2 126 5.4.3 128 5.5 131 5.5.1 132 Jøderne paa Hald - Aufbau und Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ahasverischer Spuk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Un-)echte Judenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Salamiel Lima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joseph Lima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Unbekannte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sulamith - die orientalisierte Jüdin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „So komme, mein Geliebter, in seinen Garten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik als Ausdruck der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erneuerung des Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geglückte Akkulturation I: Typisch dänisch! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geglückte Akkulturation II: Typisch holländisch! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holländisches Eisvergnügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Eis als Ort der Konversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überkreuzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johan und die jüdische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johans Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Selbstreflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assoziationsüberschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd: Jøden (1836) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gyllembourg - die anonyme Realistin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jøden - Liebe, Kapital und ein bis zwei Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohlstand und Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion - die Ringparabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Falsches Pflegekind - echter Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkennbarkeit des Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweigen über die Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauch - vergessenes Monument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guldmageren - Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guter Jude, schlechter Jude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerettet - ungerettet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbessert - unverbesserlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protestantisches Bürgertum vs. katholischer Adel . . . . . . . . . . . . . . Benjamin de Geer - der Alchemist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faszination Alchemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doppelt gefährdet: Alchemist und Jude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg des Steins der Weisen: Antike - Judentum - Christentum Liebe = Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freisleben und Felicitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 5.5.2 133 5.5.3 134 5.6 136 5.6.1 137 5.6.2 140 5.6.3 145 5.7 148 6 151 6.1 151 6.2 154 6.3 156 7 159 7.1 160 7.2 161 7.3 162 7.4 164 7.5 165 7.5.1 167 7.5.2 168 7.6 170 7.6.1 170 7.6.2 173 7.6.3 175 7.6.4 178 7.6.5 180 7.6.6 181 7.6.7 182 7.7 186 7.7.1 186 7.7.2 188 7.7.3 192 7.7.4 195 7.7.5 197 7.7.6 199 7.7.7 203 7.8 205 7.8.1 205 7.8.2 208 7.8.3 211 De Geer und Manon Verdier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodor und Manon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . Südamerika als Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veronica und Isak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manon und De Geer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Figuren als Verstärker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frederik Christian Sibbern: Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet (1850) . . . Unsterblichkeit als Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Jude als religiöses Monument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Jude als Irritationsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Figuren bei H.C. Andersen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Autor im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kun en Spillemand auf der Couch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Text im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kun en Spillemand - Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst und Körper - noch einmal Roland Barthes . . . . . . . . . . . . . . Christian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der jüdische Paradiesgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hochzeit spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pate und Dämon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teufelsgeiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhinderter Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikalische Erweckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Verwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naomi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfrontation mit dem Jüdischsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Die Beste“ - Konfirmation einer Freidenkerin . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgrenzung als Jüdin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgrenzung als Frau! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Zigeunerblut“ und „Judenblut“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambivalentes Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naomi und Christian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik und Queerness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bändigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herstellung der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 8 215 8.1 217 8.2 218 8.3 221 9 223 9.1 225 9.2 230 233 239 260 Hans Christian Andersen: At være eller ikke være (1857) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Geschwister: Esther und Julius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sex und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles auf Anfang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosemitisches Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract & Keywords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt Danksagungen Ich möchte mich bedanken bei Stefanie von Schnurbein, meiner Doktormutter, der besten, die ich mir denken kann. Für die fachliche Betreuung, natürlich, vor allem aber für die menschliche Betreuung, die außergewöhnlich war, und die mir immer wieder den Mut gegeben hat, diese Arbeit zu schreiben. Ich danke meinem Zweitgutachter Joachim Schiedermair für die angenehme Zusammenarbeit, für anregende Gespräche und die sehr wertvollen Hinweise für diese Publikation. Ich bedanke mich beim Evangelischen Studienwerk Villigst für die Unterstützung meiner Arbeit durch das Promotionsstipendium und für die außergewöhnlichen und anregenden Begegnungen. Es steckt viel Villigst in dieser Arbeit. Viele Menschen haben mich in den letzten Jahren begleitet. Fürs Zuhören und ge‐ meinsame Nachdenken über meine Ideen und Fragen danke ich „dem Oberseminar“ am Nordeuropa-Institut, insbesondere Frauke Ebert, Natia Gokieli, Christina Just, Janke Klok, Lill-Ann Körber, Marie Lindskov Hansen, Dörte Linke, Matthias Mergl und Doreen Reinhold. Gleiches gilt für das Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin-Bran‐ denburg und das Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus in seinen verschiedenen Besetzungen; insbesondere Mirjam Wenzel, der Philosemitismus-Stichwortgeberin, sei hier gedankt. Christina-Maria Bammel, Christhard Hoffmann und Klaus Müller-Wille danke ich für die Unterstützung bei der Bewerbung um ein Stipendium. Florian Brandenburg für die große Hilfe bei den ersten Schritten zu dieser Arbeit. Clemens Räthel für seinen scharfen Blick, seine frohstimmende Kritik und den erbaulichen Austausch über Musik. Für praktische Hilfe und Unterstützung danke ich Marzena Dębska-Buddenhagen, Uta Kabelitz und Tomas Milosch. Fürs kritische Lesen erster Kapitelentwürfe, für Hilfe mit renitenten Computerpro‐ grammen, Arbeitsstrukturierungsratschläge, guten Zuspruch und gedeckte Tische danke ich Hanna Acke, Peter Baer, Katharina Brechensbauer, Frank Dietrich, Christoph Erlen‐ kamp, Anja Godolt, Ulrike Hempel, Heike-Rose Janietz, Angela Nikolai, Katharina Pohl, Jonas Sandmeier und Clara Taborda. Ich danke Frau Büchler, die plötzlich da war und blieb und mir in jeder Hinsicht half, mit Fragen und Zuhören, Reden und Schweigen an den richtigen Stellen und zur richtigen Zeit. Ich möchte meinen Eltern Peter Bock und Margrit Schugk-Bock danken, die mich trotz ihrer eigenen so schweren, allzu schweren Sorgen unterstützt haben, wo und wie sie konnten. Am allermeisten aber danke ich meinem geduldigen und ungeduldigen Mann und Freund Manuel Winterscheid. Für sein Drängen und Nerven, fürs Lesen und Fragen, für seine Zusage an mich, für seine Forderung nach meiner Stimme, fürs Schubsen, Umarmen und Festhalten. Danke! DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 Im weiteren Verlauf der Arbeit versuche ich Epochenbezeichnungen weitestgehend zu vermeiden, zu unscharf und konstruiert sind die Grenzziehungen zwischen einzelnen Epochen und literarischen Strömungen. Die Homogenität, die eine solche Epochenbezeichnung suggeriert, ist tatsächlich oft nicht eindeutig auszumachen, wenngleich es manchmal hilfreich oder notwendig ist, bestimmte Epochen- oder Stilmerkmale unter solch vereinheitlichenden Bezeichnungen zusammenzufassen (vgl. hierzu Müller-Wille 2016: 133-140). 1 Einleitung Philosemitische Schwärmereien - der Titel wirft Fragen auf. Was ist eigentlich Philosemi‐ tismus? Und was genau ist hier mit ‚Schwärmerei‘ gemeint? Hat nicht Martin Luther seine religiösen Gegner als Schwärmer diffamiert? War nicht noch in der deutschen Aufklärung der Vorwurf, ein Schwärmer zu sein, wenig schmeichelhaft? Und ist es überhaupt ange‐ messen, den Begriff auf die dänische Literatur des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts zu beziehen? ‚Schwärmerei‘ hat viele Konnotationen, von religiöser über fanatische Schwär‐ merei für einen unvernünftigen Irrglauben über eine krankhaft wirkende Unruhe bis hin zu einem ausschweifenden, bacchantischen Lebensstil (vgl. Grimm 1854-1961: 2292-2293). Als Teil des Titels für meine Untersuchung verwende ich den Begriff im Sinne einer moderaten, einer sinnlichen, jedoch nicht unbotmäßigen Form der Schwärmerei, wie sie im Wörterbuch der Brüder Grimm als dritte Bedeutungsnuance mit einem Zitat von Wieland umschrieben wird: „gerade diese schwärmerey, diese schöne seelentrunkenheit, die uns die gegenstände unsrer bewundrung, unsrer liebe, unsers verlangens, in einem so zaubrischen lichte zeigte“ (1854-1961: 2292). Diese Beschreibung, dem Kontext der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte entnommen, hat ihren ursprünglichen Charakter als Kampfbegriff zur Diffamierung ideologischer Gegner zu diesem Zeitpunkt bereits weitestgehend verloren. Stattdessen öffnet sich nun, am Übergang zur Romantik, einer nachfolgenden Schwärmer‐ generation „die Pforte […] der Kunst“, so der Literaturwissenschaftler Manfred Engel. „In der nun anbrechenden neuen Zeit wird auch der Schwärmer in neuer Gestalt und glänzend rehabilitiert wiedergeboren: nämlich als Romantiker“ (2009: 66). Die Schwärmerei kann also, Engel folgend, als Kern der Romantik begriffen werden - und um die Literatur der dänischen Romantik geht es in der vorliegenden Untersuchung im Wesentlichen. 1 Obwohl zunehmend positiv besetzt, behält der Begriff ‚Schwärmerei‘ auch im 19. Jahrhundert die einstigen Konnotationen seiner Geschichte bei: Religiöses und Metaphysisches schwingt in ihm ebenso mit wie Diskurse von Liebe, Ästhetik und Moral und schließlich „[f]ast alles, was mit dem nüchternen Verstandesblick auf die Erfahrungswelt nicht konformiert“ (Engel 2009: 58). Zugleich soll die Verwendung des Begriffs bereits im Titel dieser Arbeit anzeigen, wo der Philosemitismus, von dem hier weit häufiger als von der Schwärmerei die Rede sein wird, einzuordnen ist: nämlich im Bereich der Kunst, explizit der Literatur, und stets außerhalb eines „nüchternen Verstandesblicks“. Die Rede ist hier also von einer Schwärmerei, die ihr begehrtes Objekt verklärt und der als Wirklichkeit erlebten Erfahrungswelt enthebt. Wobei nicht außer Acht gelassen werden soll, dass sie zugleich normativ auf diese Erfahrungswelt einwirkt. Das Objekt ist im Falle der vorliegenden DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 2 Die einzige Ausnahme ist hier Hans Christian Andersen, der sein gesamtes schriftstellerisches Schaffen hindurch immer wieder über jüdische Figuren schrieb. 3 Umfassende, überwiegend historische Studien und Darstellungen zum Antisemitismus in Deutsch‐ land sowie zum jeweils aktuellen Forschungsstand finden sich z. B. bei Rürup (1975), Erb/ Bergmann (1989), Holz (2001), Schoeps (2010) und Bergmann/ Wyrwa (2011). In der dänischen Forschung wurde Antisemitismus in Dänemark lange Zeit weitestgehend als marginale Randerscheinung und Import aus Deutschland verstanden, eine Sichtweise, die erst seit etwa der Jahrtausendwende kritisch hinterfragt wurde, so z. B. von Wagner (2001, 2002) und Bak (2004). Untersuchung das Judentum beziehungsweise dessen Vertreterinnen und Vertreter: Juden und Jüdinnen, reale und fantasierte. In den folgenden Abschnitten werde ich zunächst die Problemstellung und meine Fragestellung formulieren. Im Anschluss daran erläutere ich in einem kurzen Exkurs, wie in dieser Arbeit gegendert wird. Damit diese Frage von jedem Punkt der Arbeit aus geklärt werden kann, findet die Erläuterung nicht in einer Fußnote, sondern unter einem eigenen Gliederungspunkt statt. Es folgen eine historische und eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung sowie die Erläuterung meiner Literaturauswahl und ein Überblick über die Forschungsliteratur. Danach stelle ich meine methodisch-theoretischen Zugänge vor und nehme abschließend eine ausführliche Diskussion des Begriffs ‚Philosemitismus‘ vor. 1.1 Ausgangspunkt und Fragezeichen Ab den späten 1820er-Jahren tauchen jüdische Figuren in den Erzähltexten aller namhaften dänischen Autoren auf, und dieser Trend setzt sich bis in die 1850er-Jahre fort. Wobei von einem Trend zu reden übertrieben scheinen mag, schließlich hält sich die Zahl der Werke über jüdische Figuren in einem überschaubaren Rahmen, und kaum ein Autor oder eine Autorin hat mehr als einen solchen Erzähltext veröffentlicht. 2 Dabei fällt besonders die Art und Weise, wie hier über Juden geschrieben wird, ins Auge. Viele dieser Romane und Erzählungen weisen bereits in ihrem Titel die Juden als Hauptfiguren der Erzählung aus. Wenngleich keine dieser Figuren frei von stereotypen und ambivalenten Zuschreibungen ist, fällt doch auf, dass die Erzählstimme sich durchweg empathisch und mit Sympathie den jüdischen Figuren zuwendet. Wie fern jüdischer Lebenswelten und wie problematisch die schwärmerische Zuwendung zu den begehrten Objekten auch sein mag, die Erzählinstanzen nehmen stets eine Haltung der Bewunderung und der Identifikation mit den jüdischen Figuren ein und erzeugen beim Lesepublikum auf diese Weise gleichfalls Sympathie. Diese Besonderheit der ausgewählten Texte begründet den ersten Teil des Titels dieser Arbeit, den Gebrauch des Adjektivs ‚philosemitisch‘. Als höchst ambivalenter und umstrittener Begriff erfordert seine Verwendung eine kritische Reflexion, die in Kapitel 1.6 vorgenommen wird. Zunächst einmal soll der Begriff ‚Philosemitismus‘ als heuristisches Werkzeug dienen, um benennen zu können, was die ausgewählten Texte miteinander verbindet und was sie für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung interessant macht. Anders als der Antisemitismus ist der Philosemitismus in der Forschung ein relativ wenig bearbeitetes Thema. 3 Dabei steigt mit der Aufklärung und der zunehmenden Forderung nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Europa ab etwa 1780 die Produktion philo‐ 12 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) semitischer Texte deutlich an. Um 1800 herum entwickelt sich eine kontrovers geführte öf‐ fentliche Debatte über die Möglichkeit und vermeintliche Unmöglichkeit einer rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Minderheiten in den verschiedenen europäischen Staaten. Dänemark ist eines der ersten europäischen Länder, in dem die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung umgesetzt wurde, 1814 erhielten die dänischen Juden die Bürger‐ rechte. 1849 wurde eine neue dänische Verfassung verabschiedet, in der dann auch das Recht auf freie Religionsausübung für alle religiösen Minderheiten verankert wurde. Literatur ist Teil des Diskurses über Juden und Jüdinnen, mehr noch, sie ist diskurskonstituierend (vgl. z. B. Belsey 2000: 51-52). Ein Merkmal philosemitischer Literatur ist, dass sie oftmals eine Reaktion auf den gleichzeitig vorhandenen judenfeindlichen und emanzipationskritischen Diskurs darstellt, ihn also reflektiert, in sich aufnimmt und ihm zugleich eine eigene Position entgegensetzt, die ihrerseits prägend und verändernd auf den Diskurs wirkt. Die vorliegende Untersuchung soll ein Beitrag sein, die bestehende Forschungslücke zu schließen, wobei der Philosemitismus weder als vorwiegend dänisches noch als vereinzelt auftretendes und somit irrelevant erscheinendes Phänomen betrachtet werden soll. Die Fragestellung, die mich durch diese Arbeit leitet, ist stets diese: Was bewirken die jüdischen Figuren im Text, welche Erzählmöglichkeiten eröffnen sie? Und im Anschluss daran interessiert die Frage: Wann, wie und warum wird über jüdische Figuren geschrieben und wie wird Wissen über Jüdinnen und Juden durch die Literatur in Frage gestellt oder verfestigt? Dabei richtet sich mein Blick bei der Suche nach Antworten nicht allein auf die jüdischen Figuren, sondern auch auf diejenigen Figuren und Handlungsstränge, die zunächst einmal nichts mit den Juden und Jüdinnen zu tun zu haben scheinen. Gerade hier, in den scheinbaren Zusammenhanglosigkeiten zwischen den geschilderten Ereignissen und den jüdischen Figuren, finden sich oftmals die eindrücklichsten und überraschendsten Erklärungen für die literarische Attraktivität jüdischer Figuren. 1.2 Exkurs: Gedanken über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache Wo es um zugestandene oder verwehrte Gleichstellung von Juden und Jüdinnen und um die wertschätzende oder auch abwertende literarische Darstellung von jüdischen Figuren geht, liegt es auf der Hand, sich auch auf der Metaebene mit der sprachlichen Gerechtigkeit in dieser Arbeit zu befassen. Daher ist es notwendig, diese Untersuchung mit einigen kurzen Überle‐ gungen zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache zu beginnen. Bei der Bezeichnung der Leserinnen und Leser verwende ich inkonsequent mal die maskuline, mal die feminine Form, wechsle diese aber auch ab mit anderen Formen der geschlechtergerechten Sprache wie ‚Leser*innen‘, ‚Lesende‘ oder ‚Lesepublikum‘. Ich möchte einerseits den Lese- und Gedanken‐ fluss nicht stören, andererseits möchte ich Geschlechtervielfalt sprachlich sichtbar machen. Eine einzige durchgängige Form hat entweder den Nachteil, Teile des Lesepublikums auf Dauer eben doch unsichtbar zu machen, wie die konsequente Verwendung des Maskulinums, oder aber den Schreib- und Lesefluss massiv zu behindern, wie es beispielsweise häufig in grammatischen Konstruktionen der Fall ist, in denen die Sternchenform ‚Leser*in‘ mit einem Artikel oder Pronomen in Verbindung steht, beispielsweise in einem Satz über den*die 13 1.2 Exkurs: Gedanken über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 4 Mir ist bewusst, dass ich hier nur meinen eigenen Denk-, Lese- und Schreibfluss zum Kriterium machen kann. Ich hoffe aber, dass auch andere Lesende sich in der gewählten Mischung gesehen und auf fruchtbare Weise irritiert fühlen. 5 Es wäre zu überlegen, ob H.C. Andersens Roman Kun en Spillemand in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellt. Leser*in und dessen*deren Wahrnehmung eines Textes eines*r bestimmten*r Autors*in. Da die Verwendung geschlechtergerechter Formulierungen die Funktion hat, unsichtbare oder marginalisierte Geschlechter sichtbar zu machen, sehe ich diese Funktion in einem moderat wechselnden Gebrauch verschiedener Sprachformen, die sich vor allem am Lese- und Denkfluss orientieren, 4 erfüllt. Komplizierter verhält sich es bei der Verwendung von ‚Juden‘ und ‚Jüdinnen‘ - hier schreibe ich häufig ‚Juden und Jüdinnen‘, sofern tatsächlich Männer und Frauen gemeint sind. Gegebenenfalls verwende ich auch nur die maskuline oder feminine Form. Geht es beispielsweise um Fragen der bürgerlichen Gleichstellung, die nur männliche Juden betreffen, wie das Wahlrecht, oder um religiöse Rituale, die nur von männlichen Juden ausgeführt werden, würde eine automatisierte Nennung von Jüdinnen verschleiern, dass es sich in diesen Fällen um explizit männliche Privilegien und somit auch nur um männliche Personen handelt. Aus demselben Grund ist die Verwendung des Gendersternchen in vielen Fällen nicht angebracht. Erschwerend kommt hier noch hinzu, dass es selbst dort, wo tatsächlich Jüdinnen und Juden gemeint sind, je nach Zusammenhang irreführend wäre, von Jüd*innen zu reden. Denn die geschlechtliche Vielfalt jenseits binärer Vorstellungen, auf die das Sternchen verweist, ist in den (meisten der) untersuchten Texten eben ausdrücklich nicht angelegt. Die Texte erzählen explizit von jüdischen Männer- und jüdischen Frauenfiguren. 5 Eine weitere Herausforderung stellt die Bezeichnung der Autor*innen dar - denn zwar ist eine Novelle einer Autorin Teil der Literaturauswahl. Allerdings beziehe ich mich nicht an jeder Stelle tatsächlich auch auf sie. Daher versuche ich, sprachlich deutlich zu machen, wen ich im jeweiligen Fall meine. Wo tatsächlich nur männliche Autoren gemeint sind, benenne ich auch nur sie. In den anderen Fällen verwende ich entweder die maskuline und die feminine Form oder das Gendersternchen. Meine Entscheidungen für die eine oder andere Form des Genderns sind abhängig vom Inhalt des Satzes, von der Frage, wer tatsächlich gemeint ist oder gemeint sein könnte, von seiner grammatischen Struktur und vom Bemühen, den Lesefluss nicht durch umständliche Formulierungen zu behindern. Es gibt keine einheitliche und zugleich vollkommen befrie‐ digende Weise, Sprache zu gendern. Der Versuch, es trotzdem zu tun, führt nicht nur oftmals zu einem umständlichen Satzbau, sondern ist je nach Kontext sogar falsch oder zumindest irreführend und darüber hinaus tatsächlich kaum konsequent durchführbar. In nahezu jedem scheinbar konsequent gegenderten Text findet sich das eine oder andere unbeabsichtigte generische Maskulinum. Der Sinn des Genderns in der vorliegenden Arbeit soll also zum einen sein, die betreffenden Personengruppen möglichst genau zu benennen. Durch die Unregelmäßigkeiten in den gewählten Formen des Genderns sollen zum anderen die Lesenden animiert werden, aufmerksam zu bleiben und stets selbst zu reflektieren, wer hier eigentlich tatsächlich liest, schreibt, spricht, handelt, ausgegrenzt wird, sich emanzipiert und so weiter. Mit dieser unregelmäßigen und teilweise inkonsequenten, keineswegs aber beliebigen Form des Genderns soll der Versuch unternommen werden, so 14 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 6 Clemens Räthel weist auf die kritische Reflexion des Begriffs hin, die bereits seit dessen Prägung Ende des 19. Jahrhunderts verschiedentlich vorgenommen wurde (2016: 139-140 [Fußnote 1]; vgl. hierzu auch Müller-Wille/ Schiedermair 2013: IX). weit wie möglich sprachliche Geschlechtergerechtigkeit, historische Genauigkeit und gute Lesbarkeit miteinander zu vereinen. 1.3 Dänemark und die Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Dänemark wirtschaftlich extrem geschwächt. In den Napoleonischen Kriegen hatte Dänemark auf französischer Seite gekämpft, 1807 war Kopenhagen von englischen Seestreitkräften bombardiert und in großen Teilen zerstört worden, tausende Zivilisten waren ums Leben gekommen, die dänische Flotte komplett verloren. Zu Beginn des Jahres 1813 war die finanzielle Lage Dänemark so desaströs, dass der Staat de facto als bankrott bezeichnet wurde. Der Kieler Frieden von 1814 nötigte außerdem den dänischen König Frederik VI., das Gebiet Norwegen, das 400 Jahre lang der dänischen Krone unterstellt war, an Schweden abzutreten (vgl. z. B. Henningsen 2009: 127). Somit hatte das dänische Königreich innerhalb kurzer Zeit dramatisch an politischer Macht und geografischer Größe verloren. Gerade in dieser Zeit entwickelte sich ein vielfältiges Kulturleben, die Künste blühten auf, und die Literaturproduktion stieg enorm an. Für den Zeitraum zwischen 1800 und 1850 hat sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in Dänemark der Begriff Guldalderen, also „das Goldene Zeitalter“, etabliert. Wenngleich das Verklärende dieses Begriffs unverkennbar ist, 6 greife ich auf diese Epochenbezeichnung zurück, bezieht sie sich doch, mit Bernd Henningsen gesprochen, auf „ein goldenes Zeitalter in einer eisernen Zeit“ (2009: 137), das „[f]ür Dänemark […] in etwa die Bedeutung wie die ‚Weimarer Klassik‘ für Deutschland“ hat (2009: 138). Goldenes und Eisernes verbinden sich in Dänemark auch bei der Emanzipation der Juden und Jüdinnen. Die rechtliche Gleichstellung wurde in jenem Zeitraum nicht nur kontrovers diskutiert und schließlich mit der Verankerung der Religionsfreiheit in der Verfassung vollzogen, sondern teilweise auch gewalttätig zu verhindern versucht. Einerseits wurden dänischen Juden und Jüdinnen 1814 Bürgerrechte gewährt. Dänemark war damit nach Frankreich eines der ersten Länder in Europa, die diese Gleichstellung weitestgehend vollzogen hatten. Andererseits kam es in den folgenden Jahren und Jahrzehnten seitens der nicht-jüdischen Bevölkerung wiederholt zu verbalen und physischen Angriffen gegen Juden und Jüdinnen. Darüber hinaus wurden das Recht auf freie Religionsausübung für Juden und alle anderen religiösen Minderheiten sowie das volle passive Wahlrecht zu den Ständeversammlungen für Juden erst mit der Einführung der neuen Verfassung, des Junigrundloven [ Junigrundgesetz], 1849 festgeschrieben - und auch hier gegen erhebliche Widerstände von Emanzipationsgegnern (vgl. Schwarz Lausten 2005: 320-371, 2012: 161- 195). Die ersten Juden in Dänemark - zumindest die ersten, deren Aufenthalt dokumentiert ist - waren Sepharden, die zu Beginn des 17. Jahrhundert aus den Niederlanden nach Däne‐ mark kamen. 1684 wurde in Kopenhagen die erste offizielle jüdische Gemeinde gegründet. 15 1.3 Dänemark und die Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 7 Sämtliche Übersetzungen fremdsprachiger Zitate sind von mir, KB, soweit nicht anders angegeben. 8 Wie schon bei Martin Luther bezieht seine Kritik am Judentum eine Kritik am Katholizismus mit ein. Ausführlicher wird dieser Aspekt in den Kapiteln 3.6, 5.3.3 und 7.6.7 behandelt. 9 Zwischen 1832 und 1834 wurde in verschiedenen Kommunen diskutiert, ob Juden sich zur Wahl für die Ständeversammlungen aufstellen lassen dürfen. Unter anderem wurde als Argument gegen das passive Wahlrecht angeführt, dass Juden aufgrund des Sabbats samstags nicht an Versammlungen teilnehmen und somit ihr Amt nicht ausfüllen könnten. Um eine einheitliche Regelung für alle Kommunen zu treffen, verbot Frederik VI. Juden, sich für die Wahl der Ständeversammlungen auf‐ stellen zu lassen (vgl. Schwarz Lausten 2005: 320-371; eine kurze Zusammenfassung der Diskussion bei Schwarz Lausten 2012: 193-195). Jüdisches Leben in Dänemark unterlag im 17. und 18. Jahrhundert zwar ähnlichen Beschrän‐ kungen, wie sie auch für die jüdische Bevölkerung in anderen Ländern Europas galten, diese waren jedoch weitaus weniger rigoros als zum Beispiel in Preußen. Ende des 18. Jahrhun‐ derts begann der dänische Kronprinz und spätere König Frederik VI., schrittweise Reformen zur Besserstellung der Juden umzusetzen. 1796 wurde unter Mitwirkung von Vertretern der jüdischen Gemeinde eine Agenda erarbeitet, deren Ziel eine grundsätzliche Erneuerung des geltenden Rechts war. Die Umsetzung dieser Agenda scheiterte zunächst am Widerstand aus der jüdischen Gemeinde selbst, da mit der rechtlichen Gleichstellung auch der Verlust der jüdischen Identität befürchtet wurde (vgl. hierzu Blüdnikow/ Jørgensen 1984: 13-90 und Schwarz-Lausten 2012: 67-156). 1813, zur Zeit der Wirtschaftskrise, wurden vermehrt emanzipationskritische Stimmen dänischer Christen laut, die sich mit judenfeindlicher Rhetorik von der Idee der rechtlichen Gleichstellung distanzierten, vor allem aber wohl einen „syndebuck [Sündenbock]“ suchten, „for at afreagere al sin dumpe vrede [um all ihre dumpfen Rachegelüste abzureagieren]“ (Albertsen 1984: 30). 7 Als Auslöser für den Streit, der gemeinhin als den litterære Jødefejden, „die literarische Judenfehde“, bezeichnet wird, gilt Friedrich Buchholz’ Abhandlung Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische Verhältnis der Juden und Christen [1803] (1803). Buchholz wendet sich darin gegen die Kernaussagen von Christian Dohms vielfach rezipierter emanzipationsbefürwortender Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden [1781] (1781). Der Dichter Thomas Thaarup übersetzte Buchholz’ Schrift 1813 aus dem Deutschen ins Dänische (1813). Dabei unternahm er nicht nur einige Modifikationen des Originals, sondern stellte der Überset‐ zung auch ein 60-seitiges, rhetorisch sogar deutlich schärferes Vorwort voran. Hierin behauptet er unter Berufung auf Beispiele aus dem Alten Testament und unter Anwendung etlicher judenfeindlicher Zerrbilder die moralische Unterlegenheit der Juden gegenüber den protestantischen Christen 8 und also deren nachweisliche Unverbesserlichkeit. Infolge dieser Publikation entflammte in der kulturell und politisch gebildeten Öffentlichkeit eine heftige Debatte über die Frage, ob dänische Juden den Nicht-Juden rechtlich gleichgestellt werden sollten, dürften oder vielleicht gerade jetzt sogar müssten. Thaarups und Buchholz’ judenfeindliche Thesen fanden gleichermaßen Befürworter und Gegner, unter letzteren der Autor Steen Steensen Blicher, dessen Novelle Jøderne paa Hald [Die Juden auf Hald; 1828] in dieser Arbeit untersucht wird. Über Monate hinweg lieferten sich dänische Theologen, Autoren und Publizisten einen schriftlich ausgetragenen Streit für und wider die Gleichstellung der Juden. Zu Beginn des Jahres 1814 setzte Frederik VI. der Diskussion ein vorläufiges Ende, indem er den dänischen Juden die Bürgerrechte erteilte und sie damit de facto in fast allen Punkten den christlichen Dänen gleichstellte. 9 So war zwar 16 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 10 Kristoffer Kaae Kjærgaard nimmt mit seiner Untersuchung eine besondere Perspektive auf die beiden „Judenfehden“ ein, indem er anhand einer Analyse von Thaarups Schriften dessen Judenfeindlichkeit in Beziehung zum spezifisch dänischen Orientalismus setzt. die rechtliche Situation der Juden und Jüdinnen verbessert, doch die Judenfeindschaft war damit nicht überwunden. Thaarup und andere Autoren übersetzten und publizierten weiterhin judenfeindliche Schriften, und schließlich breiteten sich 1819 die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“ von Deutschland ausgehend bis nach Dänemark aus, wo es im Herbst und Winter 1819/ 1820 zu offenen Gewaltausbrüchen gegen Juden kam (vgl. Albertsen 1984; Katz 1994; Rohrbacher 2002: 23-42; Schwarz Lausten 2002: 341-374; Tudvad 2010: 17-54; Kjærgaard 2013: 74-99). 10 1830 keimte in Folge der Julirevolte in Frankreich und Deutschland erneute Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Kopenhagen auf (vgl. Blüdnikow 1981-1983). Mit der Unterzeichnung des Danmarks Riges Grundlov [Grundgesetz des dänischen Reichs], dem sogenannten Junigrundlov , das 1849 das bis dahin geltende Kongelov [Königsgesetz] ablöste, wurden schließlich die Religionsfreiheit und das passive Wahlrecht in der Verfassung verankert. Jüdische Bürgerinnen und Bürger waren so rechtlich vollkommen den nicht-jüdischen gleichgestellt (vgl. Blüdnikow/ Jørgensen 1984: 13-90; Haxen 2001: 487-494; Schwarz-Lausten 2015: 127-172). Die Situation im dänischen Nachbarland Norwegen konnte verschiedener kaum sein. Hier war in der jungen Verfassung von 1814 direkt festgeschrieben worden, dass Juden das Land gar nicht erst betreten, geschweige denn sich niederlassen durften. Erst 1851 wurde, nach jahrelangen öffentlichen und parlamentarischen Debatten, der entsprechende Passus gestrichen, so dass Juden und Jüdinnen einreisen, sich niederlassen, ihre Religion ausüben und die gleichen Rechte wie Nicht-Juden genießen konnten (vgl. Bock 2020: 275-278; Haxen 2001: 494-496; Mendelsohn 1969; Sagmo 2000). Die Situation der Juden und Jüdinnen in Schweden wiederum ähnelte der in Dänemark. Hier siedelten sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert Juden an und gründeten erste kleine Gemeinden. Unter strengen Auflagen war es ihnen gestattet, unternehmerisch tätig zu sein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führten politische Spannungen zunächst zu einer Verschärfung der bereits geltenden Beschränkungen, dann wieder zu einer Lockerung, beides begründet vor allem mit wirtschaftlichen Interessen. Nach weitestgehender, jedoch nicht vollständiger Aufhebung der gesetzlichen Benachteiligung im Jahr 1838 erhielten schwedische Juden 1870 die vollen Staatsbürgerrechte (vgl. Haxen 2001: 496-499). Als prägnantester Unterschied zur dänischen Entwicklung kann wohl der Umstand ausgemacht werden, dass es 1819/ 1820, während es in Deutschland und Dänemark zu offener Gewalt gegen Juden und Jüdinnen kam, in Schweden keine solchen Pogrome gab. Und gerade diese Pogrome sind es, auf die die dänischen Texte sich immer wieder beziehen. 17 1.3 Dänemark und die Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 11 Sämtliche Hervorhebungen in Zitaten im Original. 1.4 Jüdische Figuren in der dänischen Literatur 1.4.1 Vorläufer In der dänischen Literatur hatten bis in die späten 1820er-Jahre Juden und Jüdinnen fast ausschließlich als dramatische Figuren einen festen Ort in der Literatur. Dabei war ihr Platz tatsächlich auf der Bühne und nicht etwa zwischen zwei Buchdeckeln, da die dänische Dramenliteratur ihre Rezeption ausschließlich im Theater und nicht als Lesedrama fand. Darin unterscheidet sie sich von Lessings Nathan der Weise und Shakespeares Kaufmann von Venedig, die in Dänemark bis dahin vor allem als Lesedramen rezipiert wurden (vgl. hierzu Räthel 2016: 18, 125, 150). Die „Bühnenjuden“ auf dem dänischen Theater des 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren zuvorderst komische Figuren. Gleichwohl waren sie nicht zwangsläufig auch lächerlich, wie Clemens Räthel in seiner Monografie Wie viel Bart darf sein? Jüdische Figuren im skandinavischen Theater (2016) zeigt. Sie waren ambivalent und vielfältig, konnten Sympathieträger sein, Gewinner oder Verlierer, Entlarvende oder Schelme. Peter Andreas Heiberg (1758-1841) verlieh in seiner 1792 uraufgeführten Komödie Chinafarerne [Die Chinafahrer] (1806: 287-374) neben anderen, unsympathischen und auf finanziellen Vorteil bedachten jüdischen Figuren, erstmals in der dänischen Dramenliteratur auch einer edlen Judenfigur Körper und Stimme (vgl. Räthel 2016: 108-135). Fast zur gleichen Zeit wie Heibergs Chinafarerne, 1792/ 93, erschienen Jens Baggesens (1764-1826) Reisebeschreibungen Labyrinten eller Reise gjennem Tydskland, Schweitz og Frankerig [Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich] (1965), in der er im Kapitel Jødegaden [Die Judengasse] (2007a) seine Eindrücke aus der Frankfurter Judengasse beschreibt. Eindringlich schildert er die armseligen Verhältnisse, in denen die Juden und Jüdinnen gezwungen sind zu leben und die existenzielle Not, in der ein jüdischer Kleiderhändler sich befindet, als er dem Verfasser und dessen Reisebegleitung schließlich zu einem viel zu niedrigen Preis eine Weste überlässt. Im Anschluss an diese Schilderungen fügt Baggesen ein weiteres Kapitel an, Det christne Fadermord [Der christliche Vatermord], in dem er die Ausgrenzung der Juden heftig kritisiert und dabei deren Ausschluss aus der „menschlichen Gesellschaft“ verurteilt: Er det mueligt, at endu i vort Aarhundrede […] et heelt Folk i Generationers Generationer, med alle sine fødde og ufødde Individuer, kan ansees som uhenhørende til det menneskelige Selskab? Er det mueligt, at man endu i vor Tidsalder kan ansee en Nation, der har physisk og moralsk Existenz tilfælles med alle andre, som politisk uexisterende, som evig bestemt til Landflygtighed? (Baggesen 2007b: 62) 11 Ist es möglich, dass in unserem Jahrhundert noch immer ein ganzes Volk, Generation für Genera‐ tion, mit all seinen geborenen und ungeborenen Individuen, als unzugehörig zur menschlichen Gemeinschaft angesehen wird? Ist es möglich, dass man noch in unserem Zeitalter eine Nation, 18 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 12 In der dramatischen Literatur hingegen finden die Ereignisse lange Zeit keinen Niederschlag und „[i]n den Hochzeiten der Judenfehden 1814 und 1819 verzichtet das Theater nahezu komplett darauf, Stücke anzusetzen, in denen jüdische Charaktere figurieren“ (Räthel 2016: 149). 13 Dieser Anspruch auf Vollständigkeit beruht auf den Vorarbeiten von Brøndsted (2007a), Dal (1993), Schnurbein (2004, 2007), Tudvad (2010) und Wamberg, N. B. (1984). die die physische und moralische Existenz mit allen anderen gemein hat, als politisch inexistent ansieht, als ewig bestimmt zur Landflucht? Auf Thaarups judenfeindliche Publikation im Herbst 1813 reagierte Baggesen mit einer Neuauflage dieser beiden Kapitel aus Labyrinten und unterstrich damit noch einmal die Forderung nach der bürgerlichen Gleichstellung der dänischen Juden. 1816 erschien eine Sammlung von Anekdoter om ædle og gode Jøder [Anekdoten über edle und gute Juden], herausgegeben von E. Petersen, der (oder die? - der Vorname ist nicht bekannt) außer mit dem Lustspiel De kristne Jøder [Die christlichen Juden] aus demselben Jahr literarisch weiter nicht in Erscheinung getreten ist. Während also 1813/ 1814 die verbalen und 1819/ 1820 die physischen Angriffe gegen Juden und Jüdinnen große Präsenz in der medialen Öffentlichkeit hatten, begann die literarische Auseinandersetzung mit den Ausschreitungen erst etwa ein Jahrzehnt später mit Bernhard Severin Ingemanns Novelle Den gamle Rabbin [Der alte Rabbiner; 1827]. Mit dieser Novelle finden die weiterhin aktuellen Fragen nach Emanzipation und Akkulturation wie auch die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung ihren thematischen Niederschlag in der Erzählliteratur. 12 1.4.2 Textauswahl und Aufbau der Arbeit Mit dieser Arbeit soll ein möglichst vollständiger Überblick über die belletristische Literatur des „Goldenen Zeitalters“ gegeben werden, in der von jüdischen Figuren erzählt wird. 13 Diese Figuren sind auf eine Art und Weise gestaltet, die sich nur unzureichend mit Attri‐ buten wie ‚positiv‘, ‚negativ‘, ‚antisemitisch‘ oder eben auch ‚philosemitisch‘ beschreiben lassen. Warum es für diese Untersuchung unvermeidbar und schließlich sogar produktiv ist, dennoch den Begriff ‚Philosemitismus‘ zu verwenden, erläutere ich in Kapitel 1.6. Der Hauptteil dieser Untersuchung ist in vier umfangreiche und drei kürzere Ana‐ lysekapitel unterteilt. In den großen Kapiteln werde ich vier Erzähltexte analysieren, die für meine Fragestellung besonders ergiebig sind. Die übrigen Erzähltexte werden den ausgewählten Haupttexten in Form von Exkursen oder kürzeren Analysekapiteln gegenübergestellt. An den untersuchten Erzähltexten werde ich exemplarisch zeigen, wie sich der Philosemitismusbegriff für die Literaturwissenschaft fruchtbar machen lässt und wie vielfältig die Erzählmöglichkeiten sind, die sich durch die Präsenz jüdischer Figuren in den Texten ergeben. Die Anordnung der vier Haupttexte erfolgt im Prinzip chronologisch, diese Chronologie wird jedoch durch die Gegenüberstellung mit den anderen Texten wiederholt unterbrochen. Einerseits also folgt die Anordnung den Entstehungszeiten der Erzählungen und Romane, andererseits gehorcht sie thematischen Aspekten, indem Texte aus unterschiedlichen Erscheinungsjahren zueinander in Bezug gesetzt werden. Die Kapitel sind so konzipiert, dass sie thematisch aufeinander aufbauen, in sich aber geschlossen sind, so dass sie auch unabhängig voneinander gelesen und verstanden werden können. 19 1.4 Jüdische Figuren in der dänischen Literatur DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 14 In Kapitel 1.5.2 setze ich mich auch auf literaturtheoretischer Ebene mit der Entscheidung ausein‐ ander, die Biografie, bzw. den kulturellen und religiösen Hintergrund der Autor*innen zu einem Auswahlkriterium für die Textauswahl zu machen. Kapitel 2 über Bernhard Severin Ingemanns Novelle Den gamle Rabbin von 1827 dient der Einführung der literarischen Topoi ‚edler Jude‘, ‚schöne Jüdin‘ und ‚Ahasverus‘ sowie des kunstreligiösen Diskurses. Ergänzend werden Andersens Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 [Fußreise vom Holmenkanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829; 1829] und sein Märchen Jødepigen [Das Judenmädchen; 1855] herangezogen. Dieses Kapitel dient vor allem dazu, die Leserin mit den philosemitischen Themen und Topoi vertraut zu machen, die in den folgenden Texten ebenfalls aufgenommen, dann aber gebrochen und modifiziert werden. Ein komplexerer Zugang zu ihnen wird bereits in Kapitel 3 an Steen Steensen Blichers Novelle Jøderne paa Hald deutlich. In dieser Novelle verbindet sich ein politisches Sendungsbewusstsein einerseits mit Elementen aus historischer und Schauerliteratur andererseits. Hierauf folgt das kürzere Kapitel 4 zu Thomasine Gyllembourgs Novelle Jøden [Der Jude; 1836]. Zu dieser Novelle liegt bereits Forschungsliteratur vor, so dass ich mich hier nur auf einzelne, für meine Fragestellung relevante Aspekte konzentriere. Deutlich umfangreicher ist Kapitel 5, in dem der Roman Guldmageren [Der Goldmacher; 1836/ 1851] von Carsten Hauch untersucht wird. In diesem historischen Roman werden zwei gegensätzlich gestaltete jüdische Figuren einander gleichgewichtet gegenübergestellt, was den Roman von den zuvor untersuchten Texten unterscheidet. Hierauf folgt mit Kapitel 6 erneut eine kürzere Untersuchung, denn in Frederik Christian Sibberns Briefroman Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet [Aus Gabrielis’ Briefen von und nach zu Hause; 1850] gibt es nur wenige, jedoch sehr markante Passagen, in denen die jüdische Figur auftritt. Kapitel 7 behandelt Hans Christian Andersens Roman Kun en Spillemand [Nur ein Spielmann; 1837]. Diese Analyse nimmt aufgrund der äußerst komplexen Romankonzeption und Figurengestaltung nicht nur am meisten Raum ein, sondern steht deshalb auch (fast) am Ende der Untersuchung. Das kurze Kapitel 8 zu Andersens späterem Roman At være eller ikke være [Sein oder Nichtsein; 1857] schließt die Arbeit ab. Somit ergibt sich eine umfassende Diskussion sämtlicher dänischer Erzähltexte nicht-jüdischer Autor*innen, in denen von jüdischen Figuren erzählt wird. Ein Überblick über den jeweils relevanten Forschungsstand sowie eine historische wie biografische Kontextualisierung werden in den jeweiligen Kapiteln gegeben. Wer in der Reihe dänischer Autor*innen des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts fehlt, ist Meïr Aron Goldschmidt (1819-1887) mit seinem Debütroman En Jøde [Ein Jude] von 1845 (1927), schließlich fällt das Erscheinungsdatum in den hier untersuchten Zeitraum. Nicht allein die Tatsache, dass Goldschmidt literaturgeschichtlich in der Regel nicht mehr dem „Goldenen Zeitalter“ zugeordnet wird, da er wesentlich jünger ist als die anderen Autor*innen, ist für sein Fehlen in dieser Untersuchung ausschlaggebend - es ist in erster Linie sein Jüdischsein. 14 Dieser Umstand fällt als extrem irritierend ins Auge, denn auf diese Weise reproduziert die Untersuchung paradoxerweise den Ausschluss dänischer Juden aus der nicht-jüdischen Gesellschaft. Dabei ist gerade dieser Ausschluss das Thema von Gold‐ schmidts Roman En Jøde. Er erzählt aus einer jüdischen Innenperspektive vom „Lebensweg 20 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 15 Polaschegg unterscheidet zwischen den Begriffspaaren ‚Eigenes‘/ ‚Anderes‘ und ‚Ver‐ trautes‘/ ‚Fremdes‘. Ersteres Paar bewege sich auf der Achse der Differenz, letzteres auf der Achse der Distanz. eines Juden, der aufgrund von Diskriminierungen an der Aufgabe der Akkulturation in der dänischen Gesellschaft scheitert“ (Schnurbein 2006: 118). Wäre nicht eine Einbeziehung dieser Perspektive lohnend? Ja, das wäre sie. Mit unterschiedlichen Fragestellungen sind Stefanie von Schnurbein (2004, 2006), Cecilie Speggers Schrøder Simonsen (2012a, 2012b) und Florian Brandenburg (2014) an Goldschmidt und En Jøde herangetreten. Mogens Brøndsted hat bereits 1967 mit Goldschmidts Fortællekunst [Goldschmidts Erzählkunst] eine Untersuchung von Goldschmidts Hauptwerken herausgegeben. Und 2016 erschien die Monografie Meïr Aron Goldschmidt and the Poetics of Jewish Fiction von David Gantt Gurley, der im Kapitel „Midrash and Metaphor“ En Jøde als Exegese der Hebräischen Bibel liest (2016: 60-102). Der Roman kann mir jedoch bei der Bearbeitung meiner Fragestellung nicht behilflich sein. Tatsächlich wurde Goldschmidt von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde sogar dafür kritisiert, dass er, so formulierte es Georg Brandes, „serverer sin bestemor i skarp sovs [seine Großmutter mit scharfer Soße serviert]“ (zitiert nach Brøndsted 2007b: 25), also eine allzu intime Darstellung jüdischen Lebens aus der Innenperspektive vorgenommen habe. Philosemitismus ist aber ein nicht-jüdischer, in diesem Fall sogar ein dezidiert christlicher Diskurs (vgl. Kapitel 1.6), und dieser Diskurs ist Gegenstand meiner Analyse. Die jüdischen Figuren in den Romanen und Novellen, die ich hier als philosemitisch charakterisiere, sind weder zufällig oder beiläufig dort, noch sind sie Teil einer möglichst realistischen Darstellung dänischer Lebenswirklichkeiten. Sie dienen nicht einmal vornehmlich dazu, die politische Haltung der Autor*innen literarisch verarbeitet zu verbreiten. Die jüdischen Figuren haben als Außenseiter (vgl. Mayer 1981) und ‚Andere‘ (vgl. Polaschegg 2005: 41-49) 15 vielmehr eine literarische Funktion für den Text selbst, die es zu erforschen gilt. 1.4.3 Forschung Der Titel dieser Untersuchung wirft die Frage auf, ob neben den „philosemitischen Schwärmereien“ auch Texte mit „antisemitischen Verunglimpfungen“ publiziert wurden, die hier keine Erwähnung finden. Solche Texte existieren tatsächlich. Etliche von ihnen sind während der „literarischen Judenfehde“ erschienen und wurden in verschiedenen Arbeiten zusammengetragen und untersucht (vgl. z. B. Albertsen 1984: 36-57; Schwarz Lausten 2002: 205-375; Tudvad 2010: 17-54). Und auch in Søren Kierkegaards Schriften finden sich zahlreiche Anfeindungen gegenüber Juden und eine ausdrückliche Kritik am Judentum. Den zunehmenden Antisemitismus in Kierkegaards Denken hat Peter Tudvad 2010 in seiner umfangreichen Studie Stadier på antisemitismens vej. Søren Kierkegaard og jøderne [Stationen auf dem Weg des Antisemitismus. Søren Kierkegaard und die Juden] untersucht und erstmals in dieser Konsequenz benannt. Doch bei allen diesen Schriften handelt es sich um politische, philosophische und theologische, nicht um literarische Texte. Befasst man sich nur mit der Literatur im engeren Sinne, also mit Erzählliteratur, Lyrik und Dramatik, ist die Darstellung jüdischer Figuren zwar stets ambivalent, aber nicht ausschließlich oder 21 1.4 Jüdische Figuren in der dänischen Literatur DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 16 Nicht in den Band mit aufgenommen werden konnte der Aufsatz von Bock (2019). In dieser Untersuchung zitiere ich, sofern vorhanden, aus den entsprechenden Erstpublikationen. Das betrifft die Aufsätze von Brandenburg (2014), Schiedermair (2013) und Schnurbein (2004, 2006, 2007, 2014). überwiegend negativ oder diskreditierend, sondern im weitesten Sinne positiv angelegt. Auf einige lyrische Werke nehme ich im Verlauf der Arbeit am Rande Bezug. Eine Untersuchung norwegischer Lyrik aus den 1840er-Jahren habe ich bereits 2011 mit meiner Masterarbeit Blühende Dornenzweige. Henrik Wergelands Gedichte und der „Judenparagraf “ in der norwegischen Verfassung vorgelegt und die Ergebnisse 2020 als Aufsatz mit dem Titel „Der Jude. Neun blühende Dornenzweige. Henrik Wergelands politische Dichtung gegen den ›Judenparagrafen‹ in der norwegischen Verfassung von 1814“ veröffentlicht. Auf die Studie von Räthel (2016) zu jüdischen Figuren im skandinavischen Theater habe ich in Kapitel 1.4.1 bereits hingewiesen. Ein gattungs- und epochenübergreifender Überblick über jüdische Figuren und Judentum in der dänischen Literatur findet sich bei Niels Birger Wamberg (1984) in seinem Beitrag über Dansk-jødisk digtning og dansk digtning om jødisk skæbne [Dänisch-jüdische Dichtung und dänische Dichtung über jüdisches Schicksal]. Tine Bach hat mit Exodus. Om den hjemløse erfaring i jødisk litteratur [Exodus: Über die Erfahrung von Heimatlosigkeit in jüdischer Literatur] 2004 eine Untersuchung von Erzählliteratur jüdischer Autoren vorgelegt. Bach setzt darin eine stabile, eindeutige und internationale jüdische Identität und mit ihr eine „jødiske identitetsproblematik [jüdische Identitätsproblematik]“ (2004: 12-13) als gegeben voraus, die sie mithilfe einer autobiogra‐ fischen Lesart zu analysieren versucht. Mit diesen normativen Setzungen verkennt sie jedoch, dass Identität ein gesellschaftliches und wandelbares, durchlässiges Konstrukt ist und somit auch stets ein Produkt von Fremdzuschreibungen, um die es in meiner Arbeit gehen soll. 2007 hat Mogens Brøndsted mit seinem Buch Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur [Ahasverus. Jüdische Elemente in der dänischen Literatur] (2007a) eine Sammlung ausgewählter literarischer Texte über jüdische Figuren herausgegeben und so überhaupt erst einem breiteren Publikum die Möglichkeit gegeben, auf sie aufmerksam zu werden. Diese Sammlung umfasst Texte jüdischer und nicht-jüdischer Autor*innen vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert. Vorangestellt ist ihr eine umfangreiche und auf Voll‐ ständigkeit angelegte literaturhistorische Einführung in die Geschichte jüdischer Figuren in der dänischen Literatur. Sofern die von mir untersuchten Texte in dieser Sammlung enthalten sind, zitiere ich aus dieser Ausgabe. Nicht nur halte ich dieses Vorgehen für leserfreundlich, es stellt darüber hinaus auch eine Würdigung von Brøndsteds literatur‐ wissenschaftlicher Editionsleistung dar. Zuletzt erschien der Sammelband Figurationen des Jüdischen. Spurensuchen in der skandinavischen Literatur (Räthel/ Schnurbein 2020a), hervorgegangen aus dem Arbeitskreis „Juden in Skandinavien“ am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, in den neben erstmalig publizierten Aufsätzen auch bereits zuvor erschienene Beiträge noch einmal aufgenommen wurden. 16 Richtet man den Blick auf entsprechende Forschung zur Literatur der dänischen Nach‐ barländer Norwegen und Schweden, fällt das Ergebnis bescheiden aus. Für Norwegen ist vor allem die als Übersichtsarbeit angelegte Dissertation Vom Schtetl zum Polarkreis. Juden und Judentum in der norwegischen Literatur von Gertraud Rothlauf (2009) zu nennen. Von Madelen Marie Brovold, die sich in ihrer Masterarbeit mit jüdischen Figuren auf der 22 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Theaterbühne beschäftigt hat (2016, 2019), ist derzeit eine weitere Dissertation zu jüdischen Figuren in der norwegischen Literatur im Entstehen. Diese überschaubare Forschungssitu‐ ation mag damit zu begründen sein, dass die literarische Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Norwegen im 19. Jahrhundert fast ausschließlich in lyrischer und dramatischer Form sowie in Reiseberichten und politischen Schriften vor allem eines Autors stattfand, nämlich Henrik Wergeland, sowie in deutlich geringerem Maße bei Andreas Munch, Adolph Rosenkilde und Christian Rasmus Hansson (vgl. hierzu Bock 2011, 2020; Brovold 2019; Mendelsohn 1969: 61-217; Räthel 2016: 267-289, 2020: 122-123; Rothlauf 2009: 69-90; Schnurbein 2014: 90-91; Skorgen 2010; Snildal 2012). Für Schweden bleibt nur die fast vollkommene Abwesenheit jeglicher Forschung zu jüdischen Figuren in der Literatur zu konstatieren und zu fragen, ob hier tatsächlich so wenige jüdische Figuren zu finden sind, dass sich dieser Mangel an wissenschaftlicher Forschung erklären ließe (vgl. Räthel 2020b: 119-122; Räthel/ Schnurbein 2020b: 22; vgl. hierzu auch Heß 2020). Neben Räthels Arbeit zur Dramenliteratur (2016: 291-367) ist hier einzig Hilde Rohlén-Wohlgemuth hier mit ihrem schmalen Band Svensk-judisk litteratur 1775-1994: en litteraturhistorisk översikt [Schwedisch-jüdische Literatur 1775-1994: ein literaturgeschichtlicher Überblick] (1995), in dem sie auf Literatur jüdischer Autoren fokussiert, zu nennen. Abschließend sei noch auf den kürzlich erschienenen Band Antisemitism in the North hingewiesen (Adams/ Heß 2020), der einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Antisemitismusforschung in Skandinavien und innerhalb der Skandinavistik gibt. In der vorliegenden Arbeit nun werden Erzähltexte aus der Zeit des dänischen „Goldenen Zeitalters“ untersucht und das bislang bestehende Forschungsdesiderat literaturwissenschaftlich bearbeitet. 1.5 Theoretisch-methodische Zugänge 1.5.1 Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung Zweifellos wohnt der Literatur die Möglichkeit inne, Stimmen marginalisierter Personen‐ gruppen zu Gehör zu bringen und Identifikation mit ihnen zu stiften. So stellte beispiels‐ weise Martin Sexl 1996 in seinem Aufsatz Was ist Literatur und warum brauchen wir sie? vor allem die Fähigkeit der Literatur heraus „die Bedeutung von Erfahrung(en) zugänglich zu machen“ (1996: 185). Literatur werde durch ihre „Eigenschaft als implizites Wissen […] zu einer Stellvertretererfahrung und dadurch auch zu einer Basis gesellschaftlichen Lebens (d. h. ethischen Könnens): Denn Kunst ist ein Sensibilisierungsprozeß für unsere Wahrneh‐ mungen und Erfahrungen in der ‚realen Welt‘“ (Sexl 1996: 192). Diese Perspektive steht auch für Ulrike Koch im Vordergrund, deren Beitrag 2017 in der Anthologie Vom Eigenwert der Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte (Bartl/ Famula 2017) erschien. Sie betont besonders die Möglichkeit „der Darstellung von Ideen und Problemen aus der Perspektive von marginalisierten Positionen“ (Koch 2017: 282). Außerdem mache Literatur „durch das Ausloten von Grenzen […] den Konstruktionscharakter von Realitäten sichtbar“ (Koch 2017: 283). Außer Zweifel steht allerdings auch, dass Literatur ebenso das Gegenteil bewirken und Vorannahmen festigen kann. So hält Florian Krobb fest: „Die Literatur greift […] in die außerliterarische Realität ein, indem sie zum Beispiel 23 1.5 Theoretisch-methodische Zugänge DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Bewertungsmuster bereitstellt oder Klischeevorstellungen begründen und verfestigen hilft“ (Krobb 1993: 13). In letzter Konsequenz bedeutet dies, mit einer Formulierung der Literaturwissenschaftlerin Catherine Belsey, dass Literatur dazu beiträgt, „die Kultur, die sie hervorgebracht hat, erst einmal selbst zu bilden“ (Belsey 2000: 51-52). Im Schreiben über Juden und Jüdinnen zeigt sich dieses Spannungsfeld in beispielhafter Weise. Doch erst in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich diesen Texten widmen, signifikant gestiegen. Noch 2007 beklagten die Heraus‐ geber der Anthologie Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz in ihrem Vorwort, dass die Literaturwissenschaft als Disziplin innerhalb der Antisemitismusforschung „bislang eher randständig blieb“ (Bogdal/ Holz/ Lorenz 2007: VII). Mit dieser Anthologie wurde also selbst ein wichtiger Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung geleistet, und sie beinhaltet, anders als der Titel suggeriert, auch einige Beiträge, die sich der Judenfeindschaft in der Literatur vor Auschwitz widmen. Seitdem sind etliche Arbeiten hinzugekommen, die aus unterschiedlichen Perspektiven literarische Texte auf ihre Darstellung von jüdischen Figuren befragen. Die Auswahl der untersuchten Texte erstreckt sich mittlerweile von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Nike Thurn (2015) untersucht in ihrer Monografie »Falsche Juden«. Performative Identitäten von Lessing bis Walser Figuren, deren vermeintlich jüdische Identität sich im Handlungsverlauf als Irrtum oder Täuschung herausstellt. Victoria Gutsche richtet in ihrer Arbeit Zwischen Abgrenzung und Annäherung. Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des 17. Jahrhunderts den Blick auf die frühe Neuzeit und stellt dabei die Frage, ob „‚positive Juden‘ in der Literatur des Barock möglich“ waren (Gutsche 2014: 38). Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass jüdische Figuren zwar ganz unterschiedliche Funktionen wahrnehmen können und eben nicht zwangsläufig der Diffamierung des Judentums dienen, die meisten der hier untersuchten Texte jedoch eine eindeutig antijüdische Stoßrichtung verfolgen“ (Gutsche 2014: 388). Paula Wojcik (2013) fokussiert in ihrer Dissertation Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur auf Metaphernkonzepte zum Entwurf von Selbst- und Fremdbildern. Mithilfe metapherntheoretischer Zugänge stellt sie dar, wie in deutsch-, polnisch-, und englischsprachigen literarischen Texten der Gegenwart die Dekonstruktion antisemitischer Stereotype gelingen kann. In allen drei, im Abstand von nur jeweils einem Jahr erschienenen Dissertationen geben die Autorinnen einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und die Schwerpunkte der literaturwissenschaftlichen Antisemitismus‐ forschung (Wojcik 2013: 13-30; Gutsche 2014: 15-23; Thurn 2015: 61-68), so dass ich mich hier weitestgehend auf die Darstellung der jüngeren Entwicklung beschränke. Gutsche konstatiert zusammenfassend zwei Strömungen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung: zum einen eine historisch-soziologisch argumentierende Stereotypforschung und zum anderen eine auf das System Literatur bezogene Motivforschung. Während erstere meist dazu neigt, Stereotype auf ihren Realitätsgehalt hin zu untersuchen, um so deren ‚fiktiven‘ Charakter zu kon‐ statieren, beschränkt sich die Motivforschung häufig darauf, Figurendarstellungen als ‚stereotyp‘ auszuweisen. Damit wird zugleich ein unveränderlicher Charakter eines solchen Bildinventars suggeriert und durch die Literaturwissenschaft perpetuiert. (Gutsche 2014: 23) 24 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Gutsche selbst betont die „spezifische Literarizität“ (2014: 23) von literarischen Texten und bemängelt an den bislang meist verfolgten Ansätzen der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung: Literatur wird so zur bloßen Quelle, die jedem einzelnen Text spezifischen Codierungen und Eigengesetzlichkeiten sowie Gattungsdynamiken bleiben weitgehend unberücksichtigt. So kommt es meist zu einer Einebnung von Spannungen und Ambivalenzen, mögliche Gegenmodulationen zur Bildlichkeit werden kaum sichtbar. (Gutsche 2014: 25) Sie schließt damit an eine Kritik an, wie sie bereits in ähnlicher Weise um die Jahrtausend‐ wende von Franka Marquardt (2003: 23) und Mona Körte (1998: 148, 2007: 63) aufgeworfen wurde. Gutsche kritisiert außerdem, der Begriff ‚Literarischer Antisemitismus‘ sei zu eng gefasst. Untersuchungen, die unter diesem Oberbegriff durchgeführt werden, „konzen‐ trieren sich vornehmlich auf die Literatur ab dem neunzehnten Jahrhundert, insbesondere aber nach 1945.“ Mit der Verwendung des Begriffs ‚Literarischer Antisemitismus‘ werde für die Erforschung literarischer Judenfeindschaft eine systematische (Eingrenzung auf einen bestimmten Zeitraum) und eine qualitative (Antisemitismus als Forschungsgegenstand) Vorent‐ scheidung getroffen, die den Untersuchungsgegenstand erheblich begrenzen und so entscheidende Facetten ausblenden. (Gutsche 2014: 27) Erfreulicherweise hat sich, nicht erst mit diesen jüngeren Publikationen, der Blick auf das Forschungsfeld geweitet, sowohl hinsichtlich des erforschten Zeitraums als auch des Forschungsgegenstands. Es geht inzwischen zunehmend darum, die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten literarischer Darstellungen von jüdischen Figuren sichtbar zu machen. 2013 erschien Eva Lezzis Habilitationsschrift „Liebe ist meine Religion! “ Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Lezzi untersucht in ihrer Studie, „inwiefern die prägenden zeitgenössischen Diskurse zu Liebe, Ehe, Familie und Sexualität eine Alterität zwischen Juden und Christen konstruieren - gerade auch dann, wenn diese Alterität im Begehren zugleich überwunden werden soll“ (Lezzi 2013: 8). Mona Körte stellte bereits im Jahr 2000 in ihrer Monografie Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ewige Jude in der literarischen Phantastik anhand der Untersuchung des Ahasverus-Topos die Flexibilität und Ambivalenz einer um 1600 entstandenen und bis in die Gegenwart vitalen literarischen Figur dar. Auf die Sichtbarmachung von Mehrdeutigkeiten und scheinbaren Widersprüchen legt es auch Franziska Schößler in ihrer 2009 erschienenen Untersuchung Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola an, denn gerade „[d]iese Ambivalenzen, die jegliche Projektionsstruktur prägen, ermöglichen die flexible Adaption an historische Zustände sowie diskursive Vernetzungen“ (Schößler 2009: 34). Die Herausforderung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Analyse besteht also gerade darin, dem Impuls zu widerstehen, diese Ambivalenzen in der Analyse zu vereindeutigen und zu glätten. Hierzu, so Körte, „bedarf es des genauen Lesers und der genauen Leserin, die nicht finden, was sie suchen, sondern sich auf die Bewegung und die Widersprüchlichkeit von Sinnangeboten einlassen“ (Körte 2007: 66). Doch wie kann eine solche genaue Lesart vonstattengehen, ohne von den eigenen Erwartungen und Vorannahmen korrumpiert zu werden? 25 1.5 Theoretisch-methodische Zugänge DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1.5.2 Kulturpoetik und Zirkulation Eine Anregung zur aufmerksamen und neugierigen Annäherung an Literatur bietet Stephen Greenblatt mit seinem freimütigen Geständnis, seine eigene Forschung zur Renais‐ sance sei vor allem von dem Wunsch angetrieben, „mit den Toten zu sprechen“, ein Wunsch, der, „obzwar unausgesprochen, vielen literaturwissenschaftlichen Studien zugrunde liegt“ (Greenblatt 1988: 7). Greenblatt begründete mit diesem Einstieg in seine Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance den New Historicism, einen literaturwissenschaftlichen Ansatz, der literarische und nicht-literarische Texte gleichbe‐ rechtigt zu einander in Beziehung setzt. So wird der literarische Text nicht nur in seinem historischen Kontext berücksichtigt. Vielmehr kann nun aufgezeigt werden, wie bestimmte Ideen und Vorstellungen zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten zirkulieren. Aufgrund dieser Wechselseitigkeit wird neben dem Begriff New Historicism auch der Begriff Kulturpoetik verwendet. Der literarische Text nimmt in diesem Modell zwar als Kunstwerk eine herausragende Position ein. Grundsätzlich steht er jedoch nicht wie ein Monolith in seinem historischen Kontext, sondern wirkt am Erschaffen dieses Kontextes seinerseits mit (vgl. Belsey 2000: 51-52). Dabei sei es Greenblatt, so resümiert der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler (2005) in seiner literaturtheoretischen Monografie Die kulturpoetische Funk‐ tion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, nicht daran gelegen zu zeigen, was die historische Person Shakespeare dachte und meinte, und ob diese Person bestimmte persönliche Ansichten in seinen Dramen zu vermitteln oder populär zu machen hoffte. Vielmehr stelle Greenblatt heraus, weshalb und wozu Shakespeare so schrieb, wie er schrieb: [D]er Dramatiker [Shakespeare] benutzt das diskursive Material eben nicht, um religionskritische Aussagen zu machen, sondern um dramatische Effekte zu erzeugen. Dabei und dafür aktiviert er auch und gerade die Widersprüche, Absurditäten und dunklen Seiten, die den diskursiven Konstellationen anhaften. (Baßler 2005: 15) Es geht Greenblatt und Baßler nicht darum, Widersprüche aufzulösen und Ambivalenzen zu glätten, sondern sie sichtbar zu machen und als dramatische Mittel anzuerkennen. Übertragen auf meine Fragestellung bedeutet dies, die durchweg ambivalenten und bisweilen absurd anmutenden Darstellungen jüdischer Figuren und des Judentums als dramatisches, beziehungsweise literarisches Mittel anzuerkennen und sie nicht allein auf ihren politischen, gesellschafts- oder religionskritischen Gehalt zu reduzieren. In seiner Einführung in den New Historicism fragt Baßler: „Wer braucht überhaupt den New Historicism? “ Die Antwort gibt er umgehend: „Es braucht ihn, wer die theoretischen Prämissen des Poststrukturalismus teilt und nach wie vor mit historischem Interesse in einer kultur- oder textwissenschaftlichen Disziplin arbeiten will“ (Baßler 2001: 7). In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die vorliegende Arbeit. Das Vorgehen orientiert sich prinzipiell an der foucault’schen Diskursanalyse; es wird betrachtet, wie in einer bestimmten Region (Dänemark), Epoche (Dänemarks „Goldenes Zeitalter“) und in einer bestimmten Textgattung (Erzählliteratur) über Juden und Jüdinnen geschrieben wurde, geschrieben werden konnte. Der Aufbau der Arbeit ist zwar chronologisch nach den untersuchten Werken unterschiedlicher Autor*innen gegliedert, aber die Texte werden trotz dieses traditionell anmutenden Aufbaus immer wieder zueinander in Beziehung 26 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 17 „Jeder Text konstituiert sich als Teil eines ‚texte général‘ (Derrida), eines Universums aus anderen Texten, die alle miteinander vernetzt sind“ (Baßler 2005: 74). gesetzt und die Chronologie so gestört, um die Zirkulation von Ideen und Vorstellungen zwischen den Werken aufzuzeigen. Dem von der Diskursanalyse beeinflussten Ansatz dieser Arbeit scheinen allerdings die Kriterien für die Textauswahl zu widersprechen, denn für diese ist die nicht-jüdische Herkunft der Autoren und der Autorin zentral, da mich der nicht-jüdische Blick auf die Juden und Jüdinnen als die Anderen interessiert. Somit wird dem Autor, den Roland Barthes 1968 (2000) für tot erklärt hatte in dieser Analyse eine entscheidende Bedeutung beigemessen, die ihm in einer klassischen Diskursanalyse nicht zugekommen worden wäre. Der kulturpoetische Ansatz erlaubt es jedoch, das Material diskursanalytisch zu untersuchen und zugleich auch den Autor als Teil des Kontextes eines Textes zu begreifen. Die Biografie samt Herkunft, Religion und Geschlecht der Autor*innen ist ein Aspekt unter vielen, die das Zustandekommen eines Textes möglich (oder auch unmöglich) machen. Diesen Kontext werde ich folglich in jedem Kapitel in kurzer Form skizzieren, jedoch auf die Punkte beschränken, die für das Textverständnis relevant erscheinen. Greenblatt hat den Begriff der „Zirkulation sozialer Energie“ geprägt (1988: 7-24) und damit die Überzeugung formuliert, dass Literatur nicht oder nicht vornehmlich als Abbildung oder künstlerische Verarbeitung einer außerliterarischen Wirklichkeit verstanden wird, sondern im vitalen Austausch mit der außerliterarischen Welt steht. Dieser Austausch verläuft in beide Richtungen, in die Literatur hinein und aus ihr heraus, und ist dabei höchst lebendig und fruchtbar. So wird auch der Begriff der ‚Intertextualität‘ nicht als Einbahnstraße verstanden, in der ein Autor seinen Text mit Verweisen auf andere Texte spickt. Vielmehr ist der literarische Text Teil des texte général  17 und hat an der Zirkulation von Wissen, Konnotationen, Annahmen oder eben: sozialer Energie ebenso Teil, wie jede andere Produktion von Kultur und Sinn auch. Roland Barthes nutzt ebenfalls die Metapher der Zirkulation, wenn er in seinem Essay Junge Forscher fordert, dass endlich eine freie Lektüre zur Norm des ‚literaturwissenschaftlichen Studiums‘ wird. Die Freiheit, um die es sich handelt, ist natürlich keine x-beliebige Freiheit (die Freiheit steht im Gegensatz zum Beliebigen): Hinter der Forderung nach einer unschuldigen Freiheit würde die eingelernte, stereotypisierte Kultur wiederkehren (das Spontane ist das unmittelbare Feld des Bereits-Gesagten): […] Diese Freiheit muß eine Virtuosität sein: diejenige, die gestattet, im Leit-Text, mag er auch noch so alt sein, die Devise jeglichen Schreibens herauszulesen: es zirkuliert. (Barthes 2006: 95) Um diese Zirkulation fassbar zu machen oder vielmehr: in den Texten aufzuspüren und zu reaktivieren, bedarf es einer akribischen und genauen Lesart, eines close reading, das Ver‐ allgemeinerungen zu vermeiden versucht (vgl. Baßler 2005: 10, 14, 19-21). Dies wiederum erfordert einen Textbegriff, der nicht jede beliebige kulturelle Äußerung als Text begreift, sondern sich auf physisch (oder digital) archivierbares und mit textwissenschaftlichen Werkzeugen lesbares Material stützt. Eine solche Text-Kontext-Theorie entwickelt Baßler, denn, so bemängelt er, es „geht mit dem Abrücken vom Textualitäts-Theorem regelmäßig eine Tendenz zurück zu abstrakter Beschreibungssprache, zu historischen Metanarrationen und Generalaussagen einher, in der ich keinen Fortschritt erkennen kann“ (Baßler 2005: 27 1.5 Theoretisch-methodische Zugänge DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 18 In einigen wenigen Fällen beziehe ich auch Beispiele aus der Musik und der bildenden Kunst in meine Analyse ein. 10). Durch ein Textverständnis, das sich zwar nicht allein auf literarische, jedoch auf archivierbare und archivierte Kulturproduktion beschränkt, 18 soll der Rückgriff auf Verall‐ gemeinerungen vermieden werden. Auf diese Weise bleibt das Forschungsfeld fassbar und benennbar und verallgemeinernde Aussagen können ebenso vermieden werden, wie eine abstrakte und schwer zugängliche Sprache. So fallen denn auch tatsächlich die Arbeiten derjenigen, die einen solchen kulturpoetischen Ansatz verfolgen, wie Greenblatt, Svetlana Alpers (2001), Schößler (2009) und Baßler selbst, durch ihre „Anschaulichkeit und Lesbarkeit“ (Baßler 2005: 10) auf. Diesen Aspekt als methodische Prämisse zu betonen mag ungewöhnlich erscheinen. Doch so wenig wissenschaftlich relevant ein anschaulicher und leserlicher Stil für die Bestimmung eines theoretisch-methodischen Rahmens auf den ersten Blick wirken mag, so sehr ist eine spürbare und für den Leser nachzuvollziehende Freude am Forschungsgegenstand vonnöten, um zu ungewohnten Lesarten und neuen Forschungsergebnissen zu gelangen. 1.5.3 Widerstände und die Lust am Text Der Literatur- und Medienwissenschaftler Markus Spöhrer plädiert in seinen Überlegungen Zum Eigen- und Stellenwert geisteswissenschaftlicher Literaturproduktion. Schreiben als Experimentalsystem für eine „‚Offenheit‘ experimenteller Forschung“ um so „durch die Anordnung und Rekombination von ‚Altem‘ etwas ‚Neues‘ zu generieren“ (2017: 200). Oftmals werde in der Forschung durch „bestimmte konventionalisierte Theorien, Konzepte oder standardisierte Analysemodelle der Kultur- oder Literaturwissenschaft, aber auch ‚stabilisiertes Wissen‘, etwa Thesen, Argumente oder historische ‚Fakten‘“ tatsächlicher Erkenntnisgewinn verhindert (Spöhrer 2017: 201). Spöhrer begreift den Schreibprozess als das Experimentierfeld der Geisteswissenschaften. Im Experiment des Schreibens werde, im besten Fall, nicht allein Ordnung „beobachtet, analysiert und schlichtweg übertragen […], sondern diese Ordnung [wird] zuallererst im Zuge des Prozesses der Beobachtung, Analyse oder allgemein: der Forschung hergestellt“ (Spöhrer 2017: 203). Wie aber den Zufall als wissenschaftlich relevanten Faktor anerkennen, ohne ihn mit Beliebigkeit zu verwechseln? Wo beginnen mit der Ordnungsstiftung, was weglassen, wie auswählen, wenn doch ein Text niemals erschöpfend erfasst und immer auch anders verstanden werden kann? Und wie den Rückfall in vertraute Ordnungssysteme und Schemata verhindern? Hier helfen Roland Barthes’ Metaphern von den Rissen und Klüften des Texts und der Wollust des Lesers. In seinem Essay Die Lust am Text schreibt Barthes: Wenn man einen Nagel ins Holz schlägt, so bietet das Holz unterschiedlich Widerstand, je nachdem, an welcher Stelle man ihn ansetzt: man sagt, das Holz ist nicht isotrop: die Ränder, die Kluft sind unvorhersehbar. Ebenso wie sich die (gegenwärtige) Physik dem nicht-isotropen Charakter bestimmter Milieus, bestimmter Universa anpassen muss, ebenso muß die strukturale Analyse (die Semiologie) die geringsten Widerstände des Textes, die unregelmäßigen Zeichnungen seiner Venen erkennen. (Barthes 1974: 55) 28 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 19 Die Trennung zwischen Lust und Wollust ist bei Barthes unscharf und wird somit selbst zur Quelle der Lust am Text: „Plaisir/ Jouissance, Lust/ Wollust: terminologisch schwankt das noch, ich stolpere, ich verheddere mich“ (Barthes 1974: 8). Barthes verwendet unterschiedliche Metaphern, um diese Widerstände im Text zu be‐ schreiben. Er nennt sie Hindernisse (1974: 43), Unregelmäßigkeiten (1974: 55), Wider‐ sprüche (1974: 8), Schatten (1974: 49), Klüfte, Brüche und Risse (1974: 13-14), Zwischen‐ räume (1974: 20) und identifiziert sie als Quellen der Lust beziehungsweise der Wollust beim Lesen. 19 Wollust und Begehren sind zentrale Kategorien im Denken Barthes’, er versteht sie als Grundlage des Forschens überhaupt und fordert: „Die Arbeit (Forschungsarbeit) muss dem Begehren abgewonnen werden“ (Barthes 2006: 92). Das Begehren wiederum stellt sich überall dort ein, wo sich Widerstände in einem Text zeigen und wo die Freiheit besteht, diesen Widerständen nachzugehen. Dieses ausdrückliche Begehren nach ihren Forschungsgegenständen - oder vielleicht mehr noch ihr ausdrückliches Bekenntnis zu diesem Begehren - verbindet Greenblatt und Barthes, ebenso wie die Akzeptanz der Zufälligkeit, mit der sich im geisteswissenschaftlichen Arbeiten Dinge anordnen und so neues Wissen generiert werden kann. In Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe (2014) finden sich am seitlichen Rand neben den einzelnen Fragmenten Verweise auf andere Werke, auf Musik, Literatur, Autoren und weitere Quellen. In seiner Einleitung erklärt er diese Verweise: Die Quellen, die damit bezeichnet werden, sind nicht die der Autorität, sondern die der Freund‐ schaft: ich berufe mich nicht auf Garantien, ich gedenke, mit einer Art im Vorbeigehen erstatteten Grußes, lediglich dessen, was verführt, was überzeugt, was einen Augenblick lang die Wollust des Verstehens (die des Verstandenwerdens? ) geschenkt hat. (Barthes 2014: 22) In meinen Textanalysen begebe ich mich auf die Suche nach Rissen und Unebenheiten, nach Textstellen, Passagen, Zitaten, einzelnen Wörtern, auch nach Figuren, die mit eben jenen Metaphern der Widerstände und Zwischenräume beschrieben werden können: Schatten und Hindernisse, Rauheit und Knirschen. Dabei verfolge ich stets die Frage, was diese Widerstände mit den jüdischen Figuren im Text zu tun haben. Sofern sie bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage hilfreich sind, werden neben den Quellen der Autorität hin und wieder auch, um mit Barthes zu sprechen, „Quellen der Freundschaft“ aufgeführt, die nicht unerwähnt sein sollen, da sie mir für einen Moment beim Stolpern über die Widerstände des Textes diese „Wollust des Verstehens“ geschenkt haben. Denn wenn ich zum Beispiel im 21. Jahrhundert in einem Museum in Berlin niederländische Landschaftsbilder aus dem 17. Jahrhundert betrachte und sich dabei ganz plötzlich das Verständnis für eine dänische Novelle aus dem 19. Jahrhundert einstellt, muss ein solcher Faden unbedingt aufgenommen und als Beteiligter am Erkenntnisprozess sichtbar gemacht werden (vgl. Kapitel 3.8). 1.6 Philosemitismus als literarischer Diskurs Im Begriff ‚Philosemitismus‘ schwingt viel Ambivalenz mit. Gibt es so etwas wie Philosemi‐ tismus überhaupt, und wenn ja, was ist damit gemeint? Ist er nicht immer an Bedingungen 29 1.6 Philosemitismus als literarischer Diskurs DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) und Erwartungen geknüpft, wie Juden und Jüdinnen zu sein, sich zu verhalten und sich zu entwickeln haben? Und ist Philosemitismus nicht immer mit Fremdzuschreibungen verbunden und stellt somit auch eine Form der Diskriminierung und Ausgrenzung dar? Zumindest die letzten beiden Fragen sind leicht zu beantworten: Ja. In der Tat kommt be‐ reits Dohms emanzipationsbefürwortende und mithin als philosemitisch zu bezeichnende Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden nicht ohne die explizit formulierte Erwartung aus, dass die Juden sich, sofern sie erst einmal bürgerlich bessergestellt wären, auch moralisch verbessern würden. Der Begriff der Verbesserung bezieht sich also gleichermaßen auf die rechtliche Situation der Juden wie auf ihren vermeintlichen moralischen Zustand, der ganz selbstverständlich als verbesserungswürdig behauptet wird (vgl. Detering 2002b). Wie sehr Philo- und Antisemitismus Hand in Hand gehen und wie leicht sie von einem ins andere Extrem umschlagen können, hat erstmals Frank Stern in seiner Studie Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg gezeigt. Stern stellt dar, dass der Wechsel zwischen anti- und philosemitischer Haltung nicht nur leicht und in beide Richtungen vollzogen werden kann, sondern in der Regel aus pragmatischen Gründen erfolgt: Antisemitismus oder Philosemitismus […] sind keine Verarbeitung der Vergangenheit im Sinne einer geistig-kulturellen Bewältigung, sondern eine pragmatisch Bearbeitung von Vorurteilen und sozialen Erfahrungen. […] Die vorhandenen Haltungen zu Juden sind nicht alternativ „Anti“ oder „Philo“, sondern können in der jeweiligen zeitbedingten Entwicklung in einem dieser Syndrome kulminieren. (Stern 1991: 343) Darüber hinaus diente in der (west-)deutschen Nachkriegszeit eine philosemitische Hal‐ tung auch stets der eigenen Selbstvergewisserung. Zur Illustration zieht Stern die Spielpläne der Theaterbühnen heran, auf denen „Jud Süß“ 1945 zeitgemäß von „Nathan“ abgelöst wurde. Alle guten Eigenschaften, die ein Deutscher jetzt haben sollte, blickten wie aus einem Spiegel als das freundlich-nachdenkliche und doch so unverbindliche Gesicht Nathans den Nachkriegsdeutschen an. Im Stereotyp vom guten und weisen Juden konnte jeder Deutsche, so er ideell die Überreste des Tausendjährigen Reiches verlassen wollte, sich selbst wiederfinden, oder zumindest das, was als deutsches Wesen, aller politischen Bezüge entkleidet, aus der „deutschen Katastrophe“ in die deutsche Zukunft hinüberragen sollte: Glauben, Bildung und Besitz. (Stern 1991: 356-357) Dieses Beispiel veranschaulicht einen Aspekt, der auch die viel älteren, von der Shoah noch nichts ahnenden Autor*innen und Texte betrifft. Niemals geht es in den Texten vornehmlich um Juden, immer geht es vor allem um eine dänisch-protestantische Selbstvergewisserung und eine geistige und politische Positionierung der Nicht-Juden. Die jüdischen Figuren dienen, wenn nicht ausschließlich, so doch auch dieser Selbstvergewisserung und -veror‐ tung. Als aufgeklärter, toleranter Christ und Philosemit steht man hier auf der richtigen Seite und zeigt sich als ebenso gebildet und weltgewandt wie der weise Nathan. Die Begriffsgeschichte des Wortes ‚Philosemitismus‘ zeigt, dass diese Perspektive nicht immer so eindeutig war. Zunächst nämlich verwendeten es bekennende Antisemiten, namentlich der Kreis um den Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896), um ihre politischen Gegner zu diskreditieren und ihnen den Vorwurf „eine[r] ‚blinde[n]‘ Verehrung 30 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 20 Die Literaturangabe für Sandauer ist entnommen von Bauman (1995: 60) und Cheyette (1993: 8). 21 Bauman schreibt: „‚Allus‘ ist das lateinische Wort für Andersartigkeit und ‚Allosemitismus‘ bezieht sich auf die Praxis, Juden als von allen anderen radikal verschiedene Menschen auszugrenzen“ (1995: 44). ‚Allos‘ ist allerdings griechisch, die lateinische Entsprechung wäre richtigerweise ‚alius‘. alles Jüdischen, eine[r] Anbiederung bei den Juden“ zu machen (Kinzig 2009: 27). Bereits kurz nach der Etablierung des Begriffs wurde er allerdings auch positiv besetzt, so dass beide Konnotationen nebeneinander bestehen blieben und er also von Anfang an mit Am‐ bivalenz verbunden war (vgl. Kinzig 2009: 27; Grimm, M. 2013). Verschiedene Autorinnen und Autoren haben versucht, sich dem Begriff und dem Phänomen ‚Philosemitismus‘ anzunähern. Im englischsprachigen Sammelband Philosemitism in History (Karp/ Sutcliffe 2011a) wird aus vornehmlich historischer Perspektive eine Annäherung an das Phänomen vorgenommen, wobei die Herausgeber Jonathan Karp und Adam Sutcliffe bereits in der Einleitung erklären, dass eine befriedigende und allgemeine Definition des Begriffs zu erreichen unmöglich scheint (2011b: 6). Dennoch wurden solche Versuche immer wieder unternommen. Wolfram Kinzig (2009), Moshe Zuckermann (2009) sowie Lars Rensmann und Klaus Faber (2009) haben den Begriff ‚Philosemitismus‘ aus unterschiedlichen Perspek‐ tiven zu fassen und zu beschreiben versucht. Ihre Beiträge eröffnen den Tagungsband Geliebter Feind - gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart (Diekmann/ Kotowski 2009) und stellen verschiedene Ansätze dar, ‚Philosemi‐ tismus‘ als Arbeitsbegriff zu definieren beziehungsweise ihn zu hinterfragen und ihn unter Umständen auch zu verwerfen. Dabei fehlt es jedoch an einem systematischen Zugang, so dass Kinzig am Ende seiner Reflexion über die Forschungslage feststellt: „Die Frage, ob es so etwas wie Philosemitismus gibt und wie er genau zu fassen wäre, ist also unverändert offen“ (Kinzig 2009: 42). In jedem Fall, so konstatiert Zuckermann in seinem Beitrag, sei Philosemitismus niemals ohne Antisemitismus zu betrachten, [d]enn so, wie das Wahre des Antisemitismus sich einzig aus dem Ressentimentzusammenhang erklären lässt […], lässt sich das Genuine des Philosemitismus einzig aus seiner Wesensver‐ wandtschaft mit dem Antisemitismus begreifen - worin sich letztlich das Bedrohliche seines vermeintlichen Wohlwollens erweist. (Zuckermann 2009: 71) Als Konsequenz solcher Beobachtungen legt Nike Thurn in ihrer Monografie einen wis‐ senschaftlichen Zugang nahe, der sich weder allein auf die Kategorie ‚Antisemitismus‘ be‐ schränkt noch eine Unterteilung in ‚Anti‘- und ‚Philosemitismus‘ vornimmt. Ihre differen‐ zierte und ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Diskussionen beider Begriffe führt sie zu der Überzeugung, von der Verwendung des Begriffspaars mit seinen beiden Ex‐ tremen abzurücken (Thurn 2015: 38-47). Philo- und Antisemitismus seien, so schließt sich Thurn den Kritiker*innen vor allem des Philosemitismusbegriffs an, „zwei Seiten ein und derselben Medaille.“ Immer gehe es darum, „‚die Juden‘ als ‚Andere‘“ zu setzen (Thurn 2015: 45). Thurn greift daher den vom polnischen Literaturwissenschaftler und Essayisten Artur Sandauer 1985 erstmals formulierten 20 und durch Zygmunt Bauman etablierten Begriff des ‚Allosemitismus‘ auf, 21 denn, so Bauman, „‚Allosemitismus‘ ist vor allem uneindeutig […]; er determiniert nicht widerspruchslos entweder Haß oder Freundschaft gegenüber Juden, sondern beinhaltet die Keime beider Phänomene“ (Bauman 1995: 44). An dieses Konzept knüpft auch Brian Cheyette mit dem von ihm vorgeschlagenen Begriff ‚semitischer 31 1.6 Philosemitismus als literarischer Diskurs DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Diskurs‘ an (1993: 8), den wiederum der dänische Historiker Kristoffer Kaae Kjærgaard in seiner 2013 vorgelegten Dissertation Opfindelsen af jødiskhed, 1813-1849. Semitisk diskurs og produktionen af jødiskhed som andethed [Die Erfindung der Jüdischkeit, 1813-1849. Semitischer Diskurs und die Produktion von Jüdischkeit als Andersheit] übernimmt. Dabei betont Kjærgaard, dass die Vorstellung eines allosemitischen beziehungsweise semitischen Diskurses gegenüber einem anti- und einem philosemitischen Diskurs mehr als nur einen kosmetischen Effekt auf das Denken hat: Pludselig fremstår det som om, at det ikke udelukkende var antisemitter, der bidrog til andetgø‐ relsen; det gjorde enhver, der tog ordet jøde i sin mund eller lod det trykke på skrift. Historien om Vestens syn på jødiskhed mister ved et enkelt trylleslag alle sine helte. (Kjærgaard 2013: 7) Plötzlich scheint es, als seien es nicht ausschließlich Antisemiten, die zur Anderung [zum Othering] beigetragen haben; das tat ein jeder, der das Wort Jude in den Mund nahm oder es drucken ließ. Die Geschichte der westlichen Sicht auf das Jüdischsein verliert auf einen Schlag wie durch Zauberhand alle seine Helden. Die Argumente von Thurn und Baumann, Cheyette und Kjærgaard sind überzeugend und stellen die Verwendung des so äußerst ambivalenten Begriffs ‚Philosemitismus‘ einmal mehr in Frage. Zumal bislang kaum befriedigende Gründe vorgebracht wurden, am Philo‐ semitismusbegriff festzuhalten. Dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Irving Massey (2000) kommt das Verdienst zu, die erste - und bislang einzige - systematische literaturwissenschaftliche Untersuchung zu Philo-Semitism in Nineteenth-Century German Literature verfasst zu haben. Neben bekannten Texten von Gustav Freytag, Wilhelm Raabe, Wilhelm Hauff und Annette von Droste-Hülshoff untersucht er eine Vielzahl weniger bekannter Texte verschiedener Autor*innen. Dabei nimmt er allerdings bereits einleitend eine Einschränkung vor: First, I must make it plain that if we are looking for absolutely unqualified philo-Semitism we will find very little, if any. There is scarcely a German writer in the nineteenth century who did not, at one time or another, give voice to some anti-Semitic feelings. (Massey 2000: 11) Dieser so eindeutig vorgetragene und ernüchternde Befund hindert Massey nicht daran, sich auf die Suche nach Philosemitismus in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahr‐ hunderts zu begeben. Masseys Bestimmung des Philosemitismusbegriffs deckt sich dann auch weitestgehend mit den von mir für meine Literaturauswahl angewendeten Kriterien. Als philosemitisch definiert er Literatur „by Gentile Authors, in which Jews and/ or Judaism are presented in a favorable, or at least not unfavorable, light“ (Massey 2000: 9). Zu dieser Literatur zählt er eben auch Erzähltexte von Wilhelm Raabe und Gustav Freytag - Werke von Autoren, auf die in der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung oftmals, trotz aller Ambivalenzen, als unbestreitbar antisemitisch referiert wird (vgl. hierzu Gubser 1998; Klüger 2007). Massey hingegen räsoniert nach der Analyse der jüdischen Figuren über den „somewhat anti-Semitic“ (2000: 93) Roman Soll und Haben [1855] (1926): „It would be wrong simply to reverse a cliché and say that Soll und Haben is philo-Semitic.“ Allerdings „Freytag must be granted to have recognized the highest value embodied in a Jew.“ Dieser Jude, die Figur Bernhard Ehrenthal, repräsentiere „a genuine philo-Semitic moment in the book, and not just a counter-stereotype“ (2000: 96). Massey deckt in seinen 32 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 22 Martin Gubser hat einen Kriterienkatalog zum Aufspüren von Antisemitismus in der Literatur entwickelt (Gubser 1998: 309-310). Wiewohl dieser Katalog immer wieder als unzureichend kritisiert wurde (z. B. von Körte 2007: 65; Lorenz 2007: 144; Gutsche 2014: 28-30), wird er im Zweifelsfall weiterhin als Hilfsmittel zur Entlarvung von Antisemitismus herangezogen, z. B. von Gutsche (2014: 29). recht kurz gefassten Erzähltextanalysen solche philosemitischen Momente auf und legt ihre Bedeutung für den Text offen. Folgt man allerdings dem Konzept ‚Allosemitismus‘, sind diese Beobachtungen gleichzeitiger Anwesenheit antiwie philosemitischer Aspekte innerhalb eines Werkes weder überraschend noch erstaunlich, sondern im Gegenteil zu er‐ warten. Um den Philosemitismusbegriff als literaturwissenschaftliche Kategorie fruchtbar zu machen, bedarf es also einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Begriff und mit den Bedingungen des Philosemitismus. Warum lohnt es sich, an diesem Begriff festzuhalten und ihn zum heuristischen Werkzeug einer ganzen Untersuchung zu machen? Zunächst einmal ist er genau dies: ein Werkzeug, mit dessen Hilfe eine Gemeinsamkeit zwischen den untersuchten Texten erfasst und benannt werden soll. Man kann sich ihr über ein Ausschlusskriterium annähern: Die Texte stellen jüdische Figuren nicht oder nicht überwiegend auf diffamierende Weise dar, 22 und wo sie es teilweise doch tun, begründen sie dies als Folge von Misshandlungen durch die christliche Mehrheitsgesellschaft. Was die Texte aber verbindet und vor allem, was sie literaturwissenschaftlich interessant macht, ist ihr Irritationsmoment. Dies ergibt sich daraus, in den Texten positiv beziehungsweise „positiv“ - in Anführungszeichen - dargestellte jüdische Figuren zu finden und gleichzeitig zu bemerken, dass diese Figuren zum großen Teil auf holzschnittartige Weise gestaltet sind. Es ergibt sich aus den Bedingungen und Erwartungen, die die Texte an die jüdischen Figuren stellen, und die somit auch an die jüdische und nicht-jüdische Leserschaft übermittelt werden. Und aus der literarischen Überzeugungskraft, die diese jüdischen Figuren entfalten, sobald sie diese Bedingungen und Erwartungen erfüllen. Es ergibt sich aus dem Wissen um die spielend leichte Umkehrbarkeit stereotyp philosemitischer Judenbilder in ihr juden‐ feindliches Gegenbild einerseits. Und aus der starken ästhetischen Wirkung, die von den jüdischen Figuren aufgrund der vielfältig mit ihnen verbundenen Assoziationen beim Lesen hervorgerufen wird anderseits. Meine Annahme ist, dass es genau diese Assoziationsdichte ist, die die jüdischen Figuren literarisch interessant und höchst produktiv macht, sie also zu be- und geliebten Topoi der Literatur werden ließ, und die somit das Festhalten am Begriff ‚Philosemitismus‘ rechtfertigt. Als aktuellster und äußerst fruchtbarer Beitrag für die literaturwissenschaftliche Ausein‐ andersetzung mit dem Philosemitismus ist 2017 der Tagungsband Philosemitismus. Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte erschienen, herausgegeben von Philipp Theisohn und Georg Braungart (2017a), der auf der ersten Veröffentlichung einiger der Tagungsbeiträge 2012 in der Zeitschrift Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft ba‐ siert (Zeller 2012). Theisohn und Braungart arbeiten in ihren Einführungstexten zu beiden Bänden erstmals heraus, dass Philosemitismus zuvorderst ein philologisch erfassbares und zu untersuchendes Phänomen ist, denn es gehört „zum Wesen des Philosemitismus, mit sprachlichen Mitteln einen geistigen Raum zu erzeugen, in dem es zu einer Vereinigung des - wie auch immer Vorgestellten [sic! ] - jüdischen Objekts mit dem es begehrenden Subjekt kommen kann“ (Theisohn/ Braungart 2012: 15). Theisohn und Braungart konstatieren - 33 1.6 Philosemitismus als literarischer Diskurs DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 23 Eine solche Perspektive nimmt hingegen Florian Krobb ein, der die Wirkabsicht des Autors als Bewertungskriterium für einen literarischen Text heranzieht, indem er betont, ein Text könne gut gemeint sein und dennoch bestimmte, judenfeindliche Stereotype perpetuieren. Dann könne man ihn jedoch nicht als antisemitisch bezeichnen. Auch mögen die geschilderten Figuren und Gegebenheiten von Autor und Leserschaft als wahr erlebt worden sein. Daher seien sie nicht als antisemitisch, sondern als realistisch gemeint und verstanden worden (vgl. Krobb 2007: 85-101). 24 „Als phantasmatisches Objekt aber wird der Jude zu einem Träger der geheimen Wünsche seiner Umwelt: Er erscheint deswegen begehrenswert, weil er von [sic! vor; KB] uns begehrenswert erscheinen will. Und er will deswegen vor uns begehrenswert erscheinen, weil er will, dass wir ihn begehren. Und er will, dass wir ihn begehren, weil er uns begehrt. Das allein ist entscheidend“ (Theisohn/ Braungart 2017b: 11-12). und soweit ich es überblicken kann, geschieht dies hier zum ersten Mal überhaupt - die Existenz einer spezifischen „philosemitische[n] Literarizität“: Im Zentrum stehen dabei nicht ‚Gesinnungen‘, stehen nicht die Vorurteile von Autorinnen und Autoren, sondern eine Denkfigur, die das Judentum benutzt, um über die Sehnsüchte derer sprechen zu können, die keine Juden sind. (Theisohn/ Braungart 2017b: 12) Dabei geht es weder um eine möglichst realistische Darstellung des Judentums und der jüdischen Figuren, 23 noch um einen tatsächlichen Wunsch danach, Juden und Jüdinnen zur Konversion zum Christentum und damit zum Verschwinden zu bringen. Im Gegenteil: „Das Judentum, wie es der philosemitische Diskurs imaginiert und inszeniert, ist ein Phantasma.“ Und in diesem Phantasma muss „[d]er Jude […] ein Jude bleiben, weil er nur als solcher die Liebenswürdigkeit, den Wert des Nichtjuden bezeugen kann“ (Theisohn/ Braun‐ gart 2017b: 11). Nach Theisohn und Braungart ist Philosemitismus also nicht allein als „polemische Klassifizierung, sondern darüber hinaus als ein diskursives Phänomen“ zu verstehen (2017b: 13). Diese Auffassung des Begriffs rechtfertigt die Verwendung des Begriffs ‚Philosemitismus‘ als Bezugsgröße gegenüber seiner Ausdehnung auf das Konzept ‚Allosemitismus‘. Dabei sei keineswegs die Behauptung aufgestellt, dass die Einteilung in Philo- und Antisemitismus in jedem Fall eine sinnvolle ist. Es hängt vielmehr von der Fragestellung ab, ob an der Begriffsdualität aus ‚philo‘ und ‚anti‘ festgehalten werden sollte, oder ob eine Untersuchung des gesamten allosemitischen Diskurses, wie bei Thurn und Kjærgaard, sinnvoller ist. Im Falle der vorliegenden Arbeit sind es dezidiert die Eigenschaften des philosemitischen Diskurses, welche die Ähnlichkeit zwischen den untersuchten Texten herstellen. Denn untersucht werden nicht nur sämtliche dänische Erzähltexte nicht-jüdischer Autor*innen, die in den 1820erbis 1850er-Jahren erschienen sind. Diese Texte sind auch ohne Ausnahme Teil eines ausdrücklich philosemitischen Diskurses, nicht eines weiter gefassten, allosemitischen. Sie unterscheiden sich darin deutlich von den nicht-literarischen Texten derselben Epoche, die sich viel stärker als die literarischen Texte neben einer philosemitischen auch einer ausdrücklich judenfeindlichen, diffamierenden Semantik bedienen, und die so tatsächlich als Teile eines allosemitischen Diskurses begriffen werden müssen. Durch diese Differenzierung der Diskurse kann Philosemitismus als spezifisch literarisches Phänomen sichtbar gemacht werden. Der Titel der Untersuchung, Philosemitische Schwärmereien, markiert gleichwohl meine eigene Distanziertheit gegenüber einer unreflektierten Verwendung des Begriffs und unterstreicht darüber hinaus den phantasmatischen Objektcharakter, 24 den die jüdischen Figuren in allen 34 1 Einleitung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Erzähltexten dieser Untersuchung haben. Der Philosemitismusbegriff, der mich durch diese Arbeit leitet, ist stets zusammen mit der Schwärmerei gedacht, mehr noch, er ist per defi‐ nitionem schwärmerisch. Überdies scheint der Gebrauch des Philosemitismusbegriffs nicht nur trotz, sondern gerade wegen der begriffsgeschichtlich bereits angelegten Ambivalenz geeignet, um ein Phänomen zu erfassen, das seinerseits durch Ambivalenz und unscharfe Grenzverläufe gekennzeichnet ist. 35 1.6 Philosemitismus als literarischer Diskurs DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) Die erste Textanalyse dieser Arbeit stellt einen Auftakt für die folgenden Kapitel dar. Anhand der Novelle Den gamle Rabbin [Der alte Rabbiner] von Bernhard Severin Ingemann (1798-1862) aus dem Jahr 1827 sollen hier Themen, Motive und Topoi aufgezeigt werden, die für die Untersuchung der darauffolgenden Erzähltexte im weiteren Verlauf der Arbeit notwendig zu kennen sind. Zunächst einmal sind das die Topoi ‚die schöne Jüdin‘ und ‚der edle Jude‘ ebenso wie die Figur des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. Das sind aber auch Fragen nach Religion, jüdischer Emanzipation und Judenfeindschaft, nach der Säkularisierung der Gesellschaft und der Rolle der Kunst und des Künstlers in diesem Diskursgeflecht. Ergänzend werden zwei weitere Erzähltexte in die Analyse einbezogen und dort mit der Novelle in Beziehung gesetzt, wo diese Kontextualisierung zum Verständnis der Novelle beiträgt. Beides sind Texte von Hans Christian Andersen: sein fast 30 Jahre später erschienenes Märchen Jødepigen und sein Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829, kurz: Fodreise, der 1829 erschien. Bei der Untersuchung von Texten mit jüdischen Figuren ist es kaum vermeidbar, immer wieder Stereotype aufzugreifen, sie explizit zu benennen und dadurch wiederum zu perpetuieren und zwar auch dort, wo Texte analysiert werden, die diese Stereotype selbst zu unterlaufen suchen (vgl. hierzu Sucker/ Wohl von Haselberg 2013: 13-17). Dieses Paradox innerhalb der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung wird seit den 2000er-Jahren selbstreflexiv thematisiert und durch Analysemethoden, die sowohl die Flexibilität von Vorurteilen als auch das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild berücksichtigen, zu vermeiden versucht (vgl. Körte 2000: 12-14, 2007: 59-73; Schößer 2009: 32-36; Gutsche 2014: 43; Thurn 2015: 67-68). Jedoch: Um Stereotype zu entlarven, müssen sie benannt werden; jede Benennung verfestigt diese Stereotype wiederum. Ich werde in dieser Untersuchung also Stereotype dort benennen, wo sie für die Untersuchung aufgezeigt werden müssen, weil dies für die Analyse notwendig und fruchtbar ist. Jedoch nehme ich Abstand davon, dort explizit auf sie hinzuweisen, wo dies zu einer reinen Aufzählung führen würde, die über die Motivgeschichte hinaus keinen Erkenntnisgewinn brächte. 2.1 Den gamle Rabbin - Kontext und Einstieg Ingemann wird oftmals als als einer der progressiven Autoren seiner Zeit bezeichnet, als derjenige, der „indfører tysk romantiks fantastik i Danmark [die Phantastik der deutschen Romantik in Dänemark eingeführt hat]“ (Lundgreen-Nielsen/ Harding 2017). Insbesondere Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann waren prägend für sein Schreiben, aber auch die zeitgenössische englische Literatur beeinflusste ihn stark, vor allem Sir Walter Scotts neue Gattung des historischen Romans und die Gothic Novel, beziehungsweise der Schauerroman (vgl. hierzu Müller-Wille 2016: 153-182). Dabei überschritt Ingemann in seinem eigenen Schreiben Gattungsgrenzen, er experimentierte mit Neumodischem, Populärliterarischem und Autofiktivem, dichtete auch etliche religiöse Psalmen und gilt nicht zuletzt als einer DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) der einflussreichsten Autoren für den eine knappe Generation jüngeren Hans Christian Andersen, mit dem Ingemann freundschaftlich verbunden war (vgl. Kofoed 1992). Im Gegensatz zu Andersen ist Ingemann jedoch recht wenig beforscht. In den 1980er und 1990er-Jahren sind einige Aufsätze erschienen, die sich mit Ingemanns Schreiben und den literarischen Einflüssen befassen, die in seine Dichtung Eingang fanden (vgl. z. B. Albertsen 1989; Eriksen 1999; Glauser 1987; Lundgreen-Nielsen 1989; Rossel 1990). Seit Beginn der 2000er-Jahre hingegen ist es in der literaturwissenschaftlichen Forschung stiller um Ingemann geworden, eine Biographie über ihn erschien gar zuletzt 1949 (Langballe, C. 1949). Hier nun soll es um eine Novelle gehen, die 1827 veröffentlich wurde und die erste in einer Reihe von Texten ist, in denen jüdische Figuren Eingang in die dänische Erzählliteratur finden. Die Novelle Den gamle Rabbin von Ingemann scheint auf den ersten Blick wenig bemer‐ kenswert. Dem Auge der heutigen Leserin stellt sich eine Figurenkonstellation dar, die stereotyper und klischeehafter kaum sein könnte. Ein alter Jude, der tiefreligiöse Rabbiner Philip Moses, und seine wunderschöne, fromme, duldsame und fürsorgliche Enkeltochter Benjamine haben bei den säkularisierten und zum Teil bereits fast vollständig assimilierten Juden ihrer Hamburger Gemeinde keine Heimat mehr. Sowohl geistig als auch räumlich sind sie innerhalb der jüdischen Gemeinde heimatlos. Benjamine hat weder Vater noch Mutter. Ihre Onkel, die beiden Söhne des alten Philip Moses, sind ein skrupelloser und reicher Juwelenhändler (Samuel) und ein in der bürgerlichen Ehe mit einer Christin assi‐ milierter Kleiderhändler (Isaak), die ihre Herkunft und Religion weitestgehend abgestreift haben. Als Retter in mehrfacher Hinsicht erweist sich ein junger Christ und Künstler, Veit, der die beiden Heimatlosen bei sich aufnimmt, und den Benjamine mit dem posthumen Segen ihres Großvaters, der auf dem Totenbett endlich vom Heiligen Geist heimgesucht wird, ehelichen darf und dessen Religion sie im Herzen bereits längst angenommen hat. So zusammengefasst stellt die Novelle tatsächlich eine idealtypische Anhäufung von Klischees dar, die kaum den Ruf Ingemanns als progressivem und experimentierfreudigem Autor zu rechtfertigen scheinen. In ihrer Schablonenhaftigkeit erscheint die Novelle vielmehr altbacken, bieder und vorhersehbar. Betrachtet man die literarische Landschaft der Zeit aber genauer und sucht nach den literarischen Vorgängern und Vorgängerinnen des alten Rabbiners und seiner schönen Enkelin in der dänischen Literatur, findet man - fast nichts. So verdient der Text als erster seiner Art in Dänemark eben doch Beachtung. 2.2 Prototypen Obwohl die Novelle eine Neuerung in der literarischen Landschaft Dänemarks darstellt, sind die Topoi, auf die sie zurückgreift, keineswegs unbekannt. In der deutschsprachigen und auch der englischen Literatur finden sich literarische Vorbilder, die über die Landes-, Gattungs- und Epochengrenzen hinaus wirksam sind. In den folgenden beiden Abschnitten sollen die Topoi vorgestellt werden, die in allen hier untersuchten Novellen und Romanen eine zentrale Rolle spielen: die ‚schöne Jüdin‘ und der ‚edle Jude‘. Diese Figurentypen werden in den anderen Erzähltexten zitiert, variiert und manchmal auch auf überraschende Weise gebrochen. In Den gamle Rabbin aber sind sie als paradigmatische Prototypen in den 38 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Text geschrieben. An ihrem Beispiel lassen sich die beiden Topoi, um die es in den späteren Kapiteln dieser Arbeit immer wieder gehen wird, anschaulich skizzieren. 2.2.1 Die ‚schöne Jüdin‘ Die schöne Benjamine wird als „ung sorthaaret Pige [junges schwarzhaariges Mädchen]“ in die Novelle eingeführt, das „skjælvende af Kulde, ved en gammel Jødes Side [gikk] og syntes at trøste ham med en venlig deeltagende Stemme [vor Kälte zitternd an der Seite eines alten Juden ging und ihn mit freundlich teilnahmsvoller Stimme zu trösten schien]“. Im Mondlicht sieht der alte Jude - es ist der Rabbiner - „Taarerne glindse i de lange sorte Øienhaar [die Tränen in den langen schwarzen Wimpern schimmern]“ (Ingemann 2007: 106). Wenngleich eine solche Figur erstmals in der dänischen Literatur auftritt, darf angenommen werden, dass sie einem großen Teil des Lesepublikum bereits vertraut war. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich die ‚schöne Jüdin‘ in der deutschsprachigen Literatur zu einem Topos entwickelt, der bis in die Gegenwart hinein wirksam ist, und der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Popularitätshöhepunkt erreichte. Florian Krobb stellt in seiner Untersuchung Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg fest: Zumindest vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an gehörte der Topos ‚Die Schöne Jüdin‘ im deutschen Sprachraum zum allgemeinen Sprachgebrauch und kollektivem Bewußtsein […]. Wenn ein bestimmtes Vorverständnis aber ganz selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, so ergeben sich daraus Konsequenzen für die literarische Verwendung: die Gestalt braucht nicht mehr beschrieben, sondern nur noch benannt zu werden, um das Vorverständnis aufzurufen. Oder aber es genügt die Erwähnung weniger Merkmale, um die beschriebene Figur zuzuordnen und ihre stereotype Bezeichnung mit all ihren Konnotationen zu assoziieren. (Krobb 1993: 11) Das bedeutet, dass die wenigen von Ingemann aufgerufenen Merkmale ausreichend sind, um beim Leser ein viel umfassenderes Bild zu erzeugen, mit dem all jene Assoziationen verbunden sind, die Krobb folgendermaßen zusammenfasst: ‚Rätselhafte Frauenschönheit‘ und ‚das Abenteuer der Assimilation‘ - das Zusammentreffen dieser beiden Attribute erotischer Ausstrahlung und bürgerlichen Emanzipationswunsches macht die Gestalt der ‚Schönen Jüdin‘ recht eigentlich aus. (Krobb 1993: 20) So wird die bescheidene und fromme Benjamine zwar mit keinem Wort als erotisch dargestellt. Der Assoziationsraum, den sie mit dem Topos ‚schöne Jüdin‘ öffnet, ermöglicht es aber trotzdem, sie als erotisch aufgeladen zu denken. Mit ihrem Eintritt in die dänische Literatur zitiert Benjamine eine der populärsten ‚schönen Jüdinnen‘ des 19. Jahrhunderts: Rebecca von York aus Sir Walther Scotts Roman Ivanhoe von 1819 (vgl. Krobb 1993: 123-124; siehe auch Kapitel 5.6.2.). Rebecca ist von außergewöhnlicher Schönheit und sexueller Attraktivität, dabei aber fromm, bescheiden und duldsam, wie auch Benjamine es ist. Und wie Benjamine, die während der Hep-Hep-Krawalle am Arm ihres Großvaters die dänische Erzählliteratur betritt, ist Rebecca durch einen Tumult verängstigt und klammert sich „fest an den Arm ihres bejahrten Vaters“ (Scott 1971: 90). Der viel zu alte jüdische Mann an Rebeccas wie an Benjamines Seite signalisiert dem Leser unmittelbar, dass diese Frau einen 39 2.2 Prototypen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 Interessant ist im Zusammenhang der Lesbarkeit auch die Verschränkungen zwischen bildender Kunst und Literatur: Dem Dramentext ist eine Vorrede vorangestellt, in der als Quelle für das Schauspiel ein Kupferstich ausgewiesen wird. Der Maler Adolph Menzel wiederum hat um 1840 Illustrationen des Theaterstücks im Holzschnittverfahren angefertigt. jungen Beschützer und Retter benötigt. Und auch Benjamines Körper selbst ist lesbar: Ihre Schönheit, ihre Tränen, ihr Zittern signalisieren Reinheit, Unschuld und Verletzlichkeit und verlangen nach einem Mann - und zwar einem Christen. Ohne ihn wird sie am Arm des alten Juden zugrunde gehen. Die ‚schöne Jüdin‘, das zeigt dieses kurze Beispiel, nimmt das ebenfalls um 1800 an Popularität gewinnende Konzept der ‚schönen Seele‘ in sich auf, das Friedrich Schiller 1793 in seiner philosophischen Schrift Über Anmut und Würde in Auseinandersetzung mit Immanuel Kants ästhetischen Schriften und vor ihm bereits Jacob Friedrich Abel in seinem Werk Einleitung in die Seelenlehre von 1786 (1985) formuliert haben. Eingeschrieben in dieses Konzept ist die Lesbarkeit der ‚schönen Seele‘ anhand ihres Körpers. Äußere und innere Schönheit werden in ein Abhängigkeitsverhältnis zueinander gestellt, äußere Zeichen von Schönheit als Beweis von Tugendhaftigkeit gedeutet. In Heinrich von Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug von 1811 (2001), uraufgeführt bereits 1808, dient diese vermeintliche Lesbarkeit des Körpers sogar als Beweis vor Gericht. 1 Und so wird auch der Körper der ‚schönen Jüdin‘ Benjamine im Handlungsverlauf immer wieder gelesen werden - durch den christlichen Mann, der schließlich ihr Retter wird (vgl. Kapitel 2.4), und durch den Leser selbst, der gleich zu Beginn die Tränen und die langen Wimpern der Jüdin als sichtbare Zeichen ihrer schönen Seele erkennt und unmittelbar begreift, dass sie zwar bei dem alten Juden keine Zukunft hat, dass sie ihn aber unter keinen Umständen verlassen kann. 2.2.2 Der ‚edle Jude‘ Der alte Rabbiner, der erste Jude in der dänischen Erzählliteratur überhaupt, betritt nicht als Nebenfigur die literarische Szene. Er ist im Gegenteil als tragende Figur gestaltet und sogar titelgebend für die Erzählung. Die Novelle beginnt direkt mit seiner Figurenrede: „Er din Forfølgelsesdag nu kommen igjen? fortabte, ulykkelige Israel! “ - sagde den gamle Rabbin Philip Moses og rystede sit hvide graaskæggede Hoved, da en Efteraarsaften 1819 Stenene fløi ind ad Vinduerne til ham, medens den hamborgske Pøbel raabte: „Hep! Hep! “ (Ingemann 2007: 99) „Ist der Tag deiner Verfolgung nun wieder gekommen? verlorenes, unglückliches Israel! “ - sagte der alte Rabbiner Philip Moses und schüttelte sein weißes, graubärtiges Haupt, als an einem Herbstabend 1819 die Steine durch die Fenster zu ihm flogen, während der hamburgische Pöbel „Hep! Hep! “ rief. Bereits mit diesen ersten Sätzen sind die wesentlichen Eigenschaften des Rabbiners skizziert. Seine Figurenrede und sein Äußeres kennzeichnen ihn als streng religiös, sein weißes Haar und der graue Bart markieren ihn als fromm und würdevoll, gleich einem biblischen Erzvater. Auch er ist also durch sein Äußeres lesbar, wenngleich unter seinen literarischen Vorgängern ihm keineswegs alle ähnlich sind. Anders als Benjamine, die mit 40 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 2 Ein solcher ist beispielsweise „[d]er Jude Melchisedech“ in Giovanni Boccaccios Decamerone (um 1350). Dieser „entgeht durch eine Geschichte von drei Ringen einer großen Gefahr, die ihm Saladin bereitet hat.“ (Boccaccio 1921: 57) wenigen Worten als ‚schöne Jüdin‘ erkennbar wird, gibt es für den ‚edlen Juden‘ Philip Moses nämlich verhältnismäßig wenig vergleichbare Vorbilder. Jüdische Männerfiguren waren in der Literatur bislang überwiegend mittels judenfeindlicher Stereotype gestaltet (vgl. Gutsche 2014; Schumacher 2000). Ihre prominentesten und literarisch produktivsten Vertreter sind jedoch zumindest ambivalent und verweisen immer auch auf die Christen, die den Juden gegenüber schuldig geworden sind, wie es Ingemanns Novelle mit diesen ersten Sätzen gleich zu Beginn tut. So steht beispielsweise der Vater der schönen Rebecca, Isaac von York, in Scotts Ivanhoe, der durch judenfeindliche Zuschreibungen charakterisiert ist, in der Tradition des äußerst ambivalenten Shylock aus Shakespeares Kaufmann von Venedig [1598] (2014). Dessen „blutiger Handel ist die Folge endloser Kränkungen“ (Körte 2007: 63) und wird mit der Judenfeindschaft, die ihm als Juden allenthalben entgegenschlägt, nachvollziehbar gemacht, so dass „Shakespeares Jude manchmal sympathisch ist“ und „seine Christen es manchmal nicht sind“, wie David Nirenberg (2015: 279) in seiner Be‐ trachtung des Dramas im Rahman seiner Monografie Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens anmerkt. Dennoch reichen diese Erfahrungen von Judenfeindschaft und Gewalt nicht aus, um Shylocks Handeln moralisch zu rechtfertigen und ihn als „gut“ erscheinen zu lassen. Als Vorbild für einen ‚edlen Juden‘ kann sich Ingemann fast ausschließlich auf die Figur des Nathan in Lessings Drama Nathan der Weise [1779] (2000) beziehen, wobei auch er literarische Vorgänger hat. 2 Von Lessings (2002) Hand selbst ist ein solcher Vorgänger der namenlose Jude in seinem Lustspiel Die Juden, das bereits 30 Jahre vorher, 1749, uraufgeführt wurde. Seinen ersten Auftritt in der deutschsprachigen Literatur hatte der ‚edle Jude‘ ein Jahr zuvor in Christian Fürchtegott Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfin von G*** [1748] (2015). Entscheidend für das großmütige Handeln von Gellerts ‚edlem Juden‘ ist, dass dieser zuvor die Erfahrung gemacht hat, von einem Christen aus der Gewalt anderer Christen gerettet worden zu sein. Diese Erfahrung, die vor dem Zeitraum der erzählten Handlung liegt, teilen auch Lessings edle Judenfiguren, und wie diese verdankt schließlich auch der erste dänische ‚edle Jude‘ in Heibergs Komödie Chinafarerne von 1792 „seine Ehrenhaftigkeit […] im Grunde der noch edleren Tat eines Christen“ (Räthel 2016: 123). Gewalt gegen Juden ist Teil des literarischen Topos vom ‚edlen Juden‘. Anders als in den Vorgängertexten liegt in Ingemanns Novelle die Gewalterfahrung jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern die Erzählung beginnt unmittelbar mit ihr. Der Leser wohnt also der Rettung durch den Christen und somit einem wesentlichen Teil des „Veredelungsprozesses“ bei. Der ‚edle Jude‘ ist - wie auch die ‚schöne Jüdin‘ - ohne christliche Figuren als deren Resonanzraum weder zu denken noch zu verstehen. Obwohl die Gewalt in diesen ersten Passagen der Novelle von Christen ausgeht, findet die Novelle jedoch, in Form der Figurenrede des Rabbiners, die Schuld zunächst nicht bei den Steine werfenden Christen, sondern bei den Juden selbst. Denn Philip Moses fährt fort: 41 2.2 Prototypen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 3 Zur Verwendung des Namens Jehova vgl. Fußnote 5 in Kapitel 2.3.1. 4 Die Vorstellung von einer „Mutter-Tochter-Beziehung“ der beiden Religionen zueinander ist bis in die Gegenwart verbreitet, wird aber zunehmend kritisiert und in Frage gestellt, z. B. von Boyarin (2007) und Yuval (2007). „Ja, I har Ret“ - vedblev han - „Jerusalem er lagt i Gruus og forstyrret. Stener os kun, I Jehovas Morderengle! I hans Vredes hylende Udsendinge! Hans Langmodighed var stor; men hans Folk forglemte ham i sin Udlændigheds Smitte: de foragtede Loven og Propheterne i de Fremmedes Porte; de have bladet deres Blod med de Vantroes - see! derfor skal Guds Folk udslettes af Jorden og bortstenes af de Levendes Land.“ (Ingemann 2007: 99) „Ja, Ihr habt Recht“ - fuhr er fort - „Jerusalem ist in Schutt gelegt und zerstört. Steinigt uns nur, Ihr Mordengel Jehovas! 3 Ihr heulenden Abgesandten seines Zorns! Sein Langmut war groß; doch sein Volk vergaß ihn, angesteckt in seinem Exil: sie verachteten das Gesetz und die Propheten unter den Toren der Fremden; sie haben ihr Blut mit denen der Ungläubigen vermischt - seht! darum soll Gottes Volk von der Erde ausgelöscht und aus dem Land der Lebenden hinfortgesteinigt werden.“ Die Bewegung, die der Text in den ersten beiden Abschnitten unternimmt, ist extrem ambivalent: Zunächst wird die jüdische Figur durch ihr Äußeres als würdevoll, respektabel und somit als edel markiert. Aus der Figurenrede wird deutlich, dass dieser Jude sich selbst durch seine tiefempfundene Religiosität moralisch unangreifbar macht. Damit wird die physische Gewalt, der er gerade ausgesetzt ist, als ungerechtfertigt verurteilt. Zugleich wird mittels seiner Figurenrede ein Erklärungsangebot gemacht, das die Gewalt zumindest gegenüber einem Teil der jüdischen Bevölkerung legitimiert. Nicht nur wird die Schuld für die Gewalt bei den Juden selbst gefunden, dieser Schuldspruch geschieht überdies durch die jüdische Hauptfigur selbst, die durch ihre eigene religiöse Integrität mit besonderer Autorität ausgestattet ist. Im weiteren Textverlauf zeigt sich, dass gerade jene Figuren, die diese Autorität anerkennen, nämlich seine Enkelin und der Christ Veit, schließlich die‐ jenigen sind, welche die religiösen Gewissheiten des alten Rabbiners ins Wanken bringen. So wird schließlich tatsächlich das Judentums des alten Rabbiners zum Verschwinden gebracht - allerdings nicht mit körperlicher Gewalt, von der sich der Text weiterhin distanziert, sondern mit einer als dezidiert christlich dargestellten Religiosität. Damit wird zugleich die anfängliche Figurenrede von Philip Moses infrage gestellt. Zwar wird sie in ihrer Konsequenz bestätigt, denn das Judentum wird zum Verschwinden gebracht. Doch nicht durch „Jehovas Zorn“ wird „Gottes Volk von der Erde ausgelöscht“, sondern durch die Überzeugungskraft des Christentums, in dem das Judentum aufgeht (vgl. Kapitel 2.4). Anders als Lessings Nathan arbeitet Ingemanns Novelle nicht mit dem Postulat, dass alle (monotheistischen) Religionen denselben Wahrheitsgehalt verkörpern. Vielmehr führt die physische Rettung des gläubigen Juden zu seiner religiösen Bekehrung und somit zur Überwindung des Judentums. Das Judentum wird nicht als eine lebendige zeitgenössische Religion dargestellt, sondern als Mutterreligion, die vom Christentum als Tochterreligion abgelöst wurde und deren Entwicklung seit der Entstehung des Christentums stagniert ist. 4 Der Text braucht und benutzt die Figur des ‚edlen Juden‘, um über eine Erneuerung des Christentums sprechen zu können. Der alte Rabbiner Philip Moses stellt ein philosemiti‐ sches Phantasma dar, dessen Religiosität als ein Idealbild jüdischer Frömmigkeit fantasiert wird, gleichzeitig aber überwunden und ins Christentum inkorporiert werden muss. Damit 42 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) dient der ‚edle Jude‘ schließlich der Veredelung des Christentums und fungiert allein „als moralischer Appell an die Christen“. Eine „spezifisch jüdische Identität“ der Figur ist dabei „letztlich gleichgültig“ (Surall 2008: 313). Die in der Figur des alten Rabbiners repräsentierte Vorstellung eines idealisierten Judentums wird in der Novelle mit verschiedenen Varianten der Akkulturation kontrastiert, die in den folgenden Abschnitten untersucht werden soll. Dabei nimmt der Text auch eine kritische Haltung gegenüber der sich säkularisierenden christlichen Mehrheitsgesellschaft ein. 2.3 Jüdische und christliche Welten 2.3.1 Ausgrenzung I: Im Hause des reichen Juwelenhändlers Als die Erzählung einsetzt, befindet sich Philip Moses im Haus eines seiner beiden Söhne, dem reichen Juden Samuel, einem Juwelenhändler. Hier suchen viele Juden Schutz, wobei doch Samuel es vor allen anderen ist, gegen den die Aggression der aufgebrachten Masse sich richtet. Samuel ist „den rigeste Juveleer i Hamborg [der reichste Juwelier in Hamburg]“ (Ingemann 2007: 99) und verkörpert somit die altbekannte Vorstellung vom reichen „Geld‐ juden“, der für seine Profit notfalls bereit ist, über Leichen zu gehen. Zumindest klingt diese Vorstellung in der Figur an, wenngleich diese Leiche „nur“ seine Religion ist. Er befürwortet die Konversion zum Christentum und erklärt: „Mig er det s’gu ligegyldigt, enten man kalder mig Jøde eller Christen […] naar jeg kun kan bjerge Gods og Liv [Mir ist es doch gleichgültig, ob man mich Jude oder Christ nennt, solange ich nur Besitz und Leben retten kann]“. Ob er sich nun Wasser über die Stirn gießen lasse oder nicht, mache für ihn keinen Unterschied. „Det er jo kun lumpne Ceremonier, som kan være ligesaa gode som alle vore Fixfaxerier. I vore Tider er den Tro s’gu den bedste, som giver Sikkerhed og Fred i Handel og Vandel [Das sind ja nur lumpige Zeremonien, die ebenso gut sind wie unser ganzer Firlefanz. In unseren Zeiten ist der Glaube der beste, der Sicherheit und Frieden im Handel und Wandel gibt]“ (Ingemann 2007: 100). Und so drückt sich nicht nur seine Missachtung gegenüber der christlichen, sondern auch gegenüber der eigenen, der jüdischen Religion aus. Von ihr hat sich Samuel längst abgewandt, auch seine Sprache drückt dies aus. Das umgangssprachliche „s’gu“ verwendet vor allem Samuel in seiner Figurenrede - außer ihm nur ein weiterer reicher Jude aus seinem Umkreis - und das auffallend häufig. „S’gu“ ist eine umgangssprachliche Interjektion und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Modeausdruck (vgl. Det Danske Sprogog Litteraturselskab 1939). Seine Verwendung zeigt also an, wie Samuel seine Sprache der Sprache der Mehrheitsgesellschaft angepasst hat. Gleichzeitig steht sie im Kontrast zur altmodischen und von religiösen Motiven durchzogenen Sprache des Rabbiners. Im Gegensatz zu den jüdischen Figuren auf der Theaterbühne, deren Rede häufig durch eine Sondersprache gekennzeichnet ist (vgl. Brandenburg 2014: 106-110), zeichnet sich die Sprache Samuels also gerade durch die auffällige Verwendung moderner Alltagssprache aus. Ironischerweise ist „s’gu“ eine Verkürzung von „saa Gud hjelpe mig“ („so wahr mir Gott helfe“), die Samuel also auch dort verwendet, wo er die religiöse Zugehörigkeit auf ihre assimilierende Funktion reduziert. Der Modeausdruck verweist somit zum einen auf den gesamtgesellschaftlichen Säkularisierungsprozess, dem der Text 43 2.3 Jüdische und christliche Welten DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 5 Mir ist bewusst, dass „Das Alte Testament“ eine christliche Bezeichnung ist, die von Jüdinnen und Juden nicht verwendet wird. An vielen Stellen werde ich diese Bezeichnung dennoch verwenden, da die hier analysierten Erzähltexte sich eben gerade nicht auf die Hebräische Bibel und auf das Judentum selbst beziehen, sondern auf eine christliche geprägte Vorstellung vom Judentum. Deutlich wird dies auch am Gebrauch des Gottesnamens, der Philip Moses (und anderen jüdische Figuren in dieser Untersuchung) mehrfach in den Mund gelegt wird, den gläubige Jüd*innen jedoch gar nicht aussprechen würden, weil er nicht ausgesprochen werden darf. Der ausgeschriebene Name „Jehova“ entspricht also keineswegs einer jüdischen Tradition und ist darüber hinaus falsch. Sein Gebrauch ist auf christliche Mönche des Mittelalters zurückzuführen (vgl. Becking 2006). selbst kritisch gegenübersteht, zum anderen zeigt er an, dass Samuel und dessen soziales Umfeld unkritisch an diesem Säkularisierungsprozess teilhaben. Samuels Vater, der Rab‐ biner, erinnert ihn mit seinen mahnenden Worten und seiner Frömmigkeit stets und ständig an die Religion seiner Vorfahren und wird seinem Sohn dabei immer lästiger. Die reichen Juden im Hause des noch reicheren Samuel schlagen unterschiedliche Strategien vor, sich ihrem christlich dominierten Umfeld anzupassen, um weiterer Verfolgung zu entgehen. Sei es die Taufe, als scheinbar einfache Formalität, oder der Wunsch, die Taufe könnte durchgeführt werden mit „ætsende Vand, som kunde gjøre vore sorte Haar lyse [ätzendem Wasser, das unsere schwarzen Haare hell machen könnte]“ (Ingemann 2007: 101). Ein Anderer bringt an, dass es nicht die Religion sei, wegen der die Juden verfolgt würden, sondern ihr Reichtum. Ein Jude sei doch ohnehin immer als Jude zu erkennen, ob getauft oder nicht. So sei es besser, den Reichtum nur im eigenen Heim auszuleben, „men bærer ikke eders Veldfærd til Skue! saa er det Ingen, som misunder og forfølger Eder [aber stellt nicht euren Wohlstand zur Schau! dann neidet und verfolgt euch auch niemand]“ (Ingemann 2007: 103). Dem entgegnet „en af de rigeste [einer der Reichsten]“ (Ingemann 2007: 103) mit dem Vorschlag von Anbahnungen interkonfessioneller erotischer Verhältnisse zwischen den eigenen Töchtern und den Söhnen der christlichen Geschäftspartner. Sogar die eigenen Ehefrauen werden hier als willfährige Vermittlerinnen in Betracht gezogen: „[V]i vil bede alle de unge Grosserersønner til Bords hos os - vore Døttre og Koner skal være milde og føielige imod dem og ikke agere saa knipske og ærbare [Wir werden all die jungen Söhne der Großhändler an unseren Tisch bitten - unsere Töchter und Frauen sollen ihnen gegenüber mild und fügsam sein und nicht so schnippisch und ehrbar agieren]“ (Ingemann 2007: 103). In dieser ökonomisch und zweckorientiert argumentierenden Gemeinschaft erscheint der Rabbiner Philip Moses als ein Fremdkörper. Seine Rede ist stets auf die Hebräische Bibel bezogen, vermischt sich immer wieder mit direkten Zitaten aus dem Alten Testament, 5 zumeist aus den Prophetenbüchern, und seine eigenen Worte klingen selbst wie Prophetie, in denen bereits das Donnern des Jüngsten Tags anklingt, wenn er zum Beispiel ausruft: „Elendige Søn […] fordømt være den Aand, som taler gjennem din Mund! […] Fordømt være det Gods og det Liv, hvorfor du vil sælge dine Fædres Tro […]! - Fordømt være den Sikkerhed og Fred, hvorfor du forraader Jehova! - fordømt den Handel og Vandel, som har gjort Guds Folk til Slaver af Mammon og til Guldkalvens afsindige Tilbedere! “ (Ingemann 2007: 100) Elender Sohn, verflucht sei der Geist, der durch deinen Mund spricht! Verflucht sei das Habe und das Leben, für das du den Glauben Deiner Väter verkaufen willst! Verflucht seien die Sicherheit und der Frieden, für den du Jehova verrätst - verflucht der Handel und Wandel, der Gottes Volk zu Sklaven des Mammon und zu wahnsinnigen Anbetern des Goldenen Kalbes gemacht haben! 44 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 6 Ebenfalls mutterlos sind z. B. Rebecca aus Ivanhoe, Shylocks Tochter Jessica, Nathans Pflegetochter Recha und Abigail, die Tochter des Juden Barabas in Christopher Marlowes The Jew of Malta [1592] (2009). So herrscht Samuel ihn unbeeindruckt und ungeduldig an: „Du taler over dig, Gamle! […] og forstaaer dig ikke paa at føie dig i Tiden. Du er gammel og hænger ved det Gamle; men dine Propheters Tider ere s’gu forbi [Du bist außer dir, Alter! und verstehst es nicht, dich in die Zeit zu fügen. Du bist alt und hängst am Alten; aber die Zeiten deiner Propheten sind nun vorbei]“ (Ingemann 2007: 100), und so fordern auch die anderen Juden: „Bort, bort med den gamle Prophet! [Weg, weg mit dem alten Propheten! ]“ (Ingemann 2007: 104). Philip Moses erfährt also innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft eben jene Ausgrenzung, vor der die anderen Juden sich zu schützen suchen. Was Philip Moses in seiner eigenen Familie zum Objekt des Spotts macht, schützt ihn wiederum, als er inmitten der Hep-Hep-Krawalle das Haus seines Sohnes verlässt, weil der innerjüdische und innerfamiliäre Konflikt, der im Moment der Bedrohung von Außen seinen Höhepunkt findet, für ihn nicht mehr zu ertragen ist. Dem steinewerfenden Pöbel auf der Straße gilt Philip Moses hingegen als „ærlig Mand - ham er det Synd at røre ved eller spotte [ehrlicher Mann - ihn anzurühren oder ihm zu spotten ist Sünde]“ (Ingemann 2007: 105). So lassen sie ihn unversehrt passieren. 2.3.2 Ausgrenzung II: Im Hause des assimilierten Juden Begleitet wird Philip Moses von Benjamine, seiner fürsorglichen und frommen Enkelin, die ihm als einzige ihre ungebrochene Loyalität und Liebe entgegenbringt. Benjamines Mutter Rahel, die Tochter des alten Rabbiners, ist früh verstorben, und da Benjamine auch keinen Vater mehr hat, lebt sie abwechselnd bei ihren beiden Onkeln Samuel und Isaak. In der Novelle wird nicht ausdrücklich erwähnt, dass der Vater ebenfalls verstorben ist, doch ist davon auszugehen, da Benjamine „faderog moderløs [vater- und mutterlos]“ ist (Ingemann 2007: 106). Bemerkenswert ist diese unkommentierte Leerstelle insofern, als dem Vater offenbar keine Bedeutung beigemessen wird. Die Figur des weisen Patriarchen ist durch den alten Rabbiner abgedeckt, die negativen jüdischen Figuren durch die beiden Söhne des Rabbiners. Die verstorbene oder abwesende Mutter ist Teil des Narrativs von der ‚schönen Jüdin‘ und findet sich in fast allen anderen Texten dieser Analyse wieder. 6 Der abwesende Vater, der weder als negativ konnotierter „Geldjude“ noch als alter Patriarch dargestellt werden muss, da diese Figuren bereits besetzt sind, hat keinen literarischen Kontext, in den er sich einschreiben könnte, und bleibt somit unerzählt. In der Kälte der Herbstnacht überredet Benjamine ihren Großvater, mit ihr zu Isaak zu kommen, mit dem ihr Großvater seit fünf Jahren kein Wort mehr gesprochen hat, seit Isaak eine Christin geheiratet hat. Da Philip Moses und Benjamine sonst keinen Zufluchtsort haben, suchen sie nun Schutz bei Isaak und seiner Frau. Die Ehe zwischen einem Juden und einer Christin ist in der Literatur, im Gegensatz zu der umgekehrten Konstellation, ein äußerst seltenes Ereignis. Wo angedeutet, zum Beispiel in Lessings Die Juden, findet sie keine Erfüllung (vgl. Lezzi 2006: 61-62, 2013: 67-72). Vor allem aber ist bemerkenswert, dass der jüdische Mann vor der Eheschließung nicht zum Christentum konvertiert ist. In der umgekehrten und weitaus üblicheren literarischen Konstellation, der Liebesbeziehung 45 2.3 Jüdische und christliche Welten DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) zwischen einer jüdischen Frau und einem christlichen Mann, ist dies nämlich nahezu immer Vorbedingung (vgl. Krobb 1993; Lezzi 2013). Ingemann orientiert sich in diesem Fall also offenbar am damals geltenden dänischen Recht, das für die Eheschließung zwischen Jüd*innen und Christ*innen keine Konversion voraussetzte (vgl. Schwarz Lausten 2012: 192-193). In Den gamle Rabbin ist jedoch wahre Liebe an wahre Religiosität gekoppelt, was beides in der Ehe zwischen Isaak und seiner Frau nicht gegeben ist. So ist diese Ehe weder erfüllt von Liebe, noch stellt sie eine wahrhaft interreligiöse Verbindung dar, denn beide Eheleute haben sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, von ihrer Religion ab- und dem Säkularismus zugewandt. Die Assimilation des Juden in die christlich-säkulare Mehrheitsgesellschaft scheint bereits vollzogen; von der jüdischen Religion und Tradition hat Isaak sich weitestgehend entfernt. Seine fünf Kinder sind allesamt blond und blauäugig, als hätte der Grad der Assimilation sich bereits in die Körper der Folgegeneration eingeschrieben und jegliche Verbindung zu den leiblichen Vorfahren väterlicherseits auch biologisch abgebrochen. Isaak lebt das assi‐ milierte Leben, das die Juden im Hause Samuels in ihrer Not erst zu entwerfen versuchen. Als Kleiderhändler lebt er einen bürgerlichen Wohlstand, ist aber nicht reicher als viele andere auch. Er unterhält freundschaftliche Kontakte zu Juden wie Christen, die in seinem Haus ein- und ausgehen - wenngleich die Novelle, als die Handlung im Haus von Isaak spielt, tatsächlich nur von Christen erzählt, die dort zu Gast sind. Isaak hat seine Religion weitestgehend abgestreift, ohne eine andere angenommen zu haben. Kurz: Er verkörpert ein säkularisiertes, in der Auflösung begriffenes Judentum. Seine bürgerlich etablierte Lebenssituation stellt scheinbar eine Alternative und einen Kontrast zum ausschließlich an ökonomischen Gewinn interessierten Bruder dar. Doch das Problem ist hier ebenfalls ein Mangel an Nächstenliebe, welcher sich aus einem Defizit an gelebter und empfundener Religiosität ergibt. Isaak nimmt seinen Vater zwar bei sich auf, doch schnell stellt Philip Moses auch hier einen Fremdkörper dar, dessen Anwesenheit den Anderen bald lästig wird. Auch die Freunde des Hauses verhalten sich Philip Moses gegenüber respektlos und äußern sich in seiner Anwesenheit gar zustimmend und verharmlosend über die judenfeindlichen Ausschreitungen, die noch immer nicht ganz abgeklungen sind. Schließlich stellt sich sein fünfjähriger blonder Enkel vor den alten Rabbiner hin, um seinen demütigenden Spaß mit ihm zu treiben: „[H]ar jeg en skægget Smaus til Bestefader, som ikke tør spise Flesk? nei, ham skal vi lege Hep Hep med, som de andre Drenge [Hab ich einen bärtigen Schmautz (Schimpfwort für ‚Jude‘, KB) zum Großvater, der nicht wagt, Schweinefleisch zu essen? Nein, mit ihm wollen wir Hep Hep spielen, wie die anderen Jungen]“( Ingemann 2007: 113). Benjamine, tief getroffen von den Schmähungen gegen ihren Großvater, hält ihrem kleinen Cousin weinend die Hand vor den Mund, Isaak unternimmt einen vagen Versuch, seinen Vater zu verteidigen, doch seine Frau nimmt „det unskyldige Barn [das unschuldige Kind]“ in Schutz und beklagt: „[H]erefter tør Ingen af os mere lukke Munden op i vort eget Huus [Hiernach wagt keiner von uns mehr, den Mund in unserem eigenen Haus aufzumachen]“ (Ingemann 2007: 114). So sieht sich Philip Moses erneut gezwungen aufzubrechen und auch das Haus seines zweiten Sohnes zu verlassen. Begleitet wird er wiederum von Benjamine, die ihn nicht aus den Augen und aus ihrer Obhut lässt, und die im Hause ihres Onkels und der angeheirateten Tante ohnehin nicht mehr als einen Platz zum Schlafen und eine Menge Hausarbeit zur Aufgabe bekam. 46 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Auch im Haushalt seines zweiten Sohnes Isaak fehlt es also an Wärme und Liebe ebenso wie am Glauben an Gott, auch hier wird Philip Moses gewaltvoll von seiner eigenen Familie und Gemeinschaft ausgegrenzt. Während draußen vorm Hause Samuels der „hamborgske Pøbel [hamburgische Pöbel]“ (Ingemann 2007: 105) die geschäftstüchtigen Juden bedroht, sind im Hause Isaaks Christen und Juden in ihrer areligiösen Gefühlskälte miteinander vereint. Obwohl „Christen“ genannt, ist mehr als deutlich, dass diesen Christen jegliche Form der Nächstenliebe fremd ist. Auch der Respekt vor dem alten Rabbiner fehlt ihnen, als sie einander spöttisch fragen: „Hvem er den underlige Gamle? - han taler jo som en Bibel [Wer ist der wunderliche Alte? - Er redet ja wie eine Bibel]“ (Ingemann 2007: 113). So stellt sich in der Novelle der Konflikt nicht zwischen Juden und Christen dar, sondern zwischen aufrichtigem Glauben und Gottesferne. Gottesferne führt stets zu Ausgrenzung, die in der Novelle durch die wiederholten Ortswechsel erzählt wird, zu denen Großvater und Enkelin genötigt sind. Kritik richtet sich nicht gegen eine der beiden Religionsgemeinschaften, sondern gegen die Säkularisierung. Die Jüdin und der Rabbiner als idealisierte Figuren in diesem philosemitischen Konstrukt sind die Opfer dieser Verweltlichung, die Opfer einer Gesellschaft, die seit der Aufklärung einen rasanten Wandel vollzieht. Konfessionelle Beliebigkeit und Konversion aus Kalkül sind Vorwürfe, die auch aus späteren Werken Ingemanns herauszulesen ist. So weist Mogens Brøndsted darauf hin, dass die Konversion zum Christentum, wie sie „Heinrich Heine og konsorter [Heinrich Heine und Konsorten“] (Brøndsted 2007b: 16) vollzogen haben, von Ingemann in seinem Drama Renegaten [Der Renegat; 1838] (1853a) kritisch karikiert wird. „Derimod havde Ingemann respekt for den gammeljødiske ånd, som det ses af fortellingen ‚Den gamle Rabbin‘ [Hingegen hatte Ingemann Respekt vor dem altjüdischen Geist, wie an der Erzählung ‚Den gamle Rabbin‘ zu sehen ist]“ (Brøndsted 2007b: 16). Doch dieser „altjüdische Geist“ ist ein Phantasma, der einer christlichen Wunschvorstellung vom Judentum entspringt. Die Texte Ingemanns schreiben sich in die vorherrschende Religionsauffassung der deutschen Romantiker ein, wie der Germanist Wolf-Daniel Hartwich in seiner Monografie Romanti‐ scher Antisemitismus (2005) dargelegt hat: Die Romantiker beklagen in der Gegenwart den allgemeinen geistig-religiösen Niedergang der westlichen Kultur durch ihre Säkularisierung, Kapitalisierung und Industrialisierung. Das Judentum habe diesen Prozeß nicht bewirkt, fördere diesen aber und profitiert [sic! ] von ihm. Die romantische Apokalyptik vollzieht keine dualistische Konfrontation mit dem Judentum. Vielmehr wird in der jüdischen Überlieferung selbst[,] als der ältesten göttlichen Ursprungs[,] das genetische Potential der Erlösung gesehen. Die jüdische Urgeschichte wird dabei in die christliche Kunstreligion transformiert. (Hartwich 2005: 27) Neben den opportunistischen Juden dieser Novelle sind es also einzig Philip Moses und Benjamine, die eine aufrichtige Nähe zu Gott und damit „das genetische Potential der Erlösung“ repräsentieren. In ihren Figuren verschränken sich Konzepte von Religiosität, Geschlecht und Alter hierarchisch: Während Philip Moses’ Handeln stets auf Gott bezogen ist, ist Benjamine mit ebensolcher Innbrunst auf ihren Großvater bezogen. Während Philip Moses Gott gegenüber absolut loyal ist, ist Benjamine ihrem Großvater gegenüber vollkommen loyal. Doch bietet die Novelle Benjamine noch einen anderen religiösen Weg an, der sie zunächst in große Gewissensnöte bringt: den jungen christlichen Maler Veit. 47 2.3 Jüdische und christliche Welten DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 7 Das hier erzählte Konzept ‚Seelenchristin‘ ist Teil des ‚schöne Jüdin‘-Topos, wie er in deutschspra‐ chigen Bekehrungsromanen bereits im 17. und 18. Jahrhundert und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein produktiv war (vgl. Krobb 1993: 21-54). 2.3.3 Ankommen: Im Hause der guten Christen Veit hat seinen Weg als Sohn des Hausarztes in die Familie von Isaak gefunden und unterrichtet dort als „Tegnemester; men hvad der drog ham did var især Benjamines skjønne Ansigt, der havde et særdeles Interesse for ham som Kunstner [Zeichenmeister; doch was ihn dorthin zog, war insbesondere Benjamines schönes Gesicht, das für ihn als Künstler von besonderem Interesse war]“ (Ingemann 2007: 112). Auch ihr gibt er hin und wieder Zeichenstunden und steht nun, während Philip Moses in einem Sessel in der Ecke sitzt, ved Vinduet og talte med Benjamine om den gamle ærværdige Bedstefader, som han strax havde bemærket og hilset med den Ærbødighed, hans Alder og ædle Udseende opvakte, og over hvis skjønne patriarkalske Oldingshoved han ret havde glædet sig. (Ingemann 2007: 112) am Fenster und sprach mit Benjamine über den alten ehrwürdigen Großvater, den er sogleich bemerkt und mit der Ehrerbietung gegrüßt hatte, wie sein Alter und edles Aussehen es verlangten, und über dessen schönes patriarchalisches Greisenhaupt er sich recht gefreut hatte. Als einziger der Hausgäste begegnet Veit ihm mit Freundlichkeit und Wärme und empfindet ihm gegenüber schnell eine ebenso große Zuneigung wie gegenüber Benjamine. Das Fenster, an dem er mit Benjamine steht, fungiert hierbei als Erkenntnismetapher, die den jungen Maler gegenüber den anderen Gästen, die sich in der Tiefe des Raumes befinden, aber auch gegenüber Philip Moses, der allein in einer Ecke sitzt, auszeichnet. Als Philip Moses und Benjamine auch das Haus des zweiten Sohnes verlassen, weil Philip Moses die Kälte und Respektlosigkeit dort nicht mehr erträgt, und Benjamine „fulgte grædende efter ham [ihm weinend folgte]“ (Ingemann 2007: 114), erweist sich Veit als ihr Retter. Er schützt sie vor weiteren judenfeindlichen Übergriffen durch gewaltbereite Christen und bringt sie in das Haus seines Vaters, wo Philip Moses noch auf der Türschwelle zusammenbricht und in ein langes Fieber und einen tiefen Schlaf fällt. Die Türschwelle zum Haus des Christen ist ein Ort des symbolischen Übergangs, den Benjamine vollziehen kann, den Philip Moses jedoch nur in einem ambivalenten Zwischenzustand passiert. In dieser körperlich-geistigen Übergangssituation verbleibt er lange Zeit. Oft schreckt er aus seinen Fieberfantasien hoch, „hvori han ofte med Job forbandede sin Fødselstime og med Propheterne saae sit ulykkelige Folks Undergang og Jerusalems ødeleggelse [in denen er oft mit Hiob seine Geburtsstunde verfluchte und mit den Propheten den Untergang seines unglücklichen Volkes und Jerusalems Zerstörung vorhersah]“ (Ingemann 2007: 115). Seinen hiobgleichen Qualen begegnet Benjamine, in dem sie an seinem Bett sitzt und betet oder ihm aus der Bibel vorliest. Die Worte der Heiligen Schrift beruhigen den Kranken, ohne dass ihm jedoch bewusst ist, dass es sich um die Evangelien handelt. Benjamine selbst ist von den Worten tief bewegt und geht aus der Krankheitsphase ihres Großvaters als ‚Seelenchristin‘ hervor. 7 Während für Philip Moses Veits Haus Symbol für ein Übergangsstadium zwischen Leben und Tod, zwischen Judentum und Christentum, zwischen Tod und Ewigem Leben 48 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 8 In Gyllembourgs Novelle Jøden erweist sich ebenfalls ein christlicher Arzt als Helfer und Freund für den titelgebenden Juden (vgl. Kapitel 4.2.2, insbesondere Fußnote 3, und Kapitel 4.2.3, Fußnote 7). bleibt, wird es Benjamine, deren Leben bisher durch Rastlosigkeit und Unzugehörigkeit gekennzeichnet war, zur geistigen und geistlichen Heimat. Veit, der Künstler, und sein Vater, „den gamle Doctor Veit [der alte Doktor Veit]“ (Ingemann 2007: 116), bieten Benjamine und Philip Moses erstmals in der Novelle einen sicheren und geschützten Raum, aus dem sie nicht gewaltsam ausgeschlossen werden. Veits Vater tritt in der Novelle jedoch kaum weiter in Erscheinung. Als Arzt ist es sein Beruf und seine Berufung zu helfen, so dass sein freundliches Handeln gegenüber Philip Moses und Benjamine keiner weiteren Begründung bedarf. 8 Der junge Maler Veit vor allem ist es, dessen Handeln als wahrer Christ in die Zukunft weist. Das Gebot der Nächstenliebe wird als christliches Alleinstellungsmerkmal inszeniert, das nun, da es den beiden jüdischen Figuren endlich entgegengebracht wird, zwangsläufig zu deren Konversion führen wird. Im Wechsel mit Benjamine wacht Veit am Bett des kranken Juden. Anders als Philip Moses redet er nicht nur von Gott, sondern handelt nach göttlichem Gebot. Somit werden in diesen beiden Figuren zwei religiöse Konzepte einander gegenübergestellt: starres Wort vs. gute Tat. Bereits in der Figurenkonstellation ist festgelegt, welches Konzept hier das zukunftsweisende ist. Der Text macht das Judentum als ein krankendes religiöses Prinzip aus. Es ist zwar als Vorläuferreligion des Christentums inszeniert, wird aber zugleich totgesagt. Denn für Benjamine stellt das mit der Figur des Philip Moses verbundene Prinzip keine Zukunftsperspektive dar. Weder ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu ihrem Großvater noch dessen Form der Religiosität weisen Benjamine einen Weg in die Zukunft. In Veit hingegen vereinen sich das Versprechen einer bürgerlichen Ehe samt Nachkommenschaft und das Versprechen auf religiöse Erlösung. Der Erfüllung dieses Zukunftsversprechens stehen jedoch die tiefe Religiosität des Rabbiners und die Loyalität der Enkelin zu ihrem Großvater im Weg. Denn er erfasst die Botschaft des Evangeliums zunächst nicht. Sein ambivalenter Zustand zwischen Leben und Tod, aus dem er sich nur kurz erholt, verweist auf einen Zustand religiöser Ambivalenz. 2.4 Der Künstler als Heiland 2.4.1 Erkennen Als sich Philip Moses augenscheinlich von seiner Krankheit erholt hat, möchte er das Haus der Christen verlassen und zurück in die jüdische Gemeinde kehren. Doch Benjamine ist nun gefangen zwischen der Loyalität zum alten Glauben/ dem alten Mann und der Liebe zum neuen Glauben/ dem jungen Mann. Wann immer Benjamine selbst spricht, das heißt ihr Sprechen im Text als Figurenrede markiert ist, sind es fast ausschließlich Worte, mit denen sie ihren Großvater schützt und verteidigt. So hat sie auch in diesem, ihrem eigenen, inneren Konflikt zunächst weder eine Stimme noch Handlungsmacht. Bei ihrer bevorstehenden Trennung ist es Veit, der erkennt und an ihrer Stelle ausspricht, dass sie ihn liebt: 49 2.4 Der Künstler als Heiland DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) [D]a saae de unge Mennesker smertelig paa hinanden, og Taarerne styrtede dem begge af Øiene. „Ja, Benjamine! nu seer jeg det - du elsker mig, som jeg længe har elsket dig“ - sagde den unge Veit plutselig og greb hendes Haand, og førend Benjamine kunde besinde sig, laae de begge for de Gamles Fødder og bade om deres Velsignelse. (Ingemann 2007: 118) Da sahen die jungen Menschen einander schmerzvoll an, und Tränen stürzten ihnen beiden aus den Augen. „Ja, Benjamine! Nun erkenne ich es - du liebst mich, wie ich dich lange schon geliebt habe“ - sagte der junge Veit plötzlich und griff ihre Hand, und ehe Benjamine sich besinnen konnte, lagen sie beide zu Füßen der Alten und baten um ihren Segen. Um mögliche Einwände des Rabbiners oder seines Vaters gleich zu entkräften fügt Veit hinzu: „Benjamine er Christen i Hjertet [Benjamine ist Christin im Herzen]“ (Ingemann 2007: 118). Diese beiden entscheidenden Bekenntnisse kann Benjamine nicht selbst aus‐ sprechen, sie bedarf auch im Ausdruck ihrer intimsten Gefühle und Gedanken der Worte des jungen Christen. Erst in dem Moment, als sie sich zwischen Veit und Großvater, Christ und Jude, Herkunft und Zukunft entscheiden muss, spricht sie schließlich selbst und offenbart dem Großvater, indem sie seine Knie umfasst, „det var Christi Ord, jeg læste for dig [es waren Christi Worte, die ich für dich gelesen habe]“ (Ingemann 2007: 118). Doch ist dies kein Glaubensbekenntnis, sondern vielmehr ein Schuldgeständnis. Auf die tiefe Erschütterung des Alten kann Benjamine nur reagieren, indem sie ihm Gehorsam verspricht und ihm zurück in die jüdische Gemeinde folgt, wo für sie nur noch der Tod vorstellbar ist: „[T]ag mig med dig og lad mig døe i dine Arme! men fordøm mig ikke i min Dødsstund! hvad der er skeet i min Sjæl var den Høiestes Villie [Nimm mich mit und lass mich in deinen Armen sterben! aber verfluche mich nicht in meiner Todesstunde! Was in meiner Seele geschehen ist, war der Wille des Höchsten]“ (Ingemann 2007: 119). Und doch gibt es für Benjamine kein Zurück zum Judentum, denn sie ist bereits übergetreten, in die Sphäre des christlichen Mannes. Veit stellt eine Ausnahme unter den Hamburger Christen dar. Als Maler ist er kürzlich aus der deutschen Künstlerkolonie in Rom zurückgekehrt. Die Stadt Rom ist vielfältig symbolisch aufgeladen: als religiöser und kultureller Gegenpol zur Stadt Jerusalem, als Sehnsuchtsort dänischer und deutscher Literaten und Künstler im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert und darüber hinaus auch ganz konkret als Ort, an dem die sogenannten Nazarener wirkten und arbeiteten. Diese Künstlergruppe orientierte sich stilistisch an der Malerei der italienischen Renaissance und stellte vor allem religiöse Motive in den Mittelpunkt ihres Kunstschaffens. Äußerlich ähnelt Veit selbst einem Renaissancegemälde, denn er ist gekleidet „i gammeltydsk Dragt og med lange gule Lokker om den hvide Krave [in altdeutscher Tracht und mit langen goldenen Locken über dem weißen Kragen]“, wie es in Rom „almindelig blandt Konstnerne [üblich unter den Künstlern“] ist (Ingemann 2007: 112). Veit, dessen Berufung das Malen ist, ist derjenige, der sehen und das Gesehene in ein Kunstwerk umsetzen kann. Diese Fähigkeit zu sehen zeigt sich bereits, als er als einziger der Hausgäste im Hause Isaaks den alten Juden in seiner Ecke wahrnimmt und sich ihm gegenüber angemessen respektvoll zeigt. Es drückt sich aus, indem er Benjamines Gefühlsregungen erkennt und körpersemiotisch liest, ohne dass sie sie formulieren muss 50 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) (oder darf oder kann). Am deutlichsten zeigt es sich aber, als Benjamine am Krankenbett ihres Großvaters sitzt und Veit sie und ihren Großvater malt: Tidt, naar Benjamine havde læst den Gamle til Ro og sad stille med den hellige Bog i sin Haand ved hans Leie, medens han slumrede, og det herlige Oldingsaasyn smilede beroliget til hende i Drømme - sad Veit med sin Pensel ligefor dem og afbildede dem begge. For Benjamines Sjæl gik et underfuldt Lys op ved hvad hun læste for den Gamle og hvad hun talede med den fromme Maler om den hellige Bog, som indeholdt Kilderne baade til hendes og til hans forskjellige Troesbekjendelse. (Ingemann 2007: 116) Oft, wenn Benjamine den Alten durch ihr Lesen zur Ruhe gebracht hatte und still mit dem heiligen Buch in der Hand an seinem Lager saß, während er schlummerte und das herrliche Greisengesicht ihr im Traum beruhigt zulächelte - saß Veit mit seinem Pinsel gleich vor ihnen und bildete sie beide ab. Vor Benjamines Seele ging ein wundervolles Licht auf durch das, was sie dem Alten vorlas und was sie mit dem frommen Maler über das heilige Buch sprach, das die Quellen ihrer beider unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse enthielt. Die Quellen ihres eigenen Glaubensbekenntnisses liegen gedruckt auf vielen Seiten in ihrer Hand und stellen seine Grundlage dar. Jedoch liest sie aus dem Neuen Testament vor. Die Worte durchdringen ihre Seele, und dies ist just der Moment, in dem Veit das Porträt von ihr anfertigt. Diese Szene ist der Schlüsselmoment, in dem Sehen und Gesehenwerden, Erkennen und Erkanntwerden kulminieren. Der an sich unfassbare und unkörperliche Moment der religiösen Erleuchtung wird durch den Künstler auf Leinwand festgehalten, sichtbar gemacht, in Materie gefasst. So wiederum lässt sich die Szene literarisch fassen und erzählen, indem erzählt wird, was der Maler sieht. Doppelt festgehalten, in Öl auf Leinwand und in Druckerschwärze auf Papier, gefasst in den Holzrahmen der Leinwand und in den Einband der Novelle, gelingt es dem Künstler - dem Maler Veit ebenso wie dem Autor Ingemann -, den Moment göttlicher Erweckung festzuhalten und nachvollziehbar zu ma‐ chen. Gemeinsam mit Veit und dem Erzähler betrachtet der Leser Benjamines Erweckung. Benjamine selbst wiederum zeigt kein Bewusstsein gegenüber diesem Gesehenwerden, reagiert nicht aufs Gemaltwerden. Sie ist ganz erfüllt von Gottes Wort und dem Heiligen Geist, der sie in diesem Moment durchdringt. Es ist eine intime Situation, die bei aller räumlichen Distanz, die zwischen dem Malenden und der Gemalten besteht, auch erotisch konnotiert ist. Benjamine gibt sich Veits Blick hin, sie empfängt, was Veit ihr anbietet: erst die Zeichenstunden, nun den geschützten Raum und die christliche Bibel - und gibt sich vertrauensvoll in seine Hände. So treibt Veit ihre Entwicklung voran und kann sie dabei in Ruhe betrachten und seinen Blick in Benjamines Seele für immer auf Leinwand festhalten. Gänzlich außerhalb dieses Moments des Sehens und Erkennens, den Veit auf seinem Porträt archiviert, befindet sich der alte Rabbiner, der im Fieberschlaf weder die entflammende Liebe zwischen Veit und Benjamine wahrnehmen noch die Worte, die Benjamine ihm aus dem Neuen Testament vorliest, verstehen kann. Auch ihn porträtiert Veit, und auch Philip Moses ist sich des Porträtiertwerdens nicht bewusst, doch liegt das nicht am Zustand der seelischen Entrückung, sondern am Fieberschlaf, in dem sich bereits sein naher Tod ankündigt. Veit jedoch ist in der Lage, auch Philip Moses in die Seele zu blicken. Denn dies ist, so legt es der Text nahe, die vornehmste Fähigkeit des Künstlers: das wahre Wesen der 51 2.4 Der Künstler als Heiland DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 9 Simeon wird namentlich nicht erwähnt, doch legt die Novelle die Lesart nahe. Nachdem Simeon im Tempel seinen Erlöser, den neugeborenen Jesus, gesehen hat, preist er Gott und kann sodann in Frieden sterben (Lk 2,25-35). Für diese Arbeit verwende ich, soweit nicht anders angegeben, die revidierte Übersetzung der Lutherbibel von 2017 (Bibel 2016a). 10 Mit dem Begriff der ‚mosaischen Unterscheidung‘ bezieht Hartwich sich auf die Untersuchung von Jan Assmann (1998) Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Hartwich fasst Assmanns These folgendermaßen zusammen: „Der Antisemitismus erscheint […] als kulturgeschichtliches Nebenprodukt der monotheistischen Revolution. Der Monotheismus stellt einen völligen Umbruch innerhalb der antiken Religionsgeschichte dar. […] An die Stelle der interkulturellen Übersetzbarkeit der Götter verschiedener Völker tritt die bewußte Entscheidung für den Einen und gegen die Vielen. Jan Assmann spricht hier von der ‚Mosaischen Unterscheidung‘, die in der Sinngeschichte Epoche machte“ (Hartwich 2005: 21). Welt zu erkennen und darzustellen. Veit sieht, dass die Worte des Evangeliums auch auf den schlafenden Juden beruhigende Wirkung haben, sieht, wie sie aus dem verzweifelten Hiob einen aufgerichteten Simeon 9 machen. Er erkennt damit mehr, als es Philip Moses selbst in diesem Moment vermag, und so nimmt der Pinsel des Künstlers den Ausgang der Novelle und die Hinwendung des Juden zum Christentum prophetisch vorweg. Die jüdischen Figuren dienen als poetischer Nährboden für die literarische Darstellung des Künstlers und die literarische Reflexion über Kunst. Die Novelle schreibt sich damit deutlich in den kunstreligiösen Diskurs der deutschen Romantik ein, den Hartwich folgendermaßen beschreibt: Die romantische Weltanschauung baut einen polemischen Gegensatz zwischen dem göttlich begabten Künstler und den das Weltliche vergötzenden Philistern und Juden auf. Die kunstreligiöse Frontstellung wird aber immer wieder in Bildern der hebräischen Bibel exponiert und verrät so ihre religionsgeschichtliche Herkunft aus der ‚Mosaischen Unterscheidung‘. (Hartwich 2005: 23) 10 Im Verständnis der Romantik ist Veit als Künstler mit göttlichem Genie begabt. Benjamines und Philip Moses’ Weg ins Christentum ist an die Figur des Künstlers Veit gekoppelt. Doch auch umgekehrt sind Veits religiöser Weg und seine literarische Darstellung von den beiden jüdischen Figuren bestimmt. Veits Genie drückt sich in seiner Gabe zu sehen und zu schaffen aus, und für die literarische Darstellung dieses Genies bedarf es in dieser Novelle der beiden jüdischen Figuren. Veit sieht (= erkennt) Benjamine und Philip Moses und er erschafft Bildnisse von beiden, verdoppelt und bestärkt ihr Dasein in der Welt und wird auf diese Weise ihr Schöpfer. 2.4.2 Erschaffen Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat in seiner bahnbrechenden Untersuchung Au‐ ßenseiter die Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Außenseiter, zu denen Juden ebenso wie Frauen gehören, herausgestellt. Mayer zufolge sind Juden und Frauen (und als dritte Gruppe [männliche! ] Homosexuelle) gleichermaßen „existenzielle[…] Außenseiter“, die „immer wieder insgeheim miteinander verbunden werden“ (Mayer 1981: 21; vgl. auch Braun 1992; Schnurbein 2006; Schößler 2009). Der Erzähler der Novelle Den gamle Rabbin nimmt einen dezidiert christlichen (und männlichen) Standpunkt ein und richtet den Blick von außen auf „die Juden“. Dabei kontrastiert er das romantisch-religiöse Idealbild „des Juden“ 52 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) mit verschiedenen anderen jüdischen Lebensentwürfen, in denen die jüdischen Figuren den Weg der Säkularisierung gehen und sich von der althebräischen Mythologie entfernt haben. Der Text entwirft mit Philip Moses ein Bild vom perfekten (oder wünschenswerten) Juden, ebenso wie mit Benjamine ein Bild von der perfekten (oder wünschenswerten) Frau. Diese ist zwar aufgrund ihres Geschlechts und ihres Judentums gleich doppelt als Außenseiterin markiert, jedoch wird sie im Moment ihres innerlichen Glaubensübertritts porträtiert, das heißt, dass sie ihr Jüdischsein im Moment des Gemaltwerdens überwindet. Die literarischen Bilder werden durch die Gemälde Veits verdoppelt, und die Novelle verweist so auf ihren eigenen Verfasser, der als Autor ebenfalls ein Künstler ist. Er entwirft das Bild eines ‚edlen Juden‘, einer ‚schönen Jüdin‘ und eines christlichen Künstlers, der wiederum das Bild dieses ‚edlen Juden‘ und dieser ‚schönen Jüdin‘ malt. Wie der Maler Gemälde herstellt, produziert auch der Text, beziehungsweise dessen Autor, literarische Bilder. Die Bilder des Malers bilden das Innerste der beiden jüdischen Figuren ab und stellen diese Bilder im Text zur selben Zeit erst her. Die fiktive Leinwand wird zur Projektionsfläche des Malers und zugleich des Autors. Als Veit nach der vorläufigen Trennung von Benjamine nach Rom abzureisen plant, legt er seinem Gepäck die beiden Porträts bei: To uforglemmelige Billeder vare fremtraadte i hans liv, som hans Skjæbnes underfulde dobbelte Herolder; de vare de kjæreste og kostbarste Klenoder, han havde pakket ind for at medtage, og de vare den skjønne Benjamines og den gamle Philip Moses’s Portraiter. (Ingemann 2007: 121) Zwei unvergessliche Bilder waren in sein Leben getreten, als die wunderbaren doppelten Herolde seines Schicksals; sie waren die liebsten und kostbarsten Kleinode, die er zum Mitnehmen eingepackt hatte, und dies waren die Porträts der schönen Benjamine und des alten Philip Moses. Obwohl die Bilder also „unvergesslich“ sind, sind sie doch erst durch den Akt des Malens entstanden und unvergesslich geworden. In ihnen ist die Vergangenheit als Grundlage des eigenen, christlichen Glaubens archiviert: das Judentum in Gestalt des Philip Moses, dessen Glaubenskonzept als längst vergangen und überholt markiert wird. In Benjamines Porträt ist jedoch der Moment archiviert, in dem sie selbst ihre eigene religiöse Vergangenheit hinter sich lässt und sich innerlich dem Neuen zuwendet. Diese Bilder sind zugleich Projektionen des Künstlers, die zeigen, wie er Benjamine und Philip Moses sieht und deren Jüdischsein interpretiert. In der Thematisierung des Kunstschaffensprozesses selbst reflektiert der Text den Herstellungsprozess derjenigen Bilder und Projektionen, die er selbst verwendet und (re-) produziert. Der Künstler nimmt also nicht allein die Gemälde mit in sein Reisegepäck, sondern gewissermaßen einen Teil der Abgebildeten selbst. Der Kunstkritiker, Schriftsteller und Maler John Berger, der 1972 das englische Fernsehpublikum mit seiner BBC-Reihe Ways of Seeing das Sehen lehrte, schreibt in seinem kurz darauf erschienenen gleichnamigen Essay-Band Ways of Seeing [1972], der als Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt 1974 ins Deutsch übersetzt wurde, über die Ölmalerei zwischen 1500 und 1900: Auf Gemälden werden häufig Gegenstände dargestellt, die man erwerben kann. Hat man einen Gegenstand gemalt und auf eine Leinwand gebracht, ist das nicht anders, als habe man ihn gekauft 53 2.4 Der Künstler als Heiland DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) und mit nach Haus genommen. Kauft man nämlich ein Gemälde, kauft man auch das Aussehen des Gegenstands, den es abbildet. (Berger 2016: 78) Nun sind Benjamine und Philip Moses keine Gegenstände, die Veit besitzen könnte, er muss sie auch nicht kaufen, sondern hat die Gemälde für sich selbst gemalt. Nichtsdestotrotz befinden sie sich in seinen Besitz. Berger hat radikal aufgezeigt, wie Frauen in der bildenden Kunst traditionell die Funktion eines Objekts zukommt, das durch die Darstellung auf dem Gemälde zum Besitz des Künstlers oder Kunstsammlers wird: Auf der einen Seite der Individualismus eines Künstlers, Philosophen, Gönners und Kunstbesitzers, auf der anderen das wie eine Sache oder eine Abstraktion behandelte Objekt ihrer Aktivitäten - die Frau. (Berger 2016: 59) Zwar bezieht sich Berger mit diesem Befund vornehmlich auf die Aktmalerei. Dennoch befinden sich die beiden Gemälde als „Kleinode“, also als Schmuckstücke, als schmückende Objekte, in Veits Besitz. Veit eignet sich durch das Malen und das Besitzen der beiden Porträts nicht nur Benjamine, sondern auch Philip Moses an. Zeigt die Tatsache, dass er nicht nur die von ihm geliebte Benjamine porträtiert hat, sondern auch Philip Moses, auf der einen Seite den Respekt und die Achtung an, die Veit dem alten Juden entgegenbringt, so macht dessen Porträt in Veits Besitz auch deutlich, dass nicht nur Benjamine als Frau und ‚schöne Jüdin‘ Objektcharakter hat, sondern auch Philip Moses als Jude. Dagegen mag sich einwenden lassen, dass das Bild eines geliebten Menschen mehr darstellt als ein Objekt, das einfach nur besessen wird. Es ist vielmehr ein kostbares Erinnerungsstück, ein Trost für das sich sehnende Herz. Trotzdem ist der Blick auf das Machtverhältnis zwischen Sehendem (christlicher Mann/ Künstler) und Gesehenen (Frau/ Jüdin und Jude), zwischen Aktivität und Passivität, zwischen dem Schaffendem und den beiden Abgebildeten aus dieser Perspektive fruchtbar. Denn mit ihrer Hilfe lässt sich aufzeigen, dass die Blickrichtung, mit der der Text auf die Frau sieht, derjenigen ähnlich ist, mit der er auf den Juden sieht, nämlich durch die Augen des christlichen Mannes, der sich sowohl von der Frau und Jüdin als auch vom Juden ein Bild macht und dieses Bild über seine Kunst weiterverbreitet. Als christlicher Mann hat Veit die Deutungsmacht sowohl über die Frau als auch über den Juden. Als Jüdin und Frau, also als zweifache Außenseiterin im Sinne Mayers (vgl. 1981: 33-41), bietet Benjamine eine doppelte Projektionsfläche für Zuschreibungen durch den christlichen Mann. Als gottbegnadeter Künstler stellt aber auch Veit einen Außenseiter der Gesellschaft dar, der sich durch seine äußere Erscheinung ebenso wie durch sein inneres Wesen von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. So vermag er als Einziger die Liebe der schönen Benjamine zu gewinnen und schließlich sogar den strengen Philipp Moses für sich einzunehmen und beide als ihr Retter auf eine höhere Glaubensstufe zu führen. Anders als beispielsweise in der Zauberflöte (1791) von Wolfgang Amadeus Mozart (und Emanuel Schikaneder, der das Libretto zur Oper schrieb), um das vielleicht prominenteste Beispiel zu wählen, oder in Lessings (2001) bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti (1772), 54 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 11 Beispiele aus der dänischen Literatur des 19. Jahrhunderts bespricht Joachim Schiedermair in seiner Studie (V)erklärte Gesichter. Der Porträtdiskurs in der Literatur des dänisch-norwegischen Idealismus (2009: 187-283). um ein Beispiel mit fatalen Folgen für die Porträtierte zu nennen, 11 verliebt sich hier der junge Mann nicht in das bereits vorhandene Porträt einer schönen Frau, sondern fertigt das Bildnis im Handlungsverlauf selber erst an. Es wird auch folgerichtig gar nicht beschrieben, da Erscheinung und Aussehen Benjamines bereits zuvor aus der Perspektive des Künstlers (Malers/ Autors) geschildert werden. Gleichzeitig ermöglicht das Auge des fiktiven Malers zu beschreiben, was nur ein Künstler zu sehen und zu begreifen in der Lage ist - nämlich den Moment, in dem Benjamine vom Heiligen Geist ergriffen wird und auch Philip Moses ihn in seiner Seele schon spürt, obwohl sein Verstand ihn noch nicht begriffen hat. Einmal mehr lässt sich feststellen, dass es sich bei den Figuren der Benjamine und des Philip Moses um (literarische) Bilder handelt, um Vorstellungen davon, wie Juden und Jüdinnen seien oder im Idealfall zu sein haben. Ingemanns Text nimmt die Möglichkeiten der Literatur (noch) nicht wahr, die Bilder, die der Text aufruft, zu modifizieren und zu unterwandern und lässt seine Hauptfiguren ungebrochen ihren glücklichen Weg ins Chris‐ tentum und die Ehe gehen. Während die ‚schöne Seele‘ Emilia Galotti keine Möglichkeit hat, ihrem traurigem Schicksal zu entkommen, stellt für Benjamine die Konversion den Weg zur Errettung dar. Zwingende Voraussetzung für diese glückliche Wendung ist jedoch ihr Jüdischsein, das sie überwinden muss. In Kapitel 3 werde ich aufzeigen, wie eine andere, nur ein Jahr später veröffentliche Novelle, Blichers Jøderne paa Hald, ihre literarischen Möglichkeiten einsetzt, die Bilder, die der Text zunächst selbst aufruft, zu unterminieren. Dennoch ist es bemerkenswert, dass der erste dänische Erzähltext, der jüdische Figuren auftreten lässt und ihnen eine so zentrale Rolle zuweist, zugleich die Konstruiertheit des Bildes von „dem Juden“ und „der Jüdin“ in sich aufnimmt und thematisiert. 2.4.3 Erlösen Über die Beziehung zwischen Benjamine und den beiden männlichen Figuren Philip Moses und Veit ist die Frage nach der Religion in den Diskurs von Leben und Tod eingeschrieben. Die Entscheidung, die Benjamine zu treffen hat, bedeutet zunächst, dass sie einen der beiden Männer verlieren muss: entweder ihren jüdischen Großvater, der ihre Vergangenheit und Herkunft repräsentiert, ihr jedoch als Perspektive nur den frühen Tod zu bieten hat, oder Veit, der ihre Zukunft sein könnte und mit dem sie auch sexuell eine fruchtbare Verbindung eingehen würde. Da in der Logik der Novelle Benjamines Anziehungskraft eben genau in ihrer vollkommenen Bereitschaft zur Aufopferung und ihrer Hingabe für das Wohlergehen ihres Großvaters besteht, entscheidet sich Benjamine trotz ihrer fruchtbaren Liebe zu Veit für die unfruchtbare Liebe zu ihrem Großvater. Und derselben Logik folgend fügt sich Veit in dieses Schicksal, nachdem er den alten Rabbiner noch einmal für ein Gespräch aufgesucht hat (Ingemann 2007: 119). So entschließt er sich, endgültig zurück nach Rom zu reisen, in die Künstlerkolonie, aus der er erst kurze Zeit zuvor in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, und damit auch ins religiöse Zentrum des Christentums. Für Benjamine hingegen 55 2.4 Der Künstler als Heiland DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) scheint das Gebundensein an Philip Moses in jedem Fall den Tod zu bedeuten. Sein Tod bedeutet ihren Tod, denn auch wenn der alte Rabbiner stirbt, wird sie sich nicht von ihrem Treuegelübde entbinden. „[H]endes Hjerte vil maaske briste derved; men hun vil ikke være den Døde mindre tro, end den Levende [Ihr Herz mag vielleicht daran zerbrechen; aber sie würde dem Toten nicht weniger treu sein als dem Lebenden]“ (Ingemann 2007: 120). Aber die Novelle findet schließlich doch noch ein glückliches Ende. Philip Moses, der bald wieder erkrankt und auf dem Totenbett von Benjamine gepflegt wird, empfängt noch im letzten Moment seines Lebens durch das weit geöffnete Fenster den Heiligen Geist und prophezeit mit letztem Lebenshauch seiner Enkelin, dass sie an seinem Grab ihre Erlösung finden werde: Han havde bedet Benjamine aabne Vinduet, at han endu engang kunde see den lyse Himmel, og da var det ligesom et helligt Syn hadve viist sig for ham i den venlige Morgenrøde. - „Skuffe mig ikke mine bristende Øine“ - havde han sagt - „saa kom til min Grav, Benjamine! og min Aand skal vise dig din Frelse“ - her var hans Stemme bleven utydelig; men hans Aasyn havde smilet forunderlig saligt. Med den stivnende Haand havde han endnu gjort et Tegn paa sit Dødsleie som et Kors, og rolig havde han opgivet Aanden i Benjamines Arme. (Ingemann 2007: 122) Er hatte Benjamine gebeten, das Fenster zu öffnen, damit er noch einmal den leuchtenden Himmel sehen konnte, und da hatte sich ihm gleichsam eine heilige Erscheinung in der freundlichen Morgenröte gezeigt. - „Täuschen mich meine brechenden Augen nicht“ - hatte er gesagt - „so komm an mein Grab, Benjamine! und mein Geist wird dir deine Erlösung zeigen“ - hier war seine Stimme undeutlich geworden; doch sein Gesicht hatte wundersam selig gelächelt. Mit der steifen Hand hatte er noch ein Zeichen auf seinem Totenlager gemacht, wie ein Kreuz, und ruhig hatte er seinen Geist in Benjamines Armen aufgegeben. Anders als Benjamine, deren religiöse Erkenntnis durch den Blick des Künstlers eintritt, ereilt Philip Moses die Erleuchtung am und durch das Fenster. Wie bei Veit dient es auch hier als Metapher der Erkenntnis. Das heißt wiederum, dass Religiosität und Erkenntnis erneut mit der Kategorie Geschlecht verschränkt und hierarchisiert werden. Während beide Männer durch das Fenster Erkenntnis erlangen, ist Benjamines Erkenntnis an das Gesehenwerden durch einen christlichen Mann gebunden. Allerdings ist wiederum die Vorbedingung für Philip Moses’ Erleuchtungsmoment, dass dieser zuvor die Worte des Neuen Testaments aus dem Mund seiner Enkelin Benjamine gehört hat, wodurch Benjamine als Mittlerin zwischen Alt und Neu, Judentum und Christentum hierarchisch eine Zwischenposition einnimmt, die jedoch nicht unabhängig vom christlichen Mann gedacht werden kann. Am Grab des Großvaters tritt Benjamines Erlösung in Gestalt Veits auf, der gekommen ist, in der Hoffnung, Benjamine dort vorzufinden und von ihr Abschied nehmen zu können. Er wartet „den fromme Piges Bøn [das Gebet des frommen Mädchens]“ ab und tritt ihr dann „stille og høitidelig [still und feierlich]“ entgegen. I hans Haand lyste et Kors af glindsende Perlemor, som hans afdøde Moder fordum havde givet ham som Barn, til Den, han engang gav sit Hjerte. […] Det skinnede nu smukt i de klare venlige Maanestraaler. (Ingemann 2007: 121) 56 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 12 Theisohn und Braungart verweisen auf das Typische dieses Musters im Schreiben über Juden, wenn die „Einheit zwischen Juden und Christen ganz klassisch über den Gräbern des Judentums [zelebriert]“ wird (2012: 12). In seiner Hand leuchtete ein Kreuz aus schimmerndem Perlmutt, das seine verstorbene Mutter ihm als Kind ehemals gegeben hatte, für diejenige, der er einmal sein Herzen schenken würde. Es leuchtete nun schön in den klaren freundlichen Mondstrahlen. Damit erfüllt sich die letzte Prophezeiung des Rabbiners, denn, so erklärt Benjamine: „Ved denne Grav skulde jeg skue min Frelse - det var hans sidste Ord til mig, da en Engel forklarede hans Aasyn i Døden. Og see! hans Aand har ledet dig hid med det hellige Tegn i din Haand, som nu forener mig med din Frelser for evig.“ (Ingemann 2007: 122) „An diesem Grab sollte ich meine Erlösung schauen - das waren seine letzten Worte zu mir, als ein Engel ihm seinen Blick im Tode verklärte. Und siehe! sein Geist hat dich hierher geleitet, mit dem heiligen Zeichen in der Hand, das mich nun auf Ewig mit deinem Erlöser vereinigt.“ Auf diese Weise erzählt die Novelle den romantischen Idealweg der Überwindung des Judentums. Das Judentum in seiner mythisch überhöhten Darstellung hat dabei Teil an seiner eigenen Überwindung. Es zeigt den Weg zurück in eine religiöse Vergangenheit, auf deren Grundlage der Aufbruch in ein neues Christentum geschieht. Über das Grab hinweg reicht Benjamine Veit die Hand „og sank med stille Taarer til hans Hjerte [und sank mit stillen Tränen an sein Herz]“ (Ingemann 2007: 122). So bildet das Grab des Alten die Grundlage für das Neue. 12 Das Judentum wurde überwunden, doch es stellt die Grundlage für eine tiefe Religiosität dar, die das Judentum in sich aufnimmt. Diese Religiosität soll Hartwich zufolge nicht nur das Judentum, sondern auch die säkulare Welt überwinden: Die Erlösung vom Judentum vollzieht sich nicht als Vernichtung des Judentums, sondern als Transformation der säkularen Welt nach dem Urbild des jüdischen Mythos, der auch die aktuellen Gestalten des Judentums überwindet. (Hartwich 2005: 28) Gemeint ist also eine Hinwendung zum Judentum, wie es von den deutschen Romanti‐ kern als „ursprünglich“ imaginiert wurde, und zugleich dessen Überwindung durch ein erneuertes Christentum. Ingemanns Novelle zeigt in ihrer Darstellung und Bewertung des Judentums und ihrer Auflösung des religiösen Konflikts eine offensichtliche Ambivalenz, die ganz in der Tradition Herders steht, der in seinen Schriften zum Judentum „die christ‐ lichen, national-mythologischen und orientalischen Stereotypen des Judentums aufgreift und poetisch überformt“ (Hartwich 2005: 39). Einerseits muss das Judentum überwunden werden, denn nur seine Überwindung bedeutet Leben statt Tod für Benjamine, nur seine Überwindung weist in die Zukunft. Andererseits bildet es die Basis, auf der Benjamine und Veit einander die Hände reichen. Die junge Jüdin, in der sich die mythologisch-jüdische Vergangenheit und die christliche Zukunft vereinen, ist auch für Veit die Grundlage für seine Zukunft und sein Leben. Ohne Benjamine hätte er seine Heimatstadt verlassen „for bestandig og begrave sig med sin haabløse Lidenskab blandt de gamle Roms Ruiner [für immer und sich mit seiner hoffnungslosen Leidenschaft zwischen den Ruinen des alten Rom begraben]“ (Ingemann 2007: 121). Nur aus der Verbindung zwischen dem christlichen 57 2.4 Der Künstler als Heiland DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 13 Dieses und alle weiteren Bibelzitate in dieser Arbeit sind, soweit nicht anders angegeben, der revidierten Übersetzung der Lutherbibel von 2017 (Bibel 2016a) entnommen. Künstler und der jüdischen Frau kann ein neues religiöses Ideal erwachsen. Was einer der reichen Freunde des Juwelenhändlers Samuel als pragmatische Lösung gegen die Ausgrenzung der Juden vorgeschlagen hat, dass nämlich die Frauen und Töchter der Juden sich zugeneigt und willig gegenüber den Söhnen der Christen zeigen sollen, wird hier in der veredelten Form vollzogen: mit Achtung vor der alten Religion und innerlicher Hingabe an die neue Religion, mit Liebe zur Vergangenheit, aber unbedingtem Verlangen nach der Zukunft. Die imaginierte Szene im Hause Samuels stellt das säkulare Zerrbild der Vereinigung zwischen Judentum und Christentum dar. Die Szene am Grabe des alten Rabbiners ist ihr religiöses Idealbild. Die idealisierte Vereinigung zwischen Judentum und Christentum ist bereits in den Namen Philip Moses selbst eingeschrieben. Moses lässt sich selbstredend als Name erkennen, der den Ursprung des Judentums und dessen ersten Propheten repräsentiert. Philip - oder Philippus - jedoch ist der Name eines der Jünger Jesu, der Gott in Jesus zunächst nicht zu erkennen vermag und daher um einen Beweis bittet: Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns. Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? ( Joh. 14,8-11) 13 Der Name des alten Rabbiners ist also selbst Prophezeiung und nimmt seine späte Erkenntnis des christlichen und somit „richtigen“ Glaubens vorweg. Zugleich macht bereits der Name der Figur deutlich, dass es sich nicht um die realistische Darstellung eines jüdischen Rabbiners und um die Auseinandersetzung mit dem Judentum handelt, sondern dass die Figur von vornherein einzig darauf angelegt ist, im Christentum die Wahrheit zu erkennen. Dass die Namen der Figuren keineswegs zufällig sind, sondern im Gegenteil besondere Beachtung verdienen, darauf macht der Text selbst aufmerksam, wenn Benjamine ihrem Großvater in Aussicht stellt, er könne den kleinen Kindern von Isaak die Geschichten erzählen „om Joseph og hans Brødre og om den lille Benjamin, min Navne, ligesom du lærte mig hos Moder Rachel, da jeg var lille [von Joseph und seinen Brüdern und von dem kleinen Benjamin, meinem Namensvetter, wie du es mich bei Mutter Rachel gelehrt hast, als ich klein war]“ (Ingemann 2007: 107). Benjamin war der liebste Sohn Jakobs, der jüngste Nachkomme des letzten Patriarchen. Die Figur der Benjamine gibt also selbst eine Anleitung zum Textverständnis. Sie ist die letzte Nachfahrin des Rabbiners. Zwar hat er jüngere Enkelkinder, doch haben die sich bereits von der jüdischen Tradition entfernt. Sein geistiges Erbe tritt allein Benjamine an. Sie nun überführt dieses Erbe direkt ins Christentum. Und sie ist eben kein Benjamin, sondern eine Benjamine und kann sich als jüdische Frau mit einem Christen vermählen und das Judentum überwinden. Auch der Christ trägt einen sprechenden Namen. Zwar sind Herkunft und Bedeutung des Namens 58 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 14 Der Name Veit eröffnet in diesem Zusammenhang eine weitere Perspektive, in der der Jude Philip Moses, der Christ Veit und die Figur des Künstlers sich ineinander verzahnen: Der deutsche Maler Philip Veit (1793-1877), der in Rom der Gruppe der Nazarener angehörte, entstammte einer jüdischen Familie, vertrat mit seiner Kunst jedoch eine dezidiert christliche Religiosität (vgl. Veit 1895/ 2016: 546-551). Veit sprachwissenschaftlich nicht eindeutig geklärt, doch lässt sich ‚Veit‘ unter anderem als Ableitung des lateinischen Vitus von Vita - Leben - lesen (vgl. Torsy/ Kracht 2002: 184). 14 Der Text belässt es nicht bei der Szene am frischen Grab des alten Rabbiners, sondern besiegelt das Ideal der religiösen Transformation mit einem Schlussbild. Ein Jahr später steht das junge Paar frisch verheiratet wieder auf dem Friedhof und reicht sich die Hände über den Grabstein des Rabbiners hinweg, „hvorunder den gamle Philip Moses stod opreist, med det blege ærværdige Aasyn imod Østen [unter welchem der alte Philip Moses aufgerichtet stand, das blasse ehrwürdige Angesicht gen Osten gerichtet]“ (Ingemann 2007: 122). Das Perlmuttkreuz an ihr Herz gedrückt spricht Benjamine, die im ersten Teil der Novelle, als Jüdin, noch so oft sprachlos war, nun, als Christin, die abschließenden Worte: „Nu har han seet det store Østens Lys“ - sagde hun glad - „det lyste alt her med den sidste Morgenrøde i hans bristende Øie, og han stirrer nu ikke forgieves efter det i Graven. Det lyser over Gruset af Guds hellige Stad - og i dets Herligheds Glands skulle alle Slægter paa Jørden velsignes.“ (Ingemann 2007: 122) „Nun hat er das große Licht des Ostens gesehen“ - sagte sie glücklich - „es leuchtete mit der letzten Morgenröte bis hierher in seine brechenden Augen, und er muss nun nicht vergeblich im Grabe danach starren. Es leuchtet über den Erdboden von Gottes heiliger Stätte - und im Glanz seiner Herrlichkeit sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.“ Der Rabbiner in seiner Frömmigkeit und seiner überformt althebräischen Figurengestal‐ tung ist sowohl die Grundlage für diese Ehe als auch das Hindernis, das überwunden werden musste. Seine Glaubenstransformation wiederum ist erst durch die Eheschließung seiner Enkelin mit dem jungen Christen abgeschlossen. Mit Benjamines nunmehr hörbarer Stimme wird dieser Wandel bezeugt. Erst mit der Ehe seiner Enkelin erhebt sich der Körper des alten Rabbiners zur Auferstehung in Jesus Christus. Dieses Schlussbild verdeutlicht gerade in seiner - nach heutigen Maßstäben - skurril anmutenden Überzogenheit, dass die bürgerliche Ehe integraler Bestandteil des romantischen, philosemitischen Bekehrungsdis‐ kurses ist. Als Alternative zur Ehe scheint allein der Tod vorstellbar, das gilt für Benjamine, und das gilt ebenso für die Jüdin, um die es im folgenden Exkurs geht. 2.5 Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855) Ingemanns Novelle Den gamle Rabbin lässt sich in ihrer Funktionsweise weiter erhellen, wenn man sie mit einem deutlich später verfassten Text des eine Generation jüngeren Hans Christian Andersen in Beziehung setzt, dem Märchen Jødepigen [Das Judenmädchen], das 1855 veröffentlicht wurde. Die inhaltlichen Parallelen zwischen den beiden Erzählungen sind frappierend. In Andersens Jødepigen wird das jüdische Mädchen Sara bereits im 59 2.5 Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 15 Krobb bezeichnet jüdische Mutterfiguren in der Literatur als „potentielle Kontinuitäts- und Integri‐ tätsgaranten“ (2007: 186). Auffallend häufig, so auch in den Texten der vorliegenden Untersuchung, fehlen diese Mütter. Im Falle von Jødepigen allerdings wird zumindest die äußerliche Kontinuität gerade durch den frühen Tod der jüdischen Mutter garantiert. Schulkindalter mit den Schriften des Neuen Testaments vertraut gemacht. Als einziges jüdisches Kind an seiner Schule folgt es aufmerksam dem christlichen Religionsunterricht, an dem es jedoch gar nicht teilnehmen darf, sondern stattdessen seine Schulaufgaben erledigen sollte. Doch bemerkt der Lehrer bald das ungewöhnliche Interesse des Mädchens, das „med sine sorte straalende Øine [mit seinen schwarzen leuchtenden Augen]“ dem Unterricht lauscht, „og da han spurgte ogsaa hende, vidste hun bedre Besked end Alle de Andre. Hun havde hørt, forstaaet og gjemt [und als er auch sie fragte, wusste sie besser Bescheid als all die anderen. Sie hatte gehört, verstanden und es behalten]“ (Andersen 2007a: 123). Der Lehrer stellt ihren Vater vor die Wahl, Sara entweder von der Schule zu nehmen oder taufen zu lassen und sagt zur Begründung: „Jeg kan ikke udholde at see disse brændende Øine, den Inderlighed og ligesom Sjæletørst efter Evangeliets Ord! [Ich kann es nicht ertragen, diese brennenden Augen zu sehen, diese Innigkeit und gleichsam diesen Seelendurst nach den Worten des Evangeliums! ]“ (Andersen 2007a: 123). So entscheidet Saras Vater, sie von der Schule zu nehmen, denn er hat einst ihrer sterbenden Mutter am Totenbett das Versprechen gegeben, dafür Sorge zu tragen, dass Sara niemals den Glauben ihrer Väter verlassen werde. Dieses Versprechen sei ihm „som en Pagt med Gud [wie ein Pakt mit Gott]“ (Andersen 2007a: 123). Im Gegensatz zu Philip Moses und vielen weiteren jüdischen Männerfiguren, die in dieser Arbeit untersucht werden, stellt er selbst keinen Patriarchen dar, sondern steht der religiösen Entwicklung seiner Tochter vielmehr mit einer gewissen toleranten Indifferenz gegenüber, sieht sich jedoch durch sein Gelübde verpflichtet, die weitere Auseinandersetzung seiner Tochter mit dem Christentum zu verhindern. Die verstorbene Mutter nimmt hier die Funktion gegenüber Sara ein, die der alte Großvater gegenüber Benjamine hat. Doch im Gegensatz zum Rabbiner, der auf dem Sterbebett den Heiligen Geist empfängt und so seiner Enkelin gewissermaßen posthum den Segen zur Taufe und zur Ehe mit einem Christen geben kann, ist diese jüdische Mutter schon lange tot, ihre Rolle als religiöse Kontinuitätsgarantin damit unveränderlich festgeschrieben. 15 Wo die Begegnung des alten Patriarchen Philip Moses mit dem Heiligen Geist die Erlösung für seine Enkelin Benjamine bringt, bleibt dieses Ereignis in der Mutter-Tochter-Konstellation dieser Erzählung unmöglich, und auch der Vater ist durch die Dominanz der toten Mutter und der Unwiderrufbarkeit ihrer letzten Wunsches handlungsunfähig. So findet diese Erzählung kein glückliches Ende. Sara wird ein Dienstmädchen im Haus einer christlichen Familie. Fleißig, still und fromm verrichtet sie ihren Dienst über Jahre, und auch als der Hausherr stirbt und die Hausdame in ärmlichen Verhältnissen leben muss, bleibt Sara bei ihr. [H]un var Hjelpen i Nøden, hun holdt det Hele sammen; hun arbeidede til ud paa Natten, skaffede Brød i Huset ved sine Hænders Gjerninger, […] Sara vaagede, pleiede, arbeidede, mild og from, en Velsignelse i det fattige Huus. (Andersen 2007a: 125-126) 60 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Sie war die Hilfe in der Not und hielt das Ganze zusammen; sie arbeitete bis in die Nacht hinein, schaffte Brot ins Haus durch ihrer Hände Tat, Sara wachte, pflegte, arbeitete, mild und fromm, ein Segen in dem armen Haus. Als die alte Frau sie bittet, Sara möge ihr aus der Bibel vorlesen - womit sie das Neue Testament meint - gerät Sara, die sich all die Jahre an das Gelübde gehalten und niemals mehr in die christliche Bibel geschaut hat, in Gewissensnot, ist jedoch durch den Wunsch der Kranken moralisch legitimiert, im Dienste der Nächstenliebe wieder aus den Evangelien zu lesen. Innerlich zerrissen gelobt sie im Stillen ihrer Mutter: „Moder, dit Barn skal ikke tage de Christnes Daab, ikke nævnes i deres Samfund, det har Du forlangt, det skal jeg bevare Dig, derom ere vi enige paa denne Jord, men ovenover denne er - er Enigheden større i Gud, ‚han ledsager os over Døden‘ - ‚han besøger Jorden, og naar han har gjort den tørstig, gjør han den meget rig! ‘ jeg forstaaer det! selv veed jeg ikke, hvorlunde det kom -! det er ved ham, i ham: Christus! “ (Andersen 2007a: 126) „Mutter, dein Kind soll nicht die Taufe der Christen erhalten, nicht zu ihrer Gemeinschaft zählen, das hast du verlangt, das verspreche ich dir, darüber sind wir uns einig auf dieser Welt, aber über diese hinaus ist - ist die Einigkeit in Gott größer, ‚er führt uns aus dem Tod‘ - ‚er besucht die Erde, und wenn er sie sehr dürstend gemacht hat, macht er sie sehr reich! ‘ Ich verstehe das! Ich selbst weiß nicht, wie es kommt -! Es ist durch ihn, in ihm: Christus! “ Als sie den heiligen Namen ausspricht, durchfährt sie - wie die Jünger zu Pfingsten (Apg 2, 1-4) - „en Daab af Ildslue [eine Taufe durch eine Feuerflamme]“ (Andersen 2007a: 126). Geschwächt von ihrer emotionalen Zerrissenheit bricht sie zusammen und wird ins Armenhaus gebracht, wo sie kurz darauf stirbt. Erlösung findet Sara - anders als Benjamine - nicht im Leben, sondern nur im Tod. Aber auch sie sitzt, wie Benjamine, am Bett einer kranken Person und liest aus dem Neuen Testament vor. Auch sie wird durch das gelesene Wort Gottes erfüllt vom Heiligen Geist. Doch bietet der Text durch das Gelübde, das sie nicht brechen kann, als Ausweg nur den Tod. Beigesetzt wird sie außerhalb der Friedhofsmauer, da sie als Jüdin nicht auf einem christlichen Friedhof ruhen darf. Sogar im Tod ist sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Als einziger Trost bleibt ihr nur dies: Og Guds Sol, der skinnede hen over de Christnes Grave, skinnede ogsaa hen over Jødepigens Grav derudenfor, og Psalmesangen, der lød paa de Christnes Kirkegaard, klang ud over hendes Grav; ogsaa ud til den naaede Forkyndelsen: „Der er Opstandelse i Christo! “ ham, Herren, som sagde til Disciplene: „Johannes døbte vel med Vand, men I skulle døbes med den Hellig-Aand! “ (Andersen 2007a: 126) Und Gottes Sonne, die über die Gräber der Christen hinwegschien, schien auch über das Grab des Judenmädchens draußen, und die Psalmen, die über den Friedhof der Christen schallten, klangen auch über ihr Grab hinweg; auch zu ihm gelangte die Verkündigung: „Die Auferstehung ist in Christus! “ er, der Herr, der zu den Jüngern sprach: „Johannes taufte mit Wasser, doch Ihr sollt getauft werden mit dem Heiligen Geist! “ Mit seinem tragischen Ende steht das Märchen zwischen den Werken Andersens nicht alleine da. Im Roman Kun en Spillemand, der 20 Jahre zuvor erschien, findet sich bereits das Motiv des jüdischen Grabes außerhalb der Friedhofsmauern, das am Ende des Romans 61 2.5 Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 16 Kierkegaard (1828) kritisiert in seiner vernichtenden Beurteilung des Romans gerade dessen tragi‐ sches Ende (vgl. zu Kierkegaards Rezeption des Romans Detering 2002a: 210-212; de Mylius 2005c: 364-365). Auch Ähnlichkeiten zu Andersens Märchen Den lille Havfrue [Die kleine Meerfrau] (1990b: 105-106) sind nicht von der Hand zu weisen. Die Heldin, die keine unsterbliche Seele hat, wird nach ihrem Tod aufgrund ihres reinen Herzens zum Luftgeist erhoben und hat nun die Möglichkeit, sich durch gute Taten eine unsterbliche Seele zu erwerben. 17 Im modernen Dänisch wird, anders als in den hier untersuchten Erzähltexten, das generische Maskulinum ‚Jøde‘/ ‚Jude‘ statt ‚Jødinde‘/ ‚Jüdin‘ verwendet. 18 Johan de Mylius bemerkt, dass Andersen seine Märchen und Erzählungen „bald Märchen, bald Ge‐ schichten, bald beides miteinander“ nannte, und verweist damit auf die unklaren Grenzziehungen in der Genrezuordnung (de Mylius: 2005b: 1). Erstmals gedruckt erschien das Märchen im Folkekalender for Danmark 1856 [Volkskalender für Dänemark 1856] (Andersen 1855). 1863 erschien es im zweiten Band von Andersens Eventyr og Historier [Märchen und Geschichten] und wird in der Ausgabe der Dansk Sprogog Litteraturselskab [Dänischen Gesellschaft für Sprache und Literatur] von 1990, die auf der 1863er Ausgabe basiert, als Märchen deklariert (vgl. Andersen: 1990c: 63-66). noch einmal aufgenommen wird (vgl. Kapitel 7.8.3). 16 Auch in seinem Roman At være eller ikke være, der zur selben Zeit wie Jødepigen entstand, wird am Ende eine junge Jüdin sterben, darauf beharrend, „dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit nach dem Tod gebe“ (Wennerscheid 2013: 71; vgl. auch Kapitel 8.2). Das Märchen Jødepigen hat in der Wissenschaft bisher kaum Beachtung gefunden. Das ist umso erstaunlicher, als Andersen dieses Märchen selbst als eine seiner gelungensten Erzählungen beurteilt hat (vgl. Kirmmse 1991-1992: 62). Eine Ausnahme stellt der Histo‐ riker Bruce A. Kirmmse mit seinem Aufsatz Hans Christian og Jødepigen. En historisk undersøgelse af noget „underligt“ [Hans Christian und das Judenmädchen. Eine historische Untersuchung von etwas „Sonderbarem“] dar. Kirmmse fragt darin, warum Andersen trotz der „nedladende tolerance [herablassenden Toleranz]“ (1991-1992: 59), die in seinem Märchen zum Ausdruck kommt, in der dänisch-jüdischen Gemeinde so viele Freunde und Fürsprecher hatte. Die Funktion des jüdischen Mädchens in der Erzählung fasst er dabei ebenso knapp wie treffend zusammen: I den lille historie er jøden i alt væsentlig en tabula rasa, en ubeskreven side af „anderledeshed“, som bliver udfyldt og beskrevet af det herskende og omgivende samfunds fordomsfulle fantasi. Holdningen til jøder er således en slags projektionsteater, hvori samfundets frygt og forhåbninger om sig selv bliver afbildet. (Kirmmse 1991-1992: 60) In der kleinen Geschichte ist der Jude*die Jüdin 17 im Wesentlichen eine tabula rasa, eine unbe‐ schriebene Seite der „Andersheit“, die ausgefüllt und beschrieben wird von der vorurteilsvollen Fantasie der herrschenden und umgebenden Gesellschaft. Die Haltung gegenüber Juden ist somit eine Art Projektionstheater, in dem die Ängste und die Hoffnungen der Gesellschaft abgebildet werden. Kirmmses Befund gilt bei Weitem nicht nur für diese Erzählung, und eine der Fragen, die ich in meiner Arbeit untersuche, ist, womit und wie diese unbeschriebene Seite des Andersseins beschrieben wird. Bei der Lektüre von Andersens Jødepigen stellt sich jedoch außerdem die Frage, was genau eigentlich das genuin Märchenhafte dieser Erzählung ist, denn der kleine Text wird in aller Regel als Märchen rezipiert. 18 Was macht das Märchen zum Märchen oder auf Dänisch: das Eventyr zum Eventyr? 19 Ist es möglicherweise allein 62 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 19 Heinz Rölleke beginnt bei seiner Suche nach dem Wesen des Märchens bei dem Diminutiv „-chen“ und führt es einerseits auf die Kürze der Geschichte zurück, die mit der mündlichen Überlieferung zu erklären ist. „Andererseits aber zeigt die Diminuierung offensichtlich in eins damit an, daß solche Geschichten in einem bestimmten Sinn ‚unwahrscheinlich‘ sind oder wirken“ (Rölleke 2004: 11). Diese Erklärung lässt sich zwar nicht unmittelbar auf das Dänische ‚Eventyr‘ übertragen, das sowohl mit ‚Märchen‘ als auch mit ‚Abenteuer‘ übersetzt werden kann. Doch lässt sich hier mit Blick auf die Etymologie des Begriffs fragen: Was macht dieses Eventyr so abenteuerlich? die jüdische Figur, die mit ihren Assoziationsräumen wundersam genug erscheint, um das Genre zu rechtfertigen? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt der Blick zurück zu Den gamle Rabbin. Denn bereits in dieser Novelle sind märchenhafte Züge angelegt, die hier skizzenhaft und in aller Kürze dargestellt werden sollen und die zum Teil auch in Andersens Jødepigen Eingang finden. Einige Beispiele aus verschiedenen Märchen sollen zur Klärung beitragen. 2.6 Märchenhafte Novelle Die Märchenbeispiele, die im Folgenden herangezogen werden, stammen sowohl aus der Sammlung von Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (2010) als auch aus anderen Märchensammlungen, die über Landes- und Sprachgrenzen hinweg bekannt waren und rezipiert wurden. Sie sind teilweise als Volksmärchen ausgewiesen, teilweise als Kunstmärchen. Aus der Sammlungsgeschichte der Grimm’schen Märchen geht hervor, dass die Trennung zwischen Volks- und Kunstmärchen weniger eindeutig ist, als ihre Einteilung suggeriert. So haben die Grimms nicht nur mündliche Überlieferungen, sondern auch schriftlich überlieferte Texte in ihre Sammlung aufgenommen und ihrerseits wiederum literarisch in die Märchen ihrer Sammlung eingegriffen. Andererseits enthielt die 5. Auflage von 1843 eine mündliche Überlieferung des Andersen-Märchens Prinsessen på ærten [Die Prinzessin auf der Erbse; 1835] (1990a), hier unter dem Namen Die Erbsenprobe. Als die eindeutige Autorschaft Andersens bekannt wurde, wurde das Märchen in der nächsten Auflage aus der Sammlung entfernt. Entscheidend war jedoch nicht die Struktur des Mär‐ chens, sondern die eindeutige Autorschaft, die dem Ansinnen der Grimms, eine Sammlung von Volksmärchen herauszugeben, widersprach (vgl. Rölleke 2004: 94-102). Dieses Beispiel veranschaulicht exemplarisch die Zirkulation der im 19. Jahrhundert extrem populären Märchen und Märchenmotive zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit und über Landes- und Sprachgrenzen hinweg, so dass im Folgenden zum großen Teil auf deutschsprachige Märchen Bezug genommen wird. Aufgrund der uneindeutigen Grenzziehung zwischen den Gattungen, soll für diese skizzenhafte Zusammenstellung auf eine strenge Differenzierung zwischen Kunst- und Volksmärchen verzichtet werden. Ingemanns Benjamine ist - wie Andersens Sara - ein stilles frommes Mädchen, duldsam, fleißig, aufopfernd. Sie ist Waise und hat als einzigen geliebten Menschen ihren Großvater, der ihr jedoch weder Schutz noch Geborgenheit geben kann, um den sie sich im Gegenteil ganz allein kümmert und sorgt. Das fromme Mädchen, oft als Waise oder Halbwaise ganz auf sich allein und die Gnade Gottes gestellt, ist ein bekannter Märchentopos. Das arme von aller Welt verlassene Waisenmädchen im Grimm’schen Märchen Die Sterntaler erfährt 63 2.6 Märchenhafte Novelle DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 20 Etliche Stiefmütter waren in der ersten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1812 noch Mütter und wurden erst in den späteren Ausgaben zu Stiefmüttern. Offenbar schien eine böse, lieblose Mutter nicht zum Idealbild der Mutter im 19. Jahrhundert zu passen. diese Gnade Gottes in Form eines Goldregens, nachdem es buchstäblich sein letztes Hemd weggegeben hat. Auch Aschenputtel ist fromm und fleißig, ebenso wie Schneeweißchen und Rosenrot und wie Goldmarie, die ihren goldenen Lohn für ihre Tugendhaftigkeit von Frau Holle erhält. Viele dieser fleißig-frommen Märchenmädchen haben in einer anderen Frauenfigur ihre Kontrahentin: der bösen Stiefmutter. 20 Benjamines angeheiratete Tante, die Frau ihres Onkels Isaak, lässt sich, wenn man der Spur der Märchen folgt, als Figur der bösen Stiefmutter lesen. Philip Moses zeigt Mitleid mit Benjamine, als er sagt: „Det er haardt nok, du er faderog moderløs og dine christne Mosteres Tjenerinde [Es ist schwer genug, dass du ohne Vater und Mutter bist und die Dienerin Deiner christlichen Tante]“ (Ingemann 2007: 106). In ihrem Haus muss Benjamine von früh bis spät arbeiten, lebt in kargen Verhältnissen, bleibt dabei stets still, freundlich und bescheiden und ist der Hausherrin, „som vel ofte før havde givet hende haarde Irettesættelser [die sie wohl schon oft zuvor hart zurechtgewiesen hat]“ (Ingemann 2007: 109) doch lästig. Dieses Muster ist ebenfalls ein Motiv in verschiedenen Märchen wie Aschenputtel und Frau Holle. Auch das Grab eines geliebten Menschen als magischer Ort ist ein Märchenmotiv. Aschenputtel erhält am Grab ihrer Mutter drei Gewänder, in die sie sich kleidet, um schließlich die Frau eines Prinzen werden zu können. Für Benjamine erfüllt sich am Grab ihres Großvaters dessen Prophezeiung und sie begegnet ihrem Retter, der mit einem beinahe überirdisch leuchtenden Kreuz auf sie zutritt. Nach Ablauf eines Jahres steht das jungvermählte Paar am Grab des alten Rabbiners, während unter ihren Füßen das Wunder seiner Auferstehung geschieht. Sogar ein (volks-)märchentypischer Dreischritt lässt sich in der Novelle finden, wenn man die Ein- und Ausschlussmechanismen betrachtet, denen Benjamine und ihr Großvater ausgesetzt sind: Zuerst halten sie sich im Haus des reichen und materialistischen Samuel auf, suchen dann im Haus des assimilierten Isaak Unterkunft, um schließlich im Hause Veits und seines Vaters den Heiligen Geist zu erkennen und selbst erkannt (= gemalt) und somit erlöst zu werden. Im Gegensatz zum populären Topos des Märchenprinzen, der aktiv in das Geschehen eingreift, womöglich auf einem Schimmel daher geritten kommt, um das arme Mädchen aus seinem Elend zu befreien und durch die Hochzeit in den Adelsstand zu erheben, verhalten sich die Prinzen in etlichen Märchen bei genauerer Lektüre verblüffend passiv. Aschenputtels Prinz erkennt seine Geliebte nur an ihren kleinen Füßen und bittet zunächst zwei falsche Bräute auf sein Schloss. Die Prinzessin auf der Erbse muss eine grausame Nacht auf einer harten Hülsenfrucht verbringen, bevor der Prinz sie als würdig erkennt, ihn zu heiraten. Schneewittchen wird eher zufällig erlöst, weil ein Diener des Prinzen mit dem schweren Sarg auf den Schultern stolpert und der scheintoten Prinzessin dadurch das vergiftete Apfelstück aus dem Hals rutscht. Der junge König in Brüderchen und Schwesterchen lässt sich durch einen Zauber täuschen und legt sich zur Tochter der bösen Stiefmutter ins Bett. Einen ähnlichen Trick durchschaut auch der Prinz in Andersens Märchen Den Lille Havfrue [Die kleine Meerfrau; 1837] (1990b) nicht und nimmt daraufhin 64 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 21 Sara teilt dieses Schicksal mit einer anderen Außenseiterin Andersens, der kleinen Meerfrau. Eine autobiografische Lesart von Den lille havfrue mit Blick auf eine homoerotische Deutung unternimmt Detering (2002: 197-205). Er setzt außerdem die kleine Meerfrau und die jüdische Figur Naomi aus Andersens Roman Kun en Spillemand zu einander in Beziehung (vgl. hierzu Kapitel 7.6.7). die falsche Prinzessin zur Frau. Mitunter muss der Prinz selbst von der Prinzessin erlöst werden, wie es Rapunzel tut, als sie ihrem Prinzen Tränen in seine blinden Augen fallen lässt und ihn wieder sehend macht. Die spätere Frau des Froschkönigs wirft die zudringliche Amphibie sogar beherzt an die Wand und erlöst dadurch den Prinzen von seinem Fluch. Selbst Dornröschens Retter denkt mehr an seinen eigenen Vorteil - nämlich die Ehe mit einer schönen Königstochter - als an die gute Tat, als er sich durchs Dornengestrüpp arbeitet und die Schlafende wachküsst, was ihm auch nur deshalb gelingt, weil der Zauber just zu dieser Stunde aufgehoben ist. Die Figur des Retters in Form eines Prinzen ist also nur scheinbar ein ungebrochener Märchentopos. Dennoch ist das Glück - und Unglück - der jungen Frauen in allen diesen Beispielen an einen adligen Mann und potenziellen Ehegatten gebunden. Der junge Künstler Veit stellt die Idealfigur dieses Retters dar, indem er Benjamines Innerstes erkennt und ihr (und somit implizit auch ihrem Großvater) dadurch Erlösung im allumfassenden Sinne bringt. Benjamines Glück ist - wie das Glück der Frauenfiguren im Märchen - an die Figur eines heilbringenden Mannes gebunden. Er unterscheidet sich aber nicht durch den Adelsstand von den anderen Figuren, sondern durch seine göttliche Begabung. Die Figur der Sara in Andersens Märchen Jødepigen hingegen hat keinen irdischen Retter, und so ist ihr auch kein irdisches Glück beschieden. 21 Es lohnt die Überlegung, ob es nicht gerade der Religionsunterschied zwischen Jüdin und Christ ist, der die Darstellung einer solch ungebrochenen und idealisierten Erlöserfigur, wie Veit sie darstellt, überhaupt erst ermöglicht. Denn die ideale männliche Erlöserfigur ist in Ingemanns Novelle nur im Zusammenspiel mit der Jüdin Benjamine erzählbar. Erst durch den Christen Veit findet Benjamine zu ihrem Glück. Erst durch die Jüdin Benjamine kann Veit als Erlöserfigur erzählt werden. Die Figur des alten Juden Philip Moses dient hierbei der weiteren Idealisierung des jungen Christen, denn je widriger die Bedingungen für Veit sind, unter denen er dem Rabbiner seinen Respekt entgegenbringt, desto edler und idealisierter lässt ihn dies erscheinen. Der edle Retter ist kein schlaffer Prinz, wie ihn die Märchen anzubieten haben, sondern ein Künstler, der gottbegnadet in der Lage ist, zum Erlöser Benjamines, zum Erlöser der Juden und zum Erlöser einer säkularisierten christlichen Gesellschaft zu werden. Durch seine Fähigkeit zum Erkennen und zum Erschaffen ist er in der Lage, Religion mit neuem, tiefen Sinn zu füllen und somit in die Nachfolge Christi zu treten. Wenn man nun also den Blick erneut auf Andersens Märchen Jødepigen richtet, wird plausibel, warum diese Erzählung als Märchen veröffentlicht werden konnte. Offenbar lassen sich märchenhafte Strukturen auf jüdische Figuren übertragen oder anders gesagt: Die jüdischen Figuren eröffnen Assoziationsräume zu märchenhaften Topoi. Diese wie‐ derum sind, wie ich in den folgenden beiden Kapiteln 2.7 und 2.8 anhand des Ahasverusmo‐ tivs zeigen werde, anschlussfähig an das (volks)religiöse Genre der Legende (vgl. Rosenfeld 1982: 5-17). In beiden Textsorten, dem Märchen und der Legende, geschehen Wunder, und „[d]urch Wunder kommt es zur Begegnung zwischen dem Göttlichen und der Welt der Menschen“ (Burdorf/ Fasbender/ Moennighoff/ Schweikle, G./ Schweikle, I. 2007: 424). Das 65 2.6 Märchenhafte Novelle DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 22 Kirmmse weist im Kontext einer englischen Übersetzung des Märchens, dessen Titel 1974 von Erik Christian Haugaard mit „The Servant“ übersetzt wurde, auf die abwertende Konnotation in der Benennung „Jødepigen“/ „Jew-Girl“ hin (vgl. Kirmmse 1991-1992: 60.) 23 Diese eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten der ‚schönen Jüdin‘ hat Florian Krobb (1993) in seiner Studie ausführlich dargestellt. 24 Körte betont aber auch, dass „[d]ie Ahasverlegende […] in einem dialektischen Verhältnis zu ihrer Textgestalt [steht]“, da sie „eine ironische Replik auf die Gattung Legende ist“ (Körte 2000: 72). Märchen Jødepigen  22 ist aufgrund der wundersamen Bekehrung der Jüdin zum Christentum märchenhaft genug, um keine weiteren märchenhaften oder phantastischen Elemente hinzufügen zu müssen. Zum Topos der ‚schönen Jüdin‘ gehört diese innere Zuwendung zum Christentum, die entweder im Scheitern der Figur, oftmals sogar in ihrem Tod endet oder in die Konversion samt Ehe mündet. 23 Die religiöse Erleuchtung ist also Teil des Topos, die märchenhafte Begegnung mit dem Heiligen Geist ist in der Figur der ‚schönen Jüdin‘ angelegt, die ‚schöne Jüdin‘ ist somit selbst ein Märchen. 2.7 Ewiges Wandern - Ahasverus Die Novelle Den gamle Rabbin wird strukturiert durch Aus- und Einschlussprozesse einerseits, erzählt anhand der drei Haushalte, in denen Benjamine und Philip Moses Zuflucht suchen, und durch das Motiv der Mobilität und Rastlosigkeit andererseits, wenn die beiden Figuren sich von einem Haus zum nächsten und damit jeweils in eine ungewisse Zukunft aufmachen. Damit schreiben sich die Figuren Benjamine und Philip Moses in einen weiteren Topos ein: den des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. 1602 tauchte dieser erstmals in der pseudonym verfassten Ahasveruslegende Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden/ mit Namen Ahaßverus auf (vgl. Körte 2006: 43). Die Figur steht, obwohl selbst eben gerade kein Heiliger, durch ihren legendenhaften Charakter in einem heilsgeschichtlichen, christlichen Kontext (vgl. Körte 2000: 11 [Fußnote 1]; Rosenfeld 1982: 1-2, 15-19). 24 Dabei ist Ahasverus nicht als Individuum gestaltet, sondern fungiert als „Protagonist einer L.[egende] v. a. als exemplarische Projektionsfläche bestimmter Ideen“ (Burdorf/ Fasbender/ Moennighoff/ Schweikle, G./ Schweikle, I. 2007: 425; vgl hierzu Körte 2006: 44-46). Als geistiges Kind der Reformation verbreitete er sich in den folgenden zwei Jahrhunderten soweit in der Literatur Europas, dass er schließlich zur literarischen Topos wurde. André Jolles bezeichnet Ahasverus als einen „unheiligen Gegenfüßler“ (1968: 52) zu den Heiligenfiguren der christlichen Legenden. Dennoch trägt auch er zum Heilsgeschehen bei, ist also selbst Legende, wenn auch eine „Antilegende“ ( Jolles 1968: 51). Ahasverus soll ein Schuhmacher in Jerusalem zur Zeit Jesu gewesen sein, der dem Heiland auf seinem Weg nach Golgatha die Rast vor seinem Haus verweigert hat. Zur Strafe soll er dazu verdammt worden sein, bis in alle Ewigkeit auf Erden umherzuwandern, ohne sterben zu können oder jemals zur Ruhe zu kommen (vgl. Körte 2000: 27-48; für den dänischen Kontext vgl. Dal 1965; Edelmann 1965). Gesehen zu werden ist sein einziger Zweck. „Kein Wunder wäre es gewesen, wenn dieser Mann wie andere Sünder, wie sogar Judas selbst, für sein Unrecht in der Hölle hätte büßen müssen; Wunder ist, daß er nicht stirbt, daß er ewig lebend, allen sichtbar umherwandelt“ ( Jolles 1968: 52). Auf diesen Topos spielt 66 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) die Novelle nicht nur mit ihrer Struktur und der Rastlosigkeit ihrer Figuren an. Auch die Figurenrede verweist auf Ahasverus, wenn Philip Moses, als er das Haus seines zweiten Sohnes Isaak verlässt, zu Benjamine sagt: „Lad mig gaae, mit Barn! og græd ikke fordi jeg vandrer saa ene! jeg vil heller gaae huusvild paa Jorden, end laane Tag i Forargelsens Bolig [Lass mich gehen, mein Kind! und weine nicht, weil ich so einsam wandere! ich will lieber heimatlos auf Erden wandern, als Schutz in der Wohnstätte des Ärgernisses zu suchen]“ und Benjamine ihm antwortet: „Nu vel, saa bliver jeg hos dig [Nun gut, dann bleibe ich bei dir]“ (Ingemann 2007: 108). Benjamine und ihr Großvater sind ebenfalls rastlos, heimatlos, selbst innerhalb ihrer eigenen Familie und Gemeinde sind sie Fremde und Nicht-Zugehörige. Für alle sind sie sichtbar: für Christ*innen und Jüd*innen, für die Figuren und die Leser*innen. Erst mit der Hinwendung zum Christentum werden beide jüdischen Figuren von ihrer ewigen erzwungenen Wanderschaft erlöst. Damit deutet sich ein weiteres Mal die Nähe zu Ahasverus an, denn in der Literatur ist er stets dadurch gekennzeichnet, dass entweder „der Ewige Jude […] keine Entwicklung hat“ (Körte 2006: 47) oder die einzig mögliche Entwicklung ihn direkt ins Christentum führt. Philip Moses repräsentiert durch seine Sprache, seinen greisen Körper und schließlich seinen todesähnlichen Krankheitszustand eben jene Entwicklungslosigkeit, die auch Ahasverus verkörpert. In seinem Bann ist Benjamine ebenfalls dem Schicksal des Ahasverus ausgeliefert. Für Philip Moses fällt die Entwicklung zum Christentum mit dem Moment des Todes zusammen, seine Geschichte ist hier also auserzählt. In der Figur der Benjamine findet ebenfalls allein durch ihre Bekehrung zum Christentum eine Entwicklung statt, denn in diesem Schritt kann Benjamine sich aus der starren Perspektivlosigkeit, an der ihr Großvater festhält, lösen. Sie erlebt also als junge Frau ihre Erlösung noch zu Lebzeiten. Doch damit ist auch ihre Geschichte als Jüdin auserzählt und die Novelle endet. Der ‚ewige Jude‘ Ahasverus wird Ingemann noch einmal beschäftigen. 1833 erscheint sein umfangreicher (immerhin 237 Seiten umfassender) Gedichtzyklus Blade af Jerusalems Skomagers Lommebog [Seiten aus dem Notizbuch des Schuhmachers von Jerusalem] als eine Art lyrisches Reisetagebuch des ‚ewigen Juden‘. Als Unzugehöriger, der durch alle Länder und die Jahrhunderte wandert, wird er in der Rezeption des Zyklus als Verkörperung des autoreigenen „Fremmedfølelsen [Fremdheitsgefühls]“ (Akhøj Nielsen 2001-2017) in seiner Gegenwart begriffen. „Et karakteristisk udtryk for denne stemning […] er hans identifika‐ tion med Ahasverus i digtkredsen [Ein charakteristischer Ausdruck dieser Stimmung ist seine Identifikation mit Ahasverus im Gedichtzyklus]“ (Minke 2008). Wie Ahasverus als Identifikationsfigur nicht nur für Ingemann, sondern für den suchenden Dichter generell literarisch fruchtbar gemacht werden konnte, soll im folgenden Exkurs anhand eines weiteren Textes von Andersen dargestellt werden (vgl. auch Thing 2001: 123-162). 2.8 Exkurs II: Hans Christian Andersen: Fodreise (1829) Nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung von Ingemanns Novelle erschien Hans Christian Andersens (1986) Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 [Fußreise vom Holmenkanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829], kurz Fodreise. Der junge Dichter, aus dessen Perspektive der Roman erzählt ist, 67 2.8 Exkurs II: Hans Christian Andersen: Fodreise (1829) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 25 Die Ansiedlung der Handlung in einer Silvesternacht ist eine Anspielung auf die Erzählung von E.T.A. Hoffmann (2005): Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. 26 Elisabeth Bronfen sieht Andersens Debütroman eingebettet zwischen klassisch-romantischem Nachtstück und dem „Bereich der Pop Art, wenn auch avant la lettre“ (Bronfen 2009: 121). 27 Der kleine Muck entwendet die Siebenmeilenpantoffeln und den Zauberstab, der ihm verborgene Schätze anzeigen kann, aus dem Haus der alten Frau Ahavzi. Obwohl nicht eindeutig als Jüdin markiert, liegt doch die Lesart nahe, in Frau Ahavzi die Andeutung einer weiblichen Ahasverus-Figur zu erkennen. begibt sich auf einer „Fußreise“ auf die Suche nach literarischem Stoff. Voller Witz und Ironie verwebt Andersen eine schier unüberschaubare Zahl literarischer Motive zu einem Spaziergang durch die Silvesternacht 1828 auf 1829. 25 Dabei promeniert der Erzähler nicht nur vom Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager - was ein durchaus überschaubarer und unspektakulärer Fußmarsch von nur knapp 3 km Länge ist (vgl. Kramer 2013: 39) -, sondern er spaziert vielmehr durch die gesamte „deutsche Literatur um 1800, sei sie stürmerisch und drängerisch, klassisch oder romantisch - oder trivial“ (Øhrgaard 2010: 92). 26 Als eine von vielen bekannten Figuren der Literaturgeschichte begegnet dem Erzähler auf seinem Spaziergang durch eine Silvesternacht auch Ahasverus. Dieser ist mit seinen Hundertmeilenstiefeln unterwegs durch die Welt und überlässt dem Erzähler für einen kleinen Kurztrip durch Europa seine Wunderschuhe. In der Begegnung mit Ahasverus und dessen Schuhwerk lässt sich als literarisches Vorbild unverhüllt Adelbert von Chamissos Peter Schlehmils wundersame Geschichte [1814] (2010) erkennen, denn, so erzählt Ahasverus seinem jungen Zuhörer, als er die alten Stiefel einmal zu Reparatur gegeben habe, „blev de forbyttede og før jeg mærkede Feiltagelsen var de allerede solgt til en Peter Schlemil [sic! ], hvis ‚vundersame Geschichte‘ Chamisso har meddeelt Læseverdenen [wurden sie vertauscht, und ehe ich den Fehler bemerkte, waren sie bereits an Peter Schlehmil verkauft, dessen ‚wundersame Geschichte‘ Chamisso der Lesewelt mitgeteilt hat]“ (Andersen 1986: 69). Erst kürzlich habe er sie zurückerhalten. Damit zeigt sich die Verwandtschaft des Ahasverus auch mit phantastischen Motiven. Die Schuhe, die, ob nun sieben oder 100 Meilen, jedenfalls eine enorme Stecke mit einem einzigen Schritt überbrücken können, sind beispielsweise auch in Wilhelm Hauffs Märchen Die Geschichte vom kleinen Muck [1826] (2011) ein Motiv. 27 Goethes Mephisto nutzt einige Jahre später in Faust II [1832] (2008) ebenfalls die magischen Stiefel zur schnellen Fortbewegung. So fügt die Ahasverus-Episode in Andersens Fodreise dem ohnehin schon legendären Motiv des ewig umherwandernden Juden durch die Hundertmeilenstiefel noch eine zusätzliche magische Komponente hinzu, die außerdem eine Verbindung zum Teufel andeutet und daher auch die Gefahr von Fluch und Verdammnis in sich birgt. Der junge Dichter seufzt, dass der literarische Stoff ihm ausgehe und freut sich über die unverhoffte Begegnung mit Ahasverus und dessen reichen Vorrat an Erzählungen, denn „Satan, som nu er saadan en allerkjæreste person i et Eventyr, har været meer end nok i Verden, selv hans Papirer ere udkomne. Faust har baade Goethe, Lessing, Mahler Müller og Klinger havt Fingre paa, saa jeg veed ingen heldigere Person end Dem. Ak! hvo der dog havde Deres Erfaring […].“ (Andersen 1986: 68) 68 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 28 Die „Suggestion eines Zusammenhanges von ‚Jüdischkeit‘ und poetischer Potenz“ beschreiben auch Theisohn und Braungart: „Die Vorstellung der Heimatlosigkeit, der Exzentrizität und des Lebens in Schrift als gemeinsamer Charakterzug von Schriftsteller- und Judentum führt langfristig zur Affirmation der Dichtung als jüdischer Praxis“ (Theisohn/ Braungart 2017b: 17). „Satan, der nun so eine allerliebste Person in einem Märchen ist, war mehr als genug in der Welt, selbst seine Schriften sind erschienen: Goethe, Lessing, Mahler Müller und Klinger hatten alle ihre Finger am Faust, ich kenne also keine besser geeignete Person als Euch. Ach! wer doch Eure Erfahrung hätte.“ Ahasverus jedoch hat keine Freude an seinem Erfahrungsschatz, denn er hat keine Aussicht auf Erlösung, und somit hat seine Rastlosigkeit auch kein Ziel. Er muss, so Körte, „wandern, muss passiv seine Mission erfüllen und ist durch sein wahllos bewahrendes Gedächtnis allwissend und daher ohne Neugier“ (Körte 2006: 45). Nun jedoch, in Andersens phantastischem Roman über die literarische Suche eines jungen Dichters, bilden der alte Ahasverus und der junge Dichter für einen Moment eine Gemeinschaft der Ruhelosen. 28 Ahasverus, der so viel schon gesehen hat, wird für den Moment zum literarischen Vorbild, zur Identifikationsfigur des suchenden Poeten und stellt dabei einen „Stimulus im Sinne einer (die Vorstellung von Entwicklung) beunruhigenden und gleichzeitig anregenden Instanz“ dar (Körte 2000: 321). Seine Stiefel will der junge Dichter leihen, „blot een Time vilde jeg laane dem for i denne med store Skridt at vandre gjennem Verden og samle Stof til det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [nur eine Stunde wollte ich sie leihen, um in ihnen mit großen Schritten durch die Welt zu wandern und Stoff für das interessanteste Kapitel in meiner ganzen Fußreise zu sammeln]“ (Andersen 1986: 69). Und da nicht nur Ahasverus für den Dichter interessant ist, sondern auch umgekehrt der Dichter für Ahasverus, gesteht dieser: „Deres Person interesserer mig [Eure Person interessiert mich]“ und leiht ihm für eine halbe Stunde seine Stiefel. Dafür fordert er jedoch „Deres Skygge som Pandt [Euren Schatten zum Pfand].“ Zwar fährt es dem Dichter „iiskoldt gjennem Marv og Been“ [eiskalt durch Mark und Bein]“, doch geht er den Handel ein, denn „hvad gjør ikke en Forfatter for sin Læsers Skyld [was tut ein Autor nicht alles für seine Leser]“ (Andersen 1986: 70). Obwohl Ahasverus also eigentlich sehr entgegenkommend ist und lediglich sicherstellen will, dass er seine Stiefel nicht noch einmal verliert, wird er nicht etwa mit Peter Schlemihl assoziiert, sondern vielmehr mit dem Teufel, dem Peter Schlemihl einst seinen Schatten verkauft hatte. Als „Antipode zu Christus“ (Körte 2006: 46) schillert in der Figur des Ahasverus das Böse, wenngleich Andersens ‚ewiger Jude‘ nichts Böses an sich hat. Zwar tritt die Figur des Ahasverus nur in einem Kapitel des Romans auf, stellt eine Begegnung unter vielen dar, doch soll dieses Kapitel „det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [das interessanteste Kapitel meiner ganzen Fußreise]“ sein (Andersen 1986: 69). Die Figur des Ahasverus eröffnet literarische Assoziationsräume, welche die Figur des Dichters durchschreitet - was ihm deutlich besser gelingt als seine halbstündige Europareise, während der er jeweils nur ein Bein aus Amager wegbewegt und mit dem anderen stets ungünstig irgendwo auftritt. So glückt zwar weder die Identifikation des Dichters mit Ahasverus noch mit „min store Forgjænger i Fodvandring [meinem großen Vorgänger im Wandern zu Fuße]“ (Andersen 1986: 70) Peter Schlemihl. Geglückt ist jedoch 69 2.8 Exkurs II: Hans Christian Andersen: Fodreise (1829) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 29 Das letzte Kapitel besteht nur aus Interpunktionszeichen, da der Erzähler, wie er am Ende des 13. Kapitels bemerkt, sein Buch nicht mit dem 13. Kapitel enden lassen wolle (vgl. Andersen 1986: 98). ein weiteres komisches Kapitel in einem Büchlein über die Bemühungen des Dichters auf der Suche nach neuem literarischem Stoff. Der Dichter nimmt die Inspiration in der Länge eines halben Kapitels auf und zieht weiter, zur nächsten Begegnung. Der Jude hingegen setzt seine ereignislose Wanderung fort. Auf die Frage des Dichters, ob sie einander wohl wiedersehen werden, antwortet Ahasverus: „[V]i mødes nok, om ikke før, saa naar De gjør den sidste store Reise med Dødens Extra-Post. Hver nat møde vi hinanden, thi hans Heste er raskere tilbeens end jeg [Wir treffen uns noch, wenn nicht früher, so doch wenn Sie die letzte große Reise mit des Todes Extra-Post machen. Jede Nacht treffen wir einander, denn seine Pferde sind schneller zu Fuß als ich]“ (Andersen 1986: 71). Der untote Wanderer, der selbst keine Aussicht auf den Tod hat, wird zum Vorboten des Todes, dem der Dichter im 13. und (fast) letzten Kapitel 29 selbst begegnet, in dessen Wagen er jedoch einstweilen noch nicht einsteigt. Mona Körte stellt die Entwicklungslosigkeit der Figur heraus, wenn sie schreibt, Ahas‐ verus „scheint Raum nur zu gewähren für ein unendliches Durchspielen einer endlichen Variation von Vergehen, Fluch und Wanderschaft.“ Daraus sei auch der Kunstgriff zu erklären, „dass Ahasver sich kurz nach Beginn seiner literarischen Karriere selbst mitunter als mehr oder weniger gelungenes Geschöpf seiner Dichter thematisiert“ (Körte 2006: 49). Andersens Roman Fodreise steht exemplarisch für diesen Kunstgriff. 1847 taucht die Figur erneut in Andersens Dichtung auf, nämlich in seinem umfangreichen (und zunächst auf Deutsch erschienenen) Versdrama Ahasverus. Die Leichtigkeit und der Humor der ersten Begegnung mit der Figur des Ahasverus sind nun zwar verschwunden, aber Johan de Mylius versteht auch diesen Ahasverus als eine Allegorie auf den Dichter (vgl. de Mylius 2005a: 722). Doch ist dies nicht die einzig mögliche Lesart der Figur. Stefanie von Schnurbein zufolge stellt Andersen in seinem Versdrama „an der Figur des ‚wandernden Juden‘ eine allegorisierte Darstellung der Wahrheit des christlichen Glaubens auf ihrem Weg durch die Geschichte der Menschheit“ dar (Schnurbein 2007: 139). Dieser Wahrheit beugt sich schließlich auch Ingemanns Rabbiner Philip Moses, und so ist auch seine Enkelin vom Fluch des Ahasverus befreit. 2.9 Jüdische Figuren als Türöffner und Alleskönner Mit diesem Arsenal an Figuren, Topoi, Assoziationen und literarischen Querverbindungen haben jüdische Figuren die dänische Erzählliteratur betreten: eine ‚schöne Jüdin‘ und ein ‚edler Jude‘, dazu ein christlicher Retter und künstlerischer Schöpfer; Ahasverus als litera‐ rischer Alleskönner und Allesverbinder, als unerschöpflicher Ideengeber für die Gestaltung literarischer Judenfiguren und als Bindeglied zwischen christlichem Heilsgeschehen und dem sich neu erfindenden Dichter als kunstreligiösem Erlöser; literarische Juden und Jüdinnen als Türöffner für unwahrscheinliche, bisweilen märchenhafte Erzählmöglich‐ keiten; jüdische Gegenfiguren zur Kontrastierung der „guten“ mit den „schlechten“ Juden aber auch christliche Gegenfiguren zur Kontrastierung des „wahren“ mit dem „falschen“ 70 2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Christentum; nicht zuletzt ist die Verbindung zwischen Geschlecht und Religion augenfällig in diesem Fadenspiel aus Aktivität und Passivität, Sehen und Gesehenwerden, Erlösen und Erlöstwerden, Vergehen und Werden, Alt und Neu. In diesem ersten, einleitenden Analysekapitel habe ich gezeigt, auf welche Weise literarische Texte untereinander und mit anderen Kunstformen über Epochen, Genres und Landesgrenzen hinweg in Kontakt treten und welche Vielfalt an mitunter unerwar‐ teten Verknüpfungen und Querverbindungen die jüdischen Figuren hierbei ermöglichen. Anhand von Ingemanns Novelle Den gamle Rabbin wurden, ergänzt durch den Vergleich mit zwei sehr unterschiedlichen Texten von Andersen, literarische Topoi und Motive vorgestellt, die in den untersuchten Texten der folgenden Kapitel immer wieder aufge‐ nommen, variiert, modifiziert und teilweise gebrochen werden. Unwahrscheinliches und Phantastisches wird in den Romanen und Novellen erzählt, immer wieder geht es um die Suche nach Gott und der Wahrheit, aber auch um eine nationale Selbstfindung, um eine gesellschaftspolitische Positionierung, um Geschlechterbilder und nicht zuletzt immer wieder um die Kunst selbst. Wenngleich Ingemanns jüdische Figuren nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern sich bereits in eine literarische Tradition einschreiben, legt Den gamle Rabbin doch eine Grundlage für die Vielzahl der dänischen Erzähltexte, die in den folgenden Jahren erscheinen. 71 2.9 Jüdische Figuren als Türöffner und Alleskönner DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 Eine erste Übersicht über Blichers Schaffen insgesamt verfasste Johannes Nørvig (1943). Zwei Schwerpunkte kennzeichnen die Blicherforschung der vergangenen Jahrzehnte. Zum einen ein biografisches Interesse an Blichers Werk und zum anderen die Frage nach Blichers gesellschaftlicher Bedeutung und seiner Rolle als Theologe (vgl. Albøge 2003; Chraska 1986; Langballe, J. 2004; Sørensen 1984; Törne 1980). 2 Eine Einschätzung, die z. B. der Literaturwissenschaftler Søren Baggesen vornimmt, wenn er meint, die Beschäftigung mit der Novelle lohne sich nicht, da sie literarisch den „interesseløse underholdningsprodukter [uninteressanten Unterhaltungsprodukten]“ zuzurechnen sei (Baggesen, S. 1965: 7). 3 Blichers Status in der dänischen Literaturgeschichte zeigt sich unter anderem in der Aufnahme seiner Erzählung Præsten i Vejlbye [Der Pfarrer von Vejlbye; 1829] in den viel diskutierten dänischen Kulturkanon 2006, wo sie neben Andersens Den lille Havfrue [Die kleine Meerfrau; 1837] und Kierkegaards Enten - Eller [Entweder - Oder; 1843] steht. 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) Ein Spukschloss, zwei holländische Juden, drei geheimnisvolle Porträts. Ein altes Tagebuch, das von der Liebesgeschichte zwischen einer Jüdin und einem Christen erzählt, eingemauert im Keller des Schlosses, entdeckt und exklusiv präsentiert vom Autor der Novelle selbst. So lassen sich die Eckdaten der Novelle Jøderne paa Hald [Die Juden auf Hald; 1828] von Steen Steensen Blicher (1782-1848) umreißen. Der Text ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und verdient eine eingehende Betrachtung, die er in der Blicherforschung bisher nicht erhalten hat. 1 Zum einen gehört er zu den ersten dänischen Erzähltexten, in denen jüdische Figuren überhaupt auftauchen, zum anderen erscheint er bisweilen irritierend unlogisch, was, wie ich zeigen möchte, weniger auf einen Mangel an Qualität zurückzuführen ist 2 - Blicher gilt heute gerade aufgrund seiner literarischen Virtuosität und seines kunstvollen, bisweilen unzuverlässigen Erzählstils als herausragender Autor seiner Zeit (vgl. Müller- Wille 2016: 163-164). 3 Vielmehr sind die vermeintlichen Schwächen in der Logik des Textes im Zusammenhang mit den jüdischen Figuren zu verstehen. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie sich die Novelle mit dem zeitgenössischen Diskurs über Juden und Jüdinnen auseinandersetzt, Stereotype aufgreift und modifiziert und dadurch ihrerseits den Diskurs mitgestaltet. Zunächst jedoch soll der Entstehungskontext der Novelle skizziert werden. 3.1 Blichers Juden in Jütland Blicher gilt als derjenige dänische Autor, der die Landschaften Jütlands und deren Bewohner auf die literarische Agenda des kulturellen Zentrums Kopenhagen gesetzt hat. Der Blick der Intellektuellen, Gebildeten und Kulturschaffenden der Hauptstadt richtete sich bis dato kaum auf Orte und Landschaften außerhalb Kopenhagens und dessen unmittelbarer Umgebung, und eine literarische Darstellung von dänischen Handlungsorten oder Figuren außerhalb Kopenhagens war äußerst selten (vgl. hierzu Behschnitt 2006). Insbesondere Jütland galt als wild und öde, unzivilisiert und sowohl kulturell als auch landschaftlich uninteressant. Blicher wurde in Jütland geboren und entschied sich als Sohn eines Pfarrers DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) für das Theologiestudium in Kopenhagen. Nach dem Studium kehrte er nach Jütland zurück, wurde schließlich selbst Pfarrer, was ihm ein geregeltes Einkommen sicherte, und verbrachte dort sein gesamtes Leben. Er prägte durch seine Literatur die Vorstellung von Jütland als einem exotischen Ort, der vielfach symbolisch aufgeladen werden konnte und an dem imaginiertes Eigenes und Anderes, Dänisches und Fremdes zusammentreffen und changieren konnten. In seinem literarischen Schaffen verband Blicher, so formuliert es Wolfgang Behschnitt in seinen Buch Wanderungen mit der Wünschelrute, „[d]die Identifikation mit Jütland, das Schwergewicht des Topographischen und die realistische Darstellungsweise“ miteinander. Er sah in seinem Schreiben ein „Mittel der literarischen Selbstdarstellung“ (Behschnitt 2006: 342) und der Selbstinszenierung als „der einsame, verkannte und unerhörte Poet auf der Heide“ (Behschnitt 2006: 343). An diesem literarisch noch unbeschriebenen und autobiografisch aufgeladenen Ort, der jütländischen Heide, platziert Blicher in seiner Novelle Jøderne paa Hald eine jüdische Familie aus Amsterdam. Die Novelle erschien 1828, doch es ist nicht das erste Mal, dass Blicher über Juden schreibt. Bereits 1813 hatte er sich an der „literarischen Judenfehde“ beteiligt (vgl. Kapitel 1.3). Als Befürworter der Gleichstellung der Juden hatte er in zwei Schriften (Blicher 1983a, 1983b) aktiv Stellung gegen das judenfeindliche Pamphlet Moses und Jesus von Buchholz und dessen Übersetzer Thaarup (Buchholz/ Thaarup 1813) bezogen. Blichers Novelle Jøderne paa Hald, die 15 Jahre später erschien, wird in der Forschung meist lediglich als literarisierte Version seines politischen Standpunktes interpretiert (vgl. z. B. Kjærgaard 2011, 2013: 49-65; Törne 1980: 13-15; Tudvad 2010: 338-339), der allerdings keineswegs so eindeutig ist, wie die vereinfachende Einteilung in „Gegner“ und „Befürworter“ der Judenemanzipation suggeriert. Die Frage nach Blichers Haltung stellt sich insbesondere im Hinblick auf zwei Artikel, die 1838 und 1839 unter dem Pseudonym „Ø“ erschienen, und in denen der Verfasser sich deutlich gegen das passive Wahlrecht von Juden und somit gegen die weitere und endgültige Gleichstellung ausspricht (Blicher 1928, 1929). Die Verfasserschaft Blichers ist zwar nicht belegt, schien den Herausgebern der gesammelten Werke Blichers 1928/ 1929 jedoch wahrscheinlich genug, um die Texte in die Gesamtausgabe aufzunehmen (vgl. Albøge 1987: 27). Die scheinbare Widersprüch‐ lichkeit zwischen den emanzipationsbefürwortenden Blicher-Schriften von 1813 und der ablehnenden Haltung, die in den beiden Artikeln von 1838 und 1839 zu Ausdruck kommt, war einer der Gründe für den Literaturwissenschaftler Björn von Törne, die Autorschaft Blichers bei den Ø-Texten anzuzweifeln (Törne 1980: 27). Gordon Albøge, Mitglied der dänischen Blicher-Selskab, reagierte 1987 mit einer akribischen Darlegung, warum Blichers Autorschaft im Falle der Ø-Texte keineswegs unwahrscheinlich sei. Peter Tudvad, der in seiner Monografie zu Kierkegaards Antisemitismus auch ausführlich Bezug auf das gesellschaftliche und politische Umfeld Kierkegaards nimmt, sieht sich wie Törne „fristet til at identificere [Ø] med biskop (Nicolai Esmark) Øllgaard [versucht, Ø als Bischof (Nicolai Esmark) Øllgaard zu identifizieren]“ (Tudvad 2010: 167), wobei Tudvad nicht mit dem vermeintlichen Widerspruch zu Blichers früheren Texten argumentiert, sondern die Verfasserschaft, da sie sich nicht eindeutig klären lässt, schlicht offen lässt. Kristoffer Kjærgaard wiederum zeigt sich von der Verfasserschaft Blichers überzeugt und sieht wie Albøge keinen Widerspruch zwischen den früheren, emanzipationsfreundlichen Pam‐ phleten Blichers und den späteren Polemiken von „Ø“. Kjærgaard argumentiert, dass eine 74 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) widersprüchliche oder sich verändernde Haltung genuiner Teil des semitischen Diskurses sei. Damit benennt Kjærgaard den Punkt, der auch bei der Lektüre der Blicher-Novelle, aber auch aller anderen Texte dieser Untersuchung augenfällig ist: die Ambivalenz und das Changieren der ‚philosemitisch‘ zu nennenden Texte, in denen immer auch die Möglichkeit zur Judenfeindschaft und zur Inakzeptanz gegenüber Juden und Jüdinnen mitschwingt. So bezieht Kjærgaard, wie vor ihm bereits Törne und Albøge, auch die Novelle Jøderne paa Hald in seine Arbeit zur politischen Verfasserschaft Blichers ein und liest sie als literarisierte Version von Blichers politischem Standpunkt: „,Jøderne paa Hald‘ har et klart didaktisk sigte og en politisk pointe at formidle, en pointe der først og fremmest åbenbarer sig, når den betragtes i relation til Blichers tekster om den jødiske tilstedeværelse [‚Jøderne paa Hald‘ hat eine klare didaktische Ansicht und eine politische Pointe zu vermitteln, eine Pointe, die sich vor allem dann offenbart, wenn man sie in Relation zu Blichers Texten über die Gegenwärtigkeit der Juden betrachtet]“ (Kjærgaard 2013: 116). Die Literarizität der Novelle wird aus dieser Perspektive jedoch explizit nicht berücksichtigt, der Komplexität und Ambivalenz des literarischen Textes kann so nicht Rechnung getragen werden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text und seinen verschiedenen Ebenen steht bisher noch aus. Dieses Forschungsdesiderat soll nun geschlossen werden. 3.2 Jøderne paa Hald - Aufbau und Rahmen Blichers Novelle spielt auf zwei Zeitebenen. Die Rahmenhandlung ist auf das Erschei‐ nungsjahr 1828 festgelegt. Die Stimme des autodiegetischen Erzählers vermischt sich mit der des Autors - weshalb im Folgenden der Erzähler der Rahmenhandlung als Autor-Erzähler bezeichnet werden soll -, nimmt schließlich sogar direkt auf ihr eigenes Publikationsorgan Bezug, die von Blicher selbst herausgegebene literarische Monatsschrift Nordlyset [Nordlicht]. Die Novelle spielt hier mit ihrer eigenen Literarizität und erweckt den Anschein einer exklusiven Enthüllungsgeschichte. Der Autor-Erzähler schildert seine Kindheitserinnerungen an das Schloss und an drei geheimnisvolle Porträts, die „eksisterer endnu og kan af enhver behagelig tages i Øjesyn [noch immer existieren und von einem jeden bequem in Augenschein genommen werden können]“ (Blicher 2007: 71). Vor Kurzem sei er in den Besitz eines Tagebuchs gekommen, das er nun der Öffentlichkeit zugänglich machen wolle. Dieses Tagebuch stellt die Binnenhandlung dar. Sie spielt im Spätherbst eines Jahres im späten 17. Jahrhunderts. Der fiktive Verfasser des Tagebuchs und Ich-Erzähler ist ein junger Mann mit Namen Johan, der sich eingemauert im Kellergewölbe des Schlosses befindet. Er erzählt von den jüdischen Brüdern Salamiel und Joseph Lima und von der schönen Sulamith, die das Schloss Hald eine kurze Weile lang bewohnen und die er noch aus seiner Jugendzeit in Amsterdam kennt. Das Herrenhaus Hald, das in der Novelle oft auch als Schloss bezeichnet wird, gibt es tatsächlich, ebenso wie es eine jüdische Familie de Lima gab, denen das Herrenhaus 1664 vom dänischen König Frederik III. übereignet worden war und in deren Besitz es bis 1703 blieb (vgl. Blüdnikow/ Jørgensen 1984: 20). Der Leser erfährt die historischen Einzelheiten in der einleitenden Rahmenhandlung, er erfährt dort auch, dass es auf Hald spukt und dass dieser Spuk begann „straks efter at Jøderne var rejst [kurz nachdem 75 3.2 Jøderne paa Hald - Aufbau und Rahmen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) die Juden abgereist waren]“ (Blicher 2007: 70). Daraus muss er schließen, dass der Spuk in irgendeiner Weise mit den Juden, die damals auf Hald lebten, zu tun hat. Doch am Ende der Novelle gibt es keine Erklärung für den Spuk, keine Toten, niemanden, der Schuld auf sich geladen hat, niemanden, dessen Seele ewig unerlöst umherwandern muss. Aus der anfänglichen Spukgeschichte wird eine Liebesgeschichte mit Happy End, die sich bekannter Stereotype über Jüdinnen und Juden bedient und als Lösung für die unmögliche Liebesbeziehung zwischen einer Jüdin und einem Christen nur die Konversion der jüdischen Figuren zum Christentum anbietet. Erstaunt bleibt die Leserin zurück und fragt sich, warum die Geschichte so verheißungsvoll schaurig beginnt, wenn sich alle Konflikte, Missverständnisse und scheinbar grausamen Schicksalsfügungen am Ende in Wohlgefallen auflösen. Warum handelt die Novelle überhaupt von Juden, und was macht das Jüdischsein dieser Juden so bedeutsam, dass sie der Novelle den Namen geben? 3.3 Ahasverischer Spuk Der Autor-Erzähler der Rahmenhandlung trifft auf seinem Morgenspaziergang am nahe‐ gelegenen See einen alten Fischer, dessen Boot sich aus dem Frühnebel löst und so metaphorisch die anstehende Entschleierung eines Geheimnisses ankündigt. Zwei Spuk‐ geschichten erzählt der Fischer seinem neugierigen Zuhörer. Die erste handelt von einem Jungen, der vor vielen Jahren nachts einmal im alten Herrenhaus eingeschlossen war. Dort sah er einen bleichen Mann sitzen, vor sich auf dem Schreibtisch statt eines Tintenfasses einen abgeschlagenen Kopf, dessen Mund sich öffnete, sobald der Schreibende seine Feder hineintauchen wollte. Die zweite Geschichte handelt von einem Porträt, das beim Abriss des alten Schlosses nicht vom Grundstück wegzubewegen war. Es wurde beim Tragen schwer wie Blei. Erst als ein Pfarrer kam, konnte das Bild an seinen neuen Ort gebracht werden. Dort fiel es nun jede Nacht von seinem Haken, bis man es schließlich an einem Sargnagel befestigte (Blicher 2007: 70). Blicher greift in seiner Novelle Spukgeschichten auf, die zu seinen Lebzeiten unter der dänischen Landbevölkerung über das Herrenhaus Hald kursierten (vgl. Chraska 1986: 175; Harbo 2008: 17-20). Es sind jütische Schauergeschichten, keine jüdischen. Aber: Blicher erzählt sie. Er leitet mit diesen Schauergeschichten die Bin‐ nenhandlung der Novelle ein, und bereits der Titel „Die Juden auf Hald“ lässt erwarten, dass die jüdischen Figuren mit dem Spuk zu tun haben. Sie nämlich ermöglichen die Assoziation mit dem Topos des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus, dem lebenden Toten, dem bald 2000 Jahre alten Wanderer, einem Geist aus der Vergangenheit, einer unerlösten Seele in ewiger Pein. Im Lauf seiner literarischen Geschichte wird Ahasverus mit anderen Untoten wie Vampiren und schließlich mit dem Teufel selbst in Verbindung gebracht (vgl. Körte 2000: 33-38, 2006: 46-47; vgl. auch Kapitel 2.7 und 2.8). Wie der nächtliche Schreiber, der verflucht ist zu schreiben und zu schreiben und die Tinte dazu aus einem abgeschlagenen, dabei aber höchst lebendigen Kopf bezieht. Und wie das Porträt, das sich weigert, das Schloss zu verlassen, und sich, als es dann heimatlos und entwurzelt ist, gegen seinen neuen Platz sträubt, bis ein Pfarrer und ein Sargnagel es endlich überwältigen können. Diese beiden, der Schreiber und das Gemälde, kommen nicht zur Ruhe - wie der ‚ewige Jude‘. Doch wer in den jüdischen Figuren eine logische Erklärung für den Spuk sucht, wird enttäuscht. Die Novelle bietet 76 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) keine plausible Erklärung. Die Identität des Porträtierten wird aufgeklärt - es ist die einzige Figur in der Novelle, die zweifellos Christ ist, ein redlicher Mann und der Vater des jungen Johan (von dem wiederum der Leser am Ende der Novelle erfährt, dass er eine jüdische Mutter hat). Die Identität des makabren Schreibers hingegen wird nicht aufgeklärt, doch lässt der Text die Lesart zu, in ihm den Geist des Tagebuch schreibenden Johan zu erkennen - wenngleich Johan den Keller lebend verlassen kann, denn er ist zwar im Kellergewölbe des Schlosses eingemauert und scheinbar dem Tod geweiht. Doch stirbt er nicht etwa in seinem unterirdischen Verließ, sondern wird glücklich gerettet und findet gar seine Jugendliebe wieder. Mit den titelgebenden Juden auf Hald, den Brüdern Salamiel und Joseph Lima, sind die Spukerscheinungen, wie noch zu zeigen ist, ebenfalls nicht zu erklären. Allein dass die Novelle die Juden im Namen trägt und die Lebensläufe von Johan und seinem Vater sich mit denen der jüdischen Figuren schicksalhaft überschneiden, scheint zu genügen, um den Spuk wahrscheinlich zu machen. Er muss nicht weiter begründet und erklärt werden. Mona Körte bemerkt über die literarischen Möglichkeiten der Figur des Ahasverus: „Mit Ahasver läßt sich in unendlicher und wahlloser Folge die Welt erzählen, als Leit- und Erzählfaden haftet er für alle Ungereimtheiten, alle disparaten Erzählmomente einer […] inkohärenten Erzählung“ (2000: 76). Wenngleich Körte sich hier auf die Gattung des Fortsetzungsromans im 19. Jahrhundert bezieht, lässt sich diese Beobachtung doch auch auf diese, ebenfalls inkohärent erscheinende Erzählung übertragen. Jüdische Figuren reichen als Unheimliche, Fremde und Exoten, als Ahasverusfiguren, die untot die Jahrhunderte überdauern, offenbar aus, um Spukgeschichten zu erzählen, ohne sie begründen zu müssen. Die beiden Juden in der Novelle jedoch, Joseph und Salamiel, sind keineswegs Ahasve‐ rusfiguren. Joseph ist ein respektierter Kaufmann mit einem „milde, kloge Ansigt [milden, klugen Gesicht]“, gleichermaßen beliebt bei Juden wie bei Christen, Salamiel ist „den bedste Billardspiller og forvovneste Skøjteløper i Holland [der beste Billardspieler und verwegenste Schlittschuhläufer in Holland]“ (Blicher 2007: 82). Sie sind sephardische Juden aus Amsterdam; am Ende der Novelle kehren sie dorthin zurück und konvertieren zum Christentum. Beängstigend und schaurig erscheinen allein der unheimliche Schreiber und das widerspenstige Gemälde. In der Novelle hängt es nicht allein, sondern neben zwei weiteren Porträts. 3.4 (Un-)echte Judenbilder In der Novelle werden drei Porträts beschrieben und auf diese Weise die Abgebildeten in die Handlung eingeführt. Zwei der Dargestellten sind die jüdischen Brüder Joseph und Salamiel Lima, das dritte Gemälde zeigt den unbekannten Mann. Es sind Bilder, die zu Lebzeiten Blichers tatsächlich im Herrenhaus Hald hingen und von denen eines noch heute dort zu finden ist. Das Porträt, das der Figur Salamiel Lima zugeordnet werden kann, sowie das des Unbekannten wurden 1973 gestohlen. Vom Bildnis des unbekannten Mannes existiert aber noch eine Kopie im Herrenhaus Nørre Vosborg (vgl. Harbo 2008: 19). Das Bild, das 77 3.4 (Un-)echte Judenbilder DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 4 Mit den Porträtbeschreibungen habe ich mich in meinem Aufsatz Un-unheimliche Juden oder: Warum spukt es im Schloss? Steen Steensen Blichers Novelle über eine jüdische Familie in Jütland näher beschäftigt. Hier finden sich auch farbige Abbildungen des erhaltenen und des als Kopie vorhandenen Gemäldes (Bock 2019: 95, 97). Schwarz-Weiß-Abbildungen finden sich auch bei Harbo (2008: 19-20). 5 Schtreimel und Spodek sind traditionelle jüdische Kopfbedeckungen vorwiegend aus Ost- und Süd‐ osteuropa. Sie könnten auf die Migrationsgeschichte des Trägers verweisen, die offenbar nicht allein den sephardischen, sondern auch den aschkenasischen Raum umfasst. Sehr viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie vom Autor-Erzähler ohne Kenntnis ihrer Herkunft als allgemein „jüdisch“ gedeutet werden. vermeintlich die Figur Joseph Lima zeigt, ist noch erhalten. Diese drei (realen) Bilder und ihre Darstellung in der Novelle sollen hier nun näher betrachtet werden. 4 3.4.1 Salamiel Lima Die Beschreibung der Porträts ermöglicht es der Leserin, sich von den beiden jüdischen Brüdern Lima im wahrsten Sinn des Wortes ein Bild zu machen. Das Porträt von Salamiel zeigt en mørkladen, mager, senestærk, i en sort Kappe indhyllet Figur, Hovedet bedækket med en turbanformet Pelshue; den ene Haand griber i Barmen - sandsynligvis efter en Dolk. Man har sagt mig, det var en Jøde, og jeg tænkte uvilkaarlig paa Esau, den vilde, trodsige Jæger; saaledes maa han have set ud, da han mærkede Moders og Broders Bedrag, og da han siden mødte denne med fjendsk Hu og blodige Tanker. (Blicher 2007: 68-69) eine dunkle, magere, sehnige, in einen schwarzen Umhang gehüllte Figur, der Kopf bedeckt mit einer turbanähnlichen Pelzmütze; die eine Hand greift an den Busen - wahrscheinlich nach einem Dolch. Man hatte mir gesagt, dass es ein Jude sei, und ich dachte unwillkürlich an Esau, den wilden, trotzigen Jäger; so muss er ausgesehen haben, als er den Betrug der Mutter und des Bruders bemerkte und diesem seitdem mit Feindschaft und blutigen Gedanken begegnete. Diese Beschreibung weckt ambivalente Assoziationen. Durch seine fremd erscheinende Kopfbedeckung, die vom Autor-Erzähler vermutlich als Schtreimel oder Spodek interpre‐ tiert wird, 5 ist Salamiel als frommer Jude markiert. Der Abgebildete gleiche Esau, dem Bruder Jakobs, und zwar in dem Moment, als dieser den Betrug durch Jakob und Rebekka entdeckt. Da Jakob, der Zweitgeborene, sich durch Betrug das Erstgeburtsrecht und den väterlichen Segen erschlichen hat und von seiner Mutter Rebekka dabei unterstützt wird (Gen 25,19-34 und Gen 27,1-40), ist Esaus Zorn in diesem Moment nachvollziehbar. Durch die Referenz auf diese Episoden aus dem 1. Buch Mose wird dem zunächst düster und bedrohlich wirkenden Bildnis eine menschliche, verletzliche Seite zugesprochen. Die Bezugnahme auf die irritierende biblische Erzählung von Jakob und Esau ermöglicht eine Identifikation der Leserin mit Salamiel/ Esau, obwohl es Jakob ist, der von Gott auserwählt wurde und von ihm schließlich den Segen und den Namen Israel erhielt (Gen 32,23-33). Im Porträt Salamiels erkennt der Autor-Erzähler auch Ähnlichkeit mit dem jüdischen Aufständischen Bar-Kochba, „som han beslutter at genrejse det søndersplittede Rige [als er beschließt, das zersplitterte Reich wiederzuerrichten]“ (Blicher 2007: 69). Dieser Aufstand mündete in die endgültige Diaspora der Juden. Hier jedoch greift dieser Bar-Kochba gerade 78 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) nach dem Dolch, um die letzte Möglichkeit zur Verteidigung seines Volkes zu ergreifen. Festgehalten in dieser Pose stellt das Gemälde einen misstrauischen Mann in einer Vertei‐ digungshaltung dar: „I dette skumle Aasyn præger sig Harmen over Folkets Fornedrelse, vaklende Haab om Fornylesen af den tabte Herlighed og mørke Anelser om et sørgeligt Udfald paa dette fortvivlede sidste Forsøg [In dieses finstere Antlitz prägen sich der Zorn über die Erniedrigung des Volks, wankende Hoffnung auf die Erneuerung der verlorenen Herrlichkeit und dunkle Ahnungen eines traurigen Ausgangs dieses verzweifelten letzten Versuchs]“ (Blicher 2007: 69). Salamiels Weg wird zwar durch die scheiternden Figuren Esau und Bar-Kochba als der falsche markiert, jedoch für den Leser emotional nachvollziehbar gestaltet. Der Text begegnet der Figur mit Respekt und Sympathie, wertet allerdings das Judentum als veraltet und nicht zukunftsfähig. Zugleich bietet sich über das beschriebene Porträt die Gelegenheit, die seit Dohm (1781) geläufige Argumentation zu zitieren, nach der viele Juden zwar schädliche Eigenschaften und viele Charaktermängel besäßen, in diese Rolle aber aufgrund der jahrhundertelangen schlechten Behandlung in der Diaspora gezwungen worden waren, eine Argumentationstradition, in der auch Blicher selbst mit seinen 1813 publizierten Schriften steht (vgl. Achinger 2007: 40-46; Detering 2002b). 3.4.2 Joseph Lima Joseph Lima wird in der Beschreibung seines Porträts als Verkörperung der alttestament‐ lichen Patriarchen dargestellt. In ihm sieht der Erzähler das Gegenstück zu seinem Bruder Salamiel: Hvor ulig hin! saa forskellig som Jakob fra Esau. Ja! dette er - maa være tegnet efter Naturen: Snildhed, Sagtmodighed, Bøjelighed, - patriarkalsk Værdighed, Godmodighed, dog ikke uden lidt underfundig Tilbageholdenhed. Saaledes har han smilet, da han bortbyttede Linserne […]. (Blicher 2007: 69) Wie unähnlich diesem! So verschieden wie Jakob von Esau. Ja! Dieses ist - muss nach der Natur gezeichnet sein: Klugheit, Sanftmut, Geschmeidigkeit, - patriarchalische Würde, Gutmütigkeit, doch nicht ohne ein wenig hintergründige Zurückhaltung. So hat er gelächelt, als er die Linsen forttauschte […]. Es ist frappant, wie die Charaktereigenschaften sich einer eindeutig positiven Wertung wi‐ dersetzen. Aus der vorangegangenen Bildbeschreibung des Salamiel-Porträts bleibt der Le‐ serin das Unbehagen gegenüber der biblischen Figur Jakob und dessen Verhalten gegenüber Esau und seinem Vater. Obwohl der Text vorgibt, dass es sich hier um durchweg positive Zuschreibungen handelt, lassen sich Eigenschaften wie „Geschmeidigkeit“, „Klugheit“ und „hintergründige Zurückhaltung“ auch als negative und stereotyp antisemitische Zuschrei‐ bungen lesen. Joseph hält auf dem Gemälde einen Hahn im Schoß und ist umgeben von Blumen. In der Novelle werden die Blumen als „Symboler paa søde, talrige Familieglæder, paa Haabet om Israels tilkommende Flor [Symbole für süße, zahlreiche Familienfreuden, für die Hoffnung auf Israels kommendes Erblühen]“ gelesen. Dieser Symbolik steht der Hahn als „Aarvaagenheds, Paapassenheds Symbol [Symbol der Wachsamkeit, der Vorsicht]“ - gegenüber: 79 3.4 (Un-)echte Judenbilder DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Vist nok […] behøver du, forunderlige Nation! Hanens hele Aarvaagenhed for at bevare din skrøbelige Tilværelse; kun Skade, at du saa ofte lader dig henrive eller rettere oppuste af dens Overmod og glemmer, at de Kerner, der gjorde dig fyldig og kæphøj, var - ofte møjsommeligt nok - opsamlet i strenge Herrers Gaarde. Derfor har de ogsaa tit stækket dine Vinger, naar du baskede for højt med dem, og afrevet dine pralende Fjer, saa baade Fedt og Blod fulgte med. (Blicher 2007: 69) Gewiss […] brauchst du, verwunderliche Nation! die ganze Aufmerksamkeit des Hahnes, um dein schwaches Dasein zu bewahren; nur schade, dass du dich von deinem Übermut so oft hinreißen oder vielmehr aufblasen lässt und darüber vergisst, dass die Kerne, die dich so voll und übermütig gemacht haben, oft mühsam genug in den Höfen strenger Herren gesammelt wurden. Darum haben sie dir auch immer wieder die Flügel gestutzt, wenn du zu laut damit geschlagen hast, und die prahlenden Federn herausgerissen, so dass Fett und Blut flossen. Das Bild wird scheinbar positiv interpretiert und Joseph als Verkörperung eines blühenden Israels dargestellt. Doch im selben Atemzug wird diese Deutung verworfen und das Judentum als überholt und vergangen abgewertet. Der Hahn dient als Vorbote der Taufe, schließlich ist er auch ein Symbol für die Auferstehung Christi (vgl. Schramm 2011). Zärtlich hält Joseph ihn im Arm und nimmt so den Ausgang der Novelle schon vorweg - die Konversion der jüdischen Figuren zum Christentum. Während also Salamiels scheinbar düsterer Charakter in der Bildbeschreibung Aufwertung erfährt, wird das Bildnis der scheinbar positiven Figur durch negative Konnotationen einerseits und die Erwartung der Konversion andererseits mit Ambivalenz gespickt. So werden beide Juden zu unzuverläs‐ sigen Kippfiguren, die beim Leser Verwirrung stiften und so den literarischen Reiz der Novelle enorm steigern. 3.4.3 Der Unbekannte Das dritte Bild - in der Novelle ist es das erste, das der Autor-Erzähler beschreibt - ist das rätselhafteste der drei Porträts. Es ist deutlich größer als die beiden anderen und zeigt einen unbekannten Mann, hinter dem der Erzähler seine Leser zunächst den „djærve, trodsige Riddersmand [kühnen, trotzigen Rittersmann]“ (Blicher 2007: 67) Niels Bugge vermuten lassen will, der im 14. Jahrhundert den alten Herrensitz Hald erwarb, abreißen und neu errichten ließ. Es ist jenes Bild, von dem der alte Fischer erzählt, und das sich so penetrant seinem Umzug ins neu errichtete Herrenhaus zu widersetzen versucht: Det ene er et Bryststykke og forestiller en middelaldrende Mand af atletisk Skabning med et stort, trindt og glubsk Ansigt. Hans enradknappede, grove Vams slutter tæt op om den tykke Hals. Det sorte Mankehaar deler sig over Panden og falder i bølgende Lokker ned til de brede Skuldre. Hans store, mørkblaa Øjne, overskyggede af tykke Bryn, har ofte forfærdet mig som Barn, naar jeg gik ene gennem Salen, og de truende fulgte mig fra Dør til Dør. Næst den hornede Figur i orbis pictus har intet Billede holdt mig i saadan Respekt som ‚Niels Bugges‘ paa Hald. Om det ogsaa virkelig var hans, skal vort Haandskrift maaske siden aabenbare. (Blicher 2007: 68) Das eine Brustbild zeigt einen mittelalten Mann von athletischer Statur mit einem großen, runden und angriffslustigen Gesicht. Sein einreihig geknöpfter, grober Wams schließt sich eng um den 80 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 6 Auf ähnliche Weise wird in Hauchs Roman Guldmageren (1900: 42-43) ein Porträt beschrieben, das mit dem jüdischen Goldmacher Benjamin de Geer in Verbindung gebracht wird. Das Porträt wird also weniger betrachtet, als dass es selbst betrachtet, beobachtet und konstant in den Blick nimmt (vgl. auch Schiedermair 2009: 79). dicken Hals. Das schwarze Mähnenhaar teilt sich über der Stirn und fällt in welligen Locken herab auf die breiten Schultern. Seine großen, dunkelblauen Augen, überschattet von dichten Brauen, haben mich als Kind oft verängstigt, wenn ich alleine durch den Saal ging und sie mir drohend von Tür zu Tür folgten. Neben der gehörnten Figur in Orbis Pictus hat kein Bild mir solchen Respekt eingeflößt wie „Niels Bugges“ auf Hald. Ob es auch wirklich seines war, wird unsere Handschrift vielleicht später offenbaren. Im selben Augenblick also, in dem die Identität des Dargestellten als Niels Bugge scheinbar gelüftet wird, stellt der Erzähler diese Identität wieder infrage und deutet an, dass das Geheimnis um den Dargestellten im gefundenen Manuskript gelüftet werde. Das Gesicht des Porträtierten erscheint angriffslustig, die Augen sind auf den Betrachter gerichtet und verfolgen ihn bedrohlich durch den Raum. 6 Der Vergleich mit der gehörnten Figur in Orbis Pictus weckt unangenehme Assoziationen: Es gibt nur eine einzige gehörnte Figur in Johann Amos Comenius’ vielgelesenem Lehrbuch Orbis sensualium pictus [1658] - den Teufel (Comenius 1698: 310-311). Auch bei der Figur des Ahasverus sind es die Augen, ist es „ein für den Protagonisten meist unerträglicher Blick“ (Körte 2000: 321), der ihn bedrohlich wirken lässt: „Der bohrende, feuerglühende Blick hilft infektiös die schwarze Weltschau verbreiten, seine früher demütig gesenkten Augen prophezeien, bannen, hypnotisieren, vernichten“ (Körte 2006: 52). Die Porträts der jüdischen Brüder Salamiel und Joseph Lima deuten also das Ende des Judentums und den Übertritt zum Christentum an; das Porträt des Christen hingegen trägt durch sein untotes Dasein und seine Nähe zum Diabolischen Züge des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. Das Bildnis stellt den ehrlichen und redlichen Vater des jungen Johan dar. Seinen Namen erfährt der Leser nicht, nur soviel: Er ist der ehemalige Verwalter des Herrenhauses, der durch „[u]lykkelige Omstændigheder, hvis nærmere Forklaring ikke hører herhid [unglückliche Umstände, deren nähere Erklärung nicht hierher gehört]“(Blicher 2007: 96), in Geldnot geraten ist und nun, vier Monate vor Einsetzen der Binnenhandlung, nach Amsterdam reisen musste, um von einem seiner Schuldner das Geld einzuholen, das er der königlichen Schlosskasse verbotenerweise zwischenzeitlich entliehen hatte. Da die Abreise des Vaters, wäre der Kassenmangel entdeckt worden, als Flucht und die Geldentnahme als Diebstahl gedeutet worden wären, hat sich Johan zur Ehrenrettung seines Vaters von diesem im Keller des Schlosses einmauern lassen, versorgt mit Lebensmitteln, Papier und Feder. So sollte der Verdacht, falls der fehlende Betrag in der Kasse aufgefallen wäre, auf den Sohn gelenkt werden, den man, da er nicht auffindbar wäre, seinerseits des Diebstahls und der anschließenden Flucht bezichtigt hätte. Wenn dann der Vater mit dem Geld aus Amsterdam zurückkäme, würde er den Irrtum aufklären. Ein plötzliches Auftauchen Johans jedoch hätte, da man ihn für einen Dieb halten würde, das Todesurteil für ihn zur Folge. In der Hoffnung, dass es so weit nicht kommen möge, ist der Vater nach Amsterdam aufgebrochen, um mit dem Geld bald wieder zurück nach Dänemark zu reisen, den Kassenmangel auszugleichen und den Sohn aus seinem „Grab“ (Blicher 2007: 72, 81 3.4 (Un-)echte Judenbilder DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 74-75, 96-97) zu befreien. Obwohl er mittlerweile einen Laubengang und damit den Weg in die Freiheit entdeckt hat, bleibt Johan bis zur Wiederkehr seines Vaters an sein Versteck gebunden. Allerdings dauert seine Rückkehr bereits länger als erwartet. Sein Brief führt schließlich zur Auflösung aller Verwirrungen und zum glücklichen Ausgang der Erzählung. Während in den Porträts der jüdischen Gebrüder Lima die ambivalenten Charaktereigen‐ schaften ihrer Figuren illustriert sind, zeigt das Porträt von Johans Vater das Gegenteil von dem, was er letztlich ist: ein ehrlicher Christ, der aber bedrohlich, beinahe schon teuflisch aus seinem Bilderrahmen herausschaut. Bezeichnenderweise hat der dänische Autor und Übersetzer Lauritz Kruse in seiner deutschen Übersetzung von 1831 gerade an dieser Textstelle eine frappante Veränderung vorgenommen, wodurch die negativen Assoziationen, die im dänischen Originaltext mit dem Bild verbunden sind, weitestgehend aufgelöst werden. Während Blichers Erzähler hier andeutet, dass es sich möglicherweise doch nicht um den mittelalterlichen Ritter Niels Bugge handele, verändert Kruse das Original folgendermaßen: „Daß es auch wirklich das seinige sey, läßt sich wenigstens vermuthen; so viel ist Gewiß, daß dies alte Gemälde der Vorstellung eines echten, alten nordischen Kämpen keineswegs widerspricht“ (Kruse/ Blicher 1831: 217). Die klaffende Diskrepanz zwischen der Gemäldebeschreibung und der Vaterfigur selbst wird somit abgeschwächt, das Grimmige und Bedrohliche des Gesichtsausdrucks wird in den Kontext eines „echten, nordischen Kämpen“ eingeordnet. Dabei ist es genau jene Diskrepanz, die eine erstaunliche Lesart ermöglicht: Die christlichen und jüdischen Figuren überkreuzen sich nämlich im Handlungsverlauf und sind am Ende nicht mehr eindeutig als Juden oder Christen zu fassen. Damit diese Überkreuzung jüdischer und christlicher Figuren stattfinden kann, muss sich der junge Johan jedoch erst einmal verlieben. 3.5 Sulamith - die orientalisierte Jüdin Sulamith ist Josephs Schwägerin, die Schwester seiner Frau. Erstmals hat Johan Sulamith bereits in Amsterdam erblickt, wo er sich sofort in sie verliebt hat. Nun will es der Zufall, dass er sie im winterkalten Schloss Hald mitten in Jütland wiedertrifft. Bereits Sulamiths Name weist auf das Hohelied Salomos als Referenztext für die Gestaltung der Jüdin hin (vgl. Kapitel 2.2.1). Abwechselnd sprechen dort ein Mann und eine Frau, die in der Rezeption des Hohelieds zumeist als Salomon und Sulamith identifiziert werden, doch ist keinesfalls gesichert, dass es sich bei „Salomon“ und „Sulamith“ tatsächlich um die einzigen Sprechenden handelt, oder ob nicht vielmehr unterschiedliche Liebende in diesem Gewebe aus Liebesliedern sprechen. Diese Textsammlung aus dem Alten Testament hat in der Theologie über Jahrhunderte hinweg zu sonderbaren Verrenkungen bei einer unerotischen Auslegung dieser zweifelsfrei erotischen Lyrik geführt. Während jüdische wie christliche Theologen die metaphysische Liebesbeziehung zwischen Mensch und Gott in 82 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 7 Weltlich-erotische und geistig-religiöse Deutungen des Hoheliedes hatten auch in der Musikge‐ schichte parallel zueinander Geltung, wie sich zum Beispiel in der Tradition barocker musikalischer Bearbeitungen von Passagen des Hoheliedtextes zeigt. Der zweite Teil der Matthäus-Passion [1727] von Johann Sebastian Bach (1685-1750) beginnt mit einer Alt-Arie, die die Gefangennahme Jesu kommentiert („Ach, nun ist mein Jesus hin“). Der Alt-Stimme wird tröstend der Chor zur Seite gestellt, der eine Passage aus dem Hohelied singt („Wo ist denn dein Freund hingegangen“). Auch der dänisch-deutsche Komponist Dieterich Buxtehude (ca. 1637-1707) verwendet in seiner Passionsmusik Membra Jesu Nostri [1680] für die Meditation über den geschundenen Leib Jesu Passagen aus dem Hohelied Salomos, wobei diese Beweinung Christi ihrerseits mit einer beinahe erotischen Sinnlichkeit einhergeht. Eine ganz und gar weltliche Auslegung des Hoheliedes bietet die fast schon lüstern zu nennende Hochzeitskantate Meine Freundin, du bist schön [1676] von Johann Christoph Bach (1642-1703) an. Hier wird der Hoheliedtext explizit erotisch ausgelegt und in einer sich unendlich steigernden Chaconne zum (musikalischen) Höhepunkt geführt. Von dieser Kantate wiederum hatte Johann Sebastian Bach nicht nur eine Abschrift in seinem Besitz, sondern er hat sie, so darf angenommen werden, auch selbst zur Aufführung gebracht (zur Aufführungsgeschichte dieser Hochzeitskantate vgl. Gardiner 2016: 120-121; Wolff 2009: 40-42). 8 Das Hohelied Salomos kann „wie kein anderer Text der Bibel durch seinen deutlich erotischen Einschlag bereits auf eine Jahrhunderte lange Tradition von Um- und Neudichtungen zurückblicken“ (Polaschegg 2005: 165). dem Text zu finden suchten, bietet die literarische - wie übrigens auch die musikalische 7 - Auseinandersetzung mit dem Hohelied die Möglichkeit, es ganz sinnlich zu interpretieren. 8 3.5.1 „So komme, mein Geliebter, in seinen Garten“ Nicht nur der Name der schönen Jüdin, auch die Begegnungen zwischen ihr und Johan stellen Assoziationen zum Hohelied her: Jeg sad i Jasminlysthuset og drømte om dig, min elskede; da hørte jeg et dybt Suk bag mig i Naboens Have. Jeg saa gennem en Sprække i Plankeværket - Sulamith! Det var dig. Du sad der ombølget af dine brune Silkelokker, dit Hoved hældede mod din Skulder, dine snehvide Fingre legede med Blomsterne i dit Skød, dine Øjne var hos Levkøjerne, men dine Tanker - ja de var hos din ukendte Ven. (Blicher 2007: 76) Ich saß im Jasminlusthaus und träumte von dir, meine Geliebte; da hörte ich ein tiefes Seufzen hinter mir im Garten des Nachbarn. Ich blickte durch einen Spalt im Plankenwerk - Sulamith! Du warst es! Du saßest dort umwogen von deinen braunen Seidenlocken, dein Kopf auf deine Schulter geneigt, deine schneeweißen Finger spielten mit den Blumen in deinem Schoß, deine Augen waren bei den Levkojen, aber deine Gedanken - ja, die waren bei deinem unbekannten Freund. Levkojen und Jasmin umgeben die junge Frau - an einer anderen Textstelle erblickt er ihr „dejlige Aasyn mellem Hyacinterne [herrliches Antlitz zwischen den Hyazinthen]“ (Blicher 2007: 75) - Pflanzen also, deren Herkunftsregionen im 19. Jahrhundert unter dem Sammelbegriff ‚Orient‘ zusammengefasst wurden (zur Sache vgl. Polaschegg 2005: 63-101; vgl. auch Kapitel 5.6.1). Die exotische Schönheit der Blumen unterstreicht nicht nur die Schönheit der Frau, sondern auch ihre orientalisch-exotische Andersheit. Der sinnlich-schwere Duft der Blüten wird zum Versprechen körperlicher Liebe, das trotz der keuschen Erscheinung Sulamiths, die versonnen mit den Blüten in ihrem Schoß spielt - die einzige offen erotische Anspielung in der Novelle -, auf zukünftige Sinnesfreuden verweist, 83 3.5 Sulamith - die orientalisierte Jüdin DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 9 Für die Bibelzitate aus dem Hohelied Salomos verwende ich die Übersetzung von Johann Gottfried Herder. Damit soll zum einen auf die literarische Rezeption des Hoheliedes verwiesen und zum anderen Herders Bedeutung für die „Entdeckung des Judentums am Ende des 18. Jahrhunderts“ (Hartwich 2005: 35) herausgestellt werden (vgl. Hartwich 2005: 35-82). 10 Auch Scotts Figur der Rebecca, die als Vorbild für die literarische Gestaltung der ‚schönen Jüdin‘ im 19. Jahrhundert gilt, ist vom Hohelied Salomos inspiriert. Als der englische Prinz John sie erblickt, bemerkt er „[d]as Feuer ihrer Augen, der schöne Bogen ihrer Brauen, die wohlgeformte Adlernase, ihre Zähne, weiß wie Perlen, und die Fülle ihrer schwarzen Locken, die in Ringeln auf soviel ihres lieblichen Halses und Busens niederfielen, wie ein faltiges Gewand von kostbarer persischer Seide […] dem Blick gestattete […]. Freilich waren die obersten der goldenen, mit Perlen besetzten Spangen, die ihr Kleid vom Hals bis zur Taille schlossen, der Hitze wegen geöffnet, wodurch die Aussicht auf das, was wir schon andeuteten, etwas erweitert war.“ Verzückt von diesem Anblick ruft er aus: „Diese Jüdin muß das Modell jener Vollkommenheit sein, deren Reize den weisesten König, der jemals lebte, toll machten. […], sie ist die Braut des Hohenliedes! “ (Scott 1971: 90-91; vgl. auch Kapitel 5.6.2). die an Sulamiths als orientalisch markierte Herkunft gebunden sind. Der betörend duftende Gartenpavillon und die schöne Jüdin erlauben es, die üppigen Gärten des antiken Orients anzudeuten, in dem schon die beiden Liebenden in Salomos Hohelied sich nach einander sehnten: So komme, mein Geliebter,/ In seinen Garten/ Und esse seine köstliche Frucht. (Hld 4,16; Herder 1992: 34) 9 Mein Lieber ging in seinen Garten,/ Zu seinen Blumenbeeten,/ Zu weiden in den Gärten,/ Zu sammeln Rosen sich./ / Mein Lieber, ich bin sein,/ Mein Lieber, er ist mein,/ Der unter den Rosen weidet. - - (Hld 6,2-3; Herder 1992: 43) Eine Jüdin und ein üppiger Garten - mitten in Europas Norden lässt sich so von der Exotik des Orients, oder vielmehr: der Imagination des Orients, erzählen. Die Figur der Sulamith wird durch die Bezugnahme auf Salomos Hohelied erotisiert, ohne dass dies explizit ausgeführt werden muss. 10 Auf diese Weise kann sie dem Ideal der ‚schönen Seele‘ entsprechen und zugleich als erotische Projektionsfläche für die Lesenden dienen (vgl. Kapitel 2.2.1). Getrennt sind Johan und Sulamith nur durch einen Gartenzaun. Einerseits ist dieser Zaun, diese symbolische Wand, leicht zu überwinden. Sie besteht nur aus Holz und Johan steigt leicht über sie hinweg, um Sulamith in ihrer Abwesenheit heimlich eine Hyazinthe, die den sprechenden Namen „Soleil brillant“ trägt, in ihren Garten zu stellen. Andererseits klettert er sogleich zurück auf seine Seite der Holzwand, um nicht entdeckt zu werden (Blicher 2007: 76). Die Wand behält also ihre trennende Funktion, zugleich verbindet sie die beiden Liebenden, denn nur hier können sie unbeobachtet miteinander sprechen, ohne die Grenzen des Anstandes oder des Grundstücks zu verletzen. Die trennende und verbindende Wand findet ihr Vorbild auch in den Metamorphosen des Ovid (2017: 191-201). Für Pyramus und Thisbe ist die Wand mit ihrem Spalt der einzige Ort, an dem zwei Liebende miteinander kommunizieren können. Für die Liebe dieser beiden Babylonier*innen aus der römischen Literatur der Antike gibt es kein glückliches Ende. Die leichte Wand aus Holz hingegen, über die Johan bereits behände hinweggestiegen ist, stellt kein dauerhaftes Hindernis dar. Ihre Vereinigung deutet sich bereits an, obwohl ihr eine Trennung vorausgehen wird. So 84 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) lässt die Textstelle sich auch hier in Bezug auf Passagen des Hoheliedes deuten, in denen es heißt: Siehe, da stehet er schon/ Dahinter der Wand,/ Schaut durchs Geländer,/ Blinket durchs Gitter. (Hld 2,9; Herder 1992: 23) Mein Lieber streckte/ Die Hand durchs Gitter,/ Mein Inneres bebte mir. […] Auf that ich meinem Lieben; / Mein Lieber war entwichen,/ Verschwunden - - (Hld 5,4-6; Herder 1992: 41) Was in Herders Übersetzung das Gitter, ist bei Luther das Riegelloch, durch das der Jüngling fasst - „und mein Leib bebte ihm entgegen“ (Hld 5,4). „Salomon“ - oder wer auch immer dieser biblische Liebende ist - findet eine Öffnung in der Wand, durch die er seine Hand steckt, was den Leib der wartenden „Sulamith“ vor Lust zum Erbeben bringt. Doch als sie sich entschließt, ihm zu öffnen, ist er verschwunden. Auch Johan und Sulamith werden noch einmal getrennt werden - hier ist es die junge Frau, die verschwindet -, und ihre Vereinigung erscheint zunächst nicht nur durch die räumliche Distanz unmöglich, sondern auch durch ihre unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit. Im Jasminlusthaus reden Johan und Sulamith erstmals kurz miteinander. Sulamith fragt Johan: „Hvem er De? [Wer sind Sie? ]“ (Blicher 2007: 76) und stellt damit die Kernfrage der Novelle. Dabei hat sie doch die Wahrheit, auf welche die anderen Figuren der Novelle bis zum Schluss warten müssen, bereits erkannt, wenn sie niedergeschlagen und „neppe hørligt [kaum hörbar]“ (Blicher 2007: 76) auf seine Antwort reagiert: „Jeg tænkte, […] at De var en af vore [Ich dachte, Sie wären einer von uns]“ (Blicher 2007: 76). Damit verweist der Text auf das Äußere Johans, dem man oft schon gesagt habe, „at min Næse og mine Øjne var ganske israelitiske [dass meine Nase und meine Augen recht israelitisch waren]“ (Blicher 2007: 77). In seinem Aussehen deutet sich für ihn mehr an, als er selbst weiß, und für den Leser das Gelingen der Liebesgeschichte. Kurz nach diesem ersten und einzigen kurzen Wortwechsel sieht Johan Sulamith in Begleitung zweier jüdischer Männer abreisen. Obwohl sich später im Schloss Hald zeigt, dass Johan die Porträts Josephs und Salamiels vertraut sind, erkennt er sie hier nicht. In diesem Moment sind sie Fremde, die dem Liebenden die Geliebte entziehen. 3.5.2 Musik als Ausdruck der Seele Als sephardische Jüdin ermöglicht die Figur der Sulamith, exotisch und orientalisch konnotierte Elemente in die Novelle einfließen zu lassen und die Handlung dennoch im Norden Europas, in der bekannten „eigenen“ kulturellen und geographischen Umgebung anzusiedeln. Die Jüdin bringt buchstäblich den Orient nach Jütland. Die Exotisierung der Region durch die Orientalin wertet diese vom Kopenhagener Bürgertum gemeinhin unterschätzte Region zusätzlich als erzählenswert auf. Der Kontrast zwischen Dänemark und dem Orient wird außerdem durch die Jahreszeiten verstärkt. Die Binnenhandlung spielt im Spätherbst und Winter, während Sulamith als Orientalin die Hitze und die Sonne des Südens verkörpert. Als Sulamith und Johan sich in Dänemark, auf Schloss Hald wiederbegegnen - er zunächst im Verborgenen ihrer Stimme lauschend, sie ohne von ihrem heimlichen Zuhörer zu ahnen - ist es November. Draußen kündigt sich mit einem Sturm bereits der erste Schnee an, drinnen singt Sulamith portugiesische Lieder über die Liebe. Sie hat sich zurückgezogen in den Teil des Herrenhauses, der im Winter unbewohnt ist, „da den 85 3.5 Sulamith - die orientalisierte Jüdin DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) har Vinduer mod Nord og Øst [da die Fenster nach Norden und Osten gehen]“ (Blicher 2007: 83). Hier, in der winterlichen Kälte und Abgeschiedenheit, wähnt sie sich unbelauscht. Die „liflige Toner [lieblichen Töne]“ der Harfensaiten begleiten ihre Stimme, die klar ist, „som Harmoniaklang og sød som Hjertets første Elskovsdrømme [wie Harmoniaklänge und süß wie die ersten Liebesträume des Herzens]“ (Blicher 2007: 83). Der Klang ihrer Sprache ist fremd und Johan doch vertraut, ebenso wie die Melodie selbst: Jeg kendte den paa hin sørgmodige Nationalmelodi og paa den melankolske, tit gentagne, længe udholdte Lyd af Ordet Coraç-o. - Min Hukommelse fløj tilbage til van der Leetes Landsted, i Naboens Have. Natten efter vor første og sidste Sammenkomst havde jeg hørt disse sørgmodige Toner. (Blicher 2007: 83) Ich erkannte sie an der schwermütigen Nationalmelodie und an den melancholischen, wieder‐ holten, lang ausgehaltenen Lauten des Wortes Coraç-o. - Meine Erinnerung flog zurück zu van der Leetes Landsitz, in den Garten des Nachbarn. In der Nacht nach unserer ersten und letzten Zusammenkunft hörte ich diese traurigen Töne. Coraç-o - Herz - nur dieses eine Wort versteht Johan, doch muss er weitere Worte nicht verstehen, um Sulamith in die Seele und ins Herz zu blicken, oder vielmehr: zu horchen. Ihr Innerstes, das in der kurzen Unterhaltung über den Gartenzaun hinweg keinen Ausdruck in der Sprache fand, drückt sich nun in der Musik aus, die mit ihrem Atem direkt aus ihrem Herzen zu kommen scheint. Kehle, Atem, Seele - das hebräische Wort nefesch trägt diese Bedeutungen, die nicht voneinander zu trennen sind, die als eins gedacht werden und schließlich das gesamte Wesen, das Dasein einer Person umfassen (vgl. Bibel 2011: 1822-1823). Und auch die dänischen Wörter für Atem (ånde) und Geist (ånd) entstammen einer gemeinsamen Wurzel (vgl. Bøggild 2009: 206). In Sulamiths Gesang erklingt also ihr ganzes Selbst, ihr innerstes Wesen. Beide, Sulamith und Johan, befinden sich in einer teils selbstgewählten, teils auferlegten Abgeschiedenheit an einem Ort, der sie durch einen ganz unwahrscheinlichen Zufall zusammengebracht hat. Und doch bleiben sie vorerst getrennt voneinander, weiß nur einer von der Anwesenheit der anderen. So hat die Leserin einerseits die nächtliche Szenerie eines abgelegenen, windumtosten, dänischen Herrenhauses vor Augen, den hereinbrechenden Winter, dessen Kälte auch vor den Innenräumen des Schlosses nicht haltmacht. Andererseits ist diese Szenerie erfüllt von südländischer Musik, mit der Imagination einer dunkelhaarigen Jüdin, die versonnen von der Liebe singt und erneut an das Hohelied Salomos erinnert, in dem die Frauenstimme klagt: In meinem Bette suchte ich,/ Die lange Nacht,/ Den meine Seele liebet -/ Ich suchte ihn und fand ihn nicht. / / Ich will aufstehn nun,/ Die Stadt umgehn, In den Strassen,/ In den Gassen,/ Und suchen ihn,/ Den meine Seele liebet; / Ich suchte ihn und fand ihn nicht./ / Mich fanden die Wächter, Die die Stadt umgehn: „Den meine Seele liebet,/ Sahet ihr ihn? “ (Hld 3,1-3; Herder 1992: 27) Sulamith ahnt nichts von ihrem Zuhörer, der Zeuge ihrer Sehnsucht ist. Sie spielt für keinen Zuhörer und so wird die Musik zum unverstellten Ausdruck ihrer Seele. Somit hört Johan ebenso in Sulamiths Seele, wie der junge Künstler Veit in Ingemanns Novelle Den gamle Rabbin in die Seele Benjamines blickte (vgl. Kapitel 2.4). Obwohl es hier Sulamith ist, die sich durch die Kunst ausdrückt, bezeugen ihre musikalischen Fertigkeiten jedoch nicht 86 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 11 Dieses Motiv findet sich auch im Roman Guldmageren von Carsten Hauch (vgl. Kapitel 5.5.3). etwa ihr Genie. Ihre Kunst dient allein dem Ausdruck ihrer schönen Seele. Die Stimme ist Teil ihres Körpers und als solcher für den verborgenen Zuhörer lesbar wie alle anderen äußeren Zeichen ihrer inneren Schönheit es sind. Sie erschafft kein eigenes Kunstwerk, keine Komposition, keine Dichtung, sondern die Melodie, die sie singt, ist als Volkslied erkennbar. 11 Sie offenbart gerade in ihrem schlichten Charakter und der wehmütigen portugiesischen „Nationalmelodie“ die Unverstelltheit und Reinheit der musizierenden Jüdin und stellt zugleich ihre südländische, als exotisch aufgefasste Herkunft heraus. Der Text ist für den heimlichen Zuhörer nicht verständlich, der Inhalt reduziert sich auf das einzige Wort, das er versteht - Herz -, und das nicht mit körperlichem Verlangen, sondern mit reiner Liebe assoziiert wird. Ein eigenes Begehren hat sie, im Gegensatz zu ihrem biblischen Vorbild, nicht. Jene Sulamith nämlich artikuliert sehr wohl ihr eigenes Begehren nach dem Mann, den sie liebt: Sein Haupt das feinste Gold,/ Seine Locken kraus,/ Und schwarz, wie ein Rabe./ / Seine Augen wie die Täubchen über Quellen,/ […] Seine Wangen sind wie Blumenbeete,/ […] Seine Lippen Rosen,/ […] Sein Bauch ein lauteres Elfenbein,/ […] Seine Schenkel Marmorsäulen/ […] Sein Gaume Süßigkeiten,/ […] Mein Lieber, er ist mein,/ Der unter den Rosen weidet. - - (Hld 5,11-16; Herder 1992: 42-43) Während also im Hohelied Salomos beide Liebenden einander auch sexuell begehren und ihr Begehren in ähnlichen Beschreibungen der körperlichen Schönheit des jeweils Anderen zum Ausdruck bringen, gibt es diese Gleichwertigkeit männlichen und weibli‐ chen Begehrens in Blichers Novelle nicht, womit diese allerdings keine Ausnahme in der Literatur des Romantik und des frühen 19. Jahrhunderts darstellt. Eine der wenigen Ausnahmen ist Ingemanns dramatisches Gedicht Salomons Ring [Salomons Ring; 1839] mit seinem lyrischen Vorspiel ‚Salomons Ungdomskjærlighed eller Sulamiths og Salomons Sange‘ [‚Salomons Jugendliebe oder Sulamiths und Salomons Gesänge‘] (Ingemann 1853: 149-176). Dieses lyrische Vorspiel ist eine Bearbeitung der Hoheliedlyrik, in der die Figuren Salomon und Sulamith gleichermaßen sowohl eine begehrende Stimme haben als auch begehrt werden. Als Verarbeitung der Hoheliedlyrik ist dieser Text jedoch in seiner Form und Sprache so nah an sein biblisches Vorbild angelehnt, dass von einer eigenen Figurengestaltung kaum die Rede sein kann. In Jøderne paa Hald wird die Liebesgeschichte zwischen Sulamith und Johan durch Sulamiths Jüdischsein nicht nur orientalisiert und erotisiert, sie wird auch dramatisiert. Denn dieses Jüdischsein macht die Differenz zwischen der Jüdin und dem Christen so groß, dass die Liebe zunächst unmöglich, das Begehren Johans unerfüllbar erscheint. Die Figur der Sulamith changiert zwischen der - innerhalb der Novelle - realen jungen Frau und der Imagination der antiken hebräischen Geliebten Salomos. Die Verbindung zum biblischen Text heiligt und erotisiert die Jüdin gleichermaßen. Die Figur der Sulamith ist - ähnlich der Figur Benjamine in Den gamle Rabbin - eine Projektionsfläche für christlich-männliche Begehrens- und Bekehrungsphantasien. 87 3.5 Sulamith - die orientalisierte Jüdin DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Doch ganz so einfach macht es Blicher sich und seinem Lesepublikum nicht. Denn auch von Johan ahnen die Lesenden mittlerweile, dass er zumindest eine jüdische Mutter haben könnte. Obwohl er seine Mutter und ihre Religionszugehörigkeit nicht kennt, weiß er bereits: „min Moder var jo ikke af min Faders Tro [Meine Mutter war ja nicht von meines Vaters Glauben]“ (Blicher 2007: 77). So lässt die Novelle zwar zeittypische Geschlechterbilder unhinterfragt, in der Frage nach der religiösen Zugehörigkeit hingegen gibt sie sich progressiv, wenn Johan ausruft: „milde Himmel! af hvad Tro er da Kærlighed? [Gütiger Himmel! welchen Glaubens ist die Liebe? ]“ (Blicher 2007: 77) . Die Liebe selbst ist nicht an Religion gebunden, denn sie verbindet Sulamith und Johan ebenso wie einst Johans Eltern, bleibt aber unmöglich. Dennoch nimmt die Novelle eine Hierarchisierung der Glaubensbekenntnisse vor. Argumente und Einsicht führen nämlich zur Überzeugung der jüdischen Figuren, dass das Christentum die überlegene und zukunftsweisende Religion sei. Und dann wird auch die Liebe endlich möglich. 3.6 Erneuerung des Judentums Die beiden jüdischen Brüder Joseph und Salamiel suchen eines Nachts den alten Rittersaal des Schlosses, in dem auch die drei eingangs beschriebenen Porträts ihren Platz gefunden haben, zu einem heimlichen Gespräch auf. Hier diskutieren sie über religiöse und gesell‐ schaftspolitische Fragen, über Fragen der Emanzipation und Assimilation, wobei Joseph eine Konversion zum (evangelischen) Christentum anstrebt, während Salamiel zunächst am Judentum festhält, sich aber im Gesprächsverlauf für die Argumente seines Bruders öffnet und sich schließlich nachdenklich zurückzieht. Bei ihrem Gespräch werden sie von Johan belauscht, der mittlerweile sein unterirdisches Versteck verlassen kann, da er einen geheimen Laubengang entdeckt hat. Dieser führt direkt in den großen Rittersaal, in dessen vermeintlicher Abgeschiedenheit die heimliche Unterredung stattfindet. Formal fällt zunächst die Länge der Passage auf. Der Abschnitt, der die Unterhaltung schildert, ist mit rund viereinhalb Seiten Umfang mit Abstand der längste Tagebucheintrag der Binnenhandlung. Auch wurden bis dahin kaum und wenn, dann nur sehr kurze Dialoge zwischen den Figuren wiedergegeben, hier nun wird die Figurenrede nur kurz von wenigen beschreibenden Passagen unterbrochen. In dieser Szene lernt die Leserin die beiden Juden, die bisher nur über die Porträtbeschreibungen zu Beginn der Novelle eingeführt worden waren, selbst kennen und findet den Eindruck, den die Beschreibung der Porträts vermittelt haben, zunächst bestätigt. Deutlich werden die Eigenschaften der beiden Brüder, die bereits in den Porträtbeschreibungen antizipiert wurden, wieder aufgenommen. Joseph spricht „med sit sædvanlig Smil [mit seinem gewohnten Lächeln]“ und unterbricht seinen Bruder „mildeligt [mild]“. Der springt erregt von seinem Stuhl auf, geht „nogle Gange heftigt frem og tilbage [einige Male heftig hin und her]“, wirft sich dann wieder auf seinen Stuhl „og stirrede tavs og mørk hen for sig [und starrte stumm und finster vor sich hin]“ (Blicher 2007: 84-85). Joseph spricht in ruhiger Weise mit Salamiel, während dieser erneut aufsteht und zwar nicht antwortet, doch im Laufe des Gesprächs „endnu hastigere frem og tilbage [noch hastiger auf und ab]“ geht (Blicher 2007: 86). Salamiel ist aufgebracht, wütend, dann wieder sprachlos - und seine Gründe sind ebenso nachvollziehbar wie Esaus Wut über den 88 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 12 Zur Verwendung des Gottesnamens ‚Jehova‘ in der Figurenrede jüdischer Figuren in Texten nicht-jüdischer Autoren vgl. Kapitel 2.3.1, Fußnote 5. Verrat, die der Autor-Erzähler der Rahmenhandlung schon in Salamiels Porträt bemerkt hatte. Salamiels Zorn richtet sich gegen die Unterdrückung und Verfolgung, denen Juden seit Jahrhunderten durch Christen ausgesetzt sind. Er sieht es als erstrebenswertes Ziel, sich mit Hilfe des Reichtums, den die Juden im Übermaß besäßen, mit vereinter Kraft und gesammeltem Kapital aus der Unterdrückung zu befreien: „Sig mig oprigtig, Broder! “ sagde Salamiel, „er det ikke Guld og Sølv, som regerer Verden? For disse Metaller kan jeg skaffe mig Huse og Jorder, Skibe, Vaaben - ja selv Soldater. Er det ikke dem, der har gjort os til Herrer af denne gamle Ridderborg og et Par Tusinde Bønder til vore livegne? Og kan vi ikke, hvilket Øjeblik vi vil, ved disse samme Midler opsvinge os til danske Grever eller Baroner? Ja, er det ikke endogsaa muligt paa Trappetrin af Guld at bestige en Trone? “ (Blicher 2007: 84) „Sag mir aufrichtig, Bruder! “ sagte Salamiel, „sind es nicht Gold und Silber, die die Welt regieren? Für diese Metalle kann ich Häuser und Land erwerben, Schiffe, Waffen - ja, selbst Soldaten. Sind sie es nicht, die uns zu Herren dieser alten Ritterburg gemacht haben und ein paar Tausend Bauern zu unseren Leibeigenen? Und können wir nicht, wann immer wir wollen, uns mit denselben Mitteln zu dänischen Grafen oder Baronen aufschwingen? Ja, ist es nicht sogar möglich, auf Stufen aus Gold einen Thron zu besteigen? “ Weder Salamiel stellt die Annahme in Frage, die Juden verfügten über einen außerordent‐ lichen Reichtum, noch Joseph, der ihm entgegensetzt: „Vort Folk er det rigeste og - det afmægtigste paa Jorden. Har alle vore Gulddynger hidtil kunnet købe os en eneste Plet Jord, som vi turde kalde vor egen? [Unser Volk ist das reichste und - das machtloseste auf Erden. Haben all unsere Goldhaufen uns bisher ein einziges Fleckchen Erde beschaffen können, das wir wagen würden, unser Eigen zu nennen? ]“ (Blicher 2007: 84). Salamiel sieht die Vereinigung aller Juden als Ausweg aus der Verfolgung und Unterdrückung und, so formuliert es Kjærgaard, „plæderer for en aggressiv, tilnærmelsesvist zionistisk løsning på diasporaens problem [plädiert für eine aggressive, nahezu zionistische Lösung für das Problem der Diaspora]“ (Kjærgaard 2013: 116). Joseph wiederum hält seinem Bruder entgegen, dass die 1500 Jahre währende Diaspora und Verfolgung der Juden durch die Christen „siden Stjernens Søn forgæves opofrede fem Hundrede Tusinde af sine Brødre [seit der Sternensohn vergeblich fünfhunderttausend seiner Brüder opferte]“ (Blicher 2007: 85) möglicherweise „Jehovas Vilje [ Jehovas Wille]“ (Blicher 2007: 84) sei. 12 „Stjernenes Søn“ - Sohn der Sterne - ist die Übersetzung des Namens Bar Kochba (vgl. Blicher 2007: 85), auf den Joseph nun im Gespräch mit Salamiel Bezug nimmt, und an den sich bereits der Autor-Erzähler der Rahmenhandlung bei der Beschreibung des Porträts von Salamiel erinnert sah. Im Gesprächsverlauf vertritt Joseph immer deutlicher die Ansicht, dass sich im Erscheinen Jesu Christi sämtliche Vorhersagen der Propheten erfüllt hätten und dass die Juden im Unrecht waren, als sie Jesus nicht als Sohn Gottes und den ihnen verheißenen Messias anerkannt hatten. Im Triumph des Christentums sieht er den Beweis für dessen theologische Richtigkeit. Im Dialog zwischen Joseph und Salamiel geht es trotzdem nur oberflächlich um einen Glaubenskonflikt zwischen Judentum und Christentum, denn 89 3.6 Erneuerung des Judentums DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 13 Gutsche zieht in ihrer Untersuchung das Fazit: „Die Figur des Juden wird hier [innerhalb der kon‐ fessionellen Auseinandersetzung] zum Dritten, an dem sich die Wahrheit der eigenen Überzeugung erweist“ (Gutsche 2014: 384). In der Analyse von Carsten Hauchs Roman Guldmageren in Kapitel 5 wird ausführlich dargestellt, in welcher Form der interkonfessionelle Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten Teil des philosemitischen Diskurses ist. das Judentum stellt in diesem Gespräch überhaupt keine theologische Alternative zum Christentum dar. Vielmehr werden die christlichen Konfessionen, das heißt die römisch-ka‐ tholische Kirche und die evangelischen Kirchen, einander gegenübergestellt. 13 Als Salamiel gegen das Christentum einwendet, „de kristne […] har omgjort deres Religions Lys til en Mordbrænderfakkel; paa Enden af deres Hyrdestav har de fæstet en Bøddeløkse; de fængsler og piner, de myrder og brænder - ej alene fremmede - men deres egne Børn [die Christen haben das Licht ihrer Religion in eine Mordbrennerfackel verwandelt; am Ende ihres Hirtenstabs haben sie eine Henkersaxt befestigt; sie sperren ein und peinigen, sie morden und brennen - nicht allein Fremde, auch ihre eigenen Kinder]“, antwortet Joseph: „Det er da kun de romerske, Broder! [Das sind allein die Römischen, Bruder! ]“ (Blicher 2007: 87). Im Prinzip seien trotz der Aufsplitterung der Kirche die christlichen Konfessionen „alle Dele af et eneste hele [alle Teil eines einzigen Ganzen]“. Die Neigung zur Gewalt hingegen „ligger i Menneskets skrøbelige Natur [liegt in der schwachen Natur des Menschen]“, nicht in der Religion selbst begründet (Blicher 2007: 86). Eine Auseinandersetzung mit dem Judentum und dessen theologischen Inhalten findet nicht statt. Salamiel verteidigt gegenüber seinem Bruder zwar das Festhalten am Judentum, doch sind es weniger theologische Überzeugungen als vielmehr „politiske Drømme [politische Träume]“ (Blicher 2007: 85), die er vorbringt. Nicht religiöse Gründe treiben ihn an, nach der Errichtung eines jüdischen Staates zu streben, sondern allein sein (als legitim dargestellter) Wunsch, der Verfolgung und Vertreibung in der Diaspora zu entkommen. Joseph weiß dagegen einzuwenden, dass die Juden inzwischen längst Teil derjenigen Nationen seien, in denen sie leben und fragt: „Hvo skal nu samle et Folk, der er adspredt over den ganske Jordens Kreds? der ved Sprog og Sæder er mere fremmed for hinanden indbyrdes end for de Nationer, blandt hvilke det lever? [Wer soll nun ein Volk sammeln, das über den ganzen Erdkreis verteilt ist? das in Sprache und Sitten einander fremder ist als den Nationen, unter welchen sie leben? ]“ (Blicher 2007: 85). Allein die Überwindung des Judentums und die Einsicht, dass das Festhalten am Judentum ein Irrtum gewesen sei, werden auch der Ausgrenzung ein Ende bereiten, so Josephs Konklusion. Die jüdischen Figuren dienen als Projektionsfläche des christlichen Autors, der durch sie seiner eigenen Position und Perspektive Ausdruck verleiht. Kjærgaard (2013: 117) bezeichnet die Figur Joseph sogar als Sprachrohr („talerør“) Blichers und legt dar, dass die Argumente, die Joseph in dieser Szene gegenüber Salamiel vorbringt, weitestgehend den Positionen entsprechen, die Blicher in seinen 1813 publizierten Beiträgen zur „literarischen Judenfehde“ vertritt. Insofern ist die Lesart der Novelle als politische Schrift im literarischen Gewand nicht ungerechtfertigt. Allerdings bleiben in dieser Deutung die Komplexität des Textes und die Ambivalenzen, die den Text auch literarisch interessant machen, unberücksichtigt. Denn obwohl der Text scheinbar eine klare Position für Joseph bezieht, indem er ihn als den überlegenen Diskutanten darstellt, dessen Argumente am Ende der 90 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 14 Auf die Redewendung nehme ich weiter unten Bezug. Novelle in die Konversion münden, drückt die Figur des Johan, der das Gespräch voller Spannung verfolgt, Sympathie und Respekt für beide aus: „En særegen Følelse drager mig til disse Jøder. Oprigtige, ædeltænkende Mennesker! De leder ærlig efter Sandhed - Gud give, de maa finde den! [Ein sonderbares Gefühl zieht mich zu diesen Juden. Aufrichtige, edel denkende Menschen. Sie suchen ehrlich nach der Wahrheit. Gott gebe, sie mögen sie finden! ]“ (Blicher 2007: 88). Der Novellentext bevorzugt also keineswegs Joseph gegenüber Salamiel, wie es der Vergleich zwischen den Argumenten der fiktiven Brüder und den politischen Schriften Blichers nahezulegen scheint. Die Ambivalenz, die bereits in der Porträtbeschreibung auffällt, bleibt auch im politischen Disput der beiden Brüder erhalten. Sie wird weiter verstärkt, als unmittelbar auf die nächtliche Unterhaltung der Brüder eine weitere Passage folgt, in der die scheinbar eindeutige Einteilung der Brüder in den Assimilationsbefürworter und den Assimilationsgegner infrage gestellt wird. In dieser Passage unterhalten sich zwei Hausangestellte im selben Saal und werden dabei ebenfalls heimlich von Johan belauscht. 3.7 Geglückte Akkulturation I: Typisch dänisch! Nicht nur der Ich-Erzähler Johan steht beiden Brüdern gleichermaßen aufgeschlossen und freundschaftlich gegenüber. Auch über zwei andere Figuren vermittelt die Novelle ihren Lesern mehr Widersprüche und Ambivalenzen in der Anlage der Figuren, als es die Szene der nächtlichen Unterredung selbst tut. Zwei Abende nach der Unterhaltung der Brüder lauscht Johan erneut einem Gespräch, diesmal zwischen zwei Hausangestellten, dem Jäger Mikkel und der alten Else, die Johan beide noch als ehemalige Bedienstete seines Vaters, des früheren Schlossverwalters, kennt. Sie sind ehrliche und zuverlässige Angestellte, wodurch ihr Urteil über Joseph und Salamiel glaubwürdig erscheint. Zudem liegen sie in ihrer Einschätzung von Johan und seinem Vater richtig, glauben nicht an den Betrug, der ihnen zu Last gelegt wird, sondern stehen ihren ehemaligen Vorgesetzten nach wie vor loyal gegenüber. Der Anlass, über ihre beiden jüdischen Herren zu reden, ist der Rest des Bratens, der vom Abendessen an der Tafel des Rittersaals übriggeblieben ist. Den Hirsch hat Salamiel geschossen, der kurz zuvor gemeinsam mit Mikkel auf der Jagd war. Mikkel ist an diesem Abend in Begleitung des Jagdhundes Belle und wirft dem herumspringenden Tier ein Stück Fleisch zu. Dabei findet er bewundernde Worte für die Jagdkunst Salamiels: „Der! “ sagde han, „du har Part i Bukken, du drev galant med ham, gamle Belle! og din Husbond skød ham akkurat. Fanden staar i den Jøde, han er næsten lige saa god Kristen som vi andre, Else! han ryger sin Pibe, drikker sin Dram og fletter hollandske Eder af sig saa store som pommerske Bjælker.“ (Blicher 2007: 89) „Da! “ sagte er, „du hast Teil an dem Bock, du hast es galant mit ihm getrieben, alte Belle! und dein Herr hat ihn genau getroffen. Der Teufel sitzt in dem Juden, er ist fast so gut Christ wie unsereiner, Else! er raucht seine Pfeife, trinkt seinen Schnaps und flicht holländische Schwüre, so groß wie pommersche Balken.“ 14 91 3.7 Geglückte Akkulturation I: Typisch dänisch! DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 15 Eine dritte Lesart nimmt Tudvad vor. Er versteht wiederum die Figur des Johan als Blichers „alter ego i novellen [Alter Ego in der Novelle]“ (Tudvad 2010: 339). Das Bild, das Mikkel in wenigen Worten von Salamiel zeichnet, hat wenig gemein mit dem Salamiel, der zwei Nächte zuvor noch mit aufgebrachten Gesten Verfolgung und Unterdrückung beklagt, seine Vorstellung von einer jüdischen Nation gegenüber Joseph verteidigt und eben gerade nicht die Akkulturation oder gar Assimilation in die christliche Mehrheitsgesellschaft angestrebt hatte. Der Salamiel, den Mikkel beschreibt, ist nicht nur ein hervorragender Jäger, er ist auch sonst äußerst akkulturiert. Pfeife zu rauchen und Schnaps zu trinken kann als Zeichen für eine wohlsituierte (und nebenbei als typisch dänisch verstandene) Bürgerlichkeit interpretiert werden. Auch die Jagd ist ein gesellschaftlich hoch angesehenes Freizeitvergnügen, wobei hier gleichzeitig auch das Esau-Motiv nochmals anklingt, denn der kam hungrig von der Jagd, als sein Bruder ihn um sein Recht betrog. Daneben trägt Salamiels Neigung zur Jagd auch autobiografische Züge, denn Blicher selbst war ebenfalls ein leidenschaftlicher Jäger. H. P. Rohde beschreibt Blichers Jagdlust als eine, die sich auf Tiere und Geschichten gleichermaßen bezog: Blicher havde altid nydt det frie omstrejfende liv på heden med bøssen på nakken. Men var han jæger i sind og skind, har det måske nok så ofte været mennesker eller en god snak, han jagtede, som dyrene. (Rohde 1977: 13) Blicher hat immer das frei umherstreifende Leben auf der Heide mit der Büchse auf der Schulter genossen. Er war Jäger mit Leib und Seele und vielleicht eben so oft auf der Jagd nach Menschen oder einem guten Gespräch wie nach den Tieren. Die autobiografische Lesart der Figur Salamiel betont Wilhelm Chraska: „Ein gefangener Vogel! Blicher wollte gern wie Salamiel ausfliegen, um die Welt zu erobern - aber er anerkennt doch die Ordnung der Welt und räumt mit einem Seufzen ein, seinen Traum nicht realisieren zu können“ (Chraska 1986: 176). Salamiels Schritt zur Konversion am Ende der Novelle ist also Chraska zufolge der Einsicht geschuldet, sich der Welt und ihrer Ordnung unterordnen zu müssen. Diese Ordnung vertritt Joseph, doch die Sympathien des Textes - und, wie Chraska argumentiert, auch des Autors - liegen bei der Figur Salamiel. Wenn Kjærgaard nun vornehmlich die Figur Joseph als Blichers Sprachrohr interpretiert, mag das biografische Detail der Jagdleidenschaft verdeutlichen, wie schwierig diese vermeintlich eindeutige Identifikation mit nur einer der beiden jüdischen Figuren ist. 15 Die Novelle stellt Salamiel als den menschlicheren und fassbareren der beiden Juden dar, als denjenigen, der Vorlieben nicht nur mit seinem Autor, sondern möglicherweise auch mit seinen Lesern teilt. Denn der Novellentext macht deutlich - allen guten Argumenten Josephs zum Trotz -, dass es Salamiel ist, der bereits deutlich weiter in die christliche Gesellschaft, in der er lebt, akkulturiert ist als Joseph. Vor allem ist der Fokus auf den Gebrauch der Sprache im oben genannten Zitat bemerkenswert. Die sprichwörtlichen holländischen Schwüre, die Salamiel flicht, groß wie Pommersche Balken, hat Blichers Übersetzer Kruse nicht ins Deutsche übertragen. In seiner Übersetzung „spricht [Salamiel] ebenso gut auf holländisch, wie wir in unserer Sprache“ (Kruse/ Blicher 1831: 281). Frei ins Deutsche übertragen lässt sich der Satz jedoch so verstehen: Salamiel kann auf Holländisch fluchen, dass sich die Balken biegen. Ein Kompliment zweifellos, denn Mikkel selbst flucht ebenfalls häufig und kreativ, 92 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) beispielsweise wenn er Else liebevoll „dit gamle Orgelværk [du altes Orgelwerk]“ schimpft (Blicher 2007: 89). Ein Jude, der nach erfolgreicher Jagd mit einer Pfeife im Mund und einem Schnapsglas in der Hand virtuos und sprachgewandt auf Niederländisch flucht? Wie fügt sich dieses Bild zusammen mit dem Bild des Aufständischen Bar Kochba oder mit dem betrogenen und zornigen Esau oder mit dem grimmigen Gesicht unter dem traditionellen jüdischen Pelzhut auf dem Porträt? 3.8 Geglückte Akkulturation II: Typisch holländisch! Bereits vor dieser Szene, noch ehe Johan die beiden Brüder und später dann Mikkel und Else belauscht, gibt der Text einen Hinweis darauf, dass Salamiel am gesellschaftlichen Leben in Amsterdam teilhat. Über Josephs Leben in Amsterdam erfährt die Leserin nichts, was sich außerhalb der Geschäftswelt abspielt. Als Johan erstmals, seit er eingemauert wurde, sein Versteck verlässt und den (scheinbar) verlassenen Saal im Nordostflügel des Herrenhauses betritt, erblickt er die Porträts des Unbekannten - an dieser Stelle wird dem Lesepublikum offenbart, dass es sich bei dem Unbekannten um den Vater Johans handelt - und der Brüder Joseph und Salamiel. Die beiden Juden, die er in seinen Rückblicken auf die Ereignisse weder in Amsterdam noch bei ihrer Ankunft auf Hald erkannt zu habe schien, sind ihm nun, beim Betrachten der Gemälde, ganz vertraut. Zunächst erkennt er das Bild „Joseph Limas, den gode, ærlige Joseph, som han hedder paa Børsen og alle Kontorer. [ Joseph Limas, der gute, ehrliche Joseph, wie er an der Börse und in allen Kontoren genannt wird.]“ Dann wandert der Mondstrahl weiter und beleuchtet „[e]ndnu et Portræt! der er Broderens; ved første Øjekast genkender man den barske, trodsige, fremfusende Salamiel, den bedste Billardspiller og forvovneste Skøjteløber i Holland [noch ein Porträt! es ist das des Bruders; auf den ersten Blick erkennt man den schroffen, trotzigen, aufbrausenden Salamiel, den besten Billardspieler und verwegensten Schlittschuhläufer in Holland]“ (Blicher 2007: 82). Der trotzige Salamiel, der auf seinem Bildnis kampfbereit nach dem Dolch in seinem Wams zu greifen scheint, der wieder und wieder mit den Attributen der Widerspenstigkeit ausgestattet wird, der sich in seiner Unterredung mit seinem Bruder deutlich von der christlichen Mehrheitsgesellschaft distanziert und gegen Taufe und Assimilation Stellung bezieht, wird ganz beiläufig als bester Billardspieler und verwegenster Schlittschuhläufer Hollands betitelt. Dieser unscheinbare Nebensatz hat es in sich. Um in den Ruf als bester Billardspieler Hollands zu kommen, muss Salamiel regelmäßig und aktiv am gehobenen gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Er entspricht also mit seiner Freizeitgestaltung gerade nicht dem negativ gefärbten Bild, das die Novelle an anderer Stelle, bei der Beschreibung seines Porträts und in der Dialogszene mit seinem Bruder, von Salamiel entwirft. Sein Leben in Amsterdam deckt sich weder mit dem Bild des unterdrückten und gesellschaftlich ausgeschlossenen Juden noch mit der Vorstellung eines Aufständischen, der die Errichtung eines jüdischen Staats anstrebt. Salamiel wird vielmehr durch wenige Sätze als aktiver, akkulturierter und geselliger Teilnehmer am sozialen Leben in Holland und Dänemark markiert. Im Gegensatz zu Joseph, der mit stereotypen Zuschreibungen als ‚edler Jude‘ markiert wird und dabei recht charakterlos bleibt, entzieht sich Salamiel jeglicher Stereo‐ typisierung als edle Judenfigur. Seine Leidenschaft für Billard und den Eissport, für die Jagd 93 3.8 Geglückte Akkulturation II: Typisch holländisch! DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 16 Der Novellentext spricht stets von ‚Holland‘ und ‚holländisch‘. Ich verwende in meinen Überle‐ gungen zumeist die Bezeichnungen ‚Niederlande‘ und ‚niederländisch‘. Dabei beziehe ich mich nicht auf den heutigen Staat Niederlande, sondern auf die Region, die zur Blütezeit der niederländischen Landschaftsmalerei und zur Entstehungszeit der Novelle auch Flandern umfasste. 17 „Kolf gehörte damals zu den beliebtesten Eisvergnügen in Holland. Es war der Vorläufer des modernen Golf und in gewissem Sinn auch des Eishockeys“ (Budde 2001: 70). und für Pfeife und Schnaps und nicht zuletzt seine Begabung im kreativen Umgang mit der holländischen Sprache sind im Gegenteil höchst individuelle Charaktermerkmale. Dadurch gewinnt die Figur - im Gegensatz zu ihrem blassen und stereotypen Bruder - an Kontur und Tiefe. 3.8.1 Holländisches Eisvergnügen Das Schlittschuhlaufen kann als eine der niederländischsten Kulturtechniken und Frei‐ zeitvergnügen überhaupt verstanden werden. Zwar war auch in Skandinavien das Schlittschuhlaufen bekannt, bereits die nordischen Götter sollen auf Schlittschuhen da‐ hingeglitten sein (vgl. Budde 2001: 79), doch zur Blüte gelangte das Eislaufen in den Niederlanden. 16 Deutlich zeigt sich das in der Malerei. Kaum ein niederländischer Land‐ schaftsmaler des 17. Jahrhunderts, der nicht einen zugefrorenen Fluss mit schlittschuhlau‐ fenden Menschen gemalt hat. Bereits in der Renaissance bei Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel d. Ä. wird schlittschuhgelaufen, später dann bei Malern wie Henrik Avercamp, Jan van Goyen und Aert van der Neer: elegant gekleidete Herrschaften neben einfachen Bauersleuten, sanft dahingleitende Schlittenfahrer neben strauchelnden Schlittschuhläu‐ fern, Händler auf Kufen neben kolfspielenden 17 Grüppchen mit Holzschlägern in der Hand. Ein Wintervergnügen für Jeden und Jede, gleich welchen gesellschaftlichen Standes, welchen Alters, welcher Religion, welchen Geschlechts - denn auch Frauen war das Schlittschuhlaufen in den Niederlanden gestattet, wo sie sich anderswo im Schlitten über das Eis schieben oder ziehen lassen mussten (vgl. Budde 2001: 79; Koolhaas 2010: 21). Das Eislaufen war also eine integrative Kulturtechnik, in dem der Gedanke der Egalität einen frühen und sportiven Ausdruck fand. Zugleich steht das Eislaufen mit der Reformation und der neuen calvinistischen Lehre im Zusammenhang. Als mit der Reformation der katholische Karneval als Zeit der Katharsis untersagt wird, tritt an die Stelle des Karnevals, der für eine begrenzte Zeit die gesellschaftlichen Hierarchien - zumindest scheinbar - ignoriert und durcheinandergebracht hatte, nun verstärkt das Eislaufen als Winterver‐ gnügen mit kathartischem Charakter (vgl. Koolhaas 2010: 21). Ende des 17. Jahrhunderts verliert das Schlittschuhlaufen aufgrund ökonomischer Krisen und milder Winter langsam an Popularität, doch wurde es mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wiederentdeckt und findet sich im 19. Jahrhundert schließlich auch in der Malerei, besonders prominent in den Landschaftsbildern von Andreas Schelfhout, wieder (Koolhaas 2010: 23). Sowohl in der Zeit der Binnenhandlung der Novelle, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als auch zur Zeit ihres Erscheinens, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist also das Eislaufen ein populäres Freizeitvergnügen, das eng mit den Niederlanden verbunden ist. In der Novelle wird Holland mit seiner Eislaufkultur als Ort der geglückten Emanzipation und als Ort der Religionsfreiheit ausgemacht und somit zum Vorbild für Dänemark erklärt. 94 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 18 Die Bezeichnung „Portugiese“ für sephardische Juden war bis ins 19. Jahrhundert hinein in Dänemark üblich (vgl. Buckser 2003: 22; Haxen 2001: 487). Vor allem ist, wer Schlittschuh läuft und sich sogar den Ruf als bester Schlittschuhläufer Hollands erworben hat, kein gesellschaftlicher Außenseiter, sondern verhält sich „typisch holländisch“ und eben nicht „typisch jüdisch“. Auch wenn Juden in den Niederlanden durchaus Schlittschuhlaufen durften, galten sie kaum als besonders eifrige Eisläufer. Ein niederländisches Sprichwort, das im 19. Jahrhundert populär war, mag dies verdeutlichen: „Als de Joden gaan schaatsen, zitten er balken onder het ijs [Wenn die Juden schlittschuh‐ laufen gehen, sitzen Balken unter dem Eis]“ (Koolhaas 2010: 55-56). Aus dem Sprichwort lässt sich zweierlei erkennen: Offenbar nahmen auch die niederländischen Juden am Eisvergnügen teil. Aber sie galten - wenigstens sprichwörtlich - als so vorsichtig und wenig risikofreudig, dass sie die Letzten waren, die sich überhaupt auf das Eis wagten, eben erst, wenn sich sprichwörtlich Balken unter dem Eis befanden. Salamiel wagt sich aber nicht nur aufs Eis, sondern ist hier gar der Verwegenste von allen. Ausgerechnet in diesem niederländischsten aller niederländischen sportlichen Vergnügungen also ist Salamiel, ein Jude, der Beste, nicht nur in Amsterdam, sondern in ganz Holland. Eine Kulturtechnik, die nur dort möglich ist, wo die Winter kalt und lang sind - eine klimatische Eigenschaft, die gemeinhin vor allem dem nördlichen Europa zugeschrieben wird -, beherrscht ein sephardischer Jude, ein sogenannter „Portugiese“, 18 besser als alle anderen. Wenngleich sich Salamiel im Dialog mit Joseph also scheinbar der Akkulturation und der Anpassung an sein christliches und winterlich-unterkühltes Nordeuropa verweigert (die Niederlande seien aufgrund des Klimas, zumal während der sogenannten kleinen Eiszeit, in diesem Kontext ausnahmsweise einmal Nordeuropa zugeordnet), so zeigt doch die kleine Randbemerkung über seine Eislaufkünste, dass er offenbar viel mehr in seinem nordeuropäischen Kontext akkulturiert ist, als er im Gespräch vorgibt zu sein. So wie das vermeintlich ungebrochen positive Bild des Joseph also immer wieder durch negative Zuschreibungen ins Wanken gebracht und somit als Bild entlarvt wird, wird hier nun umgekehrt die Vorstellung von Starrköpfigkeit und Akkulturationsunwillen unterwandert, indem Salamiel durch die Perspektive der anderen Figuren als längst vollkommen akkultu‐ riert geschildert wird. Im nächtlich belauschten Dialog mit seinem Bruder besteht Salamiel zwar auf sein Judesein, ist aber längst Teil der niederländischen Gesellschaft, in der er lebt. Die kulturelle Nähe zwischen Dänemark und den Niederlanden wiederum hebt Mikkel hervor, der nicht nur Salamiels Sprachgewandtheit beurteilen kann, sondern auch mit ihm auf die Jagd geht und mit Schnaps und Pfeife Insignien dänischer Gemütlichkeit mit der Figur Salamiel verbindet. 3.8.2 Das Eis als Ort der Konversion Zu welchem Zeitpunkt Salamiel sich schließlich von der Konversion überzeugen lässt, lässt der Text im Verborgenen. Im Gespräch mit seinem Bruder bleibt er seiner Position treu und zieht sich schließlich nachdenklich zurück. Am Ende der Novelle erfährt Johan jedoch, dass die ganze jüdische Familie geschlossen zum Christentum konvertieren wird. Salamiels Sinneswandel wird nicht erzählt, doch ein Ereignis mag es der Leserin plausibel 95 3.8 Geglückte Akkulturation II: Typisch holländisch! DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) machen. Auch hier spielt das Eislaufen eine Rolle. Denn Hollands bester Schlittschuhläufer bricht ins dänische Eis ein - was sich durchaus auch sinnbildlich als Kritik am dänischen Staat deuten lässt. Der einzige Zeuge dieses Unglücks ist der verborgene Ich-Erzähler der Binnenhandlung. Gerade hatte Johan die Hoffnung aufgegeben, sein unterirdisches Versteck jemals verlassen zu können, und sich entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, als er Salamiel auf dem Eis entdeckt: Lyden nærmer sig - det er ham - det er Salamiel! med sammenslyngede Arme laverer han i vældige Svingninger. - Farvel, du sidste menneskelige Væsen, mine Øjne her faar at se! - Han løber lige hen mod Rørholmen; der er Væld underneden - et farligt Stød [sic! Sted], før Solhverv er gaaet. Jeg vil raabe til ham gennem mit Glughul - han har hørt det - han standser og ser sig om - nej! nu fortsætter han sit Løb - Himmel! han synker. - (Blicher 2007: 93) Das Geräusch nähert sich - es ist er - es ist Salamiel! mit verschlungenen Armen kreuzt er in kräftigen Schwüngen über das Eis. - Lebwohl, du letztes menschliche Wesen, das meine Augen sehen wird! - Er läuft direkt auf den Rohrholm zu; es liegt eine Quelle darunter - vor der Wintersonnenwende eine gefährliche Stelle. Ich will ihm durch mein Guckloch zurufen - er hat es gehört - er hält an und dreht sich um - nein! nun setzt er seinen Lauf fort - Himmel! er sinkt. - Auf diese Weise ist Johan gezwungen, sein Versteck zu verlassen, um Salamiel vor dem Ertrinken zu retten. Er riskiert damit nicht nur sein Leben (dem er ohnehin gerade ein Ende setzen wollte), sondern er riskiert auch, des Diebstahls und Verrats bezichtigt und öffentlich gehängt zu werden oder alternativ das Ansehen seines in Geldnot geratenen Vaters zu schädigen. Durch Salamiels Einbrechen ins Eis werden Christ und Jude einander unverhofft zum Retter. Im Rückblick auf den entscheidenden Moment, schreibt Johan in sein Tagebuch: Da jeg krympede mig under Prøvelsen, da min svage Haand formastede sig til at ville gribe Hold i dit Tugtens Ris, da min Sjæl forkastede Haabet og vendte sig i Fortvivlelse fra din Himmel - da var den allerede aabnet over mig, og Glædens Sol smilede over mit Fængsel. Kun et Par Øjeblikke, og det forfærdelige var sket - men derfor sendte du mig en frelsende Engel; derfor maatte Salamiel ud paa Søen; derfor maatte Isen briste under ham - o Gud! hvor underlige er dine Veje! de er alle Kærlighed. (Blicher 2007: 93-94) Als ich mich unter der Prüfung krümmte, als meine schwache Hand sich erdreistete, Halt in Deiner Zuchtrute zu suchen, als meine Seele die Hoffnung verwarf und sich in Verzweiflung Deinem Himmel abwandte - da war er schon geöffnet über mir, und die Freudensonne lächelte über meinem Gefängnis. Nur ein paar Augenblicke und das Furchtbare wäre geschehen - aber deshalb hast Du mir einen erlösenden Engel geschickt; deshalb musste Salamiel hinaus auf den See; deshalb musste das Eis brechen unter ihm - oh Gott! wie wunderbar sind Deine Wege! sie sind alle Liebe. Der Jude Salamiel, der den Namen eines biblischen Propheten, aber auch eines gefallenen, von Gott verstoßenen Engels trägt, wird zum rettenden Engel Johans. Und der Christ Johan, in dessen Namen Johannes der Täufer (aber auch der Apostel und der Evangelist) 96 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) anklingt, wiederum wird zum Retter Salamiels. Auf dessen Frage, wer denn sein „dyrebare Redningsmand [teurer Retter“] sei, antwortet Johan ihm: „En død, som frelste en levende [ein Toter, der einen Lebenden errettet hat]“ (Blicher 2007: 94). So erklärt Salamiel seiner erstaunten Familie dann auch: „[H]vorledes han er kommet her, det maa Gud vide, der sendte ham til min Frelse [Wo er hergekommen ist, das weiß Gott, der ihn zu meiner Rettung geschickt hat]“ (Blicher 2007: 94). Die Rolle des rettenden Engels ist gegenseitig und in beiden Fällen sowohl körperlich als auch theologisch zu verstehen. Der im doppelten Sinne „Gefallene“ wird vom Christen ins Leben zurückgeholt, und der lebendig Begrabene, dessen Selbstbezeichnung als „Gravens Søn, Dødens fortrolige [Grabessohn, Vertrauter des Todes]“ (Blicher 2007: 81) ebenfalls eine Nähe zur Unterwelt suggeriert, wird vom Juden zurück unter die Lebenden geholt. Die entscheidende interreligiöse Begegnung, die durch die Verwendung der Begriffe ‚Engel‘ (Engel) und ‚Frelse‘ (Erlösung/ Rettung) in die Nähe eines christlichen Erweckungserlebnisses gerückt wird, geschieht also auf dem Eis. Die Novelle hat bis zu diesem Zeitpunkt eine klare Hierarchie der beiden Religionen untereinander hergestellt. Hier auf dem Eis, als Jude und Christ einander retten, sind die Hierarchien zwischen beiden aufgehoben, stehen beide einander gleichrangig gegenüber. Die Novelle antizipiert in ihrem Verlauf, von der Beschreibung des Joseph-Porträts über die Dialogszene zwischen den Brüdern bis zur Ankündigung der Konversion, den Weg der jüdischen Figuren ins Christentum. Diese Passage hingegen, in der die doppelte Rettung erzählt wird, entzieht sich dem ansonsten stringenten Verlauf der Novelle und stellt beide Figuren als einander ebenbürtig und frei von religiösen Hierarchien gegenüber. Diese Gleichheit auf dem Eis kann wiederum als notwendige Voraussetzung für die Konversion verstanden werden. Der Kunsthistoriker Michael Budde findet in der bildlichen Darstellung der schlittschuhlaufenden Bevölkerung in den Niederlanden deutlichen Bezug zur calvinistisch-protestantischen Kirche. Über das Gemälde Winterlandschaft mit Schlitt‐ schuhläufern bei Sonnenuntergang von Aert van der Neer, entstanden um 1655/ 60, im Besitz der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, schreibt er: Eine Bildsituation, wie van der Neer sie präsentiert, zieht den religionshistorischen Hintergrund der Reformation in den Blick. Glaubensfreiheit war das zentrale Novum im calvinistisch domi‐ nierten Holland. […] Das Gemälde vermittelt ein Bild dieser neuen Gesellschaft, des reformierten Menschen, der gewissermaßen in Selbstbestimmtheit verantwortlich handelt. Das Kirchengebäude im Bildhintergrund verstand sich nach wie vor als Sinnbild der Gemeinschaft der Gläubigen, der Institution stehen jedoch die Menschen voran. Als These könnte man formulieren: das Bildthema handelt von einer reformatorisch geprägten Ecclesia auf dem Eis. Gleich, ob von Aert van der Neer intendiert oder nicht, die Aussage teilt sich in Rückschau auf den Geist der Zeit mit. (Budde 2001: 77) Das Eis steht gleichermaßen für Religionsfreiheit und für die Überlegenheit der Kirche, die diese Glaubensfreiheit gewährt. So lassen sich auch Salamiels Teilnahme am Amsterdamer Eisvergnügen und seine Meisterschaft in dieser Disziplin nicht nur als Beleg für seine gesellschaftliche Akzeptanz, sondern auch bereits für die Anbahnung seines religiösen Überzeugungswechsels lesen. Mit dem Unfall und der Rettung Salamiels durch den jungen Christen wird der Wechsel endgültig vollzogen. Dass Salamiel ins Eis einbricht, zeigt aber auch, dass er mit seiner Einschätzung des Eises - und im übertragenen Sinne der 97 3.8 Geglückte Akkulturation II: Typisch holländisch! DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) dänischen Staatskirche - zunächst falsch liegt und einer konkreten physischen Rettung durch einen Christen bedarf. Einerseits stellt das Eis also einen symbolischen Ort der Glaubensfreiheit dar, die durch den Bezug zu den Niederlanden als spezifisch protestanti‐ sche Tugend gekennzeichnet ist. Dadurch geschieht eine Abgrenzung zum Katholizismus, während Calvinismus und Luthertum als einander verwandte evangelische Konfessionen ausgemacht werden. Andererseits mündet das Schlittschuhlaufen für Salamiel zweifach ins Verschwinden des Judentums, nämlich indem er sich erstens auf dem Eis nicht wie der sprichwörtlich ängstliche Jude verhält und dieses Verhalten zweitens zwar zum Einbrechen ins Eis, schließlich aber zur Rettung durch einen Christen und in die Konversion führt. 3.9 Überkreuzungen Die Liebe zwischen Sulamith und Johan, die eheliche und sexuelle Verbindung zwischen ihnen, wird in der Novelle doppelt legitimiert, bedarf offenbar dieser doppelten Legitimie‐ rung. Wie die Rettung Johans und Salamiels eine doppelte Rettung darstellt, in der beide Figuren Retter und Geretteter zugleich sind, wird nun die Jüdin zur Christin und der Christ zum Juden. Und doch bleiben beide dank der Zuschreibungen, mit denen sie gestaltet sind, gleichzeitig was sie waren: ‚schöne Jüdin‘ und ehrenwerter Christ. 3.9.1 Johan und die jüdische Familie Gerade als Johan zurück unter die Lebenden gekehrt ist, um ein Leben zu retten, und von den verwunderten Schlossbewohnern zu seinem plötzlichen Erscheinen befragt wird, trifft ein Brief von Johans Vater ein. Darin schickt er das fehlende Geld und erklärt sein langes Fernbleiben: In Amsterdam angekommen, wurde er krank und fand sich, als er aus dem Koma erwachte, in der pflegenden Obhut seiner verloren geglaubten Jugendliebe Eva wieder. Sie wiederum ist die Schwester von Joseph und Salamiel, eine Jüdin also, und die Mutter von Johan. Nach Johans Geburt war sie von ihrem Vater genötigt worden, ihren Geliebten, ihren illegitimen Sohn und auch ihr Elternhaus zu verlassen. Dieser Vater ist mittlerweile gestorben und Eva nach Amsterdam zurückgekehrt (Blicher 2007: 95-97). So erfährt Johan durch den Brief im Beisein der jüdischen Familie, dass er eine jüdische Mutter hat, somit also nach traditioneller jüdischer Auffassung selbst Jude ist, und dass Joseph und Salamiel darüber hinaus seine leiblichen Onkel sind. Als Johan glücklich Sulamiths Hand ergreift und fragt: „Er jeg da ikke en af Deres nu? [Bin ich nun nicht einer von Euch? ]“, liest Johan die Antwortet „straks […] i hendes kærlige Øjekast [sogleich in ihrem zärtlichen Blick]“. An ihrer Stelle antwortet Sulamiths Schwester, die Frau Josephs: „Og mere end De maaske tror, […] thi vi er alle bestemte paa at antage en Religion, om hvis Sandhed min Joseph har overbevist os [Und mehr als Sie vielleicht glauben, denn wir alle haben uns entschlossen, eine Religion anzunehmen, von deren Wahrheit mein Joseph uns überzeugt hat]“ (Blicher 2007: 98). Es geschieht also eine überkreuzte Bewegung, die die Liebe zwischen Johan und Sulamith aus beiden Richtungen legitimiert: Der Christ wird durch seine Genealogie zum Juden, die Jüdin durch Konversion zur Christin. Diese Entscheidung ging zwar nicht von ihr selbst aus, sondern wurde von Joseph getroffen. 98 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 19 Auch beim Kaufmann von Venedig zeigt der Blick auf die nicht-jüdischen Figuren, dass vermeintlich „jüdische“ Eigenschaften auf christliche Figuren übertragen werden (vgl. Nirenberg 2015: 275-304). Doch ist Sulamith durch den Text bereits ausreichend als ‚Seelenchristin‘ markiert und ihre Konversion dadurch längst antizipiert. Joseph nimmt hier die Rolle des weisen Patriarchen ein, als den ihn schon der Autor-Erzähler in der Porträtbeschreibung identifiziert hat. Sein Entschluss, den er durch Argumente seiner Familie nahegelegt hat, legitimiert seinerseits die Liebe zwischen seiner jungen Schwägerin und seinem Neffen. Einen Glaubens- und Loyalitätskonflikt, wie ihn Ingemanns Benjamine in Den gamle Rabbin und Andersens Sara in Jødepigen durchleiden, bleibt Sulamith erspart. 3.9.2 Johans Eltern Johans Vater wiederum teilt in seinem Brief mit, dass auch Eva und er nun geheiratet haben. Bemerkenswert erscheint, dass eine Konversion hier nicht erwähnt wird. Ist Eva bereits getauft? Oder kann ihre Konversion einfach stillschweigend vorausgesetzt werden, wo am Ende doch alle jüdischen Figuren ausdrücklich konvertieren? Schenkt man noch einmal der ambivalenten Darstellung von Johans Vater Beachtung, lässt sich eine weitere Überlegung anstellen. Während die anderen Figuren Namen tragen, die sie als jüdisch oder christlich markieren, bleibt Johans Vater namenlos und somit in dieser Hinsicht nicht kategorisierbar. Zwar ist er explizit nicht Jude, sondern Christ, doch wird er literarisch mit Eigenschaften und Zuschreibungen belegt, die als „jüdisch“ gelesen werden können. Die Betrachtung der Porträtbeschreibung hat bereits deutlich die Nähe zum Ahasverus-Topos offengelegt. Auch andere Eigenschaften, die typischerweise jüdischen Figuren zugeschrieben werden und mit dem Ahasverus-Topos verknüpft sind, finden sich in der Darstellung des Vaters wieder: Während die anderen Figuren im Handlungsgeschehen stets anwesend sind, zunächst in Amsterdam, dann auf Schloss Hald, ist Johans Vater stets abwesend. Rastlosigkeit, sonst eine geläufige Zuschreibung auf jüdische Figuren, zeichnet hier den Christen aus. Ähnliches ist für seine Verbindung zum Geld zu konstatieren: In Amsterdam hat Johans Vater Schuldner, von denen er sein geliehenes Geld zurückfordert, um seine eigenen Schulden zu begleichen. Zwar ist er ohne bösen Willen in Geldnot geraten, doch hat sein Verhalten seinen Sohn in Lebensgefahr gebracht, der sich als lebendes Pfand in den Keller des Schlosses hat einmauern lassen. Die Verbindung zwischen Geldgeschäften und der Gefahr tödlicher körperlicher Folgen ist spätestens seit Shakespeares Kaufmann von Venedig ein Topos der literarischen Darstellung von Juden. 19 Hier nun ist die christliche Figur in Geschäfte verwickelt, die ebenfalls beinahe tödlich enden. Offenbar produzieren die jüdischen Figuren in der Novelle einen Überschuss an Asso‐ ziationen und Zuschreibungen, der hier auf eine andere, eine christliche Figur überspringt. Somit wird die Figur des eigentlich nicht-jüdischen Vaters gewissermaßen literarisch judaisiert. Auf diese Weise ist die Ehe mit einer jüdischen Frau, der Mutter Johans, literarisch ausreichend legitimiert und kann am Ende, nach über 20 Jahren, geschlossen werden. Am Schluss wenden alle Schicksale sich also zum Guten. Die Schulden sind beglichen, Johan ist gerettet, er hat am Ende Vater und Mutter wieder und darf die Frau heiraten, die er 99 3.9 Überkreuzungen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) liebt. Die Juden werden zu Christen, und als eine Familie werden alle zusammen Hald in Richtung Amsterdam verlassen. Über den Spuk jedoch lassen Autor-Erzähler und Ich-Erzähler ihre Leserinnen noch immer im Unklaren. Johan zieht sich für eine letzte Nacht in sein unterirdisches Verlies zurück, um seinen Bericht zu Ende zu schreiben, damit er eines Tages gefunden werde und den Leser lehre, „at Himmelen har endnu Frelse, selv naar Haabet svigter det fortvivlede Hjerte [dass der Himmel auch dann noch Erlösung bietet, wenn die Hoffnung das verzwei‐ felte Herz verrät]“ (Blicher 2007: 98). Die Tagebuchseiten bleiben im Kellergewölbe zurück und können daher nicht mehr vom Gelingen der Familienzusammenführung berichten. Das glückliche Ende liegt also in der Zukunft, außerhalb der Novelle und muss von der Leserin ergänzt werden. In diesem unerzählt bleibenden Ende liegt nun die Möglichkeit, den Spuk und darüber hinaus auch die jüdischen Figuren als Fiktion zu entlarven. 3.10 Literarische Selbstreflexivität Bevor das Tagebuch überhaupt vom Autor-Erzähler der Rahmenhandlung gefunden wird, nimmt es einen Umweg und befindet sich fast ein ganzes Menschenleben lang im Besitz des alten Fischers, mit dem der Autor-Erzähler auf seinem Morgenspaziergang in der Rahmenhandlung der Novelle ins Gespräch kommt. Der Fischer erzählt, er habe als Kind Frondienst leisten und beim Abriss des alten Herrenhauses mitarbeiten müssen. Dabei habe er im Keller des Gebäudes einige alte Blätter gefunden, die er dem Autor-Erzähler gern überlassen werde, wenn dieser ihm nach Hause folgen wolle. Im Haus des Fischers sitzt dessen Frau gerade am Spinnrad. Beim Betreten der Stube erblickt der Autor-Erzähler zwei Köpfe - nach dem abgeschlagenen Kopf auf dem Schreibtisch des spukenden Schreibers schon wieder Köpfe! -, die nebeneinander „paraderede [paradierten]“: „Fiskerkonens og Rokkens [der der Fischersfrau und der des Rockens]“ (Blicher 2007: 71). Der Kopf des Spinnrockens ist mit der alten Schrift umwickelt, lose Papierseiten, die ein Behältnis für den Flachs bilden, den die Fischersfrau verspinnt. Diese Schrift, „en Slags Dagbog [eine Art Tagebuch]“, ist verfasst „i det hollandske Sprog [in der holländischen Sprache]“ (Blicher 2007: 71). Die Fischersleute können sie nicht lesen und haben auch niemals ein Interesse an dem Text entwickelt, obwohl sie ihn schon fast ihr ganzes Leben lang besitzen. Den Autor-Erzähler aber erfasst wohliges Schaudern, „der løb mig som en krillende Kulde ned ad Ryggen, og antikvarisk Vellyst sammenpressede Blodet omkring mit Hjerte [das mir wie eine kitzelnde Kälte den Rücken hinablief, und antiquarische Wollust presste das Blut um mein Herz herum zusammen]“ (Blicher 2007: 71). Die Situation, in der er die Tagebuchseiten auffindet - die Fischersfrau am Spinnrad, der Kopf des Rockens neben ihrem Kopf, der Flachs, der zu einem Faden gesponnen wird -, erklärt den Spuk ausdrücklich zur Fiktion, zu Seemannsgarn und Spinnerei, zur Kopfgeburt der einfachen Landbevölkerung. Zugleich fungieren die Fischersleute als Hüter und Überlieferer dieser alten regionalen Schauerge‐ schichten, freilich ohne deren Wert erkennen zu können. Erst in den Händen des Dichters werden diese Geschichten zur Literatur, bleiben dabei aber unmissverständlich Fiktion. Der Autor-Erzähler selbst stellt seinem Lesepublikum gegenüber den Wahrheitsgehalt seiner Erzählung in Frage, denn „Sandhed og Fantasi er ikke lette at adskille hos Folk af min 100 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Profession; undertiden formaar vi det ej engang selv. Man kan saa tit gentage en Løgn, til man selv tror den [Wahrheit und Fantasie sind nicht leicht voneinander zu trennen bei Leuten meiner Profession; von Zeit zu Zeit vermag ich es nicht einmal selbst. Man kann so oft eine Lüge wiederholen, bis man sie selbst glaubt]“ (Blicher 2007: 71). Zwar beteuert der Autor-Erzähler: „Saa meget er vist, at Hald med dets Omvigelser samt de tre forhen beskrevne Billeder eksisterer endnu og kan af enhver behaglig tages i Øjesyn, og at Haandkriftet - skønt noget defekt - findes nu - i ‚Nordlyset‘ [So viel ist gewiss, dass Hald und seine Umgebung samt der drei vorhin beschriebenen Bilder noch immer existieren und von einem Jeden behaglich in Augenschein genommen werden kann, und dass die Handschrift - wenn auch etwas defekt - jetzt in ‚Das Nordlicht‘ zu finden ist]“ (Blicher 2007: 71). Doch sind damit allein das Schloss und die Gemälde als „wahr“ markiert, nicht die literarischen Figuren, die ihre Inspiration aus den Gemälden bezogen haben. So entlarvt die Novelle nicht nur sich selbst und die in ihr erzählten Spukgeschichten als Fiktion, sie markiert auch die Darstellung der jüdischen Figuren als fiktiv und ermöglicht es so, vermeintlich gesicherte Vorannahmen der Lesenden über Jüdinnen und Juden infrage zu stellen - innerhalb der Literatur und außerhalb. 3.11 Assoziationsüberschuss Salamiel, Joseph und Sulamith ermöglichen das Erzählen einer Geschichte mit ganz unterschiedlichen Themen und Motiven, die mit Juden und Jüdinnen assoziiert sind. Durch die Ansiedlung einer kosmopolitischen jüdischen Familie aus den für seine religiöse Toleranz bekannten Niederlanden wird ein Kontrast zu den immer wieder aufkeimenden judenfeindlichen Übergriffen und Debatten in Dänemark hergestellt. Die religiöse Toleranz, die hier proklamiert wird, hebt zwar die Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum und die nahe Verwandtschaft zwischen beiden Religionen hervor. Aber die Novelle führt ihre jüdischen Figuren auf direktem Weg ins Christentum. Die Toleranz ist an die Erwartung der baldigen Assimilation geknüpft. Über diese politisch-religiöse Botschaft hinaus erlauben die jüdischen Figuren jedoch auch das Erzählen unwahrscheinlicher Geschichten an einem unwahrscheinlichen Ort: Die Jüdin Sulamith macht das Erzählen einer orientalisch anmutenden Liebesgeschichte mitten in einer einsamen winterlichen Provinz in Dänemark möglich. Jütland wird dadurch als exotischer Ort markiert und zugleich als erzählenswerter Teil Dänemarks literarisch aufgewertet. Die jüdischen Figuren eröffnen eine Vielzahl an Assoziationsräumen, die nicht weiter erläutert oder explizit gemacht werden müssen. Das bewusste oder unbewusste Wissen um diese verschiedenen Topoi kann beim Lesepublikum des 19. Jahrhunderts vorausgesetzt und leicht aktiviert werden. Dadurch bringen die jüdischen Figuren einen literarischen Überschuss in die Novelle, der auch auf andere, nicht-jüdische Figuren überspringt. Am Ende sind alle Figuren mit Zuschreibungen „des Jüdischen“ belegt, egal wie widersprüchlich diese auch ausfallen mögen. Johan wird mit körperlichen Markern als Jude gekennzeichnet, noch ehe er von seiner jüdischen Mutter weiß. Sein Vater hingegen, der keine biologische Verbindung zu einer jüdischen Familie hat, wird mit diskursiven Markern „judaisiert“. Salamiel und Joseph werden als Gegensatzpaar, in dem sich positiv wie negativ konnotierte Zuschreibungen 101 3.11 Assoziationsüberschuss DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 20 Ähnliche Überlegungen zum Begehren und Begehrtwerden formulieren Theisohn und Braungart (2017b: 12). manifestieren und überkreuzen, in die Novelle eingeführt. Der religiöse Weg der jüdischen Figuren bestätigt das (protestantische) Christentum dabei als überlegene und zukunfts‐ weisende Religion. Das Judentum stellt ausschließlich eine literarische Möglichkeit zur Figurengestaltung und zum Erzählen einer unwahrscheinlichen Geschichte dar. Der Spuk aber verlangt weiterhin nach einer Erklärung, die sich aus der Handlung der Novelle nicht erschließen lässt und die erst der hier beschriebene Assoziationsüberschuss geben kann. Er gelangt durch die jüdischen Figuren in die Novelle. Durch die literarische „Judaisierung“ der christlichen Figuren ist es möglich, diese beiden Christen, Johan und seinen Vater, schließlich doch als die beiden ahasverisch Spukenden auszumachen. Die (nur fast fatalen) Schicksale von Vater und Sohn sind aneinandergekoppelt, daher sind sie es, die hier spuken. Doch da nicht Johan im Kellerverlies des Schlosses zurückbleibt, sondern allein sein Tagebuch - so wie nicht Johans Vater, sondern dessen Bild im Schloss zurückbleibt - ist es vielmehr die unabgeschlossene Erzählung selbst, die den Spuk evoziert und deren unruhiger Geist sein nächtliches Unwesen treibt. Denn das Tagebuch wartet 150 Jahre lang eingemauert und unvollendet auf die Entdeckung durch seinen Leser und kann erst in dem Moment fertig erzählt werden, als es von einem Dichter gefunden, entziffert, übersetzt, in eine Rahmenhandlung eingebettet, veröffentlicht und schließlich von der Leserin gelesen und somit vollendet wird. So thematisiert die Literatur als Kunstform sich selbst und ihre eigene Literarizität und stellt die schöpferische Leistung des Autors hervor, der wiederum von seinem Leserpublikum die gedankliche Weiterführung der Erzählung einfordert. Mit Blick auf die geschichtswissenschaftliche und philologische Rezeptionsge‐ schichte der Novelle zeigt dieses komplizierte Konstrukt aus Dichtung und Überlieferung, Regionalgeschichte, Gesellschaftspolitik, Selbstreflexivität und expliziter Einbeziehung der Rezipient*innen, wie bereichernd eine literaturwissenschaftliche Perspektive auch auf Texte mit vermeintlich eindeutiger politischer Botschaft ist. Als Text innerhalb dieser Untersuchung vermag die Novelle erste Antworten zu geben auf die Frage, was jüdische Fi‐ guren für die Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts so populär machte: Sie bleiben Juden und Jüdinnen, solange von ihnen erzählt wird und lassen ihren Assoziationsüberschuss auf die nicht-jüdischen Figuren überspringen. Sie machen unwahrscheinliche Zusammenhänge plausibel und ermöglichen, abgeschiedene Orte im kühlen Norden mit Orientfantasien aufzuheizen und erzählerisch reizvoll zu machen. Als literarische Figuren sind sie begehrt, doch sie müssen dazu auch „uns“, die Nicht-Jüd*innen, begehren und so werden wollen wie „wir“. 20 Denn erst dann bestätigen sie „unsere“ eigene Überlegenheit - auch die: ein Phantasma. 102 3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 Anne Marie Ejrnæs’ biografischer Roman Som svalen (1986) befasst sich auf literarische Weise mit Gyllembourg und liegt auch in der Übersetzung von Sigrid Engeler mit dem Titel Wie die Schwalbe am Himmel (2000) auf Deutsch vor. 4 Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd: Jøden (1836) Um ein geheim gehaltenes Verwandtschaftsverhältnis zwischen Vater und Sohn geht es auch in Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärds Novelle Jøden [Der Jude; 1836]. Während jedoch in Blichers Jøderne paa Hald die späte Enthüllung von Johans jüdischer Herkunft eine zusätzliche Legitimierung der interreligiösen Liebe ist, wird eine solche Enthüllung in Jøden zur Bedingung für das Zustandekommen der Ehe. In dieser wie in jener Novelle wirft das Äußere der männlichen Protagonisten früh im Text Fragen über ihre Herkunft auf, kann von den Figuren jedoch nicht unmittelbar, sondern erst im Rückblick als „jüdisch“ gedeutet werden. Gyllembourg betreibt dabei kein Verwirrspiel zwischen Spuk- und Bekehrungsnovelle wie Blicher, sondern sie konfrontiert ihre Leserschaft am Ende ihrer realistischen Novelle unmittelbar mit der Frage, wann ein Jude ein Jude ist - und wann er seine Herkunft besser verleugnet. 4.1 Gyllembourg - die anonyme Realistin Erst im Alter von 54 Jahren hatte Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd (1773-1856) ihr literarisches Debüt - blieb dabei jedoch anonym - und erregte kurz darauf mit ihrer Novelle En Hverdags-Historie [Eine Alltags-Geschichte; 1828] ein solches Aufsehen, dass sie fortan als „Forf. til ‚En Hverdags-Historie‘ [Verf. von ‚Eine Alltags-Geschichte‘]“ publizierte (vgl. hierzu Heitmann 2015: 37-39). Etliche weitere Novellen folgten, doch erst nach ihrem Tod machte schließlich ihr Sohn, der Dichter Johan Ludvig Heiberg, die Autorinnenschaft seiner Mutter und ihren Namen öffentlich. Im Vordergrund der insgesamt recht überschaubaren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gyllembourg stehen überwiegend ihre weibliche Autorinnenschaft, biografische Aspekte sowie ihre Beziehungen zu den beiden berühmten schreibenden Männern in ihrer Familie, ihrem Sohn und ihrem ersten Mann Peter Andreas Heiberg (z. B. Broue Jensen 1997; Mortensen 1986; Nun 2013: 7-14; Penzold 2010: 201-361). 1 Dabei gelten Gyllembourgs Novellen in der dänischen und skandinavistischen Literaturwissenschaft „als paradigmatische Beispiele für die Poetologie eines frühen ‚poetischen‘ Realismus“ (Schiedermair/ Müller-Wille 2015b: 8; vgl. auch Schiedermair 2009: 217-221). Klaus Müller-Wille und Joachim Schiedermair betonen allerdings im Vorwort zur Anthologie Diskursmimesis. Thomasine Gyllembourgs Realismus im Kontext aktueller Kulturwissenschaften (Schiedermair/ Müller-Wille 2015a), dass dieser Realismus nicht etwa als „Mimesis der Wirklichkeit, sondern als Mimesis der Diskurse, die die jeweilige Diskursgemeinschaft für relevant erachtet“ zu verstehen sei (Schiedermair/ Müller-Wille 2015b: 8). Die Aufsätze in diesem Sammelband beleuchten verschiedene dieser Diskurse und erweitern damit den Blick auf das Werk der Autorin. Gyl‐ DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) lembourg thematisiert - was damals eine literarische Neuerung darstellt - in ihren Novellen das Alltags- und Familienleben und lässt dabei auch etliche komplexe Frauenfiguren die literarische Arena bevölkern. Dabei ist es vor allem die „theoretisch kalkulierte Konzeption“ (Müller-Wille 2016: 173), mit der ihre Texte dem damals noch jungen Konzept der Liebes‐ heirat nachgehen und mit der sie literarische Aufmerksamkeit erregt. Bemerkenswert erscheint dabei „i et forfatterskab, skrevet af en kvinde, at alle 1. person-fortællerne er mænd [in einem literarischen Œuvre, geschrieben von einer Frau, dass alle Ich-Erzähler Männer sind]” (Broue Jensen 1983: 35) und dass „lediglich ein einziger der insgesamt 29 Texte aus Gyllembourgs Hand weibliches Kunstschaffen auch auf der erzählten Ebene [behandelt]“ (Heitmann 2015: 38). 4.2 Jøden - Liebe, Kapital und ein bis zwei Juden Auch die Novelle Jøden kreist um die Liebesverhältnisse gleich mehrerer Figuren zuein‐ ander, im Zentrum steht dabei als Ich-Erzähler der junge Leutnant Fredrik Volmer. Ein weiterer Erzählstrang verfolgt die Geschichte seiner eigenen, ihm zu Beginn der Novelle noch unbekannten Herkunft. Beide Erzählstränge sind miteinander verbunden durch den Juden Joseph Branco, der als Jude im Titel der Novelle bereits darauf hindeutet, dass er entscheidend ist für den Verlauf der Handlung. Die Komplexität der Novelle und die nebeneinanderliegenden und sich erst zum Ende der Erzählung verzahnenden Erzählstränge der Handlung hat Joachim Schiedermair (2013) bereits herausgearbeitet. In seinem Aufsatz zeigt er die Auseinandersetzung der Novelle mit Shakespeares Kaufmann von Venedig auf, die insbesondere in den Figurenkonstellationen „eines Freundespaares, bei der dem einen (Carlsen) ein bestimmtes Kapital fehlt, um eine von vielen umworbene Dame (Nicoline) freien zu können, und bei der der andere (Volmer) das nötige Geld bei einem Juden (Branco) erbitten möchte“ zum Ausdruck kommt (Schiedermair 2013: 58). Gyllembourg entwirft mit der Figur des ‚edlen Juden‘ Branco - die feststehende Bezeichnung findet auch im Text selbst Verwendung (vgl. Gyllembourg 1867: 8) - ein Gegenbild zur Figur des Shylock und bedient sich hierbei eines anderen, nicht minder prominenten dramatisch-literarischen Vorbildes, nämlich Lessings Nathan der Weise. 4.2.1 Wohlstand und Emanzipation Die Novelle Jøden spielt in den letzten Jahren des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Kopenhagen. Der wohlhabende und wohltätige Jude Joseph Branco hat es geschafft, sich ein gewisses Maß an Ansehen und gesellschaftlicher Akzeptanz zu verschaffen. Vor allem durch seine Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Juden wie Christen und sein zurückgezogenes und bescheidenes Leben ist ihm dies gelungen. Sein bescheidenes Auftreten und die Vermeidung von Prahlerei und Verschwendung stehen im Kontrast zu seinem Vetter Moses, der als negativer Gegenentwurf zu Branco in einer kurzen Szene eingeführt wird (vgl. Gyllembourg 1867: 24-25). Während Moses das ökonomische System der Geldvermehrung verkörpert und somit - ähnlich den Söhnen des alten Rabbiners in Ingemanns Erzählung Den gamle Rabbin - ein negativ-stereotypes Bild von jüdischem 104 4 Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd: Jøden (1836) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Wohlstand verkörpert, entzieht Branco sich der Logik der monetären Gewinnmaximierung durch Zurückgezogenheit. Dass er dennoch eine besondere Beziehung zum Geld hat, zeigt sich nicht zuletzt in einer Glücksspielszene. Mehr genötigt als freiwillig nimmt Branco am Kartenspiel mit den christlichen Nachbarn teil, vermag es dann aber, aufgrund seines Geschicks, die Gewinne ausgeglichen an alle Mitspieler zu verteilen, so dass jeder am Ende den Betrag zurückerhält, den er zu Beginn verwettet hat (vgl. Gyllembourg 1867: 29-31). Hier zeigt sich also exemplarisch, dass ihm als Jude ein überragendes Geschick in Geldangelegenheiten zugeschrieben wird, dass es Branco dabei jedoch nicht an seinem eigenen Reichtum gelegen ist (vgl. Schiedermair 2013: 60) - wenngleich anzumerken ist, dass gerade sein Reichtum und damit seine finanziellen Möglichkeiten es sind, die die Handlung der Novelle vorantreiben und bestimmen. Tausch und Gabe bleiben in Jøden nicht allein auf den monetären Diskurs beschränkt, sondern, so macht Schiedermair in seinem Aufsatz deutlich, Gyllembourg bezieht in ihrer Novelle auch andere „Güter“, nämlich Frauen, Kinder, Freundschaften, in das System des (männlichen) Gabentauschs ein und verbindet in ihrer Erzählung zwei Emanzipationsdis‐ kurse miteinander: den der Juden und den der Frauen. Der Vorgesetzte des Ich-Erzählers Fredrik Volmer, Kommandeur Erlin, hat nämlich zwei Töchter, die jüngere Charlotte, die in Volmer verliebt ist, und die ältere Nicoline, die in Volmers Freund William Carlsen verliebt ist. Nicoline zeigt diese Liebe jedoch weder, noch gesteht sie sie sich selber ein. Stattdessen sorgt sie durch Koketterie gegenüber sämtlichen Verehrern für Verwirrung. So glaubt zu‐ nächst auch Volmer, er würde Nicoline lieben, was zu großem Liebeskummer bei Charlotte führt und dazu, dass diese überstürzt und verzweifelt in die Ehe mit einem weiteren (und weitaus weniger sympathischen) Freund Volmers, mit Leutnant Falk, einwilligt. Nicoline hingegen, weniger an der Ehe und der Liebe interessiert als ihre Schwester Charlotte, nennt zunächst gute Gründe, einer Ehe ablehnend gegenüber zu stehen, als sie im Gespräch mit ihrem Verehrer Leutnant Carlsen diesen auffordert at betænke, hvad det betyder for en ung Pige at give et uigjenkaldeligt Løfte, at sige et eneste Ord, der for Livstid bestemmer hendes Skjæbne, at forlade det Fædrenehuus, hvori hun har levet lykkelig og fri, og at underkaste sin Villie, ja sine Tanker, en Herres Dom og Godtbefindende, og det en Herres, mod hvem hun ingen Vaaben har, uden dem, han selv vil tilstaae hende. (Gyllembourg 1867: 87) zu bedenken, was es für ein junges Mädchen bedeutet, ein unwiderrufliches Versprechen abzu‐ geben, ein einziges Wort zu sagen, das auf Lebenszeit ihr Schicksal bestimmt, das Vaterhaus zu verlassen, in dem sie glücklich und frei gelebt hat, und ihren Willen, ja ihre Gedanken, dem Urteil und Gutdünken eines Herren zu unterwerfen, gegen den sie keine Waffen hat außer denen, die er ihr selbst zugesteht. Am Ende aber werden beide Frauen an den richtigen Mann „zurückgetauscht“, so dass Charlotte doch noch Volmer heiraten kann und Nicoline schließlich dessen Freund Carlsen. Dass Volmer und Charlotte heiraten können, ist wiederum nur einer Jahre zurückliegenden großzügigen Gabe von Volmers (Pflege-)Vater Branco zu verdanken, an die sich Falk im rechten Moment erinnert. Da er also noch in der Schuld Brancos steht, begleicht er diese Schuld nun durch den Verzicht auf Charlotte. Und so stellt Schiedermair fest: 105 4.2 Jøden - Liebe, Kapital und ein bis zwei Juden DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 2 Auch dem Juden in Ingemanns Novelle Den gamle Rabbin wird ein christlicher Arzt zum Helfer (vgl. Kapitel 2.3.3). Offenbar steht der Arztberuf für Unvoreingenommenheit, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit und für eine als naturwissenschaftlich verstandene Objektivität, die sich nicht durch die Herkunft oder Religionszugehörigkeit eines Menschen anfechten lässt. In Goldschmidts Roman En Jøde findet sich eine Passage, in der Mediziner folgendermaßen charakterisiert werden: „Blandt Studenterne ved Kjøbenhavns Universitet ere Medicinerne de muntreste og de, der nære de færreste Fordomme. De se i Mennesket kun det mer eller mindre gode Menneske, maaske endog kun det mer eller mindre gode Kadaver. Da en jødisk Tyfus behandles med de samme Medikamenter som en kristelig, da et jødisk Ben ikke er vanskeligere at afsave end et kristeligt, da endelig Musklerne og Nerverne ligge i samme Orden paa en Jøde som paa en Kristen, se de ikke den ringeste Grund til at gjøre Forskjel mellem Kristen og Jøde [Unter den Studenten an der Kopenhagener Universität sind die Mediziner die lustigsten und die, welche die wenigsten Vorurteile haben. Sie unterscheiden in der Menschheit nur mehr oder minder gute Menschen, vielleicht auch nur mehr oder minder gute Kadaver. Da ein jüdischer Typhus mit den gleichen Medikamenten behandelt wird wie ein christlicher, da man ein jüdisches Bein nicht anders absägen muß als ein christliches, da endlich Muskeln und Nerven bei einem Juden in gleicher Ordnung liegen wie bei einem Christen, sehen sie auch nicht den geringsten Grund, zwischen Christen und Juden einen Unterschied zu machen]“ (Goldschmidt 1927: 126-127; Goldschmidt 1992: 171, Übers. Ernst Guggenheim). Judenemanzipation und Frauenemanzipation sind […] in der Novelle miteinander verschränkt und zwar auf eine Weise, in der sich auch der ökonomische und der Gabendiskurs kreuzen. Ist für die Figur des Juden die Belebung der Gabenlogik gleichzeitig eine Möglichkeit aus dem Shylock-Stereotyp auszubrechen und Bündnisse des Vertrauens zu knüpfen und d. h. einen Schritt in Richtung Emanzipation zu gehen, ist für die Frau gerade der Gabenkomplex ein Phänomen des Patriarchalen und damit in emanzipatorischer Hinsicht kontraproduktiv. Anders als der Jude hat die Frau nicht ein monetäres Gabenarsenal, das immer neu strategisch zur Allianzbildung eingesetzt werden kann. Handlungsmacht erwächst ihr nur aus ihrem (jungfräulichen) Körper. (Schiedermair 2013: 67) Und so geht also auch die einstmals so widerspenstige Nicoline am Ende der Novelle gezähmt und freiwillig in die Ehe mit Carlsen, dem Mann, der sie jahrelang umworben und schließlich in gewisser Hinsicht - durch Tausch mit seinem Freund Volmer - erworben hat. Der Figur der Nicoline ist der Weg der Emanzipation am Ende also verwehrt, ihre scharfsinnigen und emanzipatorischen Entgegnungen auf die Besitzansprüche der sie umwerbenden Männer bleiben jedoch in der Novelle enthalten und dürfen auf Widerhall in den Lesenden hoffen. Der Jude Joseph Branco hat dank seines Kapitals größeren emanzipatorischen Handlungsspielraum, doch auch ihm ist am Ende der Novelle zwar der Respekt der anderen Figuren sicher, doch die leibliche Verwandtschaft mit Volmer macht Branco zu dessen Schutz und Wohlergehen lieber nicht öffentlich (vgl. Gyllembourg 1867: 140, 142, 149). 4.2.2 Religion - die Ringparabel Ein guter Freund und enger Vertrauter Brancos, der christliche Arzt Dr. Wille, 2 bedrängt Branco in einem vertraulichen Gespräch, er möge zum Christentum konvertieren, da Branco doch bereits lebe, denke und fühle wie ein Christ (vgl. Gyllembourg 1867: 45). Das Insistieren Dr. Willes gibt Anlass für eine Ausführung Brancos, in der er sein Verhältnis zu Judentum und Christentum erklärt (vgl. Gyllembourg 1867: 45-50). Dabei gewährt 106 4 Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd: Jøden (1836) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 3 Auf das deutlich frühere Auftreten einer positiven männlichen Judenfigur in der europäischen Literatur vor Gellert und Lessing macht Anna-Dorothea Ludewig aufmerksam. Bereits 1616 betritt in Spanien ein weiser Jude im Drama Las paces de los reyes y la Judía de Toledo [Die Versöhnung des Königspaares und die Jüdin von Toledo] von Lope de Vega die Bühne (Ludewig 2008: 7). Auch die berühmte Lessing’sche Ringparabel beruht auf einer mittelalterlichen Erzählung aus dem 14. Jahrhundert, der dritten Geschichte des Dekameron von Giovanni Boccaccio, von der es zu Beginn heißt: „Der Jude Melchisedech entgeht durch eine Geschichte von drei Ringen einer großen Gefahr, die ihm Saladin bereitet hat“ (Boccaccio 1921: 57). 4 Der Alchemist und Jude Benjamin de Geer wird als Kind von einem Christen gerettet, der allerdings mehr Pantheist als Christ ist, und wird schließlich selbst zum Wohltäter, der seinerseits sowohl in Not geratenen Juden als auch Christen hilft (vgl. Kapitel 5.3.1 und 5.4.2). 5 Das mag sicher auch im Schauplatz der Novelle begründet sein, Kopenhagen um 1800, wo Muslime nicht präsent waren. Auch andere Autoren, die das Motiv der Ringparabel aufgreifen, handhaben die dritte Religion flexibel und abhängig von Ort, Zeit und Kontext der Handlung. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der norwegische Dichter Henrik Wergeland (1808-1845). In seinem Gedicht De der Text ihm mit fast sechs Seiten viel Raum für seine Argumente, so dass die Passage wie in Jøderne paa Hald den Charakter einer „Sprachrohrszene“ hat und auch inhaltlich starke Ähnlichkeiten zu Blichers Novelle aufweist (vgl. Kapitel 3.6). Anders als bei Blicher mündet die Passage jedoch gerade nicht in eine Konversion, und auch Dr. Wille zeigt sich schließlich von Brancos Gründen überzeugt. Wie bei so vielen literarischen Judenfiguren liegt auch in Brancos Vergangenheit die Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung durch Christen. Als Kind und Jugendlicher lebte Branco seit dem Tod seiner Eltern in Armut und litt unter den Demütigungen, die ihm als Juden in Dänemark entgegengebracht wurden. Besondere Beachtung verdient hier nun der Umstand, dass ihm nicht dank eines christlichen Wohltäters das Überleben und der Aufstieg gelangen, sondern dank der Großzügigkeit eines anderen Juden. Dies ist äußerst ungewöhnlich, stellt doch in der literarischen Darstellung edler Judenfiguren die Rettung durch einen Christen die Regel dar. Bereits mit dem ersten Auftauchen von ‚edlen Juden‘ in der deutschen - und später auch dänischen - Literatur liegt in der Vorgeschichte des ‚edlen Juden‘ eine prägende Begegnung mit einem christlichen Wohltäter, 3 so in Christian Fürchtegott Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1748), in Lessings Lustspiel Die Juden (1749), seinem Drama Nathan der Weise (1779) und im Singspiel Chinafarerne [Die Chinafahrer; 1792] von Peter Andreas Heiberg (vgl. Räthel 2016: 108-132), dem ersten Ehemann Gyllembourgs. Mit Ingemanns Rabbiner Philip Moses, Blichers Kaufmann Salamiel Lima und Carsten Hauchs Goldmacher Benjamin de Geer 4 wird dieses Grundmuster wiederholt und variiert. Einen offenen Bruch mit diesem Schema vollzieht jedoch allein Gyllembourg. Branco ist ein guter Jude, nicht weil er Milde und Wohltätigkeit von einem Christen, sondern weil er sie von einem Juden empfangen hat. Gute Christen dienen hier nicht als moralische Leitfiguren. Brancos offenkundigstes Vorbild ist jedoch weniger innerhalb der Novelle selbst zu suchen, als vielmehr außerhalb des Textes, nämlich in Lessings Nathan der Weise. Nach Lessing’schem Modell wiegt Branco im Gespräch mit Dr. Wille drei religiöse Schriften und Anschauungen gegeneinander auf. Im Unterschied zur Ringparabel und deren vielfältig variierter Wiederkehr in der Vielzahl literarischer Werke, die den Nathan rezipieren, stellt Branco dem (lutherisch-evangelischem) Christentum und dem Judentum jedoch keine dritte monotheistische Religion gegenüber, sondern den Polytheismus der Antike. 5 107 4.2 Jøden - Liebe, Kapital und ein bis zwei Juden DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Tre [Die Drei] treffen ein Christ, ein Jude und ein Moslem in der arabischen Wüste aufeinander, diskutieren über ihre Religionen, beten schließlich gemeinsam und trennen sich in Frieden. In einem zweiten Gedicht, Kvindernde paa Kirkegaarden [Die Frauen auf dem Friedhof], treffen eine Jüdin, eine Protestantin und eine Katholikin auf einem Friedhof aufeinander und erkennen angesichts der Ewigkeit des Todes die Gleichwertigkeit ihrer Religionen (vgl. Wergeland 1919a: 21-27, 1919b: 363-373). 6 Es gibt in dieser Geschichte also zwei tote Frauen und ein totes Kind, die alle während oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Brancos Freund, der Arzt Dr. Wille, kannte beide Mütter und tauschte das tote Kind der unehelich geschwängerten und alleinstehenden Spanierin gegen Brancos und Rahels lebendes Kind aus, das übergangsweise zu einer Amme kam. Das tote Kind wurde gemeinsam mit Rahel beerdigt, das lebende Kind, Brancos und Rahels leiblicher Sohn Frederik Volmer, kam offiziell als Pflegekind zu Branco (vgl. Gyllembourg 1867: 141-148). Dadurch stellt er nicht nur den alleinigen Wahrheitsanspruch der einzelnen Religionen in Frage, sondern den Wahrheitsanspruch des Monotheismus an sich. Dem Judentum bleibt Branco dennoch treu. Seine Entscheidung ist dabei weniger religiös als vielmehr in der Verbundenheit zur Religion seiner Ahnen begründet. Überzeugt von Brancos weisen Ausführungen bezeichnet Dr. Wille ihn anerkennend als „Nathan den Vise [Nathan der Weise]“ (Gyllembourg 1867: 50) und nennt damit das literarische Vorbild, das der Text bisher nur angedeutet hattet, beim Namen. 4.2.3 Falsches Pflegekind - echter Sohn Die Anlehnung an die Figur des Nathan kommt nicht allein in Brancos Haltung gegenüber der Religion zum Ausdruck, sondern auch im Verhältnis zu seinem (Pflege-)Sohn. Hier übertrifft Branco sein literarisches Vorbild sogar noch an Edelmut. Lessings Nathan nimmt sich einer christlichen Pflegetochter an, obwohl sein eigenes Kind und seine Frau von Christen ermordet wurden, und zieht seine Pflegetochter Recha voll väterlicher Liebe auf. Zunächst scheint die Geschichte Brancos und seines Pflegesohnes ein Zitat der Geschichte Nathans und seiner Pflegetochter zu sein. Am Ende jedoch muss Branco zum Wohle seines Pflegesohns bekennen, dass dieser eben nicht nur ein Pflegekind, sondern sein leiblicher Sohn ist. Um ihn vor den Demütigungen und Diskriminierungen zu schützen, denen er selbst sein Leben lang als Jude ausgesetzt war, und um ihm ein glücklicheres Leben mit allen Rechten und Chancen zu ermöglichen, hat er sich nach dem Tod seiner Frau, die bei der Geburt des Kindes gestorben ist, entschieden, die Vaterschaft zu verleugnen und ihn offiziell als christliches Pflegekind mit dem Namen Fredrik Volmer anzunehmen (Gyllembourg 1867: 141-148). Der Plan geht solange auf, bis Volmer sich in die Tochter seines Vorgesetzten Kommandeur Erlin verliebt. Dieser wiederum ist nämlich überzeugt, dass Volmer sein unehelicher Sohn aus der Beziehung zu einer Spanierin ist, die ebenfalls bei der Geburt ihres Kindes verstorben ist. 6 Als Erlin mit allen Mitteln versucht, die Ehe zwischen seiner Tochter Charlotte und Volmer zu verhindern, im Glauben, die beiden seien Halbgeschwister, sieht sich Branco genötigt, zum Wohle seines Sohnes und Charlottes sein Geheimnis zu lüften. Mit der Geheimhaltung der Vaterschaft aus Liebe zum Kind zitiert und steigert die Novelle nicht nur Lessings Nathan und dessen vorbehaltlose Liebe zu seinem christlichen Pflegekind, sondern sie zeigt auch Parallelen zur biblischen Geschichte vom salomonischen Urteil über die beiden Frauen, die beide vorgeben, Mutter eines neugeborenen Kindes zu 108 4 Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd: Jøden (1836) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) sein. Eines von zwei Neugeborenen ist kurz nach der Geburt gestorben und nun behauptet die falsche Mutter, das lebende Kind sei ihres und das tote Kind gehöre zur anderen Frau. Als Salomon vorgeblich entscheidet, das lebende Kind mit einem Schwert in der Mitte teilen zu lassen, so dass beide Frauen jeweils eine Hälfte erhalten, überlässt die wahre Mutter ihr Kind lieber der anderen Frau, als es getötet zu wissen. Aus Liebe verzichtet sie also auf ihr Kind und die Anerkennung ihrer Mutterschaft - und beweist so, dass sie die wahre Mutter ist (1 Kön 3, 16-38). Mit dem (inszenierten) Tausch eines toten gegen ein lebendes Kind und mit Brancos Entscheidung, seine Vaterschaft zu verleugnen und sich „nur“ als Pflegevater um seinen Sohn zu kümmern, zitiert die Novelle auch diese Geschichte. Branco wird gleichermaßen zur liebenden Mutter, da er seine Elternschaft zu Gunsten des Sohnes geheim hält, und zum weisen Salomon, da er sich diese Entscheidung in weiser Voraussicht selbst auferlegt. 4.2.4 Erkennbarkeit des Juden Der Verdacht, Volmer könnte Brancos leiblicher Sohn sein, wird bei den Lesenden schon früh in der Novelle durch Volmers Aussehen geweckt. Sein dunkler Teint und seine schwarzen Haare, auch seine Gesichtszüge geben Anlass zur Spekulation über die Herkunft seiner Eltern. Volmer hingegen vermutet keineswegs in Branco seinen leiblichen Vater, sondern spekuliert auf spanische, italienische oder „kreolische“ Eltern, als sein Freund Carlsen und er über seine Herkunft nachdenken: „[…] Det Udseende, du har tilfælleds med Spanierne, det kan jeg netop godt lide. Det have saa Faa her i Norden. Gud veed, hvor du er kommen til det! “ „Ja, Gud veed det! jeg veed det ikke. Det er meget muligt, at der rinder spansk eller italiensk eller creolsk eller Gud veed hvad for Blod i mine Aarer. Jeg har jo ikke den Ære at kjende mine Forældre.“ (Gyllembourg 1867: 14) „Das Aussehen, das du mit den Spaniern gemein hast, kann ich gerade gut leiden. Das haben so Wenige hier im Norden. Gott weiß, wie du dazu gekommen bist! “ „Ja, weiß Gott! ich weiß es nicht. Es ist sehr gut möglich, dass spanisches oder italienisches oder kreolisches oder Gott weiß was für Blut in meinen Adern fließt. Ich hab ja nicht die Ehre, meine Eltern zu kennen.“ Sein Äußeres ist auffallend anders als das der meisten Dänen, doch zugleich vermutet niemand in ihm einen Juden. Nur die Lesenden, die die Novelle unter der Überschrift „Der Jude“ lesen, dürfen mit Volmers beiläufig geäußertem Ausspruch „oder Gott weiß was für Blut in meinen Adern fließt“ schon vermuten, dass seine leiblichen Eltern Juden seien. Doch zunächst legt der Text eine andere Spur, nämlich, dass Volmer tatsächlich eine spanische Mutter haben müsse: die frühere Geliebte seines Vorgesetzten Kommandeur Erlin. Erst am Ende der Novelle erklärt sich Volmers „südländisches“ Aussehen mit seiner jüdischen Herkunft: Sein Vater ist der Jude Joseph Branco, seine Mutter Rachel, ebenfalls Jüdin, ist bei der Geburt gestorben. Während Volmers Aussehen also als auffällig und anders, nicht jedoch als explizit jüdisch beschrieben ist, trägt Brancos Aussehen „aldeles Præget af hans Oprindelse, men havde […] noget overmaade Ærværdigt og Skjønt [deutlich die Prägung seines Ursprungs, aber hatte etwas über die Maßen Ehrwürdiges und Schönes]“ (Gyllembourg 1867: 19-20). Branco ist also zweifelsfrei durch sein Äußeres als Jude zu erkennen, trotzdem - der Text stellt 109 4.2 Jøden - Liebe, Kapital und ein bis zwei Juden DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 7 Thurn erläutert das Konstrukt der ‚Christin ex machina‘ und das sogenannten ‚Passing‘ (also das Durchgehen als Jüdin) anhand der Figur der Recha in Lessings Drama Nathan der Weise. 8 In Ingemanns Den gamle Rabbin wird zwar auch die Ehe zwischen einem Juden und einer Christin erwähnt, doch steht diese Beziehung nicht zentral in der Erzählung und veranschaulicht überdies ein unchristliches Haus ohne Religiosität und Nächstenliebe (vgl. Kapitel 2.3.2). Weitere erfüllte und hier durch die Konjunktion „men [aber]“ einen scheinbaren Gegensatz her - ist sein Erscheinungsbild ehrwürdig und schön. Die Annahme einer äußerlichen Erkennbarkeit von Juden als Juden wird anhand von Branco fortgeschrieben und durch die Spekulationen über Volmers Herkunft zugleich in Frage gestellt (vgl. Schiedermair 2013: 55). So ist Volmer also einerseits ebenfalls durch sein Äußeres als Jude markiert, andererseits weder für sein Umfeld noch für sich selbst als Jude entzifferbar, da er lediglich als Pflegesohn des Juden Branco gilt. 4.2.5 Schweigen über die Herkunft Am Ende der Novelle werden sämtliche Verwicklungen aufgelöst: Die Liebenden erkennen endlich die Liebe des jeweils anderen und wünschen zu heiraten, beide Frauen sind an die richtigen Männer getauscht worden und schließlich hat Branco im Kreise aller direkt Betroffenen mit Brief und Siegel nachgewiesen, dass er der leibliche Vater von Volmer ist, und erklärt, was ihn zu seiner Entscheidung, die Elternschaft zu verbergen, bewogen hat. Der Ehe zwischen Volmer und Charlotte steht nun nichts mehr im Weg. Bemerkenswert ist, dass Gyllembourg mit dieser Heirat zwischen Volmer und Charlotte noch einen entscheidenden Schritt weiter geht als Lessing. Denn bei Nathan kann gerade keine Ehe zwischen der vermeintlichen Jüdin - die ohnehin keine Jüdin ist, sondern eine Christin ‚ex machina‘ (vgl. hierzu Thurn 2015: 155-203) 7 - und dem Christen zustande kommen, weil Nathan seiner Ziehtochter Recha und dem Tempelritter enthüllt, dass sie Geschwister sind. In Jøden hingegen wird den Verliebten zunächst irrtümlich glauben gemacht, sie seien Geschwister, und erst Brancos Offenlegung seines Geheimnisses behebt den Irrtum und ermöglicht die Ehe (zum Inzestmotiv vgl. Schiedermair 2013: 57). Damit wird auch Volmers Herkunft als „gebürtiger Jude“ offenbar und zum Problem. Denn wenngleich dieser Jude getauft und als Christ aufgewachsen ist, so bemerkt doch Branco gegenüber Dr. Wille: „Den døbte Jøde bliver stedse en Jøde for dem, ja endogsaa hans Børn i et Par Generationer [Der getaufte Jude bleibt stets ein Jude für euch, ja sogar noch seine Kinder für ein paar Generationen]“ (Gyllembourg 1867: 48). Auch das Lesepublikum im Jahr 1836 muss sich hier angesprochen fühlen und wird Volmer als Sohn jüdischer Eltern möglicherweise nun als Juden betrachten. Damit gerät zugleich die Gewissheit über den Titel der Novelle Jøden, „Der Jude“, ins Wanken: Könnte am Ende nicht der Ich-Erzähler Volmer selbst der titelgebende Jude sein? Schließlich ist die Entschleierung seiner jüdischen Herkunft der Höhepunkt, auf den die Novelle zusteuert, und das verbindende Element zwischen den anfangs noch getrennt voneinander erscheinenden Erzählsträngen. Während die umgekehrte Geschlechterkonstellation, die Heirat zwischen einem christli‐ chen Mann und einer zum Christentum konvertierten (! ) Jüdin, zum Topos der ‚schönen Jüdin‘ gehört, stellt diese Ehe eine literarische Ausnahme dar. 8 Jedoch kommt dieses 110 4 Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd: Jøden (1836) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) unerfüllte Liebesverhältnisse zwischen jüdischen Männern und christlichen Frauen in der Literatur untersucht Lezzi (2013). Eheversprechen nur zustande, weil alle Involvierten sich zum Schweigen verpflichten und das Geheimnis um Volmers wahre Herkunft den Raum nicht verlässt. Offiziell wird Volmer der Pflegesohn Brancos bleiben. Eine der ins Vertrauen gezogenen Figuren merkt an, dass eine solche Geheimhaltung inzwischen wohl nicht mehr notwendig sei, schließlich seien 27 Jahre vergangen: „I denne lange Tid er mangen Fordom overvunden, mangen Frihed tilkæmpet [In dieser langen Zeit wurde manch Vorurteil überwunden, manch Freiheit erkämpft]“ (Gyllembourg 1867: 144-145). Doch die Handlung der Novelle spielt vor den großen judenfeindlichen Debatten und Ausschreitungen von 1813, 1819 und 1830, in einer Zeit, in der eine Gleichstellung der Juden gerade erst politisch angestrebt wurde und eine tatsächliche und bedingungslose Gleichstellung noch lange nicht umgesetzt war. So stellt auch Schiedermair fest: Macht man sich diese Daten klar, dann argumentiert die Autorin gegen den erwähnten Geschichts‐ optimismus einiger Figuren, weil die Autorin und mit ihr die Leser bereits die Zukunft des Antisemitismus kennen, auf die die Figuren erst zugehen. Indem also von einigen Figuren eine humane und liberale Zukunft heraufbeschworen wird, wird indirekt das Wissen der Lesenden um die tatsächlichen Verhältnisse aktiviert. (Schiedermair 2013: 55) Das Verschweigen seiner Herkunft sichert Volmer sein Lebensglück und ermöglicht die Ehe mit seiner christlichen Geliebten. Die Novelle endet viele Jahre nach der eigentlichen Handlung mit der Entscheidung Volmers, diese - seine und seines Vaters - Aufzeichnungen nun, nach Brancos Tod, seinen Nachkommen zu hinterlassen, „paa det mine Børn og Efterkommere maae af dem lære at kjende deres ædle Stammefader, og hans elskede Minde [damit meine Kinder und Nachkommen aus ihnen ihren edlen Stammvater und sein geliebtes Andenken kennenlernen mögen]“ (Gyllembourg 1867: 150). Den Lesenden von 1836, die nun ebenfalls in das Geheimnis eingeweiht sind, denen aber auch die Wellen von aufkeimender und eskalierender Judenfeindschaft der vergangenen Jahre und Jahrzehnte bekannt sind, wird es nun selbst überlassen, Volmer als Juden oder Nicht-Juden einzuordnen und zu beurteilen, ob die Figuren nicht tatsächlich gut daran getan haben, Volmers jüdische Herkunft zu verschweigen. Aber die Novelle konfrontiert ihre Leserinnen nicht nur mit der peinlichen Frage nach dem aktuellen Stand der gesellschaftlichen und politischen Gleichberechtigung von Juden und Nicht-Juden. Sie fragt auch ganz grundsätzlich: Wann ist der Jude ein Jude und wer macht ihn dazu? 111 4.2 Jøden - Liebe, Kapital und ein bis zwei Juden DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) 1836 nahm Carsten Hauch (1790-1872) seine Leserinnen und Leser mit auf eine literarische Reise zu „[e]n romantisk Begivenhed fra det forsvundne Aarhundrede [einer romantischen Begebenheit aus dem vergangenen Jahrhundert]“, so verspricht es der Untertitel des Romans Guldmageren [Der Goldmacher]. Aber die Handlung dieses historischen Romans ist nicht nur in der Vergangenheit angesiedelt, sie spielt auch in der Fremde, außerhalb Dänemarks, nämlich in Dresden, „mod Sidstningen af August den Andens Regieringstid [gegen Ende der Regierungszeit Augusts II.]“ (Hauch 1900: 1). Es ist die Zeit, in der er, der Kurfürst und Herzog von Sachsen und König von Polen-Litauen, seine berühmten Kunst- und Schatzkammern füllte und in Lebensweise und Auftreten seinem französischen Vorbild, dem „Sonnenkönig“ Ludwig XIV., nacheiferte. Es ist die Zeit, in der am Dresdner Hof dem Alchemisten Johann Friedrich Böttger zwar nicht die Herstellung von Gold glückte, mit der Erfindung des europäischen Porzellans aber ein kaum minder spektakulärer Durchbruch gelang. Und es ist die Zeit, in der die Dresdener Frauenkirche zwar noch nicht erbaut war - sie wurde 1743 geweiht, August II. starb 1733 -, doch im Roman beeindruckt ihr Geläut nichtsdestotrotz gleich auf der ersten Seite. Diese Kulisse barocker Hochkultur betritt die Leserin gemeinsam mit dem jungen Theodor, der in Dresden bei seinem Onkel, einem alles Übersinnliche vehement bekämpfenden Chemiker, in die Lehre gehen soll. Doch nicht der Onkel ist es, der schließlich sein Lehrmeister wird, sondern dessen vermeintlicher Erzfeind, ein Alchemist: der Jude Benjamin de Geer. Und dieser hält sich, anders als sein historischer Kollege Böttger, nicht mit der Herstellung von Porzellan auf, nein, dieser ist im Besitz des Steins der Weisen und folglich in der Lage, Gold herzustellen. Aber warum ist dieser Alchemist ein Jude? Welche Erzählmöglichkeiten eröffnen sich durch seine doppelt markierte Ausnahmefigur? Und wie hängt sein Judesein mit dem Stein der Weisen zusammen? 5.1 Hauch - vergessenes Monument Liegt die Romanhandlung aus Sicht Hauchs und seiner zeitgenössischen Leserinnen im vergangenen Jahrhundert, so liegt die Zeit von Hauchs eigenem Leben und Wirken mittlerweile im vorvergangenen Jahrhundert. Heute nicht nur in Deutschland vollkommen unbekannt, sondern auch in Dänemark weitestgehend ungelesen, zählte er im 19. Jahrhun‐ dert zu den bedeutenden Autor*innen seiner Zeit. Für Andersen war Hauch ein Freund und literarisches Vorbild, und so widmet er ihm neben Ingemann als „[m]ine sande, deeltagende Venner [meinen wahren, teilnehmenden Freunden]“ (Andersen 1988: 6) seinen Roman Kun en Spillemand, der in Kapitel 7 untersucht wird. Als Hauch 1872 als Letzter seiner Generation der dänischen Romantiker starb, so heißt es beim Arkiv for Dansk litteratur, „døde han næsten som et monument over den tid Vald. Vedel i 1890 udnævnte til ‚guldalderen‘ i dansk digtning [starb er fast als ein Monument der Zeit, die Valdemar Vedel (ein dänischer Literaturwissenschaftler; KB) 1890 das ‚goldene Zeitalter‘ der dänischen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Dichtung nannte]“ (Baggesen, S. 2001-2017). Insbesondere Hauchs naturphilosophischer und naturwissenschaftlicher Ansatz in seinem Schreiben ist bemerkenswert und prägend auch für den Roman Guldmageren. Doch trotz seiner großen Bedeutung für seine Zeitge‐ nossen sind die biografische und die Forschungsliteratur zu Hauch überschaubar. Alvhild Dvergsdal (1993) schenkt in ihrer Untersuchung des Gedichts Pleiaderne ved Midnat [Die Plejaden zur Mitternacht] eben jenem naturwissenschaftlichen Schwerpunkt in Hauchs Dichtung Beachtung. Die zweibändige Biografie von Kjeld Galster, Carsten Hauchs Barndom og Ungdom [Carsten Hauchs Kindheit und Jugend] (1930) und Carsten Hauchs Manddom og Alderdom [Carsten Hauchs Mannesalter und Alter] (1935), enthält noch immer die aktuellsten und bei weitem die umfangreichsten Informationen über Hauchs Leben und Werk; darüber hinaus findet Hauch meist lediglich Erwähnung in literaturgeschichtlichen Darstellungen. Eine gewisse Aufmerksamkeit erfuhr in den letzten Jahren Hauchs Drama Marsk Stig [Marschall Stig; 1850], das die Grundlage für die Oper Drot og Marsk [König und Marschall; 1878] des dänischen Komponisten Peter Heise (1830-1879) bildet. Heises Oper fand 2006 Eingang in den dänischen Kulturkanon. Seitdem sind zwei Aufsätze von Lisbeth Ahlgren Jensen (2012) und Lis Møller (2015) erschienen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von Marsk Stig beziehungsweise dessen Rezeption befassen. Mit dem Roman Slottet ved Rhinen [Das Schloss am Rhein; 1845] und den hierin repräsentierten Konzepten von Ökonomie hat Florian Brandenburg (2013) sich in einem Aufsatz beschäftigt. Ole Birklund Andersen (1996) berücksichtigt in seiner Arbeit über das Genre des historischen Romans auch Carsten Hauch, allerdings stellt seine Untersuchung eher einen groben Überblick über das Genre insgesamt als eine vertiefende Textanalyse einzelner Werke dar. Einzig Schnurbeins (2004) Aufsatz Darstellungen von Juden in der dänischen Erzählliteratur nimmt explizit und ausführlich Bezug auf den Roman Guldmageren und stellt ihn, neben anderen Texten anderer nicht-jüdischer dänischer Autoren, dem Roman En Jøde (1845) des jüdisch-dänischen Autors Meïr Aron Goldschmidt gegenüber. Einen besonderen Fokus legt Schnurbein auf die Gestaltung der Figur des jüdischen Alchemisten De Geer, auf die die Philosophie von Baruch de Spinoza, beziehungsweise deren Rezeption im Dänemark des 19. Jahrhunderts, einen starken Einfluss hatte (Schnurbein 2004: 66-69). Der Roman Guldmageren erschien 1836 in der Erstauflage und 1851 in einer veränderten und seitdem in allen folgenden Auflagen gedruckten Neufassung. Die jüngste Neuauflage ist inzwischen allerdings weit über 100 Jahre alt und erschien im Rahmen von Gyldendals Gesamtausgabe von Hauchs Romanen und Erzählungen 1904. Eine deutsche Übersetzung des Romans erschien einmalig 1837 und existiert somit nur für die Erstausgabe von 1836, allerdings auch hier in einer vom Ursprungstext abweichenden Version. Bei der Übersetzung handelt es sich um die „Deutsche, vom Verfasser mit zwei neuen Kapiteln vermehrte Ausgabe, aus dem Dänischen von W. C. Christiani“ (Hauch 1837: III). In meiner Untersuchung beziehe ich mich ausschließlich auf die dänische Romanfassung von 1851. Diese zweite Fassung unterscheidet sich von der ersten durch „adskillige Forandringer, der deels bestaae i Forkortelser deels i Tillæg. Den vigtigste blandt de sidste er en episodisk Fortælling om Guldmagerens tidligere Liv (der før var aftrykt særskilt i en annen Bog) [mehrere Veränderungen, die zum Teil in Verkürzungen, zum Teil in Zusätzen bestehen. Die wichtigste der letztgenannten ist eine episodische Erzählung über das Vorleben des Goldmachers (die früher gesondert in einem anderen Buch abgedruckt war)]“ (Hauch 114 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1900: IV). Neben der größeren Verbreitung der Fassung von 1851 ist insbesondere diese in sich abgeschlossene Episode zu Beginn des zweiten Romanteils, auf die Hauch in seinem Vorwort zur Neuausgabe aufmerksam macht, ausschlaggebend für die Entscheidung, mich bei der Analyse des Romans auf die Zweitfassung zu konzentrieren. 5.2 Guldmageren - Einstieg Der Roman ist aus einer auktorialen Perspektive erzählt, der Text folgt dabei aber meist dem Erleben und dem Wissen seiner Hauptfigur, dem 22-jährigen Theodor, der nach dem Tod seiner Mutter ins Haus seines Onkels nach Dresden kommt. Dieser Onkel, Herr Doktor Rosenfeld, ist ein ehrenwerter, wohlhabender Mann - Witwer, Protestant, Chemiker -, misstrauisch gegenüber jeder Form von Okkultismus und Betrug. Mit ihm zusammen leben seine beiden Töchter Veronica und Manon, eine schöner als die andere, und seine treue Haushälterin Madame Wolfgang mit ihrer ebenfalls sehr schönen Tochter Felicitas. Aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen und des recht großen Vermögens bestehen enge Verbindungen zum königlichen Hof. Ein junger Adeliger und entfernter Verwandter, Victor von Marwitz, hofft auf eine vorteilhafte Heirat mit der zurückhaltenden und sittsamen Manon, während er sich mit Veronica, ihrer intriganten, habsüchtigen und zugleich ungemein verführerischen Schwester, erotische Vergnügungen verspricht. Theodor ist von beiden Mädchen angezogen, die größere erotische Faszination auf ihn übt zweifellos Veronica aus, doch seine tiefe Liebe gilt Manon - was zu Eifersucht bei Veronica und zur Rivalität zwischen dem nicht minder intriganten Victor und dem redlichen Theodor führt. Im Hause des Herrn Rosenfeld begegnet Theodor auch dem jüdischen Alchemisten Benjamin de Geer, der wiederum einst seine Geliebte (unter anderem durch einen von Rosenfeld verübten Verrat) an diesen verloren hatte und als Alchemist und Jude ständiger Verfolgung sowie Misstrauen und Missgunst ausgesetzt ist. Diese ehemalige Geliebte hieß ebenfalls Manon und ist die inzwischen verstorbene Mutter von Veronica und Manon. Die Rivalität zwischen den beiden Männern besteht auch nach ihrem Tod weiter. Als De Geer nun nach mehr als 20 Jahren unverhofft bei Rosenfeld auftaucht, um Einsicht in dessen Münzsammlung zu erbitten, erkennt Rosenfeld ihn und stellt ihm eine Falle in der Absicht, De Geer an die Polizei auszuliefern. Theodor, seinem Gespür für Gerechtigkeit folgend, verhilft De Geer zur Flucht. Dieser erkennt das edle Wesen Theodors und wählt ihn zu seinem Nachfolger als Adept aus. Zuvor muss Theodor sich jedoch bewähren und ist zahlreichen Anfechtungen ausgesetzt: den Verheißungen von Ruhm und Reichtum, den Verlockungen des Hoflebens und den Versuchungen erotischer Abenteuer. Weitere Figuren stellen entweder eine Bedrohung für Theodor und De Geer dar, wie der hinterhältige „Hofjude“ Isak Amschel, oder geben ihm Orientierung auf dem rechten Weg, wie Willibald von Freisleben, der zwar dem Adel angehört, sich jedoch von dessen Verschwendungssucht angewidert einem bescheidenen Leben zuwendet und Werke der Nächstenliebe vollbringt. Am Ende des Romans hat Theodor sich als würdig erwiesen, in die Geheimnisse der Alchemie eingeweiht zu werden. Er darf Manon heiraten, wandert mit ihr nach Südamerika aus und führt dort ein sinnerfülltes, glückliches Leben, während seine Widersacher*innen von Krankheit und Tod dahingerafft werden. 115 5.2 Guldmageren - Einstieg DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 De Geers Vater wurde „i den hollandske Provinds Grøningen [in der holländischen Provinz Groningen]“ geboren (Hauch 1900: 165). 2 Ob der dreieckige Hut tatsächlich ein sogenannter „Judenhut“ sein soll, den zu tragen Isak gezwungen ist, wie Schnurbein vermutet, ist hingegen nicht sicher (vgl. Schnurbein 2004: 63). Es könnte sich auch schlicht um einen Dreispitz handeln, der den unharmonischen und veralteten Kleiderstil Isaks unterstreichen würde. 5.3 Guter Jude, schlechter Jude Der erste Jude, dem der Leser und der christliche Protagonist Theodor begegnen, ist nicht Benjamin de Geer, sondern Isak Amschel. Sein Name kennzeichnet ihn als aschkenasischen Juden, im Gegensatz zu De Geer, der durch seinen Namen als sephardischer Jude aus den Niederlanden erkennbar ist. 1 Während De Geer als ‚edler Jude‘ angelegt ist, wie er im Rahmen dieser Untersuchung bereits mehrfach dargestellt wurde, knüpft der Text mit Isak Amschel an eine judenfeindliche Erzähltradition an. Bereits sein Äußeres markiert ihn als Juden und als unangenehme Person, der es zu misstrauen gilt: Denne Mand var liden af Vext, og hvis de gamle Træk ikke havde vidnet derimod, skulde man have troet, at han ei endnu var udvoxen. De forskjellige Klædningsstykker i hans Dragt […] syntes ikke ganske at passe til hverandre; paa Hovedet bar han en stor trekantet Hat, og hans Ansigt, hvori den mægtige, krumme Næse løb skjevt henimod den ene Kind, saae næsten ud som en besynderlig Maske, gjennem hvilken et Par levende nysgjerrige Øine funklede. (Hauch 1900: 2-3) Dieser Mann war klein von Wuchs, und hätten die alten Züge nicht dagegengesprochen, hätte man glauben können, er sei noch nicht ausgewachsen. Die verschiedenen Kleidungsstücke seiner Tracht […] schienen nicht ganz zueinander zu passen; auf dem Kopf trug er einen großen dreieckigen Hut, und sein Gesicht, in dem die mächtige, krumme Nase schief auf die eine Wange zulief, sah fast aus wie eine sonderbare Maske, durch die ein Paar lebendige neugierige Augen funkelten. Dass er Jude ist, bedarf keiner gesonderten Enthüllung durch den Erzähler, sondern wird mit der Beschreibung Isaks offenkundig, so dass der Romantext fortan auf Isak als Juden referiert. 2 Aufgrund seiner geringen Körpergröße wird Isak im Romantext oft als „den lille Jøde [der kleine Jude]“, „den lille Isak [der kleine Isak]“ oder „den Lille [der Kleine]“ bezeichnet (z. B. Hauch 1900: 3-8, 30, 141). Dabei wird nicht nur sein kleiner Wuchs stets aufs Neue als körperliche Auffälligkeit betont, sondern er wird den anderen Figuren gegenüber als in jeglicher Hinsicht unterlegen charakterisiert. Wird er bei seinem Namen genannt, dann meist allein mit seinem Vornamen Isak, anders als sein edel gesinnter Gegenspieler, der jüdische Alchemist Benjamin de Geer, auf den vom Erzähler wie in der Figurenrede stets als De Geer referiert wird, sofern nicht sein voller Name genannt wird. Beide Figuren sind einander äußerlich wie charakterlich entgegengesetzt. Während Isak über die Beschreibung seines Körpers abgewertet wird, geschieht bei der Beschreibung von De Geer keine vergleichbare Abwertung. Auch sein Äußeres kennzeichnet ihn als Juden, doch betont diese Markierung vielmehr die Rolle des Außenseiters, die De Geer als Alchemist zukommt, als der er verfolgt wird: 116 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 3 Der zweite Teil des Romans beginnt mit „De Geers Ungdomshistorie [De Geers Jugendgeschichte]“, in der De Geers Weg zur Alchemie dargestellt ist. Als Alchemist ist er genötigt, ständig seinen Aufenthaltsort, auch über Landesgrenzen hinaus, zu wechseln (vgl. Hauch: 1900: 164-217). Det var i denne Mands Udseende Noget, som i høi Grad vakte Theodors Opmærksomhed. Især havde han det sky speidende Blik, som man ofte finder hos de Fugle, der mest ere udsatte for Forfølgelse; hans Træk vidnede for Resten om, at han henhørte til den israelitiske Nation, dog talte han det Tydske meget godt, kun med en usædvanlig Accent, ligesom En, der længe har været udenlands, og der, ved at tale andre Landes Sprog, uvilkaarlig er bleven vant til at blande en fremmed Accent med den, han oprindelig havde. (Hauch 1900: 37) Im Aussehen dieses Mannes war etwas, das in hohem Grad Theodors Aufmerksamkeit erregte. Insbesondere hatte er den scheu spähenden Blick, den man oft bei jenen Vögeln findet, die am stärksten der Verfolgung ausgesetzt sind; seine Züge zeugten im Übrigen davon, dass er der israe‐ litischen Nation angehörte, doch sprach er sehr gut Deutsch, bloß mit einem außergewöhnlichen Akzent, wie jemand, der lange Zeit im Ausland war, und sich dort, indem er die Sprache des anderen Landes sprach, unwillkürlich daran gewöhnte, einen fremden Akzent demjenigen beizumischen, den er ursprünglich hatte. De Geers Äußeres wird nicht genauer beschrieben, es reicht der Verweis, dass er für Theodor als Jude erkennbar ist. Dabei macht sein furchtsam-aufmerksamer Blick allein De Geer noch nicht als Juden erkennbar, sondern deutet der Leserin, die den Titel des Romans kennt, zunächst an, was Theodor noch nicht ahnt: dass es sich hier möglicherweise um einen Goldmacher handelt, der aufgrund seines Geheimwissens ständiger Bedrohung und Gefahr ausgesetzt ist. Die Beziehung der Sätze zueinander macht deutlich, dass De Geer nicht vornehmlich als Jude Aufmerksamkeit erregt, denn zuerst und besonders fällt Theodor eben jener Blick des verfolgten Goldmachers auf. Die äußeren Merkmale, die ihn als Juden kennzeichnen, werden erst an zweiter Stelle und nur nebenbei - „for Resten [im Übrigen]“ - erwähnt. Auch seine Sprache kennzeichnet ihn nicht eindeutig als Juden (vgl. hierzu Brandenburg 2014), sondern als jemanden, der lange und oft in fremden Sprachen gesprochen hat, was - wie Theodor und die Lesenden später erfahren - zwar auch auf seine jüdische Herkunft, mindestens im gleichen Maße aber auch auf sein Dasein als Alchemist zurückzuführen ist. 3 Als De Geers langjähriger und unerbittlichster Verfolger stellt sich schnell Isak Amschel heraus. Obwohl er De Geer stets im Namen christlicher Auftraggeber nachstellt, sind seine Gier und sein Verlangen nach dem Stein der Weisen intrinsisch motiviert. So stehen die beiden jüdischen Figuren des Romans einander als Gegenspieler und Feinde gegenüber. 5.3.1 Gerettet - ungerettet Als Begründung für die unterschiedliche Entwicklung beider Figuren dient implizit die frühe Erfahrung mit einem christlichen Retter beziehungsweise der Mangel an solch einer Erfahrung. De Geer wurde, anders als Isak, als Kind von einem Christen vor den Übergriffen durch andere Christen gerettet - eine fast schon zwingende Vorbedingung für die Figur des ‚edlen Juden‘ in der Literatur 4 - wenngleich dieser Retter, wie noch zu zeigen ist, in seinen 117 5.3 Guter Jude, schlechter Jude DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 4 Bereits der erste ‚edle Jude‘ in Christian Fürchtegott Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfin von G*** [1748] wurde als junger Mann von einem Christen gerettet und dadurch charakterlich „veredelt“ (vgl. Surall 2008: 310-314; vgl. auch Kapitel 2.2.2 und 4.2.2). Überzeugungen mehr Pantheist als Christ ist. Das Motiv der Rettung des Juden durch einen Christen wird in der Begegnung mit Theodor erneuert, als dieser ihn vor der Falle seines Onkels und der Polizei bewahrt und ihm die Flucht ermöglicht (Hauch 1900: 90-91). Isak hingegen hat niemals selbst christliche Nächstenliebe erfahren und wird darum auch nicht „veredelt“, sondern er wird im Gegenteil immer un-menschlicher. Statt sich zu einem edlen Menschen zu entwickeln, zeigt sich in jedem Auftreten Isaks sein verdorbener Charakter, und in der Beschreibung seiner Figur nimmt er zunehmend tierische Züge an. Dabei verweist der Text immer wieder auf den ambivalenten Mechanismus aus Ursache und Wirkung, beispielsweise wenn Theodor Isak ein „hjerteløst Dyr af en forskudt race [ein herzloses Tier einer verstoßenen Rasse]“ (Hauch 1900: 99) nennt. Hier wird anklagend die Herzlosigkeit konstatiert, doch wird die vermeintliche Ursache dafür, nämlich das Verstoßensein, gleich mitbenannt. Der Erzähler vertauscht hingegen an anderer Stelle den zuvor konstatierten Zusammenhang aus Ursache und Wirkung, wenn er Isak als „en hæslig Rovfugl, der af Lyst til Bytte blev nedlokket i et fremmed Element, hvorfra den kun efter lang Kamp og med vaade og sønderrevne Fjedre var istand til at redde sig [einen hässlichen Raubvogel, der aus Lust auf Beute in ein fremdes Element hinabgelockt wurde, von wo aus er sich erst nach langem Kampf und mit nassen und zerrissenen Federn zu retten imstande war]“ (Hauch 1900: 325) beschreibt. In diesem Bild wird die Boshaftigkeit als Ursache für den unglückseligen Zustand ausgemacht, in dem Isak sich befindet. Auch akustisch wird Isaks Entmenschlichung deutlich, denn während er seine eigene menschliche Stimme nicht unter Kontrolle hat und mit „en Røst, skærende som Græshoppens Sang i Græsset [einer Stimme, schneidend wie der Gesang des Grashüpfers im Gras]“ (Hauch 1900: 95; vgl. auch Hauch 1900: 2) spricht, kann er zur allgemeinen Verblüffung und kurzweiligen Unterhaltung täuschend echt Tierlaute nachahmen (Hauch 1900: 121). Isak verwendet auch Tiermetaphern in Bezug auf sich selbst. Er werde, so verspricht er, De Geer verfolgen und sich ihm an die Ferse heften wie „en Blodigle [ein Blutegel]“, „en Muus [eine Maus]“, „Grævlingen [der Dachs]“, „den vilde Hyæne [die wilde Hyäne]“ und „en gjøende Hund [ein kläffender Hund]“ (Hauch 1900: 96-98). Doch Isak wird in seiner Gier nach Gold nicht nur zum Tier (erklärt), sondern auch zum Zwerg aus der Unterwelt. So droht Isak, dass er De Geer wenn nötig bis in „Jordens Indvolde [die Eingeweide der Erde]“ (Hauch 1900: 97) hinein verfolgen werde. Er und seine Verbündete Veronica wirken auf Theodor „som to onde Gnomer, i hvis Bryst intet menneskelige Hjerte slog [zwei böse Gnome, in deren Brust kein menschliches Herz schlug]“ (Hauch 1900: 255). Und Veronica selbst bezeichnet Isak als „en vanskabt Dverg [einen missgestalteten Zwerg]“ (Hauch 1900: 96). Die Verbindung zwischen entmenschlichenden judenfeindlichen Zuschreibungen und Zwergen, die von Gier getrieben tief in der Erde ihre Goldschätze verwalten, findet ihren wohl berühmtesten Ausdruck etliche Jahre später in den miteinander konkurrierenden Figuren Mime und Alberich in Richard Wagners Ring-Tetralogie (vgl. Weiner 2000: 167-176). Während in Wagners Opernzyklus die Zwerge durch vertraute antisemitische Zuschreibungen und karikierende Gesangspartien als jüdisch lesbar werden, unterstreicht in Hauchs Roman 118 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) gerade umgekehrt die Zwergenhaftigkeit des Juden Isak dessen Nicht-Menschlichkeit, die wiederum in seinem Judesein begründet liegt. Bliebe es bei dieser diffamierenden Darstellung einer oder mehrerer jüdischer Figuren, wäre Hauchs Roman Guldmageren in einer Untersuchung philosemitischer Texte fehlplatziert. Doch nicht allein die Kontras‐ tierung Isaks mit dem ‚edlen Juden‘ De Geer begründet die Wahl des Textes in den Untersuchungskorpus, sondern auch die ausdrückliche Darstellung Isaks als Opfer von judenfeindlicher Gewalt und Ausgrenzung. Die Ursache für die Un-Menschlichkeit Isaks wird nämlich immer wieder explizit in seinem Umfeld und in der Unterdrückung und Demütigung der Juden durch die Christen gefunden. 5.3.2 Verbessert - unverbesserlich Die Leserin wird Zeugin einer Folterszene, in der ihr nichts anderes übrig bleibt, als un‐ willkürlich Partei für den gequälten und gedemütigten Isak zu ergreifen, wenngleich seine Figur ansonsten nichts an Identifikationspotenzial bietet. Die Szene wird drastisch erzählt: Victor von Marwitz, der adelige Cousin der Familie Rosenfeld, dessen verschwenderischer Lebensstil es ihm notwendig erscheinen lässt, von Isak Geld zu erpressen, findet einen Anlass, Isak gefangen zu nehmen. Ihn lässt er von einem Diener so lange quälen, bis Isak einwilligt, eine hohe Geldsumme für Victor zu beschaffen. Der Diener nötigt Isak mit vorgehaltener Pistole in eine mit Wasser gefüllte Wanne, zwingt ihn, immer wieder unterzutauchen und gibt dann jedes Mal mit seiner Pistole einen Schuss kurz über der Wasseroberfläche ab. Schließlich steht Isak nass und zitternd vor Victor und verspricht, die geforderte Geldsumme zu beschaffen (Hauch 1900: 323-326). Durch die Eindringlichkeit der Folterszene wird beim Lesepublikum zwangsläufig Mitleid für Isak hervorgerufen. Die Todesangst und die Demütigung, die er erleidet, sind nicht zu rechtfertigen. Die ausführliche Schilderung der Folterszene erstreckt sich über anderthalb Seiten, in der Isaks Angst und Victors Lust am Quälen deutlich werden. Das Mitgefühl der Leser wird jedoch durch die Figurenrede Isaks unterminiert, in der Isak nicht die körperliche und seelische Qual dieser Prozedur als den eigentlichen Schmerz ausmacht, sondern vor allem den Verlust des Geldes: „Havde han alene pryglet og mishandlet mit Legeme, […] det kunde jeg maaskee have forglemt, men at han har tvungen mig til at give ham en saa stor Pengesum, det skal og kan jeg aldrig tilgive [Hätte er allein meinen Leib geprügelt und misshandelt, das könnte ich vielleicht vergessen, aber dass er mich gezwungen hat, ihm eine so große Geldsumme zu geben, das kann und werde ich niemals vergeben]“ (Hauch 1900: 325-326). Der Leser, der kaum anders kann, als sich in dieser Szene auf seine Seite zu stellen, wird damit von Isak verraten. Zugleich erklärt diese Szene exemplarisch und ganz im Sinne der Bestrebungen nach einer „bürgerlichen Verbesserung der Juden“, warum ein Jude, dem ein solches Elend und niemals Gerechtigkeit, Nächstenliebe oder Milde widerfährt, sich nicht zu einem edlen Menschen entwickeln kann. Die Abscheu der Leserin richtet sich also gleichermaßen gegen den Juden Isak, der selbst in dieser demütigenden Lage noch an sein Geld denkt, und gegen seinen Peiniger, den katholischen Adeligen Victor. Damit steht der Roman offensichtlich in der Tradition Dohms, demzufolge Juden aufgrund jahrhundertelanger Unterdrückung durch Christen einen schlechten Charakter entwickelt hätten (vgl. Dohm 1781; Detering 2002b; Achinger 2007: 40-46; siehe auch 119 5.3 Guter Jude, schlechter Jude DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 5 Zu Luthers Verhältnis zum Judentum sind in jüngerer Zeit verschiedene Arbeiten erschienen, z. B. von Dietz Bering (2014) und Thomas Kaufmann (2013, 2014). Kapitel 1.6 und 3.4.1). Darüber hinaus nimmt der Roman Rückgriff auf ein viel älteres Argu‐ mentationsmuster, das bereits Martin Luther ausformuliert hat, und das sich in seiner Kritik gegen den Katholizismus, später auch gegen andere protestantische Reformbewegungen, richtet (vgl. Nirenberg 2015: 253-273; Surall 2008: 312-313). 5 David Nirenberg fasst in seiner Monografie über den Anti-Judaismus im westlichen Denken Luthers Argumentation in dessen (noch verhältnismäßig moderatem) Traktat Daß Jesus Christus ein geborner Jude sey [1523] folgendermaßen zusammen: Wenn die Juden starrsinnig das Christentum ablehnen, geschieht dies nicht nur, weil das gegen‐ wärtige Christentum sie schlägt und beleidigt, sondern weil es eine schlimmere Version des Judentums als ihr eigenes ist. Gäbe man ihnen eine Religion der Liebe statt des Rechts, der Gewalt und der Heuchelei, die das Papsttum anbietet, würden sie womöglich konvertieren. (Nirenberg 2015: 267) Das Umfeld, in dem Isak sich bewegt, der Hof des aus machtstrategischen Gründen zum Katholizismus konvertierten August II., bietet Isak genau jene Heuchelei und Gewalt, die Luther in seinem Traktat kritisiert. Victor gibt vor, das erpresste Geld zum Wohl der Armen zu verwenden, doch die Leserin darf diesem Versprechen ebenso misstrauen wie Isak, der zu sich selbst sagt: „Han gjør det aldrig, […] han uddeler aldrig det røvede Sølv mellem de Fattige og Nødlidende, […] han beholder det hellere selv og bortødsler det paa lettferdige Qvinder, ligesom han har bortødslet sin egen Formue [Er tut das niemals, er verteilt niemals das geraubte Silber unter den Armen und Notleidenden, er behält es lieber selbst und verschwendet es an leichtfertige Frauen, genau wie er sein eigenes Vermögen verschwendet hat]“ (Hauch 1900: 325). Die Leserin kann sich Isaks Einschätzung von Victor anschließen. Isak ist zwar eine hinterhältige und unsympathische Figur. Schlimmer jedoch ist Victor, denn er befindet sich in der mächtigeren Position als Isak und nutzt diese Macht gewalttätig zu seinem eigenen Vorteil aus. Isak hat, so legt der Text nahe, keine Moral, weil sie ihm von Geburt an durch die Unmoral der Christen ausgetrieben wird. Victor ist, um es in der Rhetorik Luthers zu formulieren, ein schlimmerer Jude als der Jude selbst, und Isak benennt den Grund für Victors Unmoral: „thi de Christne agte hverken Nød eller Bønner [denn die Christen achten weder Not noch Gebete]“ (Hauch 1900: 325). Doch der Roman betont - anders als Isak - den Unterschied zwischen den christlichen Konfessionen. Die abstoßende jüdische Figur dient also nicht dazu, Juden und Judentum zu diskreditieren - das ist auch gar nicht mehr nötig. Es wird im Gegenteil die vermeintliche Schlechtigkeit der Juden als diskursives Wissen beim Leser vorausgesetzt. Nur deshalb kann dieses Wissen im Text genutzt werden, um den Katholizismus als Hauptverursacher dieser Schlechtigkeit auszumachen. Allerdings entlarvt der Roman die bekannten Vorurteile auf diese Weise gerade nicht. Im Gegenteil: Indem er die Katholiken als die Schuldigen für das vermeintliche moralische Unvermögen der Juden ausmacht, schreibt er die Vorurteile fort und verfestigt sie. 120 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 6 Theodors Freund und Wohltäter Freiherr von Freisleben vergleicht den König und seine Gefolgschaft mit „visse Insecter, hvis egentlige Gift ikke sidder i Hovedet, men i Halen [gewissen Insekten, deren eigentliches Gift nicht im Kopf sitzt, sondern im Schwanz]“ (Hauch 1900: 262). Das Beispiel zeigt, dass Tiervergleiche nicht allein den jüdischen Figuren vorbehalten sind. 5.3.3 Protestantisches Bürgertum vs. katholischer Adel Betrachtet man die Sphären, in denen der Roman spielt, erkennt man zwei gegensätzliche, zum Teil aber auch miteinander konkurrierende Bereiche. Der eine ist der bürgerliche Bereich des Hauses Rosenfeld. Alle, die in diesem Haus leben, sind protestantische Christen, gehören zumindest formal der evangelisch-lutherischen Kirche an. Auf der anderen Seite befinden sich der katholische Hof und dessen Angehörige. Dieser Hof steht für Verschwendung und Verstellung, sein Bekenntnis zur katholischen Kirche dient allein dem Zweck der Machtausdehnung. Der Kurfürst von Sachsen Friedrich August I. war zum Katholizismus übergetreten, um als August II. König von Polen werden zu können. Isak bewegt sich vornehmlich in dieser höfischen Sphäre. Wollte man allerdings behaupten, dass Isaks Schlechtigkeit ausschließlich als Folge seines katholisch-aristokratischen Umfelds dargestellt ist, würde man eine weitere Ebene übersehen. Denn vielmehr scheint auch der umgekehrte Schluss möglich: Die Tatsache, dass der sächsische Adel mit einer zwielichtigen und unmoralischen Gestalt wie Isak Geschäfte treibt, wirft ein schlechtes Licht auf den königlichen Hof. Unmoral und Gier sind die verbindenden Eigenschaften zwischen dem Juden Isak und dem katholischen Adel. Dass beide Parteien in diesem Bündnis einander illoyal begegnen, führt schließlich zum Untergang aller Beteiligter. Dabei stellt der Roman jedoch nicht grundsätzlich die Monarchie als Regierungsform in Frage, sondern steht „auf der Seite einer moderaten Modernisierung und bürgerlichen Reform des aufgeklärten Absolutismus“ (Schnurbein 2004: 62). Der König wird als gutmütiger, dabei aber schwacher Herrscher dargestellt, der von den Machenschaften seines Gefolges nichts ahnt und sich seiner Verschwendungssucht und des daraus folgenden Unrechts nicht bewusst ist. 6 Mit der Figur des ebenfalls adeligen Freiherrn von Freisleben entwirft der Roman eine moralisch integre Gegenfigur zum unmoralischen Hof. Allerdings zieht Freisleben sich folgerichtig aus dem höfischen Leben zurück und nähert sich dem idealisierten Bürgertum an, indem er Freundschaft mit Theodor schließt und in der frommen Felicitas eine Seelenverwandte findet, deren Liebe und Treue ihn schließlich auch den Glauben an Gott finden lassen und sogar seinen frühen Tod überdauern. Auch in De Geers Interesse liegen weder Ruhm noch Reichtum, und den Hof versucht er unter allen Umständen zu meiden - schon allein weil dort ein erhebliches Interesse besteht, die Kunst des Goldmachers zum eigenen Vorteil auszunutzen. De Geer hält sich meist versteckt und bewegt sich ansonsten vornehmlich in der bürgerlichen und zugleich protestantischen Sphäre. In Theodor und Manon findet er zwei loyale Verbündete, mit denen sich ein quasi-familiäres Verhältnis etabliert. Theodor tritt schließlich nicht nur in der Alchemie seine Nachfolge an, sondern auch in der Liebe, indem er Manon heiratet, die Tochter der älteren Manon, De Geers einziger und großer Liebe. Damit sind also die drei Themenkomplexe, die der Roman untrennbar miteinander verbindet, benannt: Alchemie, Liebe, Christentum. Im Folgenden soll das Band zwischen diesen Dreien genauer betrachtet werden. 121 5.3 Guter Jude, schlechter Jude DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 7 Die Katalogbox zur Ausstellung ist als alchemistischer Karteikasten gestaltet. 8 Eine sehr kleine, aber hübsche Ausstellung über den Alchemisten und Glasmacher Johann Kunckel ist auf der Berliner Pfaueninsel in der Meierei zu sehen. Hier wurde 2016 die Dauerausstellung zur Inselgeschichte um das sogenannte Kunckel-Kabinett erweitert. 5.4 Benjamin de Geer - der Alchemist Alchemie - Christentum - Liebe, um diese Trias soll es im Folgenden gehen. Dabei steht die Frage zentral, wo in diesem Dreieck das Judentum sich befindet und welche Funktion der Alchemist De Geer als Jude hier einnimmt. Um die Liebe und das Christentum, niemals um das Judentum selbst, geht es in den meisten Texten in dieser Untersuchung: ganz offensichtlich in den Beziehungen zwischen Benjamine und Veit (Ingemann: Den gamle Rabbin) sowie Sulamith und Johan (Blicher: Jøderne paa Hald); zwischen Volmer und Charlotte (Gyllembourg: Jøden) tritt der Aspekt des Christentums gegenüber dem der Liebe in den Hintergrund, dafür nimmt er bei Naomi und Christian (Andersen: Kun en Spillemand) und schließlich bei Esther und Niels (Andersen: At være eller ikke være) wieder deutlich mehr Raum ein. Die Besonderheit dieses Romans nun besteht in seiner Hauptzutat, der Alchemie. Daher soll hier zunächst ein Schlaglicht auf die künstlerische, insbesondere die literarische Produktivität der Alchemie und deren kultur- und literaturwissenschaftliche Rezeption geworfen werden. 5.4.1 Faszination Alchemie Im Sommer 2017 zeigten die Staatlichen Museen zu Berlin die medienwirksam beworbene und gut besuchte Sonderausstellung Alchemie: Die große Kunst (vgl. Völlnagel/ Brafman 2017), 7 nachdem bereits 2005 die kleine Ausstellung Splendor Solis oder Sonnenglanz: Von der Suche nach dem Stein der Weisen im Kupferstichkabinett zu sehen war (vgl. Roth 2005). 2016/ 2017 zeigte das Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte in Halle die halbjährige Ausstellung Alchemie: Die Suche nach dem Weltgeheimnis (vgl. Meller/ Reichenberger/ Wun‐ derlich 2016), nachdem 2014 im Museum Kunstpalast in Düsseldorf Kunst und Alchemie: Das Geheimnis der Verwandlung zu sehen war (vgl. Dupré/ Kerssenbrock-Krosigk/ Wismer 2014). Und das Institut für Geschichte und Hermeneutik der Geisteswissenschaften an der Universität Basel hatte bereits 1999 die Geheimnisse der Alchemie enthüllt (vgl. Bach‐ mann/ Hofmeier 1999). Diese Übersicht über die großen Alchemie-Ausstellungen der letzten Jahre im deutschsprachigen Raum 8 - aus Dänemark und dem übrigen Skandinavien sind mir keine vergleichbaren Ausstellungen bekannt - veranschaulicht zweierlei, erstens: Die Alchemie fasziniert auch im 21. Jahrhundert noch und vermag viele Menschen in Museen und Ausstellungen zu locken. Und zweitens: Es scheint vor allem die bildende Kunst zu sein, in der die Spuren der Alchemie am lebendigsten sichtbar sind und wahrgenommen werden. Die zahlreichen kunstgeschichtlichen Publikationen der letzten Jahre, die sich mit den Wechselwirkungen von bildender Kunst und Alchemie bis in die Gegenwart hinein befassen, unterstreichen diese Beobachtung (vgl. Battistini 2007; Elkins 1999; Lembert/ Schenkel 2002; Ruck/ Hoffman 2012; Seegers 2003; Szulakowska 2011; Wamberg, J. 2006). Literaturwissenschaftliche Arbeiten zum Thema sind hingegen rar. Zwar wird beispielsweise bei Autoren wie Novalis, Goethe und Hoffmann der Einfluss alchemistischer 122 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Konzepte als bekannt vorausgesetzt, doch Beiträge, die dies dezidiert zum Thema hätten, sind überschaubar und datieren überwiegend auf die 1980er- und 1990er-Jahre (vgl. Gebelein 1998, 2002; Kowalski 1987; Kremer 1993; Liedtke 1998; Mahal 1998; Priesner 2010; Stiasny 1997). Christoph Meinel (1986a) hat mit der Anthologie Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte eine Sammlung von Aufsätzen her‐ ausgegeben, die sich überwiegend aus natur-, geschichts- und religionswissenschaftlicher Perspektive auf die Rezeption und Wirkungsgeschichte verschiedener alchemistischer Schriften, Theorien und Symbole konzentrieren. Eine Kulturgeschichte der Alchemie, in der zumindest am Rande deren Einfluss auf die deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts Erwähnung findet, hat Hans-Werner Schütt verfasst (2000: 412-415, 540-546). Eine schmale Anthologie, die sich mit der Rezeption der Alchemie in Kunst und Literatur überwiegend des 20. Jahrhunderts befasst, wurde 2002 unter dem Titel The Golden Egg von Alexandra Lembert und Elmar Schenkel herausgegeben. Die aktuell jüngste Publikation stammt von Joachim Telle und erschien 2013. Seine Sammlung Alchemie und Poesie. Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts richtet den Blick nicht nur zurück auf die frühe Neuzeit, sondern blickt auch gattungsspezifisch in die andere Richtung, nämlich auf die Literarizität alchemistischer Texte selbst. Als einzige Publikation, die sich auf das enorm fruchtbare Potenzial der Alchemie für die europäische Literatur konzentriert und einen breitgefächerten Einblick in die Beziehung zwischen Literatur und Alchemie gibt, ist der literaturgeschichtliche Essay Elixiere der Schrift. Literatur und Alchemie von Elmar Schenkel (2003) zu nennen. Schenkel betont, wie stark die Alchemie mit ihren Bildern und ihrer Sprache im kollektiven Bewusstsein, vor allem aber im kollektiven Unbewussten verankert und somit noch immer einflussreich auf das Denken und Schreiben ist. Schließlich setzt er gar den Schreibprozess selbst parallel zum alchemistischen Prozess, „bis hin zum Punkt der Vollendung eines Werkes, zu seinem Silber oder Gold“ (Schenkel 2003: 62). Auch in der Musik fand stets eine Auseinandersetzung mit der Alchemie statt, frühe Belege für musikalische Analogien innerhalb der Alchemie stammen aus dem 7. Jahrhun‐ dert, Zeugnisse von Vertonungen alchemistischer Texte aus dem 14. Jahrhundert, die wohl berühmtesten musikalischen Spuren alchemistischen Denkens sind sicher in Mozarts Zauberflöte aus dem Jahr 1791 zu finden (vgl. Meinel 1986b: 203, 209, 221-224). Jedoch scheint die Beziehung zwischen Alchemie und Musik weit weniger organisch zu sein als bisweilen vermutet (vgl. Schenkel 2003: 17-18). Vielmehr liefern „[d]ie erhaltenen Zeug‐ nisse vertonter Alchemica […] einen weiteren Beleg für das Ausgreifen der alchemistischen Ideologie auf andere Ausdrucks- und Erfahrungsebenen im Sinne einer Transformation und Ästhetisierung, wie wir sie aus dem Verhältnis der Alchemie zur Dichtkunst und zu Malerei kennen“ (Meinel 1986b: 225). Mit der Alchemie verbinden die meisten Menschen sicherlich zunächst nicht die Künste, sondern die Suche nach einer Rezeptur, um aus unedlen Metallen Gold herzustellen. Da dies nie gelingen konnte, haftet der Alchemie der Ruf der Betrügerei und Scharlatanerie an. Sie gilt heute als die unseriöse Schwester der seriösen Chemie. Oftmals verfügten Alchemisten aber über hervorragende naturwissenschaftliche und metallurgische Fähigkeiten, „so daß es nicht verwundern kann, daß aus ihren Reihen sowohl tüchtige Münzmeister als auch von Münzherren zuweilen protegierte Münzverfälscher und Falschmünzer hervorgingen“ (Müller-Jahncke/ Telle 1986: 229). Die „Suche nach dem ‚Gold im Schmutz‘“ (Hoheisel 1986: 123 5.4 Benjamin de Geer - der Alchemist DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 9 C.G. Jung hat Alchemie und Psyche in einen engen Zusammenhang gestellt, als er eigene Träume und Träume seiner Patienten analysierte und darin Ähnlichkeiten zu alchemistischen Bildern und Symbolen entdeckte. Seiner Auffassung nach stehen die Symbole der Alchemie für die unbewusst stattfindenden psychischen Entwicklungsschritte des Menschen (vgl. Jung 1995; vgl. hierzu auch Frick 2000; Schenkel 2003: 54-65). 76) beschränkte sich jedoch nicht allein auf Edelmetalle, sondern erstreckte sich auch auf den Menschen und seine Beziehung zur Welt und zum Göttlichen. Beinhaltete die Alchemie als Kunst und Wissenschaft bis in die Zeit der Aufklärung hinein sowohl naturwissenschaft‐ liche als auch philosophische, moralische und ästhetische Anteile, um zur allumfassenden Kenntnis von Natur und Kosmos zu gelangen, verschwand mit der Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, Kunst und Religion dieser ganzheitliche Aspekt (vgl. Gebelein 1998: 134-135; vgl. auch Buntz 1986). Als mit der Französischen Revolution das feudale Herrschaftssystem zusammenbrach, verlor die Alchemie auch ihren materiellen Aspekt, denn Alchemisten, die den Reichtum der Fürsten und Könige vermehren sollten, waren nun nicht mehr gefragt. So wurde die Alchemie im 19. Jahrhundert „in die Nacht hinaus getrieben, und diese Nacht können wir auch die Psyche nennen. Sie wird sich mit Psychologie 9 und Kunst verbinden, und eben auch mit der Literatur“ - dies sind die Gebiete, „die man als die Nachtseite der Naturwissenschaften bezeichnen kann“ (Schenkel 2003: 21). Die Alchemie ist also mit der Ablösung durch die Chemie und andere Naturwissenschaften nicht verschwunden, sondern ihre Symbole, ihre sinnlichen und übersinnlichen Aspekte finden nun verstärkt Eingang in die Künste und werden dort gewissermaßen transmutiert, also in etwas Edles verwandelt. Auf der „Nachtseite“ befindet sich nun der Roman Guldmageren qua Zugehörigkeit zu seiner literarischen Gattung. Hauch bedient sich dabei selbst der alchemistischen Gold-im-Schmutz-Metapher, und das gleich zweimal. Im Roman selbst lässt er De Geer die Alchemie mit einem kostbaren Stein vergleichen, der, ungeschliffen und roh im Straßenstaub liegend, kaum von den gewöhnlichen, unedlen Steinen unterschieden werden kann. Erkannt und entsprechend behandelt sei er jedoch in der Lage, „til at bryde og tilbagekaste de Straaler, som den modtog af Livets og Lysets Kilde [die Strahlen, die er aus des Lebens und des Lichtes Quelle entgegennahm, zu brechen und zurückzuwerfen]“ (Hauch 1900: 72). In seinem Vorwort zur Erstausgabe des Romans greift Hauch diese Metapher auf und bezieht sie nun auf den Roman und die Dichtkunst selbst, thi (for at bruge et Billede, hentet fra Fortællingen selv), der gaaer ofte saa, at en Digter finder en eller anden Steen med et raat Ydre, som laae paa Alfarvei og ikke syntes als love meget […]; men naar han da tager den hjem, sliber den og sætter den i det fordeelagtigste Lys, viser det sig ikke saa sjelden, at det er en ædel Steen […]. (Hauch 1900: III) denn (um ein Bild aus der Erzählung selbst zu benutzen), oft geht es so, dass ein Dichter den einen oder anderen Stein mit rohem Äußeren findet, der auf dem öffentlichen Weg liegt und nicht viel zu versprechen scheint; doch wenn er ihn nach Hause mitnimmt, ihn schleift und ihn in vorteilhaftes Licht setzt, zeigt es sich nicht so selten, dass es ein edler Stein ist. Der Roman selbst schildert wiederum seinerseits die Suche nach diesem edlen Stein, dem Stein der Weisen. Dabei eröffnet er eine Schau auf unterschiedliche Konzepte, der 124 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Welt zu begegnen und sie zu verstehen, die jedoch alle bis auf eines scheitern, da sie jeweils nur einen Teil des großen Ganzen berücksichtigen. Dr. Rosenfeld konzentriert sich als Chemiker auf naturwissenschaftlich erklärbare Vorgänge und lässt dabei den Bezug zur „Nachtseite“ vermissen. Mehr oder weniger erfolgreich ist er bestrebt, alles Übersinnliche, was ihm unerklärlich und somit bedrohlich erscheint, aus seinem Leben zu verdrängen. Isak, Veronica und Victor fürchten nicht das Unerklärbare, sondern versuchen auf ihre je eigene Art und Weise, finanzielles Kapital aus der Alchemie zu schlagen. Sie sind dabei weder an naturwissenschaftlicher noch an philosophischer oder religiöser Erkenntnis interessiert. Willibald von Freisleben verhält sich nach Goethe’schem Ideal edel, hilfreich und gut, sieht jedoch als Atheist im Dasein keinen höheren Sinn und führt ein verbittertes Leben ohne die Empfindung von Liebe und Freude (Hauch 1900: 256-262, 361-363). Felicitas hingegen ist erfüllt von Liebe und tiefem Glauben, aber der Roman hält für sie mangels Aussicht auf Gegenliebe nur den frühen Tod als Freislebens Seelenretterin bereit (Hauch 1900: 362-363, 368). De Geers Lehrmeister Lascaris, von dem der Roman in einer der Zweitausgabe beigefügten Binnenerzählung berichtet, verkörpert einerseits ein pantheistisches, als ganzheitlich verstandenes Konzept der Alchemie. Andererseits wird dieses Konzept als veraltet dargestellt und führt sowohl Lascaris als auch De Geer in die soziale Isolation (Hauch 1900: 183-217). Theodor jedoch durchschreitet auf seinem Weg all jene weltanschaulichen Konzepte, um mit der Hilfe von De Geer und Manon am Ende den richtigen Weg einzuschlagen. Als er diesen gefunden hat, wendet sich Theodor schließlich von der Alchemie ab, denn sie ist überflüssig geworden. Ihre Funktion für den Romantext aber benennt Carsten Hauch in seinem Vorwort zur Erstausgabe seines Romans selbst: Uagtet Titelen, er da Guldmageriet kun Drivhjulet, men aldeles ikke Grundideen i denne Fortælling, hvori jeg, som sagt, ønskede at fremstille, om ei en udvortes, dog en indvortes, om ei en historisk, dog en poetisk Sandhed. (Hauch 1900: II) Ungeachtet des Titels ist doch die Goldmacherei nur das Antriebsrad, aber keinesfalls die Grundidee in dieser Erzählung, in der ich, wie gesagt, wenn nicht eine äußere, so doch eine innere, wenn nicht eine historische, so doch eine poetische Wahrheit darzustellen wünschte. Ein Blick in die Motivgeschichte offenbart das Naheliegende: Die Alchemie als literarisches Motiv steht stets im Zusammenhang mit dem menschlichen Streben nach Höherem, nach Wahrheit und Erkenntnis, aber auch persönlichem Vorteil, nach Reichtum sowie ewigem und ewig jugendlichem Leben. Die Protagonisten tauchen dafür ein in Magie und Astrologie oder gehen schließlich, wie Faust, gar einen Bund mit dem Teufel ein. Der Wunsch, die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln und göttliche Weisheit und Macht zu erlangen, treibt die Figuren ebenso an wie die Sehnsucht, den Tod zu überwinden. In ihrem Streben treffen sie Fehlentscheidungen, geraten auf Abwege, lassen sich verführen, gelangen aber oft auch zu Erkenntnissen über das Wesen der Natur und des Menschen und gehen bestenfalls am Ende geläutert hervor (vgl. Daemmrich 1995: 26-29). Der Alchemist lebt aufgrund seiner im Geheimen stattfindenden Tätigkeit im Verborgenen, er ist Verfolgung und Misstrauen ausgesetzt und entzieht sich immer wieder „wie Quecksilber dem Zugriff “ (Daemmrich 1995: 29). Seine Funktion im literarischen Text besteht vor allem darin, „Geschehnisse zu begründen, Reaktionen auszulösen und auch durch komische Züge kontrastierend zu wirken“ (Daemmrich 1995: 28). Hier offenbart sich 125 5.4 Benjamin de Geer - der Alchemist DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 10 Schütt bezieht sich in diesem Zitat auf den Alchemisten Nicolas Flamel, der zwischen 1330 und 1417 in Frankreich gelebt haben soll (vgl. Schütt 2000: 337-348; Schmieder 1832: 198-199). 11 Die zitierte Bezeichnung des akademischen Grades und der Wirkungsort Schmieders stammen von der Titelseite des Buchs. 12 Hauch bezieht sich im Roman mehrfach auf Biografien verschiedener Alchemisten, die zum Teil fast im Wortlaut von Schmieder übernommen zu sein scheinen. die Ähnlichkeit zur Funktion jüdischer Figuren im Erzähltext. Auch sie sind, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, zwar der Motor, um die Erzählung voranzutreiben, aber nicht Kern der Erzählung selbst. Allein komische Züge sucht man bei der Figur des De Geer vergebens. Die wiederum findet man bei Isak Amschel, der am Ende in seinem eigenen Laboratorium erstickt, und dem, wie vielen lächerlichen Adepten der Literaturgeschichte, das Scheitern längst in den Körper eingeschrieben ist (vgl. Schenkel 2003: 28). Wenn aber die Alchemie in Guldmageren bereits der Motor der Erzählung ist, wozu braucht es dann noch die beiden jüdischen Figuren, um die Handlung voranzutreiben? Warum ist der Alchemist ein Jude? 5.4.2 Doppelt gefährdet: Alchemist und Jude An die Alchemie lassen sich ganz verschiedene weltanschauliche, oftmals auch esoterische Ansätze anknüpfen, so dass neben Astronomie, Astrologie, christlicher Mystik und Überlie‐ ferungen aus der griechischen und ägyptischen Antike auch die Kabbala, als jüdisch-pan‐ theistische Tradition, leicht mit alchemistischem Denken vermengt werden konnte. Ab dem frühen 16. Jahrhundert wurde dank erster Übertragungen aus dem Hebräischen die Kabbala in die zeitgenössischen deutschsprachigen Diskurse und somit auch in die Alchemie integriert (vgl. Schütt 2000: 389, 423-428). Darüber hinaus sind es zwei jüdische Gestalten der Antike, die als „Vater und Mutter der Alchemie“ (Schütt 2000: 345) gelten: Moses, der laut biblischer Erzählung (vgl. Ex 32,20) das Goldene Kalb zu Pulver zermahlte und einen Trank daraus herstellte, und Maria die Jüdin, auch Maria Prophetissa genannt, die Pionierin der Alchemie, die zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert in Alexandrien lebte und wirkte, und nicht nur als Erfinderin praktischer chemischer Verfahren gilt, sondern auch wesentlicher alchemistischer Lehrsätze (vgl. Schütt 2000: 117-126). Alchemistische Kunst und Wissenschaft sind also von vornherein mit Assoziationen des Jüdischen verbunden. Mit der Figur des De Geer werden diese Assoziationen im Roman explizit gemacht. Als jüdischer Alchemist „personifiziert er ein […] Charakteristikum alchemistischer Erzählungen, den Hinweis nämlich auf die Fremdheit und auf die uralten Quellen der Alchemie“ (Schütt 2000: 345). 10 Die natürliche Verbindung zwischen Alchemie und Judentum, die der Roman suggeriert, wird auch in einem zeitgenössischen Werk und späteren Klassiker über die Alchemie nahegelegt. Die Geschichte der Alchemie von Karl Christoph Schmieder, „Doktor der Philosophie und Professor zu Kassel“ 11 sowie Schuldirektor, Lehrer und Mineraloge (vgl. Poggendorff 1863: 822), erschien 1832 und kann als eine von Hauchs wichtigsten histori‐ schen wie künstlerischen Quellen, gewissermaßen also als sein ungeschliffener Edelstein, ausgemacht werden. 12 Schmieder zufolge seien Informationen über jüdische Adepten besonders unsicher und rar, was an der besonderen Zurückgezogenheit ihrer Lebensweise 126 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) liege: „Fast scheint es, daß das Gelübde unbedingten Verschweigens den Juden leichter werde, als den Christen“ (Schmieder 1832: 523). Der Mangel an gesicherter Kenntnis über jüdische Adepten bestätige demnach also geradezu die perfekte Eignung von Juden für die Kunst der Alchemie. Neben dem Misstrauen und der Missgunst, die De Geer als Alchemist allenthalben zu fürchten hat, ist er immer auch der möglichen Verfolgung als Jude ausgesetzt. Das Wissen um diese Gefahr kann bei Erscheinen des Romans bei der dänischen Leserschaft vorausgesetzt werden und speist sich nicht zuletzt aus den unlängst auch in Dänemark erlebten Gewaltaus‐ brüchen gegen die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1819 und 1830. In der Binnenerzählung von De Geers Kindheit und Jugend wird dieser Wissenshintergrund der Leserinnen durch eine Schilderung von Pogromen aufgefrischt und in den historischen Kontext des Romans eingebettet. Als Kind löst De Geer, der in Genua aufwächst und im jüdischen Ghetto lebt, unbeabsichtigt einen Gewaltexzess gegen die jüdische Bevölkerung aus. Angezogen und fasziniert von einer christlichen Prozession, wahrscheinlich einer Karfreitagsprozession, folgt De Geer den Gläubigen bis zur Kirche, wo er aufgrund seines Äußeren als Jude erkannt und als Verräter Jesu beschimpft und angegriffen wird. Schutz und Zuflucht bietet ihm ein Fremder, der sich später als der Alchemist Lascaris entpuppt. Als Reaktion auf die angebliche Verhöhnung Christi durch den jungen De Geer stürmen christliche Bewohner Genuas das jüdische Ghetto, plündern, zerstören und legen Brände. Lascaris bietet De Geer eine Alternative zu seinem Leben in den engen Mauern des Ghettos an, doch verlieren sie einander kurz darauf aus den Augen. Als sich beide einige Jahre später erneut begegnen, nimmt De Geer das Angebot an und geht bei Lascaris in die Lehre (Hauch 1900: 164-203). Die Begegnung mit Lascaris vor dem Hintergrund der judenfeindlichen Gewalterfahrung und die Rettung des Jungen durch den besonnenen Alchemisten stellen die Initiation für De Geers Entscheidung für die Alchemie dar. Auch Lascaris ist ein Verfolgter, der Misstrauen und Hass ebenso fürchten muss wie den Neid und die Habgier seiner Mitmenschen. Auch er muss sich verstecken, sich tarnen und immer wieder seinen Aufenthaltsort wechseln. Dennoch kann er sich prinzipiell an jedem Ort und unter allen Menschen frei bewegen, ohne wie De Geer zusätzlich der Gefahr judenfeindlicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Lascaris ist Alchemist, nicht Jude, und „[a]nders als die Juden waren die Alchemisten nicht gewissermaßen ex cathedra vom innerchristlichen Diskurs ausgeschlossen. Wenn man einen jüdischen Adepten verbrannte, dann nicht, weil er Alchemist war“ (Schütt 2000: 389). Für De Geer gibt es also letztlich kein Entkommen, sein Schicksal potenziert sich nun sogar, weil er als Alchemist zusätzliches, ihn gefährdendes Interesse weckt. Er ist nun ein doppelt Verfolgter, ein doppelt Fremder, ein doppelt Geheimnisvoller, ein doppelt Unglücklicher. De Geer ist Ahasverus und Alchemist; wo er seiner Berufung als Alchemist zu entrinnen versucht, versperrt ihm sein Judesein die Möglichkeit eines glücklichen Lebens (vgl. Hauch 1900: 154-159). Literarisch betrachtet ist De Geer jedoch eine umso produktivere Figur, die über sich selbst hinauswirkt. Diese Produktivität erstreckt sich vor allem auf die Gestaltung der beiden Schwestern Veronica und Manon, womit ich mich in Kapitel 5.6 beschäftigen werde. Zuvor jedoch soll die Bedeutung des jüdischen Adepten für die Vorstellung dessen, was der Stein der Weisen ist, dargestellt werden. 127 5.4 Benjamin de Geer - der Alchemist DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 5.4.3 Der Weg des Steins der Weisen: Antike - Judentum - Christentum Als De Geer sich entschließt, Theodor als seinen Schüler anzunehmen und ihn das Geheimnis der Goldherstellung zu lehren, führen beide eine Unterhaltung über das Wesen des sogenannten Steins der Weisen, jenes begehrten Pulvers, das in der Lage ist, unedle Metalle in Gold zu verwandeln. De Geer bekennt vor Theodor, dass er ein wahrer Adept sei und die Kunst der Goldherstellung beherrsche, so dass er „var i Stand til at vinde al Verdens Kongeriger, hvis jeg blot havde en Plads udenfor Verden, hvorpaa jeg med Sikkerhed kunde udøve den [imstande wäre, alle Königsreiche der Welt zu gewinnen, wenn ich bloß einen Platz außerhalb der Welt hätte, wo ich sie in Sicherheit ausüben könnte].“ Theodor, dem das zu wenig erscheint, fragt: „Men forstaaer Du ikke mere endnu end at frembringe Guld? [Aber vermagst du nicht mehr noch, als Gold hervorzubringen? ]“, und fügt hinzu: „Den Tinctur, der blot er i Stand til at forandre Metaller, burde endnu ikke kaldes de Vises Steen […]; thi denne skulde jo være ligesom Salomons Segl, der herskede over Livets og Dødens Aander og over Indbyggerne i ubekjendte Verdener [Die Tinktur, die bloß imstande ist, Metalle zu verwandeln, sollte noch nicht Stein der Weisen genannt werden; denn dieser sollte doch sein wie Salomons Siegel, das über die Geister des Lebens und des Todes herrschte und über die Bewohner unbekannter Welten]“ (Hauch 1900: 159-160). De Geer hatte sich diese Frage bisher nicht gestellt, hat die Macht des Steins der Weisen nicht als so weitreichend verstanden und daher auch nicht danach gesucht. Vor dem Hintergrund dieser Textpassage muss nun dem Romantitel „Guldmageren“ Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zwar beherrscht De Geer die Kunst des Goldmachens, doch sein Verständnis von der Alchemie erstreckt sich nicht auf Fragen jenseits der Materialität, und so reduziert Hauch seinen Alchemisten im Romantitel auf einen bloßen Goldmacher. Was nun wie eine literaturwissenschaftliche Spitzfindigkeit gegenüber zwei scheinbar synonym gebräuchlichen Bezeichnungen aussehen mag, ist bei Schmieder genau unterschieden: Die Inhaber der Wissenschaft hießen: W e i s e, S o p h i, und die dem Licht Nachstrebenden: P h i ‐ l o s o p h e n, die vollkommenen Meister der Kunst: A d e p t e n, die werden aber: A l c h e m i s t e n. Die Laien und Widersacher unterscheiden minder subtil, reden meistens deutsch von G o l d m a c h e r e i und G o l d m a c h e r n, und wollen der Sache ihren klangvollen Namen nicht lassen. Indessen erschöpft Goldmachen den Begriff der Alchemie nicht[.] (Schmieder 1832: 1) Die Wahl des Romantitels wird kaum auf mangelnde Subtilität zurückzuführen sein. Vielmehr nimmt der Titel schon vorweg, was im Roman erst spät enthüllt wird: dass es nämlich erstens bei der Alchemie um einen höheren Sinn als den der Transmutation von Metallen geht, dass zweitens Theodor nach mehr sucht als nach der Goldtinktur und dass drittens - und dies ist im Zusammenhang dieser Analyse der springende Punkt - dieses Mehr bei einem Juden nicht zu finden ist. Dieser fokussiert allein auf den materiellen Gewinn seiner Tätigkeit, wenngleich er diesen Gewinn nicht zum eigenen Vorteil verwendet, sondern damit „sein unglückliches Volk retten“ (Schnurbein 2004: 64) will. Sein Scheitern mit diesem Vorhaben untermauert die „weitverbreitete […] Ansicht der Zeit, derzufolge es für das jüdische Volk an sich keine Zukunft gibt“ (Schnurbein 2004: 64). Seine Unvollkommenheit, die De Geer auch gegenüber Theodor ausspricht (Hauch 1900: 217), bezieht sich also nicht auf seine handwerklichen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten und Kenntnisse. Die Erwartungen, 128 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 13 Der Roman ist darin exemplarisch für die Darstellung jüdischer Figuren in den Werken nicht-jüdischer Autor*innen, das zeigen allein die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Texte. Ein prominenteres Beispiel greift Eva Lezzi in ihrer Monografie »Liebe ist meine Religion« mit der Figur des Juden in Lessings Schauspiel Die Juden auf: „Dieser ist einem eigenen Milieu oder familiären Umfeld vollständig entzogen. Selbst die vom Reisenden eingehaltenen religiösen Gebote sind alle auf ihn als Individuum zugeschnitten und bedürfen keiner Gemeinschaft; weder besucht er eine Synagoge, noch betet er in einem Minjan, ebenso wenig nimmt er je an einer familiären religiösen Zeremonie teil“ (Lezzi 2013: 70-71). die Theodor an den Stein der Weisen hat, sind nicht mit der Alchemie zu erfüllen, wie De Geer sie vermitteln kann, sondern allein mit der Religion. Doch De Geers Religion wird als Fossil dargestellt, der Roman schildert keine lebendige jüdische Religiosität. 13 Es sind die bereits bekannten stereotypen Referenzen auf Figuren der Hebräischen Bibel - Moses, Salomon, Abraham, Isak - sowie die (fälschliche) Nennung Gottes bei seinem vermeintlichen Namen Jehova, die De Geer als religiösen Juden markieren sollen (vgl. z. B. Hauch 1900: 169-170; vgl. hierzu auch Kapitel 2.3.1, Fußnote 5). Sein Lehrmeister Lascaris vertritt eine radikal pantheistische Weltsicht, die De Geer in dieser Rigorosität ablehnt, die er jedoch in seinem Brief an Theodor ausführlich darstellt. Eigene starke Argumente scheint Hauch der Figur De Geer hingegen nicht zuzubilligen, obwohl die Sympathien des Textes auf De Geers Seite liegen (vgl. Schnurbein 2004: 67). Und so scheint Lascaris’ Urteil über De Geer doch ganz dem vertrauten Bild des zeitgenössischen Lesepublikums zu entsprechen, wenn er zu ihm sagt: „Du er tro og behændig, Du er ogsaa forstandig paa Din Viis, men Du er endnu omspændt af det snevre Pandser, som Moses allerede smedede til Dine Forfædres Bryst [Du bist treu und behände, du bist auf deine Weise auch verständig, aber du bist noch immer eingespannt in den engen Panzer, den Moses bereits für die Brust deiner Vorväter geschmiedet hat]“ (Hauch 1900: 199). Dieser Panzer behindere De Geer, die Geheimnissen der Natur und des Kosmos in ihrem Kern zu begreifen. Der Roman stellt zwischen Lascaris, De Geer und Theodor eine bemerkenswerte Hierarchie her. Es ist Lascaris, von dessen Kunstfertigkeit und pantheistischem Weltverständnis innerhalb der Binnenerzählung - also des an Theodor gerichteten Briefs von De Geer - der Roman am eindringlichsten erzählt. Am Ende seines Berichts enthüllt De Geer Theodor: „Først paa Dødssengen aabenbarte Lascaris mig, at han virkelig var en Græker af Fødsel. [Erst auf dem Totenbett offenbarte mir Lascaris, dass er wirklich von Geburt ein Grieche war.]“ Die besondere Gewichtung dieser doch eigentlich recht unerheblich schei‐ nenden Information lässt aufmerken. Für De Geer erklärt Lascaris’ griechische Herkunft „Foreningen af en saa dyb Alvor med saamegen sydlig Ild og Bevægelighed [die Vereinigung eines so tiefen Ernstes mit so viel südlichem Feuer und südlicher Regsamkeit]“ (Hauch 1900: 218). Aber Lascaris verkörpert als Grieche nicht nur südländisches Temperament, dies hätte er schließlich auch als Spanier, Italiener oder anderer „Exot“ - zum Beispiel als Araber oder Jude - tun können. Er stellt vielmehr eine Brücke zur griechischen Antike her, die sich in seinem Pantheismus zeigt, in seiner Anbetung des „ældste af alle Guder [ältesten aller Götter]“ (Hauch 1900: 199), und in seinem fein ausgeprägten Sinn, unter den Kutten manch scheinheiliger Mönche in Wirklichkeit Satyren und Silenen, also Wesen der griechischen Mythologie, zu erkennen. Mit der Ausbreitung des Christentums hätten die antiken Götter und Wesen sich zurückgezogen, nur die hässlichsten und lüsternsten unter ihnen verweigerten den Rückzug, „thi de hang altfor meget fast ved den synlige Verden og 129 5.4 Benjamin de Geer - der Alchemist DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 14 Mit ‚spekulativer Alchemie‘ ist die philosophische Auseinandersetzung mit der Alchemie gemeint, nicht die praktische oder forschende Arbeit im Labor. dens Glæder; allermindst kunde de overtale dem til at forlade Menneskenes skjønne Døttre og de deilige Viinbjerge, hvor de vare vante til at holde deres natlige Fester [denn sie hingen viel zu sehr an der sichtbaren Welt und deren Freuden; am allerwenigsten konnte man sie überreden, die schönen Töchter der Menschen und die köstlichen Weinberge zu verlassen, wo sie gewohnt waren, ihre nächtlichen Feste abzuhalten]“ (Hauch 1900: 173). Dass Lascaris die dionysische Unterwanderung katholischer Klöster und Orden trotz bester Tarnung erkennt, zeigt an, dass er selbst in besonderer Beziehung zur griechischen Antike steht, der diese Naturwesen entstammen. In seiner Funktion als Alchemist verkörpert er somit die Ursprünge der Alchemie - die hier eben gerade nicht bei Moses und Maria der Jüdin, sondern im antiken Griechenland verortet werden. Lascaris erscheint in der Schilderung seiner Figur als vollkommener Meister seiner Kunst, wohingegen De Geer nur als Mittler dargestellt wird, der einen würdigen Nachfolger für Lascaris sucht. Der Stein der Weisen nimmt also seinen Ausgang bei Lascaris, als Repräsentant der antiken griechischen Alchemie und findet schließlich sein Ziel und sein Endpunkt bei Theodor als Vertreter des protestantischen Christentums. Die Funktion De Geers, der das Judentum repräsentiert, ist allein die Verwahrung und die Weitergabe eines geheimen Wissens, das er nicht im selben Maße zu erfassen vermag wie sein Vorgänger und sein Nachfolger. Lascaris aber ist zur Zeit der Romanhandlung bereits lange tot, und mit ihm ist das antik-pantheistische Weltverständnis endgültig Vergangenheit geworden. Und, das hebt De Geer in seinem Bericht hervor, auch Lascaris war unglücklich: „Han var mindre ulykkelig end jeg, det er vist; […]. Dog, trods al sin Sjælskraft, følte vel ogsaa han undertiden sin Eensomhed [Er war weniger unglücklich als ich, das ist gewiss. Doch trotz all der Kraft seiner Seele fühlte wohl auch er von Zeit zu Zeit seine Einsamkeit]“ (Hauch 1900: 217). Auch Lascaris’ Erkenntnis ist also nicht vollkommen, da er weder den Tod überwindet noch den Schlüssel zum Glück findet. Erst Theodor ist am Ende des Romans glücklich, und als Christ ist ihm das ewige Leben nach dem Tod gewiss. Der Weg, den die Alchemie hier von Lascaris, dem Griechen, über De Geer, den Juden, zu Theodor, dem protestantischen Christen nimmt, lässt sich als Siegeszug des Christentums lesen und das evangelische Christentum als einzige Religion mit Zukunft verstehen. Das Judentum stellt auf diesem Weg nur einen Übergang zwischen zwei überlegenen Weltanschauungen und Epochen dar, der Vergangenheit in Form der griechischen Mythologie und der Zukunft in Form der evangelisch-lutherischen Kirche. Dies wäre eine erste mögliche Interpretation, schließlich ist die Engführung von christlicher und alchemistischer Erlösungsvorstellung integraler Bestandteil der Alchemie seit dem Mittelalter, wie Hoheisel in seinem Aufsatz Christus und der philosophische Stein darlegt. Nichts […] unterstreicht den Anspruch der spekulativen Alchemie, 14 mit Religion und Kirche auf einer Stufe zu stehen, deutlicher als die Parallelisierung ihrer zentralen Größe, des philosophischen „Steines“, mit dem Christus von Bibel und Kirchenlehre. […] Mittelalterliche Alchemisten […] sehen in der Verbindung ihrer Wundersubstanz mit Christus geradezu das höchste Geheimnis ihrer Kunst. C.G. Jung hat das bleibende Verdienst, das Gewicht dieser von ihm sogenannten Lapis-Christus-Parallele erkannt und insgesamt richtig gedeutet zu haben. (Hoheisel 1986: 72) 130 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 15 Wann und unter welchen Umständen Madame Wolfgang stirbt, bleibt unerzählt. Theodors Pflege‐ sohn Sehfeld wird als letzter Adept in Österreich gesichtet, dann verliert sich seine Spur (Hauch 1900: 369). Diese mittelalterliche Parallelisierung von Lapis (also: Stein) und Christus, die C.G. Jung 1944 mit seiner Untersuchung für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen erschlossen hat (1995: 395-491), findet auch in Guldmageren ihren Widerhall. Und doch stimmt diese Schlussfolgerung nur halb. Denn zwar ist Theodor ein Christ, der nach einigen Fehlschlägen am Ende des Romans geläutert ist und den rechten, das heißt bürgerlich und christlich erwünschten Weg in die Ehe einschlägt. Doch die Alchemie, wie sie im Roman dargestellt ist, bleibt stets auf die Herstellung von Gold bezogen und klammert die wesentlichen Fragen von Leben, Tod und Ewigkeit aus. So wendet sich Theodor am Ende des Romans folgerichtig von der Alchemie ab, denn er hat „saavel af Guldmagerens Exempel som af sin egen Skjebne, lært at indsee, hvorlidet en overordentlig Rigdom bidrager til Menneskets Lykke [sowohl am Beispiel des Goldmachers als auch anhand seines eigenen Schicksals einzusehen gelernt, wie wenig außerordentlicher Reichtum zum menschlichen Glück beiträgt]“ (Hauch 1900: 368). Seinen wahren Stein der Weisen findet Theodor nicht etwa in einem von der Institution Kirche repräsentierten Christentum, sondern allein in der Liebe zwischen Mann und Frau. Diese allerdings ist in Guldmageren in der Tat nicht zu denken ohne den ausdrücklichen Bezug zum Christentum, so dass die romantische Liebe schließlich doch auch als Stein der Weisen im Sinne der Lapis-Christus-Parallele interpretiert werden kann. 5.5 Liebe = Christentum Theodor und Manon sind die einzigen Figuren, denen die Liebe gelingt - und nahezu die einzigen, die am Ende des Romans nicht sterben. 15 Der Tod fast aller anderen Figuren wird erzählt: Victor, der eine unglückliche Ehe mit Veronica führt und nach dem Tod Augusts II. seine begünstigte Position am Hof verloren hat, stirbt so plötzlich wie jung; sein Begräbnis spiegelt die Falschheit und Oberflächlichkeit seines Lebens wider (Hauch 1900: 365-367). Isak und Veronica versuchen nach dem endgültigen Verschwinden De Geers aus Dresden nun selber Gold herzustellen und ersticken kurze Zeit nach Victors Tod bei einem alchemistischen Experiment (Hauch 1900: 367-368). Rosenfeld, dessen verengter Blickwinkel ihn weder je aufrichtige Liebe noch aufrichtigen Glauben empfinden und empfangen ließ, war doch in seinem Leben immer bemüht, richtig zu handeln, und so findet er auf dem Sterbebett Vergebung von seiner Tochter Manon - die er gegen ihren Willen mit Victor verheiraten wollte - und von De Geer - dessen Vertrauen er zweimal missbraucht hatte (Hauch 1900: 270-279). Doch auch die integren Figuren, der wohltätige Freisleben und die aufopfernde Felicitas, sterben. Freisleben wird hinterrücks erdolcht und Felicitas stirbt einige Jahre später ganz plötzlich an seinem Grab. 131 5.5 Liebe = Christentum DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 16 Diese aktuellste Version der Lutherübersetzung (2016) nähert sich mit der unüblich scheinenden Wendung „und hätte der Liebe nicht“ grammatisch wieder Luthers ursprünglicher Übersetzung an, von der sie sich in der Fassung von 1984 entfernt hatte. 5.5.1 Freisleben und Felicitas Anhand dieser beiden Figuren, dem guten Atheisten Freisleben und der selbstlosen ‚schönen Seele‘ Felicitas, möchte ich die Bedeutung der romantischen Liebe als Teil des christlichen Diskurses für den Roman herausarbeiten. Denn zwischen diesen beiden kann die Liebe nicht gelingen, obwohl sie auf der „richtigen Seite“ stehen. Felicitas tritt in Freislebens letztem Lebensmoment als sein „Engel [Engel]“ auf, „der blev sendt for at sige mig, at der er mere Sandhed i vor Barndoms Drømme end i alle de Kloges Tvil? […] Saa vær min Sjælesørger og lær mig en bedre Tro, end den, som Verden lærte mig [der gesandt wurde, mir zu sagen, dass mehr Wahrheit in den Träumen unserer Kindheit ist als in allen Zweifeln der Klugen? So sei meine Seelsorgerin und lehre mich einen besseren Glauben als den, den die Welt mich lehrte]“ (Hauch 1900: 362). Freislebens seelische Rettung durch Felicitas’ religiöse Seelsorge ist unmittelbar mit der romantischen Liebe verknüpft. Dies wird nicht nur deutlich durch ihren späteren überraschenden Liebestod an seinem Grab, sondern auch durch die deutliche Referenz auf das Hohelied der Liebe aus dem 1. Brief des Paulus an die Korinther. Dort heißt es nämlich: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. (1. Kor 13, 1-3) Liest man die Figur Freisleben vor dem Hintergrund dieses populären Bibeltextes 16 aus dem Neuen Testament, wird deutlich, dass Liebe und Christentum im Romantext als Eins angelegt sind. Freisleben kann als Atheist zwar Wissen und Bildung in sich vereinen und seinen Besitz großzügig mit Bedürftigen teilen. Seine Taten sind aber „nur“ rational motiviert. Solange er ohne Liebe handelt, sind ihm und damit auch Felicitas jegliche Zukunftsperspektiven verschlossen. Daher bleibt auch ungewiss, ob er Felicitas’ Liebe zu ihm überhaupt erkennen kann. Die Figur Felicitas lässt sich ebenfalls vor dem Korintherbrief lesen: Ohne Freislebens Liebe nützen ihr weder ihr Glaube noch ihre guten Werke. Der Roman interpretiert also nicht nur eine allgemeine, an den Nächsten gerichtete Liebe als christlich, sondern ausdrücklich die romantische Liebe, die immer der Gegenliebe bedarf, um vollendet zu sein. Erst im letzten Augenblick seines Lebens öffnet sich Freisleben sowohl für Felicitas als auch für den christlichen Glauben. Wie weit er mit dieser doppelten Erleuchtung kommt, bevor er stirbt, lässt der Roman offen. Für Felicitas bedeutet dies, dass nur noch der Tod die Hoffnung birgt, ihr das Liebesglück zu vergönnen, das ihr Name - „die Glückliche“ - ihr prophezeit. Ihr Name wie auch Freislebens Wunsch, von ihr belehrt und bekehrt zu werden, können allerdings als deutliche Hinweise an die Leserin verstanden werden, dass sich Felicitas’ Hoffnung im Tod erfüllt, denn in ihr vereinen sich die drei Dinge, die den 132 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Tod überdauern: „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Kor 13, 13) Vor dem Hintergrund des Hoheliedes der Liebe, das gleichermaßen einen christlichen Begleittext für Hochzeiten wie für Beerdigungen darstellt, wird deutlich, dass der Romantext die Liebe nicht nur als christliches Alleinstellungsmerkmal ausmacht, sondern dass romantische Liebe und Christentum als ein und dasselbe gleichgesetzt werden. 5.5.2 De Geer und Manon Verdier Das Hohelied der Liebe aus dem 1. Korintherbrief ist ein Schlüsseltext für das Verständnis des gesamten Romans und somit auch für das Verständnis der beiden Alchemisten Lascaris und De Geer. Im Unterschied zu Lascaris hat De Geer wahre Liebe empfunden und empfangen. Die Feindschaft, die Rosenfeld gegenüber De Geer hegt, begründet sich in der Liebe zur selben Frau. De Geer liebte als junger Mann die Katholikin Manon Verdier, die spätere Frau Rosenfeld. Diese liebte ihn wieder, was von ihren Eltern akzeptiert wurde - eine bemerkenswerte literarische Ausnahme, da De Geers Jüdischsein offenbar nicht als Hinderungsgrund für die Ehe angesehen, zumindest im Roman nicht als solcher thematisiert wird. Möglich wäre hier eine Interpretation, der zufolge Katholizismus und Judentum einander nicht nur im Negativen, sondern auch im Positiven angenähert werden. Demnach würde eine Liebesbeziehung zwischen Manon und De Geer möglich sein, gerade weil Katholizismus und Judentum als einander ähnlich gedacht werden. Darüber hinaus ist Manon Verdier als Kreolin selbst eine südlich konnotierte Außenseiterin (vgl. hierzu Kapitel 5.6), so dass auch darin eine Legitimation ihrer Liebe zueinander gesehen werden kann. Allerdings findet - trotz aller konjunktivischen Möglichkeiten - eine Liebesbeziehung oder gar eine Eheschließung zwischen beiden letztlich eben doch nicht statt. Es ist die Alchemie, die die Ehe verhindert. De Geer ist, als er sich in Manon Verdier verliebt, Lehrling bei Lascaris. Als beide Hals über Kopf fliehen müssen, weil Lascaris Aufmerksamkeit und Missgunst erregt und Rosenfeld ihr Laboratorium aufgespürt und sie bei der Polizei angezeigt hat, bleibt De Geer keine andere Wahl, als seinem Lehrer zu folgen und somit auch Manon Verdier zu verlassen (vgl. Hauch 1900: 84, 156, 161, 214-215). Zwei Dinge binden ihn an die Alchemie: zum einen die Loyalität gegenüber Lascaris, zum anderen die Unmöglichkeit, in sein altes Leben zurückzukehren, um dieses mit Manon Verdier zu teilen. So taucht De Geer unter, ohne sich von Manon Verdier verabschieden zu können. Diese gibt nach einiger Zeit dem Werben Rosenfelds nach, wenngleich „et Par Taarer i hendes smukke Øine [ein paar Tränen in ihren hübschen Augen]“ (Hauch 1900: 84) Rosenfeld ahnen lassen, dass ihre Liebe nach wie vor De Geer gilt. Doch er gibt sich damit zufrieden, dass Manon Verdier „tilsidst fandt sig i [sich schließlich damit abfand]“ (Hauch 1900: 84), seinen Heiratsantrag anzunehmen, er auf diese Weise also einen vermeintlichen Sieg über De Geer davonträgt. Dessen Liebe zu Manon Verdier dauert hingegen sein ganzen Leben an und ist - anders als Rosenfelds Heiratsantrag - nicht an finanzielles Kapital 133 5.5 Liebe = Christentum DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 17 In diesem Kontext interessant wäre eine nähere Betrachtung der literarisch konstruierten Verbin‐ dungen zwischen finanziellem Kapital, Frauentausch und jüdischen Figuren. Für Gyllembourgs Novelle Jøden hat Joachim Schiedermair (2013) eine solche Untersuchung vorgenommen. als Verhandlungsgrundlage gebunden. 17 Mit der väterlichen Beziehung zu Manon Verdiers jüngerer Tochter stellt sich für De Geer erstmals eine adäquate Kompensation für seinen Verlust ein, wie in Kapitel 5.6.3 näher dargestellt wird. De Geer stirbt am Ende des Romans in Hamburg, wo er unter dem Namen Benjamin Jesse einen „Hvilepunkt efter sine Reiser [einen Ruhepunkt nach seinen Reisen]“ (Hauch 1900: 364-365) gefunden hatte. Sein treuer Diener verbürgt sich dafür, „at Benjamin Jesse, uagtet han var en Jøde af Fødsel, dog var en Christen i Hjerte og Handlemaade [dass Benjamin Jesse, obwohl er von Geburt ein Jude war, doch im Herzen und in seinen Handlungen ein Christ war]“ (Hauch 1900: 365). Damit reiht sich De Geer in die Reihe der ‚edlen Juden‘ (und vielen ‚schönen Jüdinnen‘) ein, die als Konsequenz aus ihrem edlen Charakter letztlich zum Christen werden: sei es wie Joseph und Salamiel in Blichers Jøderne paa Hald, die noch zu Lebzeiten konvertieren, wie Ingemanns alter Rabbiner, der im Sterben vom Licht des Christentums durchdrungen wird, oder wie Branco in Gyllembourgs Jøden, der wie De Geer zwar nicht konvertiert, doch das Christentum „ikke kan ungaae at ære i sit Hjerte, som det Lys, hvorfra al sand almindelig Cultur er udgaaet [nicht umhin kann, in seinem Herzen zu ehren als das Licht, von dem alle wahre allgemeine Kultur ausgegangen ist]“ (Gyllembourg 1867: 45). Auch in Schmieders Geschichte der Alchemie wird das Leben und Wirken eines jüdischen Alchemisten namens Benjamin Jesse skizziert. Schmieder nennt als seine Hauptquelle einen Brief, der 1730 von einem Schüler Jesses, einem Christen, verfasst wurde. Über seinen Lehrer schreibt dieser: „Er war von Geburt ein Jude, im Herzen aber ein Christ; denn er ehrte unsern Heiland“ (Schmieder 1832: 523). Nicht nur offenbart die augenfällige Ähnlichkeit zwischen den Formulierungen in Hauchs Roman und Schmieders historischer Darstellung einen unverhofft direkten Einblick in die Bibliothek des Romanautors. Sie zeigt auch die überliterarische Popularität des Topos vom ‚edlen Juden‘, der nicht anders gedacht werden kann, denn als Christ im Herzen. De Geer fügt sich ein in die Reihe derjenigen Figuren, in denen wahre Liebe und wahrer Glaube als zusammengehörig gedacht werden. Die Rückversicherung durch Hauchs Erzählinstanz, die sich auf den überlieferten Brief bezieht, richtet sich an den Leser, der nun im Sinne des Korintherbriefs für De Geer auf ein Leben nach dem Tod und ein Wiedersehen mit seiner Geliebten hoffen darf. 5.5.3 Theodor und Manon Allein Theodor und Manon finden bereits zu Lebzeiten zueinander, dabei wird keiner von beiden ausgesprochen religiös dargestellt. Theodor muss im Gegenteil im Verlauf der Handlung erst unter Beweis stellen, dass er tatsächlich moralisch, ehrlich, bescheiden, integer und mithin ein guter Christ ist. Manon wiederum entspricht zwar mit ihrer Sanftmut und Bescheidenheit dem Idealbild einer Tochter aus christlich-bürgerlichem Haus, doch ihre Frömmigkeit wird bei weitem nicht so hervorgehoben, wie es bei der Darstellung der Felicitas der Fall ist. Manons Religiosität zeigt sich vor allem an ihrem inneren Kompass, 134 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) dem sie folgt. Sie lässt sich weder von kostbaren Geschenken beeindrucken - stattdessen erkennt sie, welche Gabe von Herzen kommt und zieht das schlichte dem prunkvollen Geschenk vor (Hauch 1900: 116-117) - noch lässt sie sich von leichter Tanzmusik hinreißen - stattdessen spielt sie auf der Gitarre und singt dazu eine schlichte Volksweise, deren einfache Wahrheit und Tiefe mit der Tiefe ihrer eigenen Seele korrespondiert (Hauch 1900: 52-53; vgl. auch Kapitel 3.5.2). Dass Manon ganz selbstverständlich in den Gottesdienst geht, findet nur am Rande Erwähnung (Hauch 1900: 20-21) und ist nicht ausschlaggebend für die Charakterisierung ihrer Gläubigkeit. Ihr Handeln ist nicht durch äußere Vorgaben, Regeln und Rituale bestimmt, sondern allein durch ihr eigenes Gewissen und durch ein tiefes inneres Verstehen der Welt. Der Kompass, der ihr Orientierung bei ihren Entscheidungen gibt, ist die Liebe, wie sie im 1. Korintherbrief charakterisiert ist. Manon lässt sich sogar selbst als Verkörperung dieser Liebe lesen, denn sie „ist langmütig und freundlich“, selbst gegenüber ihrer Schwester Veronica und gegenüber ihrem starrköpfigen Vater, sie „eifert nicht“, sie treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. (1. Kor 13, 4-7) Manon erträgt, als Theodor scheinbar den Versuchungen des Geldes und der Lust verfallen ist, sie duldet, dass ihr Vater sich von ihr abwendet, sie glaubt dennoch an seine Unschuld, sie hofft auf ein Einsehen. In Manon hat Theodor also die Liebe gefunden, die das eigentliche Ziel seiner Suche nach dem Stein der Weisen darstellt. Endlich vereint sind Theodor und Manon „usigelig lykkelige [unsagbar glücklich]“ (Hauch 1900: 360), ein Gemütszustand, den De Geer trotz oder gerade wegen aller alchemistischen Kenntnisse niemals erreicht hat. Vielmehr war es die Alchemie, die das Gelingen der Liebe für De Geer verhindert hat. Indem Theodor sich von der Alchemie abwendet und sich - anders als De Geer es zu tun in der Lage war - zu seiner Manon bekennt, erhebt der Roman die Liebe zum Stein der Weisen. Die Liebe ihrerseits wird, wie ich in Kapitel 5.5.1und 5.5.2 gezeigt habe, durch die vielfältigen Beziehungs- und Liebeskonstellationen der anderen Figuren als dezidiert christlich charakterisiert und löst somit auch das wichtigste Versprechen der Alchemie und des Christentums ein: das ewige Leben. Die Liebe findet ihre Erfüllung ausschließlich in der protestantisch-bürgerlichen Sphäre, doch ist die Zugehörigkeit allein noch nicht Garant für das Gelingen der Liebe, wie das Beispiel von Rosenfeld zeigt. Durch seine Reue und die Vergebung seiner Tochter und De Geers, des Alchemisten und wahren Geliebten seiner Frau, ist er jedoch in einen Kontext der Liebe eingebettet und darf ebenfalls auf ein Leben nach dem Tod hoffen. Diejenigen Figuren, die nach moralischen Maßstäben mit dieser Sphäre kompatibel sind, aber nicht direkt dazugehören, also Freisleben und De Geer, haben zumindest im Tod die Aussicht auf die Erfüllung der Liebe und - als Konsequenz aus der Kopplung der Liebe ans Christentum - auf das ewige Leben, denn: „Die Liebe höret nimmer auf“ (1. Kor 13, 8). Zum Schluss dieser Überlegungen bleibt anzumerken, dass die Frauenfiguren, also Feli‐ citas, Manon Verdier, verheiratete Rosenfeld, und deren Tochter Manon, im Romantext vollkommen von jeglichem naturwissenschaftlichen, philosophischen oder religiösen Er‐ 135 5.5 Liebe = Christentum DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 18 Die andere ist Gräfin Orelska, die jedoch als Nebenfigur im Kontext dieser Arbeit von geringerem Interesse ist. kenntnisprozess ausgeschlossen bleiben. Sie dienen den männlichen Figuren - und mit ihnen den Lesern - allein als duldsame Projektionsflächen, als Seelsorgerinnen und Retterinnen, die dieser ausschließlich männlichen Sinnsuche zum Erfolg verhelfen. Wobei diese Feststellung in Bezug auf Manon Verdier zumindest teilweise wieder eingeschränkt werden muss. Denn sie betreibt hinter dem Rücken ihres Mannes heimlich alchemistische Experimente, ein untypisches Verhalten, das sich aber gleichermaßen mit ihrer kreolischen Herkunft wie ihrem katholischen Glauben implizit begründen lässt. Der Roman erklärt ihr Verhalten nicht explizit, doch wird es als folgenreich dargestellt, denn zum Zeitpunkt der alchemistischen Versuche ist sie mit ihrer ersten Tochter Veronica schwanger. Veronica wiederum ist diejenige der weiblichen Figuren, die im Roman am konsequentesten und rücksichtslosesten ihre eigenen Interessen verfolgen. 18 Die Lust am Gold und an der Macht hat Veronica also bereits im Mutterleib mit den alchemischen Dämpfen inhaliert. Sie ist der Sphäre des katholischen Hofs zugehörig, denn zwar stammt sie aus bürgerlichem Haus, doch steigt sie am Hof in den Rang als Lieblingsmätresse des Königs auf, heiratet schließlich Victor von Marwitz und pflegt nicht zuletzt zwielichtige Beziehungen zum „Hofjuden“ Isak Amschel. Vor allem diese Beziehung zwischen Veronica und Isak soll im folgenden Kapitel genauer untersucht und mit der Beziehung zwischen ihrer Schwester Manon und De Geer kontrastiert werden. 5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind Der Roman Guldmageren erzählt nur von zwei jüdischen Figuren, De Geer und Isak, aber beim Lesen stellt sich der Eindruck ein, es gäbe noch zwei weitere jüdische Figuren: zwei Frauen, die mit allen Insignien des weiblichen Jüdischseins belegt sind, die als Jüdin gelesen werden können, nein, unwillkürlich gelesen werden müssen, und die dennoch keine Jüdinnen sind. Es sind die Schwestern Veronica und Manon, Rosenfelds Töchter, die Cousinen Theodors. Ihre Mutter ist zur Zeit der Romanhandlung bereits seit vielen Jahren tot. Sie war eine Kreolin, Tochter eines Kolonisten und kam als junge Frau mit ihren Eltern aus Guyana nach Paris (vgl. Hauch 1900: 83, 213-214). Dort lernte sie zunächst De Geer und wenig später Rosenfeld kennen. Sie verliebte sich in De Geer, doch nach seinem plötzlichen Verschwinden heiratete sie Rosenfeld und zog mit ihm nach Dresden, wo sie einige Jahre nach der Geburt ihrer beiden Töchter verstarb. Ihre Töchter zeigen nicht nur jede auf ihre eigene Art große Ähnlichkeit zur Mutter, sie entwickeln als junge Erwachsene auch ein enges Verhältnis zu je einem der beiden jüdischen Männer De Geer und Isak. Meine These ist, dass der Romantext Veronica und Manon als ‚schöne Jüdinnen‘ charakterisiert und dass dieser Leseeindruck zum einen mit der Herkunft der Mutter und zum anderen mit den Beziehungen der beiden Mädchen zu den respektiven jüdischen Männern im Zusammenhang steht. Beispiele von Jüdinnen und Juden, die, wie sich später herausstellt, doch gar keine sind, gibt es zahlreiche in der Literatur. Clemens Räthel zeigt in seiner Untersuchung Wie viel Bart darf 136 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) sein? anhand eines Beispiels aus Norwegen, dem Vaudeville En Jøde i Mandal [Ein Jude in Mandal] von Adolph Rosenkilde (1849), das komische wie didaktische Potenzial einer Figur, die sich als Jude ausgibt, jedoch kein Jude ist (Räthel 2016: 267-289). Ein ganz ähnliches Beispiel aus Norwegen ist die Fragment gebliebene Komödie Jøden [Der Jude] von Andreas Munch, die erstmals 2012 herausgegeben und von Andreas Snildal kommentiert wurde. Beide Stücke entstanden anlässlich der wiederholten parlamentarischen Abstimmungen über den zweiten Paragrafen der norwegischen Verfassung, der Juden und Jüdinnen bis 1851 die Einreise nach und den Aufenthalt in Norwegen verbot (vgl. Bock 2020: 275- 278; Räthel 2016: 273-277; Snildal 2012; Haxen 2001: 494-496; Sagmo 2000; Mendelsohn 1969: 9-275). Auch der schwedische Autor Carl Jonas Love Almqvist entwirft in seinem Drama-Roman Drottningens juvelsmycke [Das Geschmeide der Königin; 1834] eine Figur, die sich fälschlicherweise als Jude - mit alchemistischen Fähigkeiten (! ) - ausgibt, denn er „tykte […] Judevägen vara den säkerste till goda finanzer“ [„fand den Judenweg den sichersten zu guten Finanzen“] (Almqvist 2002: 234; dt. Übers. Almqvist 2006: 326). Für die deutschsprachige Literatur hat Nike Thurn eine Untersuchung mit dem Titel »Falsche Juden«. Performative Identitäten in der Literatur von Lessing bis Walser vorgenommen. In einem ihrer Kapitel widmet sie sich insbesondere der Figur der ‚schönen Jüdin‘ als „Christin ex machina“ (Thurn 2015: 155). Anhand von Lessings Drama Nathan der Weise und Achim von Arnims Novelle Die Majoratsherren zeigt sie, dass dieser literarische Kunstgriff eine Möglichkeit darstellte, Liebesgeschichten zwischen Jüdinnen und Christen zu erzählen, ohne sie letzten Endes tatsächlich umsetzen zu müssen (Thurn 2015: 155-238; vgl. auch Thurn 2011: 2). Allein, die hier aufgeführten Beispiele sind allesamt Figuren, die in Wahrheit keine Juden und Jüdinnen sind, aber von den anderen Figuren und meist auch dem (Lese-)Publikum für solche gehalten werden - mit unterschiedlichen Konsequenzen. Anlass und Zweck ihrer gefälschten Identitäten mögen verschieden sein, doch haben sie gemein, dass ihre nicht-jüdische Herkunft als Enthüllung und dramatischer Wendepunkt gegen Ende der Handlung aufgedeckt wird. Die falschen Jüdinnen in Guldmageren sind jedoch von vornherein Christinnen. An keiner Stelle werden Manon und Veronica als Jüdinnen bezeichnet, niemals steht in Frage, dass sie auch tatsächlich Christinnen sind. Und dennoch werden ihre Figuren mit Zuschreibungen belegt, die charakteristisch sind für die literarische Darstellungen von Jüdinnen. 5.6.1 Südamerika als Orient Als Theodor Manon zum ersten Mal erblickt, bildet ihre Erscheinung einen krassen Kontrast zur herbstlich-kühlen Jahreszeit, in der er nach Dresden und zur Familie Rosenfeld kommt. Theodor ist verwundert darüber, at see denne sjeldne, halv tropiske Plante her i Norden, hvortil Aarsagen uden Tvivl maatte søges deri, at Rosenfeld i Frankrig, hvor han en Tid lang opholdt sig, havde ægtet en Creolerinde, som imidlertid allerede var død for flere Aar siden, efter at have skjenket ham tvende Døttre, af hvilke den, vi her omtale, var den yngste. (Hauch 1900: 10) diese seltene, halbtropische Pflanze hier im Norden zu sehen, wozu die Ursache ohne Zweifel darin gesucht werden muss, dass Rosenfeld in Frankreich, wo er sich eine lange Zeit aufgehalten hat, 137 5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 19 Der zitierte Artikel wurde 1929 verfasst und ist somit selbst bereits historisch. Doch auch in dänischen und deutschen Wörterbüchern der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit (z. B. Duden oder Den Danske Ordbog) wird oder wurde das N-Wort unter dem entsprechenden Lemma lange Zeit nicht als primär rassistisch oder sogar als gar nicht rassistisch eingestuft. eine Kreolin geheiratet hatte, die jedoch bereits vor vielen Jahren gestorben war, nachdem sie ihm zwei Töchter geschenkt hatte, von denen diejenige, von welcher wir hier reden, die jüngere war. Die Bezeichnung von Manons Mutter als Kreolin impliziert hier zweierlei: nämlich ein exoti‐ sches Aussehen und eine Herkunft aus Mittel- oder Südamerika, in diesem Fall aus Guyana, wie im Romanverlauf geklärt wird. Schlägt man im historischen Wörterbuch Ordbog over det danske Sprog den Begriff nach, erhält man nicht nur Einblick in die Selbstverständlichkeit rassistischen Sprachgebrauchs in Wörterbüchern, 19 sondern erfährt auch, bei einem „Kreol“ handele es sich um i n d f ø d t v e s t i n d i e r (sjældnere om beboer af andre, tropiske lande) af e u r o p æi s k h e r k o m s t (ell. af negerrace; jf. Kreolneger); ofte spec. om den fra spanske (portugisiske) indvandrere stammende og med indiansk blod blandede befolkning i Mellemog Sydamerika. (Det Danske Sprogog Litteraturselskab 1929) e i n g e b o r e n e W e s t i n d e r (seltener um Bewohner anderer tropischer Länder) e u r o p ä i s c h e r H e r k u n f t (oder Negerrasse; vgl. Kreolneger); oft speziell um die von spanischen (portugiesischen) Einwanderern abstammende und mit indianischem Blut vermischte Bevölkerung in Mittel- und Südamerika. Die Zuschreibung ‚kreolisch‘ hat mit ihren dominanten Merkmalen ‚fremd‘, ‚exotisch‘, ‚südländisch‘ und mit der fluiden, transkontinentalen Begrenzung - denn offenbar sind hier Menschen mit europäischer, afrikanischer und amerikanischer Herkunft eingeschlossen - auffallende Ähnlichkeit mit der Zuschreibung ‚orientalisch‘. Was aufgrund der entgegen‐ gesetzten Himmelsrichtungen zunächst unwahrscheinlich erscheint - eine Interpretation von ‚kreolisch‘ als ‚orientalisch‘ - wird doch verständlich, wenn man das Modell des Orients heranzieht, das Andrea Polaschegg in ihrer 2005 erschienenen Monografie Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert herausarbeitet. Polaschegg zeigt, dass der Orient nicht eine geografische, sondern eine diskursive Größe ist, die sich über Ähnlichkeiten konstituiert: Verfolgt man die Linien solcher „Ähnlichkeiten im Großen wie im Kleinen“ innerhalb des Orient-Konzepts, dann erscheint eine sehr ähnliche Netzstruktur, wie sie Wittgenstein für den Begriff des Spiels ausgemacht hat: Spanien ist mit Nordafrika über eine gemeinsame maurische Architektur sowie die arabo-islamische Vergangenheit verbunden, hat aber eine christliche Gegenwart. Die Nordafrikaner wiederum teilen mit den Nubiern und Äthiopiern die Hautfarbe, aber nicht die Architektur. Dafür bilden sie mit den Ägyptern, Syrern und den Bewohnern der arabischen Halbinsel eine Gruppe arabischer und islamischer Länder, wobei nur die zweite Kategorie auch die Perser, Türken und Mongolen umfaßt. (Polaschegg 2005: 98) Polaschegg führt noch weitere Verbindungen an, die bis nach Japan einerseits und den Balkan andererseits reichen - und doch sind dies nur einige Beispiele für die „rhizom‐ hafte Struktur“ (2005: 98) des Orients. Zwar umfasst diese Vernetzung ausdrücklich 138 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 20 Polaschegg weist darauf hin, dass „Mauren“ unter den „Orientalen“ eine Sonderrolle einnehmen: „Während ein Chinese oder Araber keineswegs aufhörte, Orientale und damit Teil der Zivilisation zu sein, wenn er seiner orientalischen Kleidung beraubt wäre, verwandelt sich ein nackter Maure dagegen in einen ‚Neger‘ und damit in einen Teil der Natur“ (2005: 141). Polaschegg distanziert sich damit ausdrücklich von einem verallgemeinernden Konzept des ‚Wilden‘ bzw. des ‚Exoten‘, da so jene Differenzierung verwischt werde, die „für den Orientalismus des 18. und frühen 19. Jahrhunderts von so großer Bedeutung war“ (2005: 142). nicht Südamerika, doch ganz offenbar ist die kreolische Herkunft von Manon Verdier durch einzelne Arme dieser Rhizomstruktur mit der Vorstellung des ‚Orients‘ kompatibel. Orientalische Familienähnlichkeiten lassen sich bei „den Kreolen“ zum einen durch die Identifikation als Nachfahren spanisch-portugiesischer Auswanderer und zum anderen durch die Anschlussfähigkeit der Nachfahren aus Afrika stammender Sklav*innen an die vorgestellte Gruppe von „Mauren“ beziehungsweise „Mohren“ erkennen, die ihrerseits Teil des Konzepts ‚Orient‘ sind. 20 Diese Verbindung ruft der Romantext zweimal auf, indem er Naomi in Beziehung zu „Negrene […] i min Moders Fædreland [den Negern im Vaterland meiner Mutter]“ (Hauch 1900: 21) setzt, wobei sie als deren „Herskerinde [Herrscherin]“ (Hauch 1900: 302) inszeniert wird. Dass der Begriff ‚Kreol‘ unklar begrenzt ist, so dass er sich laut historischem Wörterbuch auch allgemein auf eine Herkunft aus kolonisierten tropischen Ländern ausdehnen lässt, macht ihn umso anschlussfähiger an das Konzept des Orients. Veronica und Manon werden im Romanverlauf wiederholt mit Orientalismen geschildert. Doch über diese Orientalisierung hinaus werden die beiden Frauenfiguren auch immer wieder mit Zuschreibungen des Jüdischen belegt. Darstellungen von Jüdinnen und Juden in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts kommen, wie auch die in dieser Arbeit untersuchten Texte belegen, kaum je ohne Refe‐ renzen auf das Alte Testament und somit auf den Orient aus. Denn die Bibel, insbesondere das Alte Testament, wird seit dem späten 18. Jahrhundert nicht mehr allein als religiöse Offenbarungsschrift, sondern vermehrt als hebräische „Poesie“ gelesen, „aus der die orientalische (Vor-)Vergangenheit spricht“ (Polaschegg 2005: 166). Mit der Historisierung und Orientalisierung des hebräischen Teils der Bibel und der Identifikation zeitgenössischer Jüdinnen und Juden als direkte Nachfahren der biblischen Figuren „etablierte sich in der deutschen Literatur und Publizistik die Möglichkeit, auch deutsche Juden orientalisch zu konnotieren“ (Polaschegg 2005: 168). Polaschegg weist auf das Forschungsdesiderat hin, das im Bereich der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Orientalisierung jüdischer Figuren besteht, und legt mit ihrer Monografie selbst eine erste Grundlage, um diese Lücke zu füllen (2005: 157-177). Weitere Schritte unternahm seither das internationale Forschungsnetzwerk „Gender in Antisemitism, Orientalism, and Occidentalism“, das 2015 die Anthologie Orientalism, Gender, and the Jews mit ersten Ergebnissen der Zusammenar‐ beit vorlegte (Brunotte/ Ludewig/ Stähler 2015). Hildegard Frübis (2014) hat sich mit ihren als Buch erschienen Vorlesungen über Die Jüdin als Orientalin oder die orientalische Jüdin des Themas aus kunsthistorischer Perspektive angenommen. Elisabeth Oxfeldt (2005) zeigt mit ihrer Monografie Nordic Orientalism, dass sich sowohl der Befund fehlender literatur‐ wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Orientalisierung jüdischer Figuren als auch die Orientalisierung selbst ebenfalls in Dänemark zeigt. Ziel ihrer Untersuchung ist es, die nationale Besonderheit und das identitätsstiftende Potenzial des dänischen Orientdiskurses 139 5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 21 Das historische Wörterbuch Holberg-Ordbog schreibt z. B. zum Lemma „Jomfru“ unter Punkt 2: „(ung) kvinde som ikke har haft kønslig omgang med nogen [(junge) Frau, die keinen Geschlechtsverkehr hatte]“ (Det Danske Sprogog Litteraturselskab 1981-1988; vgl. auch Det Danske Sprogog Litteraturselskab 1927). herauszuarbeiten (vgl. hierzu Behschnitt 2007; Volquardsen 2010). Dabei berücksichtigt sie nur am Rande literarische Darstellungen von jüdischen Figuren sowie die Perspektive der nicht-jüdischen dänischen Öffentlichkeit auf den jüdischen Teil der Bevölkerung (Oxfeldt 2005: 55-67). Bezeichnend ist allerdings die unhinterfragte Selbstverständlichkeit, mit der Oxfeldt auf den „domestic Jewish Oriental“ (2005: 56) referiert, und so die Vorstellung von den dänischen Juden und Jüdinnen als einheimischen Oriental*innen, wie sie sie in ihren Quellen dargestellt findet, einerseits reproduziert, andererseits aber auch dokumentiert. Der Prozess der Orientalisierung deutscher und dänischer Jüdinnen und Juden war im 19. Jahrhundert offenbar soweit verinnerlicht, dass er auch in die Gegenrichtung wirksam werden konnte, wie sich anhand des Romans Guldmageren zeigen lässt. Sind Manon und Veronica, die Töchter einer Kreolin, als Orientalinnen lesbar, werden sie in dieser Rolle wiederum als Jüdinnen imaginierbar. Dieses Assoziationspotenzial stellt sich allerdings nicht allein durch die Bedingungen des Orientdiskurses ein, sondern wird erst durch ihre Beziehungen zu den jüdischen Figuren überzeugend: Veronica pflegt eine geschäftliche, dabei mitunter auch erotisch anspielungsreiche Beziehung zu Isak. Manon hingegen steht mit Benjamin de Geer in einem seelischen Verwandtschaftsverhältnis und findet ihn ihm eine Vaterfigur. 5.6.2 Veronica und Isak Isak ist die erste Figur, der Theodor bei seiner Ankunft in Dresden begegnet. Wenig vertrauenswürdig erscheint Isak, doch ist Theodor auf seine Hilfe angewiesen, denn den Weg zum Haus seines Onkels kennt er nicht. Isak weiß, wo Familie Rosenfeld wohnt und scheint insbesondere mit Veronica vertraut zu sein: „‚Ei, ham [Doctor Rosenfeld] kjender jeg meget vel,‘ svarede den Lille, ‚og endnu bedre kjender jeg hans ældste Datter Jomfru Veronica‘ [‚Ei, ihn (Doktor Rosenfeld) kenne ich sehr gut,‘ antwortete der Kleine, ‚und noch besser kenne ich seine älteste Tochter, Jungfrau Veronica‘]“ (Hauch 1900: 4). Als Isak Theodor durch eine dunkle Gasse führt und Theodor misstrauisch wird, bezieht sich Isak zu seiner Entlastung erneut auf Veronica: „‚Herren behøver ikke at mistroe mig; han kan blot spørge Jomfru Veronica Rosenfeld om Isak Amschel, hun kjender mig godt‘ [‚Der Herr braucht mir nicht zu misstrauen; er frage nur Jungfrau Veronica Rosenfeld nach Isak Amschel, sie kennt mich gut‘]“ (Hauch 1900: 7). Die Bezeichnung als Jungfrau war zwar im 19. Jahrhundert die übliche Anrede für eine unverheiratete Frau, jedoch beinhaltete die Bezeichnung auch damals bereits die Möglichkeit einer sexuellen Konnotation (vgl. Det Danske Sprogog Litteraturselskab 1927, 1981-1988). 21 Diese Konnotation legt auch der Romantext selbst nahe, wenn später über die Vorlieben des Königs für sexuell erfahrene, gleichwohl aber junge Frauen zu lesen ist, „han lider ikke de altfor jomfruelige Damer [er mag nicht die allzu jungfräulichen Damen]“ (Hauch 1900: 108). Veronica indes ist, anders als Manon, ganz nach seinem Geschmack. Die Anrede „Jomfru“ aus dem Munde Isaks wirkt bereits zu Beginn des Romans weniger wie eine Hervorhebung von Veronicas 140 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Vertrauenswürdigkeit als ehrenwerte Bürgerstochter, sondern stellt im Gegenteil vielmehr sowohl ihre Vertrauenswürdigkeit als auch ihre Jungfräulichkeit in Frage, wo sie doch offensichtlich eine ungewöhnliche Form der Beziehung zu ihm unterhält. Überdies scheint Isak Dinge über sie zu wissen, die auf ein besonders enges Verhältnis zwischen beiden schließen lassen: „‚[D]et er en Pige med store Gaver der engang vil neddrage Velsignelsen over den Christnes Huus‘ [‚Das ist ein Mädchen mit großen Gaben, das einmal Segen über das Haus des Christen bringen wird‘]“ (Hauch 1900: 4). Das Unbehagen gegenüber Isak überträgt sich unmittelbar auf Veronica, obwohl sie im Roman noch gar nicht in Erscheinung getreten ist. Als Theodor schließlich das Haus seines Onkels erreicht, zunächst Felicitas und Manon kennenlernt und schließlich auch Veronica erstmals begegnet, spricht er sie nun seinerseits mit „Jomfru Veronica“ an (Hauch 1900: 12). Doch zu diesem Zeitpunkt wirkt diese Anrede bereits wie eine Karikatur, denn während sie auf ihn zuläuft, bemerkt Theodor ihr Äußeres, das so sehr im Kontrast zu dem der anderen beiden Mädchen steht. Doch nicht Manon und Felicitas spricht Theodor als „Jomfru“ an, sondern ausgerechnet Veronica, deren Körper „ikke meget høi, men særdeles veldannet, skjøndt maaske noget for fyldig [nicht sehr groß, aber außerordentlich wohlgestaltet, wenn auch vielleicht etwas zu üppig]“ gewachsen ist und deren Gesicht „om hvilket de sorte Haar faldt i uordentlige Lokker [um welches das schwarze Haar in unordentlichen Locken fiel]“ Theodor „i høieste Grad blomstrende [im höchsten Grad blühend]“ erscheint (Hauch 1900: 12). Ihr Blick zeigt an, dass Veronica ganz und gar körperlich ist: [D]e store brune Øine syntes dog mere ildend sjælefulde, eller hvis man vilde kalde det Udtryk Sjæl, hvilket viste sig deri, da maatte det være den Art af Sjæl, om hvilket de ældre Philosopher paastode, at den var af en jordisk og dødelig Natur og havde sit Sæde i Blodet. (Hauch 1900: 12) Die großen braunen Augen schienen doch mehr feuerals seelenvoll, oder wenn man den Ausdruck, der sich in ihnen zeigte, Seele nennen wollte, so müsste es eine Art von Seele sein, von der die älteren Philosophen feststellten, dass sie von irdischer und sterblicher Natur war und ihren Sitz im Blut hatte. Mit dieser „sichtbar übersättigten, überreifen Erotik“ und der Ausstrahlung von „provozie‐ render Sinnlichkeit“, wie Florian Krobb (1993: 93) sie für den Topos der ‚schönen Jüdin‘ beschreibt, also tritt Veronica herausfordernd auf Theodor zu. Mit der Anrede „Jomfru“, die Theodor nach dieser auch moralischen Beurteilung Veronicas wählt, und in der die Konnotation der sexuellen Unerfahrenheit liegt, wird paradoxerweise also gerade nicht die Keuschheit Veronicas betont, sondern vielmehr infrage gestellt. Und der Verdacht erhärtet sich. Wenige Tage nach seiner Ankunft im Hause Rosenfelds beobachtet Theodor nachts aus seinem Fenster heraus, wie Veronica sich „i en kostbar Dragt af hvid Silke [in eine kostbare Tracht aus weißer Seide]“ kleidet und sich mit „gylnde Smykker [goldenem Schmuck]“, „en Snor af røde Coraller [einer Schnur aus roten Korallen]“ und „en glimrende Diamantnaal [einer funkelnden Diamantnadel]“ schmückt. „Endelig omgav hun de dunkle Lokker med en prægtig rød Turban, hvorefter hun blev staaende foran Speilet og betragtede sig selv [Schließlich hüllte sie die dunklen Locken in einen prächtigen roten Turban, woraufhin sie vor dem Spiegel stehen blieb und sich selbst betrachtete]“ (Hauch 1900: 29). Veronica erfreut sich an ihrer Schönheit und ihren Besitztümern, „der ikke blot i Kostbarhed overgik Alt, hvad unge Piger af hendes Stand ved 141 5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 22 Auch eine Parallele zum Märchen Schneewittchen ist erkennbar. Der schönen Prinzessin ähnelnd ist Veronica weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz und rot wie Blut. Und der bösen Stiefmutter ähnlich steht sie vor ihrem Spiegel, um sich von ihm bestätigen zu lassen, dass sie selbst die Schönste im ganzen Land sei. de høitideligste Leiligheder pleiede at bære, men der endog vilde have udmærket hende ved det største Hof [die nicht allein in ihrer Kostbarkeit alles überstiegen, was junge Mädchen ihres Standes zu den festlichsten Anlässen zu tragen pflegten, sondern die sie auch am größten Hof noch ausgezeichnet hätten]“ (Hauch 1900: 29). Ihr Anblick gleicht jenem der in seidene orientalische Kleider und reichen Schmuck gehüllten Rebecca aus Sir Walter Scotts Roman Ivanhoe, die wiederum selbst „das Modell jener Vollkommenheit sein [muss], deren Reize den weisesten König, der jemals lebte, toll machten. […] [S]ie ist die Braut des Hohen‐ liedes! “ (Scott 1971: 91). Diese Figur war dem zeitgenössischen Lesepublikum wohlbekannt und kann als ein Grundtypus literarischer Jüdinnen-Darstellungen im 19. Jahrhundert verstanden werden (vgl. Krobb 1993: 123; Polaschegg 2005: 172-173; vgl. auch Kapitel 2.2.1). Doch nicht nur wird Veronica durch doppelten intertextuellen Verweis der ‚schönen Jüdin‘ Rebecca und deren Vorbild aus dem Hohelied Salomos ähnlich gemacht, sie wird in dieser Szene auch durch den Verweis auf ein judenfeindliches Stereotyp als jüdisch markiert. Denn zunächst trägt Veronica all ihr Geld zusammen und zählt es, Gold- und Silbermünzen, die sich auf ihrem Tisch stapeln - auch dies eine deutliche Anspielung auf das vertraute Stereotyp des gerissenen jüdischen Geldwechslers. In ihrer Tracht zeichnet sich auch ihr alchemistisches Begehren ab, das in der allein auf Gewinn fokussierten Ausrichtung an dieses Stereotyp anknüpft: Das Rot des Turbans, ihres „langt Shavl af samme Farve [langen Schals von gleicher Farbe]“ (Hauch 1900: 29) und der Korallenkette leuchtet prächtig auf dem weißen Seidengewand und ihrer weißen Haut. Zusammen mit dem Schwarz ihrer Haare, steht sie gehüllt in die drei Hauptfarben der Alchemie (vgl. hierzu Hoheisel 1986: 65-66; Roth 2005: 6-10) vor ihrem Spiegel, 22 obendrein geschmückt mit großen Mengen des begehrten Edelmetalls. Zugang zu all diesem Reichtum verschafft ihr Isak, den sie wenig später in ihre Kammer einlässt. Theodor beobachtet, wie sie weitere Geldrollen von ihm entgegennimmt und wie beide „en ivrig Samtale [ein eifriges Gespräch]“ führen. Isak wirkt aufgebracht und „sprang flere Gange omkring i Værelset med selsomme Fagter, og hans Ansigtsmuskler svulmede ligesom i en voldsom Lidenskab [sprang viele Male mit seltsamen Gebärden im Zimmer umher, und seine Gesichtsmuskeln schwollen gleichsam in einer gewaltigen Leidenschaft an]“ (Hauch 1900: 30). Weder Theodor noch der Leser können ahnen, worüber der heftig erregte Isak und die prachtvoll geschmückte Veronica so leidenschaftlich sprechen. Die sexuelle Konnotation ihrer Verbindung, die sich bereits in der ersten Begegnung zwischen Theodor und Isak abzeichnet, wird hier jedoch eindringlich gefestigt. Schließlich verlässt Veronica gemeinsam mit Isak das Haus und kehrt erst am nächsten Morgen übernächtigt zurück (Hauch 1900: 30-31). Veronica und Isak sind im Roman untrennbar miteinander verbunden und diese Verbin‐ dung wird nicht allein auf geschäftlicher Ebene gefestigt. Obwohl es an keinem Punkt des Romans tatsächlich explizit gemacht wird und es sich auf der Handlungsebene sogar ausschließen lässt, dass Veronica und Isak neben ihrem geschäftlichen auch ein sexuelles Verhältnis pflegen, steht diese Assoziation im Raum, wird in den Kopf des Lesers hinein‐ 142 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 23 Der biblische Bericht bei Mk 6,17-29 erwähnt den Namen der Tochter der Herodias nicht, doch in der Rezeption der Erzählung wird das tanzende Mädchen traditionell als Salome identifiziert. Einen (zu ergänzenden) Überblick über die Rezeption der Figur Salome in bildender Kunst, Literatur und Musik gibt bei Elvira Grözinger (2003: 20-22). gelassen, im selben Maße, wie Theodor sich jeden Gedanken dieser Art als „Urimelighed [Ungehörigkeit]“ (Hauch 1900: 30) verbietet. Offenbar ist Isak die Person, die Veronica in vielerlei Hinsicht am nächsten steht, und der einzige, der weiß, woher sie ihren Reichtum bezieht, und sie nachts an einen Ort begleitet, an dem sie ihren geschmückten Körper ungeniert zur Schau stellen kann und der - so kann vermutet werden - ihr Zugang zur Quelle ihres Reichtums verschafft, eine Quelle, die der Roman nicht enthüllt und die der Leser so mit seiner eigenen Fantasie erschließen kann und muss. Wenig später erregt Veronica bei einer spontanen Tanzaufführung in der heimischen Stube die Aufmerksamkeit von Victor, dem entfernten adeligen Verwandten und Verehrer sowohl von Veronica als auch von Manon, der daraufhin anbietet, sie bei Hof einzuführen. Mit der Schilderung dieses Tanzes wird Veronica ein weiteres Mal in unverkennbare Nähe zu einer jüdischen Frauenfigur und Ikone der orientalisierten Jüdinnen-Darstellung des 19. Jahrhunderts gerückt, nämlich zu Salome. 23 Geschmückt mit einem Diadem in der Form von Efeublättern, „hvorimellem dunkle Granater funklede, ligesom Druer [zwischen denen dunkle Granate, gleich Trauben, funkelten]“ (Hauch 1900: 52) beginnt sie, abermals vor dem Spiegel stehend, zu leichter französischer Musik - die als Inbegriff musikalischer Oberflächlichkeit dargestellt wird - zu tanzen. Ihr Vater bietet sich als Tanzpartner an, doch steif und unbeweglich bildet er beinahe eine Säule im Raum, um die Veronica herumtanzt. Die orientalische, fatale Schöne mit dem üppigen Schmuck auf dem stolzen Haupt umschwirrt und umgarnt ihren Vater, der bei ihrem Anblick in Verzückung gerät, und in dieser Szenerie erscheint Veronica wie Salome, ebenso schön, ebenso fatal - und ebenso jüdisch: Hun dreiede og snoede sig og omsvævede sin gamle Dandser paa tusinde Maader, i tusinde Kredse og dristige Bøininger, hvoraf enhver dog kun tjente til at fremhæve en ny Skjønhed i hendes rigt og yppigt udfoldede Legeme. (Hauch 1900: 55) Sie drehte und wendete sich und umschwebte ihren alten Tänzer auf tausende Weisen, in tausenden Kreisen und kecken Beugungen, von denen eine jede doch nur dazu diente, eine neue Schönheit an ihrem reichen und üppig entwickelten Körper zu betonen. Als Tänzerin und später als Mätresse verkehrt sie fortan am Hof des in barocken Orientfan‐ tasien schwelgenden, feierlaunigen August II., wo sie gegen Ende der Romanhandlung einen zweiten, umso orgiastischeren Auftritt als Tänzerin in orientalischer (Ver-)Kleidung hat (Hauch 1900: 302-303). Die orientalisierende Maskerade, das Verkleiden, das oberfläch‐ liche Spiel mit Schein und Sein und die Präsentation des geschmückten, sexualisierten Körpers, sind Teil ihrer Codierung als (falscher) Jüdin. Über die Beziehung zu Isak wird diese Lesart, so meine These, immer weiter gefestigt. Sein Jüdischsein, seine stereotyp negativen Eigenschaften gehen über auf Veronica, die, wie Isak, angetrieben ist von Habgier, die sich wie er verstellt und einschmeichelt, um sich 143 5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 24 Beispielhaft zeigt sich das in einem Gespräch über Kirche und Kirchenmusik, das zwischen Madame Wolfgang, Manon und Theodor auf der einen und Veronica auf der anderen Seite stattfindet. Hier richten die anderen Figuren ihre kritischen Fragen an Veronica, während dieser so der Raum gegeben wird, ihre Position ausführlich zu begründen. Niemand schreitet hier tatsächlich zu Verteidigung der protestantischen Kirchenmusik ein, und manch ein Leser mag sich beim Gedanken an den oftmals mehr schlechten als rechten Kirchengesang im Gottesdienst für einen Moment auf die Seite Veronicas schlagen (Hauch 1900: 21). 25 Die dritte Gruppe, die Mayer zu den existenziellen Außenseitern zählt, sind (männliche) Homose‐ xuelle. Vorteile zu sichern, und die wie er Rachepläne verfolgt, wenn sie mit dieser Strategie keinen Erfolg hat (Hauch 1900: 25-26). Gegenüber Isak bleibt sie dennoch stets im Vorteil: Sie ist schön, er hässlich. Sie besitzt den Reichtum, zu dem er ihr nur den Zugang verschaffen kann, den er aber nicht selbst besitzt. Sie ist die Lieblingstochter ihres Vaters in einem angesehenen bürgerlichen Haus, während er trotz seiner Beziehungen zum Hof nur ein verachteter, halbseidener Händler und ein Betrüger ist. Und vor allem ist sie eben doch keine Jüdin, sondern eine Christin, wenngleich sie das Christentum mit seinen Sitten und seiner Moral verspottet und sich jeglicher Form von Religionsausübung gegenüber distanziert zeigt (Hauch 1900: 20-21). So erfährt sie trotz aller Markierungen als Jüdin nicht die Stigmatisierungen einer echten ‚schönen Jüdin‘ und kann ein Leben ohne Angst vor Verfolgung und Unterdrückung führen. Genau dies macht ihr Handeln moralisch umso verwerflicher, weil es, im Gegensatz zu Isaks Verhalten und Charakter, nicht auf vorangegangene Diskriminierungserfahrungen zurückzuführen ist. Wenngleich der Romantext Veronica moralisch verurteilt und ihr an der Seite Isaks einen tragischen Erstickungstod samt Fluch angedeihen lässt (Hauch 1900: 367-368), so ist sie doch die interessanteste und literarisch reizvollste Figur des Romans. Dies zeigt sich nicht nur in den wiederholten Darstellungen ihrer außerordentlichen körperlichen Schönheit und in unmissverständlichen Anspielungen auf ihre sexuelle Erfahrenheit (vgl. z. B. Hauch 1900: 26), sondern auch in der Figurenrede, der deutlich Platz und Gewicht zugestanden wird. 24 Im Gegensatz zu ihrer Schwester Manon spricht Veronica um ein Vielfaches mehr, und ihre Worte beeinflussen Theodors Handlungen und Gedanken. Veronicas Unberechenbarkeit ist gefährlich für Theodor, doch übt sie auch im selben Maße Faszination aus - auf Theodor, der sich kaum Veronicas Versprechungen und Drohungen entziehen kann, und auf die Leser, die in ihr einen anregenden Gegenentwurf zu ihrer moralisch zwar überlegenen, doch literarisch etwas blassen Schwester Manon finden. Veronica ist eine Außenseiterin in der bürgerlichen Welt, wie Isak ein Außenseiter ist, und besitzt als solche ein besonderes literarisches Potenzial. Als zwei „existenzielle[…] Außenseiter“, wie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer in Außenseiter über Frauen und Juden 25 in der Literatur schreibt, werden Veronica und Isak „immer wieder insgeheim miteinander verbunden […]. Sie stehen für sich gegen die regelhafte Welt der Nichtgrenzüberschreiter, doch sind sie auch miteinander im Bunde“ (Mayer 1981: 21) Die Nähe der Figur Veronica zum Juden Isak, die Orientalisierung Veronicas und in deren Folge die Codierung als Jüdin stellen eine Potenzierung ihrer Abweichung von der Norm dar und dienen so als Legitimationsstrategie, um eine dermaßen unmoralische und sexuell freizügige Frauenfigur 144 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 26 Eine ähnliche Textstrategie ist in Hans Christian Andersens Roman Kun en Spillemand an der Figur der Jüdin Naomi nachzuvollziehen (vgl. Kapitel 7.7). plausibel zu machen und einem bürgerlichen Publikum im 19. Jahrhundert erzählen zu können. 26 5.6.3 Manon und De Geer Ganz anders als Veronica, doch ebenfalls eine südländische Schönheit, ist Manon, die jüngere Schwester Veronicas. „[H]endes ranke Skabning syntes uden Feil [Ihre schlanke Gestalt schien ohne Fehler]“, und ihr ebenmäßiges Gesicht ist auffallend hell, ja, sogar „noget bleg af Farve. Desuagtet var hendes Ydre i høi Grad tiltrækkende [von etwas blasser Farbe. Dessen ungeachtet war ihr Äußeres in hohem Grade anziehend]“ (Hauch 1900: 10). Die Blässe ihrer Haut wird zunächst scheinbar als ein winziger Makel dargestellt. Doch ebenso wie Veronicas Üppigkeit als ein kleiner Makel hervorgehoben wird, der dann jedoch gerade ihren größten Reiz darstellt, ist auch Manons blasse Haut nur scheinbar ein Makel. Denn die Blässe unterstreicht ihre Schönheit und ist ein Marker, der sie von ihrer Schwester unterscheidet und ihre innerliche Entsprechung in ihrer sexuellen Unberührtheit und seelischen Reinheit findet. Überdies kennzeichnet ihre Blässe sie auch als zugehörig zur deutsch-dänischen Sphäre eines ebenfalls fluiden „Nordens“, während sie durch ihr übriges Äußeres als südländisch markiert ist, „ja, hun lignede noget en af hine blege Skjønheder, hvilke ellers neppe findes udenfor Vendekredsene, og i hvis Øine Sydens Flammer tidt afvexle med en melancholsk Ro [ja, sie glich ein wenig einer jener blassen Schönheiten, die man für gewöhnlich kaum außerhalb der Wendekreise antrifft, und in deren Augen die Flammen des Südens sich oft mit melancholischer Ruhe abwechseln]“ (Hauch 1900: 10). Eine ganz ähnliche Verbindung aus Zuschreibungen orientalisch- und europäisch-idealisierter Schönheit findet Polaschegg bei Hermann von Pückler-Muskau in dessen Ägypten-Reisebericht bei der Beschreibung einer jungen Frau: Dies ist ein mehr als gewöhnlich reizendes Geschöpf, in deren lieblicher Erscheinung man schon jene uns erst bevorstehende Vereinigung des Orients mit dem Westen verkörpert zu sehen glaubt - denn asiatisch ist die Üppigkeit und das vollkommene Ebenmaß ihrer Gestalt, ihr kohlschwarzes Haar und die brennenden Augen; europäisch der feine Mund, der tief denkende Ausdruck, der fühlende, seelenvolle Blick, der melodische Ton der Stimme und in Heiterkeit wie Schmerz der unverkennbare Stempel des innigen Gemüts. (Pückler-Muskau 1994: 205-206, zitiert nach Polaschegg 2005: 84-85) Die Üppigkeit und die brennenden Augen, die Pückler-Muskau in der von ihm beschrie‐ benen Orientalin sieht, sind kennzeichnend für Veronica und nicht für Manon, wohl aber das seelenvoll Melancholische und die Vermischung aus orientalisch und europäisch codierten Zuschreibungen weiblicher Schönheit. Auch Manons Musikalität, ihre „fine Øre, der ellers ikke er saa almindeligt i Norden [feinen Ohren, die sonst im Norden nicht so gewöhnlich sind]“ (Hauch 1900: 54), ihre „reen og klangfuld [reine und klangvolle]“ Stimme und ihr Gesang „fra Sjælens inderste Dyb [aus der innersten Tiefe der Seele]“ (Hauch 1900: 52) ähneln Pückler-Muskaus Projektionen und bezaubern Theodor. 145 5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Wie Veronica ist auch Manon nicht allein als Orientalin lesbar, sondern darüber hinaus auch als Jüdin. Der zugrundeliegende Mechanismus ist derselbe: Auch Manon ist auf besondere Weise mit einer jüdischen männlichen Figur verbunden, nämlich mit De Geer. Die konventionelle Liebesgeschichte findet zwischen Manon und Theodor statt, die stärkere und sicherere Verbindung besteht allerdings nicht zu Theodor, sondern zu De Geer, und so macht der Text auch Manon zur nicht-jüdischen ‚schönen Jüdin‘. Der besonnene und zurückhaltende De Geer entspricht viel mehr ihrem eigenen Wesen als der noch junge Theodor, der zunächst einige Jahre benötigt, um zu der geistigen Reife und Seelentiefe zu gelangen, die Manon bereits in ihren jungen Jahren erreicht hat, und die sich immer wieder in ihrem verinnerlichten Gitarrenspiel und Gesang ausdrücken (vgl. Hauch 1900: 52-53, 110-111, 335-336, 342; vgl. auch Kapitel 3.5.2). Während Theodor sich zunächst auf moralische Abwege begibt, folgt Manon allein ihrer inneren Stimme und findet in De Geer, dem ‚edlen Juden‘, einen geistigen und seelischen Vertrauten und Verbündeten, eine Vaterfigur, die besser ist als ihr leiblicher Vater. Die beiden verbindet eine Seelenver‐ wandtschaft und eine Liebe, die älter ist als Manon. Denn De Geer hat einst Manons Mutter geliebt und wurde von ihr wiedergeliebt. Mit deren jüngerer Tochter Manon nun findet diese Liebe eine legitime Fortsetzung. Die Liebe der beiden zueinander ist eine rein seelische Verbindung ohne jede Körperlichkeit, er eine Vaterfigur, sie seine geistige Tochter. Eine leibliche Vaterschaft De Geers wird explizit ausgeschlossen, denn gegenüber Theodor seufzt er: „[ J]eg vandt i min Ungdom en deilig Piges Kjærlighed; men ak! hun har aldrig hvilet ved mit Bryst, og jeg maatte forlade hende, og jeg saae hende aldrig mere [Ich gewann in meiner Jugend die Liebe eines schönen Mädchens; doch ach! sie hat niemals an meiner Brust geruht, und ich musste sie verlassen, und ich sah sie nie wieder]“ (Hauch 1900: 156). Dennoch wird die Beziehung zwischen Manon und De Geer als eine Geschichte quasi-leiblicher Verwandtschaft erzählt. Als De Geer zustimmt, Manon zu sich zu nehmen, formuliert er die Vater-Tochter-Beziehung konkret: „[O]m Manon hørte jeg idel Godt, og vil hun, vil min Elskedes Datter antage mig i Faders Sted, da ere mine Arme aabne for hende […]. Gaa, min Søn, og siig hende, at den gamle Benjamin venter hende med Kjærlighed, at han vil opgive sit ustadige Liv og boe i hendes Bolig og varme sig ved hendes Arne, at han vil gynge hendes Børn paa sine Knæe og sidde ved deres Vugge og indbilde sig, at de nedstamme fra ham.“ (Hauch 1900: 162) „Von Manon hörte ich lauter Gutes, und will sie, will die Tochter meiner Geliebten mich an Vaterstelle annehmen, so sind meine Arme offen für sie. Geh, mein Sohn, und sag ihr, dass der alte Benjamin sie mit Liebe erwartet, dass er sein unstetes Leben aufgeben will und in ihrer Wohnung wohnen und sich an ihrem Herd wärmen will, und dass er ihre Kinder auf seinen Knien schaukeln und an ihrer Wiege sitzen und sich einbilden will, dass sie von ihm abstammen.“ Die Beziehung zwischen Manon und De Geer selbst liegt vollkommen außerhalb der Sphäre der Sexualität und wird deutlich als Verwandtschaftsverhältnis kenntlich gemacht. Und doch entsteht der Eindruck eines besonderen Gespürs für das erotische Potenzial seiner geistigen Tochter, als De Geer am Ende des Romans dem nunmehr geläuterten Theodor verkündet: „[ J]eg vil i hende skjenke Dig en Skat der er herligere end den, om hvilken Salomon synger i sin Høisang [In ihr will ich Dir einen Schatz schenken, der herrlicher ist als der, von dem Salomon in seinem Hohelied singt]“ (Hauch 1900: 339). 146 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 27 Eine weitere Manon ist die Titelfigur des Romans Manon Lescaut [1731/ 53] von Antoine-François Prévost (1697-1763) (Prévost 2013). Diese Figur ähnelt in vielerlei Hinsicht mehr Veronica als Manon. Der Name Manon, den in Hauchs Roman gleich zwei Figuren tragen, lässt sich als Referenz auf Manon Lescaut lesen. Das Ambivalente dieser Frauenfigur ist bei Hauch sorgfältig auf die beiden Schwestern aufgeteilt, wodurch die Ambivalenz zwar nicht aus dem Roman verschwindet, aber in eine Ordnung gebracht erscheint. Deutlicher erhalten bleibt dieser Spannungszustand in der Figur der Manon Verdier, der Mutter der beiden Schwestern, die die Anlagen für die Eigenschaften beider Töchter in sich trägt. Nicht nur übernimmt De Geer die im Patriarchat für den Vater der Braut vorgesehene Rolle, die Tochter vom eigenen Machtbereich in den Machtbereich eines anderen Mannes zu übergeben, wodurch De Geers Rolle als Vater erneut gefestigt wird. Vor allem wird hier Manon mit der Braut aus Salomons Hohelied verglichen, wodurch sie nun nicht mehr nur implizit, sondern auch explizit als ‚schöne Jüdin‘ imaginiert und als solche erstmals auch erotisiert wird. Vor dem Hintergrund der bereits analysierten Figuren Benjamine (Ingemann: Den gamle Rabbin) und Sulamith (Blicher: Jøderne paa Hald) wird deutlich, dass Manon wie eine jüdische ‚Seelenchristin‘ dargestellt ist, die dem Topos der ‚schönen Jüdin‘ gehorchend geradezu nach der Bekehrung zum Christentum verlangte, um schließlich auch den geliebten Mann heiraten zu können - wenn Manon nicht ohnehin Christin wäre. Aus ihrer Rolle als jüdisch codierter Christin ergibt sich die Möglichkeit, sie mit beiden biblischen Hoheliedern zu identifizieren. Sie verkörpert also einerseits die Liebe als explizit christliche Botschaft, wie sie im Hohelied der Liebe dargestellt ist, und andererseits die sinnliche Liebe, die im Hohelied Salomons besungen wird. Die Ehe mit Manon - also auch das Ideal der bürgerlichen Ehe im Allgemeinen - verspricht und erfordert beides: Geistigkeit und Sinnlichkeit. Erst als Theodor unter Beweis gestellt hat, dass er dieser Liebe Manons würdig ist, weiht De Geer ihn in die Kunst der Goldherstellung ein. Indem De Geer ihm nun also Manon „schenkt“, übergibt er ihm den „Schatz“, welcher, der Idee des Romans folgend, den eigentlichen Stein der Weisen darstellt. Die Namensgleichheit von Mutter und Tochter unterstreicht die Parallelisierung von Lapis und Liebe, denn De Geers Liebe gilt ebenfalls einer Manon. 27 Diese Liebe gibt er nun im übertragenen Sinne weiter, zusammen mit dem Lapis, dem Stein, ohne dass dabei jedoch die Folge der Generationen in Unordnung gebracht würde. Eva Lezzi, die in ihrer Monografie »Liebe ist meine Religion! « die Bedingungen für das lite‐ rarische Erzählen von Liebesbeziehungen zwischen Jüd*innen und Christ*innen untersucht hat, zeigt, dass das Paradigma der Liebesheirat im 19. Jahrhundert soweit etabliert war, dass auch interkonfessionelle Ehen allmählich in den Bereich des Denk- und Erzählbaren rückten. „Zugleich jedoch birgt das Konzept der individuellen romantischen Liebe seiner‐ seits christliche Konnotationen und wird von vielen Protagonisten und Autoren jeweils der nichtjüdischen Kultur zugeschrieben“ (Lezzi 2013: 14). Die Liebesheirat zwischen Manon und Theodor ist sogar als explizit christlich markiert: über die Engführung von Lapis, Christentum und Liebe und weil diese Liebe als einzige gelingt und sich darin sowohl von der Liebe zwischen Manons Mutter und dem Juden De Geer als auch von der Liebe zwischen Felicitas und dem Atheisten Freisleben unterscheidet. Mit der Zustimmung De Geers, die als Bedingung für die Heirat seiner geistigen Tochter Manon mit Theodor gesetzt wird, schafft der Roman vergleichbare Bedingungen, wie sie zum 147 5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Beispiel in der Novelle Den gamle Rabbin oder auch in Jøderne paa Hald gesetzt sind, in denen also die Liebe zwischen einer konversationsbereiten Jüdin und einem Christen erzählt wird. Manon vertraut vollkommen auf die Urteilskraft De Geers, der gegenüber ihrem jugendlichen Buhler hohe Maßstäbe ansetzt. Die unter diesen strengen Voraussetzungen erfolgende Zu‐ stimmung des nunmehr als Patriarch fungierenden De Geer veredelt die Verbindung zwischen Manon und Theodor. Gleichzeitig wird das Alte, also auch das Judentum, überwunden zugunsten eines neuen, als zukunftsfähig dargestellten Religions- und Liebeskonzepts, das mit der geistigen Erneuerung des Christentums einhergeht. Dieses Christentum steht sowohl in Abgrenzung zu dem als heuchlerisch dargestellten Katholizismus des sächsischen Hofes als auch zu einer starren Interpretation des Protestantismus, wie sie Rosenfeld und, bei allem guten Willen, auch Madame Wolfgang (vgl. hierzu Hauch 1900: 20-21) verkörpern. 5.7 Jüdische Figuren als Verstärker Als jüdische Figur stellt De Geer einen Anlass dar, im Romantext verschiedene Religionen und weltanschauliche Konzepte zu reflektieren - mit dem Juden kommt die Religion aufs Tableau. Am Ende der Reflexionen wird das evangelische Christentum als einzig richtiger religiöser Weg kolportiert. Dabei steht nicht etwa die Abgrenzung zum Judentum, sondern zum Katholizismus im Vordergrund. Diese Konklusion ist bereits vertraut aus den zuvor untersuchten Texten, zum Teil aus Ingemanns Den gamle Rabbin und insbesondere aus Blichers Jøderne paa Hald, wo die Abgrenzung des Protestantismus zur katholischen Kirche ebenfalls deutlich ausformuliert wird. In Hauchs Guldmageren wäre allerdings gerade für den innerchristlichen Religionskonflikt gar keine jüdische Figur vonnöten, schließlich ist dieser Diskurs bereits durch die Dichotomie aus katholischem Adel und protestantischem Bürgertum gegeben. Auch ist weder die Parallelisierung zwischen dem Stein der Weisen und Christus ein neuer Gedanke noch die Interpretation der Liebe als dezidiert christliches Charakteristikum. Als alchemistische Quintessenz verlangt diese Schlussfolgerung also ebenfalls nicht nach einer jüdischen Figur. Sogar Manon und Veronica sind durch die Herkunft ihrer Mutter ausreichend als südländische Schönheiten markiert, so dass die Verbindung der beiden Figuren mit ihren jüdischen Seelenverwandten nicht Bedingung ist, um sie mit orientalisierenden Zuschreibungen zu belegen und somit literarisch attraktiv zu machen. Und doch wirken die beiden jüdischen Figuren in alle diese Gebiete hinein und stiften eine Verbindung zwischen den einzelnen Diskursen. Sie wirken wie ein Gerüst, an das sich all jene Diskurse auf sinnvoll erscheinende Weise anknüpfen lassen, die mit „dem Jüdischen“ assoziiert sind. Darüber hinaus wirken sie vertiefend auf die einzelnen Diskurse. Die religiöse Thematik gewinnt trotz ihrer Ansiedlung im 18. Jahrhundert an Aktualität, schließlich stellt die Debatte um die bürgerliche, religiöse und gesellschaftliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung einen zentralen Punkt bei der Frage nach einem nationalen Selbstverständnis im Dänemark des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts dar 148 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 28 Die beiden dänischen Bücher von Schwarz Lausten enthalten jeweils auch eine Zusammenfassung auf Deutsch (2002: 626-637, 2005: 565-575), das englische (2015) stellt seinerseits eine Zusammen‐ fassung der dänischsprachigen Arbeiten des Autors dar. (vgl. Haxen 2001: 490-491; Schwarz Lausten 2002: 342-374, 2005: 16-53; 2015: 89-172). 28 Da Dänemark eine evangelisch-lutherische Staatskirche hat, bedeutet eine Auseinander‐ setzung mit der Haltung der eigenen Kirche zugleich auch eine Auseinandersetzung mit der nationalen Identität. Dabei stellt die Debatte um die Gleichstellung der Juden die Achillesferse des nationalen wie religiösen Selbstverständnisses dar (vgl. Oxfeldt 2005: 55-56). Die beiden gegensätzlichen Figuren Isak Amschel und Benjamin de Geer dienen auch dazu, die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Folgen des Umgangs der christlichen Mehrheitsgesellschaft mit der jüdischen Minderheit zu illustrieren. Während an Isak das (postulierte) Resultat eines demütigenden und unmenschlichen Verhaltens der Christen gegenüber den Juden veranschaulicht wird, lässt sich mit der Figur des edlen De Geer die (erhoffte) Wirkung eines respektvollen und mitfühlenden Umgangs zeigen, wie er ihn durch Lascaris und Theodor erfahren hat. Dabei überwindet der Roman weder die implizite Erwartung, dass „gute“ Juden automatisch zu Christen werden - sei es im Herzen oder durch Taufe -, noch die Unterteilung in positiv konnotierte sephardische und negativ konnotierte aschkenasische Juden. Anders als in den anderen Erzähltexten dieser Untersuchung gewährt der Roman auch einer stereotyp judenfeindlichen Figur viel Platz und lässt sich also umso schwieriger als eindeutig ‚philosemitisch‘ kategorisieren. Die beiden entgegengesetzten jüdischen Figuren dienen einer verstärkten Dichotomisierung der Bereiche Adel vs. Bürgertum, Katholizismus vs. Protestantismus, irdische vs. geistige Güter. Sie wirken dank der vielfältigen Assozia‐ tionen, die mit jüdischen Figuren verbunden sind, in alle im Roman verhandelten Diskurse hinein und bewirken eine Dramatisierung der Ereignisse und erweitern den Spielraum des Erzählbaren. Anders formuliert: Die jüdischen Figuren nehmen im Romantext eine Verstärkerfunktion ein. Anhand der Figuren Manon und Veronica zeigt sich diese Funktion besonders deutlich. Obschon beide sowohl außerordentlich schön sind als auch südländisch erscheinen, entfalten sie ihr ganzes Potential erst durch die Zuschreibung von Eigenschaften, die dem Topos der ‚schönen Jüdin‘ angehören. Insbesondere Veronica wird dadurch in einem Maße erotisiert, wie es bei einer Tochter aus bürgerlichem Hause trotz der kreolischen Mutter kaum plausibel zu machen wäre. Dabei ist bemerkenswert, dass es nicht allein bei der Erotisierung bleibt, sondern dass mit Veronica eine überraschende, aufmüpfige, selbstbewusste, zielstrebige und erfolgsorientierte Frau geschildert wird, deren Weltsicht zwar der des impliziten Autors offensichtlich zuwiderläuft, die aber nichtsdestotrotz literarisch höchst attraktiv ist. Und auch Manon, die charakterlich zunächst kaum von ihrer Freundin Felicitas zu unterscheiden ist, gewinnt in dem Moment an Profil, als sie mit dem Juden De Geer assoziiert und in ein quasi-verwandtschaftliches Verhältnis gebracht wird. Benjamin de Geer und Isak Amschel sind als gegensätzliche jüdische Figuren also einerseits thematische Türöffner, die bestimmte Diskurse, wenn nicht ermöglichen, so doch betonen und vertiefen. Und andererseits bewirken sie eine Verstärkung und Dramatisierung der Handlung und ermöglichen - bei aller stereotypen Starrheit der jüdischen Figuren selbst 149 5.7 Jüdische Figuren als Verstärker DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) - eine literarische Aufwertung der anderen, nicht-jüdischen Figuren. So lässt sich der Begriff ‚Philosemitismus‘ im literarischen Zusammenhang auch unter dem Gesichtspunkt begreifen, dass die jüdischen Figuren die Attraktivität des Textes steigern und dass sie deshalb - zu einer Zeit, in der in Dänemark vor dem Hintergrund eines nationalen Selbstverständnisses über die Gleichstellung der Juden debattiert wird - beliebte oder auch: geliebte Topoi der Literatur sind. 150 5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/ 1851) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 Jon Stewart hat mit Sibbern’s Remarks and Investigations Primarily Concerning Hegel’s Philosophy  2018 erstmals ins Englische übersetzte Auszüge aus Sibberns philosophischen Schriften herausge‐ geben. 6 Frederik Christian Sibbern: Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet (1850) Frederik Christian Sibberns Briefroman Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet [Aus Gabrielis’ Briefen von und nach zu Hause] von 1850 fällt ein wenig aus dem übrigen Korpus dieser Arbeit heraus und zwar aus zwei Gründen. Zum einen steht seine jüdische Figur - im Unterschied zu den anderen hier untersuchten Texten - nicht zentral im Text. Sie tritt jedoch jeweils in so einschneidenden Momenten auf, dass ich diesen Roman zumindest kurz vorstellen möchte. Zum anderen ist der Autor nicht vorrangig als Verfasser von Erzählliteratur in Erscheinung getreten, sondern von psychologischen, politischen und vor allem von religionsphilosophischen Schriften (vgl. Stewart 2018). 1 Seine beiden Briefromane über den jungen und später etwas älteren Gabrielis sind Sibberns einzigen Erzähltexte. So verwundert es nicht, dass Sibbern innerhalb der dänischen und skandinavistischen Literaturwissenschaft praktisch unsichtbar ist. Die ausführlichste und bei weitem aktuellste Darstellung seines literarischen Schaffens stellt das Arkiv for Dansk Litteratur mit seinem Autorenporträt von Henrik Schovsbo (2001-2017) bereit. Die einzige Sibbern-Monografie ist die 1934 erschienene Biografie von Jens Himmelstrup. Prägend war Sibbern zu Lebzeiten (1785-1872) vor allem innerhalb der intellektuellen Debattenkultur. Als Professor für Philosophie an der Universität in Kopenhagen zählten Søren Kierkegaard und Poul Martin Møller zu seinen Studenten. Über seinen Tod hinaus in Erinnerung geblieben ist er jedoch fast ausschließlich für seine beiden Romane, insbesondere für den ersten, Efterladte Breve af Gabrielis [Nachgelassene Briefe von Gabrielis] aus dem Jahr 1826. Dieser Roman ist sowohl autobiographisch angelegt - und wurde so auch vom zeitgenössischen Lesepublikum mit einem gewissen Interesse am Skandal gelesen - als auch in überdeutlicher Anlehnung an Goethes Werther konzipiert (vgl. Schovsbo 2001-2017; Müller-Wille 2016: 170). Jedoch bringt der unglücklich Verliebte bei Sibbern sich nicht um, sondern findet einen Ausweg aus seiner Krise, so dass 24 Jahre nach Erscheinen des ersten Romans eine Fortsetzung mit demselben Ich-Erzähler erscheinen konnte. Diesen zweiten Roman werde ich im Folgenden nach der Bedeutung seiner jüdischen Figur für den Text befragen. 6.1 Unsterblichkeit als Kapital Die Handlung des Romans - der, anders als der Titel vermuten lässt, nur Gabrielis’ Briefe in die Heimat und nicht die Antworten aus der Heimat enthält - ist rund zehn Jahre nach der des ersten Romans angesiedelt, Gabrielis ist ein gereifter Mittdreißiger, ein Hauslehrer und angehender Pfarrer, der seit vielen Jahren regelmäßig nach Süd-Fünen reist, um dort DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 2 Allein in wenigen Reflexionen über die Liebe bezieht der Erzähler sich auf den Vorgängeroman. einige Wochen im Sommer zu verbringen. Die Romanhandlung setzt am 21. Mai 1824 ein und endet am 8. Juli desselben Jahres. Hier, in Süd-Fünen, trifft Gabrielis auf alte Freunde und Bekannte, lernt aber auch neue Menschen kennen. Der Leserin hingegen sind diese Figuren allesamt unbekannt, denn sie gehören nicht zum Personal des ersten Romans. 2 Eine dieser Figuren, die Gabrielis seit Jahren immer wieder besucht, ist der Jude Moses Aaron. Die Leserin lernt ihn erst in diesem Roman kennen, dem Erzähler ist Moses Aaron aber ein längst vertrauter Freund, und so referiert er zumeist auf ihn als „min gode Moses Aaron [mein guter Moses Aaron]“ (vgl. z. B. Sibbern 1927: 158-159). Moses Aaron ist wie ein unveränderlicher Ruhepol in der Handlung und der Krise, in der sich die kleine, nicht namentlich genannte Handelsstadt befindet, als der Erzähler sie im Frühsommer erreicht. Über die Handlung verteilt treffen sich Gabrielis und Moses Aaron fünf Mal, jeweils in markanten Situationen des Umbruchs (vgl. Sibbern 1927: 158-161, 184-185, 234-235, 293- 294, 360-361). Ein weiteres Mal unterhält sich Gabrielis mit einer anderen Figur über Moses Aaron (vgl. Sibbern 1927: 219-220). Moses Aaron kommentiert das Geschehen auf eine Weise, die überwiegend in der Bezugnahme auf verschiedene Verse aus der Hebräischen Bibel besteht. Von den Ereignissen in der Stadt scheint er ausgenommen und unberührt. Die Begründung hierfür scheint für die Lesenden auf der Hand zu liegen. Als nämlich Gabrielis in seinem Sommerdomizil ankommt, erfährt er, dass die ganze Stadt bankrott sei. „Kun min gode Moses Aaron har sikkert holdt sig, og kan maaske tage megen af den Handel op, der gaaer til Grunde for de Andre [Nur mein guter Moses Aaron hat sich sicher gehalten und kann vielleicht viel von dem Handel weiterführen, der für die Anderen zugrunde gegangen ist]“ (Sibbern 1927: 158-159). Da Moses Aaron spöttisch und triumphierend wirkt, als er über den Bankrott der Christen spricht, scheint sich Gabrielis’ Vermutung zunächst zu bestätigen, dass der Jude seinen finanziellen Nutzen aus diesem Bankrott zieht. Der Text bedient also zunächst einmal gängige judenfeindliche Stereotype, die bei den Lesenden als bekannt voraussetzen werden können. Merkwürdig erscheint jedoch der Kontrast zwischen der freundschaftlichen Anrede als „min gode Moses Aaron“ und dem scheinbar hinterlistigen Charakter der jüdischen Figur. Auch der Erzähler selbst steht vor einem Rätsel, da er Moses Aaron doch stets als gutmütig und freundlich kennengelernt habe. Nun aber „kunde jeg næsten begynde at hade ham for hans, ja jeg tør sige skadefroe Aasyn i Aften [könnte ich fast beginnen, ihn für sein, ja ich wage zu sagen: schadenfrohes Gesicht heute Abend zu hassen]“ (Sibbern 1927: 159). Die scheinbaren Widersprüche werden einige Seiten später aufgeklärt. Die Stadt befindet sich zwar im Bankrott - allerdings ist dieser nicht finanzieller, sondern religiöser Art. Vier junge Philosophiestudenten waren kürzlich in die Stadt gekommen und hatten die Existenz der unsterblichen Seele in Frage gestellt. Mit ihrer neuen Philosophie waren sie wie eine Katastrophe in die Stadt eingefallen und hatten den rechtschaffenen Einwohnerinnen und Einwohnern ihren frommen und bisweilen etwas naiven Glauben an das Leben nach dem Tod genommen. Die Stadt befindet sich nun in einem theologischen Ausnahmezustand, Angst, Leere und Verzagtheit haben sich breitgemacht. Dies ist der Bankrott, von dem der Jude ausgenommen ist: nicht ein wirtschaftlicher, sondern ein theologischer. Deutlich wird dies im zweiten Treffen zwischen Gabrielis und Moses Aaron. Der Spott des Juden gegenüber dem Seelenzustand seiner 152 6 Frederik Christian Sibbern: Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet (1850) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) christlichen Nachbarn gilt dem mangelnden Vertrauen, das diese Gott und Jesus Christus entgegenbringen. Moses Aaron spricht - wie an den meisten Stellen seiner Figurenrede - Deutsch und nicht Dänisch (vgl. hierzu Brandenburg 2014: 106-110), was Gabrielis als ein hörbares Zeichen dafür versteht, dass „Ilden kommer op i ham [das Feuer in ihm aufsteigt]“ (Sibbern 1927: 160). „Wahrhaftig, ja Sie mögen es wohl sagen, Hr. Gabrielis, Sie haben Bankerot gemacht an ihrem Glauben. He, he. Sie haben solide Wechsel liegen, acceptirte Wechsel, die feinsten Papiere von der Welt; ihr grosser Prophet hat selbst sein Accept darauf gezeichnet; und nun will auf einmal Keiner sie honoriren. Sie glauben, dass weder ihr grosser Prophet noch der liebe Gott selbst wird zahlen können. He, he, he.“ (Sibbern 1927: 184-185) So wird einerseits das Stereotyp als Stereotyp entlarvt, andererseits wird es zugleich fortgeführt, indem der Jude über den Glauben in Metaphern der Ökonomie spricht. Seiner Belustigung liegt jedoch, wie sich herausstellt, nicht zugrunde, dass er aus dem „Bankrott“ der Christen wirtschaftliches Kapital geschlagen hat. Vielmehr spottet er darüber, wie leicht die Christen in ihrem Glauben und ihrem Gottvertrauen zu erschüttern sind. Für diese Art des Spotts hat der Erzähler Sympathien, ist er selbst doch ebenfalls von den Anfechtungen unberührt, die von den Anderen Besitz ergriffen haben. Dennoch wird die jüdische Figur durch die Häme und das wiederholte Lachen, das in der Figurenrede sogar ausgeschrieben wird, mit negativen Charaktereigenschaften wie Hochmut und Gehässigkeit in Verbindung gebracht, Eigenschaften, die in scharfem Kontrast zu der Milde und Freundlichkeit stehen, die Gabrielis seinem Freund wiederholt zugesteht. Bemerkenswert ist die Engführung zwischen religiösem und monetärem Kapital. Sie wird zunächst über die Instanz des Ich-Erzählers vorgenommen, der sich sogleich zu seinem jüdischen Freund begibt, als er von dem vermeintlichen finanziellen Bankrott der Stadt erfährt. Über die Metaphorik in der Figurenrede Moses Aarons wird sie weiter fortgeführt. Diese Verschränkung von Glauben und Geld bringt den Leser zunächst auf eine falsche Spur und führt ihn dann unverhofft auf das Hauptthema des Romans, die Unsterblichkeit der Seele. Durch die irrige Annahme des Ich-Erzählers, die Stadt sei finanziell bankrott, und die spätere Auflösung dieses Missverständnisses wird erzählerisch eine überraschende Wendung vollzogen und die Tragweite dieses Glaubensverlusts auf die Lebensumstände der christlichen Stadtbewohner dargestellt. Der Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele wird als Bankrotterklärung inszeniert, deren Folgen für das Gemeinwohl ebenso verheerend sind, wie eine Wirtschaftskrise. Diese Parallelisierung zwischen Religion und Wirtschaft wird, so meine These, allein durch die jüdische Figur im Text ermöglicht und legitimiert. Denn als Jude ist Moses Aaron sowohl mit Geld als auch mit einem unerschütterlichen Glauben assoziiert (vgl. hierzu Blicher 1983a). Dieser Kunstgriff funktioniert, weil er auf den Vorannahmen der Leserschaft aufbaut. Obwohl der Roman mit der Erwartungshaltung seiner Leser spielt und sie schließlich enttäuscht, destabilisiert der Text aber keineswegs die Stereotype, auf die er referiert. Denn ohne diese Stereotype würde er nicht funktionieren, also belässt er es dabei, sie nur zu verschieben, statt sie umzustürzen. So verbleibt die jüdi‐ sche Figur im ambivalenten Bereich, den Steen Steensen Blicher in seiner Schrift Bør Jøderne taales i staten? [Sollten die Juden im Staat geduldet werden? ; 1813] zwischen bewunderter 153 6.1 Unsterblichkeit als Kapital DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 3 „Hellige Opmuntringer“ bezieht sich auf das 1764 erstmals erschienene Andachtsbuch Hellige Opmuntringer i mødige og tankefulde Stunder [Heilige Ermunterungen in müden und nachdenklichen Stunden] von Frederik Christopher Lütken. 4 „[ J]eg vidste, han havde Luthers Bibeloversættelse; den ligger for det Meste opslaaet hos ham, enten i Psalmerne eller i Propheterne [Ich wusste, er hatte Luthers Bibelübersetzung; sie liegt meist aufgeschlagen bei ihm, entweder bei den Psalmen oder den Propheten]“ (Sibbern 1927: 219). „Standhaftighed“ [Standhaftigkeit] und verachteter „Haardnakkenhed“ [„Hartnäckigkeit“] lokalisiert (Blicher 1983a: 216). 6.2 Der Jude als religiöses Monument Im weiteren Handlungsverlauf findet zunächst die Stadt zurück zu ihrer einstigen Fröm‐ migkeit, und schließlich findet der Ich-Erzähler in eine Zukunft als Pfarrer und Ehemann. Die Menschen, denen er auf seinem Weg begegnet, erzählen alle auf je verschiedene Weisen von der Auseinandersetzung mit dem Glauben und mit dem Schicksal, mit Gott und mit dem Tod. Thematisch und konzeptionell ist hier eine gewisse Ähnlichkeit zu Hauchs Roman Guldmageren augenfällig, und auch bei Sibbern werden Christentum und Liebe als einander zugehörig enggeführt. Denn kulminieren tut diese Auseinandersetzung in der Figur der jungen, wunderhübschen, frommen Frau, mit der Gabrielis sich schließlich verloben wird. Vor einiger Zeit erblindet, hat sie mittlerweile gelernt, ihr Schicksal dankend als göttlichen Segen anzunehmen und ihr verlorenes Sehvermögen durch die Kraft ihres Glaubens, ihrer Empfindungen und ihrer Seele bis zur Vollkommenheit zu kompensieren. So klischeehaft diese und etliche weitere Figuren in ihrer Frömmigkeit gestaltet sind, so aktiv müssen sie sich mit ihrem Glauben und ihren Zweifeln auseinandersetzen. Einzig der Jude zeigt zu keinem Zeitpunkt Anzeichen von Zweifel. Seine Sätze stehen zumeist wie in Stein gemeißelt, wirken prophetisch oder zitieren wörtlich Verse aus dem Alten Testament. Dadurch wirkt die Figur des Juden auf Gabrielis zwar fromm und respektabel, sein Glauben aber zugleich starr und wenig lebendig. Das Gespräch, das Gabrielis mit ihm über Gottes Gnade und über „hellige Opmuntringer for Dem, som ikke troe paa nogen Gud [heilige Ermunterungen für jene, die an keinen Gott glauben]“ (Sibbern 1927: 360-361) zu führen versucht, würgt er mit nur einem Wort ab: „Unsinn“ und fügt sodann hinzu: „Keine hellige Opmuntringer 3 für Die, die an keinen Gott glauben. Eben Noth und Elend soll euch zu eurem Gott treiben, so wie er uns zu unserem trieb“ (Sibbern 1927: 361). Anders als Ingemanns alter Rabbiner Philip Moses, Blichers Juden auf Hald, Gyllembourgs Joseph Branco und Hauchs Goldmacher De Geer behält Moses Aaron - auch in den Augen seines christlichen Umfelds, das ihn in diesem Roman keineswegs zum „Christen im Herzen“ erklärt - seinen religiösen Standpunkt unverrückbar bei. Dabei vermischen sich in seiner Figur Standhaftigkeit und Unnachgiebigkeit und verfestigt so, trotz anderslautender Umdeutungsversuche des Ich-Erzählers, die Vorstellung einer typisch jüdischen Halsstarrigkeit. Moses Aaron liest und zitiert bevorzugt aus den Büchern der Propheten und den Psalmen, 4 Teilen des Alten Testaments also, die in der christlichen Tradition eine besonders starke 154 6 Frederik Christian Sibbern: Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet (1850) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Bedeutung haben: die Bücher der Propheten, die als Ankündigung des Erscheinen Christi interpretiert wurden, und die Psalmen als wesentlicher Teil der christlichen Liturgie und als Quelltext für unzählige musikalische und literarische Bearbeitungen (vgl. Till 2017). Im Kontext der Frage nach der Auferweckung der Toten und der Unsterblichkeit der Seele liest Moses Aaron - mit dem ihm zugeschriebenen „orientalske Ild, som funklede i ham [orientalischen Feuer, das in ihm funkelte]“ (Sibbern 1927: 185) - seinem Freund Gabrielis den 90. Psalm in Luthers Übersetzung vor. Im Anschluss daran erklärt er, dass gerade in diesem Psalm für ihn der Beweis liege, dass auch die Juden zu Moses Zeiten schon an die Unsterblichkeit der Seele geglaubt haben, so wie er es heute tue. Damit wendet er sich gegen eine von christlicher Seite kolportierte Auffassung, nach der die Juden eben diesen Glauben ans ewige Leben nicht hätten. Er beruft sich hier direkt auf Luthers Übersetzung und dessen Auslegung des Psalms, die hier bei der Leserin als bekannt vorausgesetzt wird: Ved et og andet Sted troer han riktignok, at Luther, af hvis Oversættelse han for min Skyld bestandig læser op, har taget feil. Ved den 90de Psalme dvælede vi især. Hvor kjær var det mig at høre ham tale over de Ord af denne Psalme: „Herr, Gott, Du bist unsre Zuflucht für und für. - Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder. - Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds achtzig Jahr, und wenns köstlich gewesen ist, so ists Mühe und Arbeit gewesen. - Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ - I disse Ord saae han Troen på Udødeligheden, og var saare vred paa Dem, som have meent, at paa hiin Tid havde Jøderne endu ikke havt nogen Udødelighedstro. Han troer med sin indre Ilds hele Kraft; han troer, fordi han vil sin Tro med sin Sjæls hele Udholdenhed […]. (Sibbern 1927: 185) An der einen oder anderen Stelle glaubt er jedoch, dass Luther, aus dessen Übersetzung er mir zuliebe immer vorliest, sich geirrt habe. Beim 90. Psalm verweilten wir besonders. Wie lieb war es mir, ihn über die Worte dieses Psalms reden zu hören: „Herr, Gott, Du bist unsre Zuflucht für und für. - Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder. - Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds achtzig Jahr, und wenns köstlich gewesen ist, so ists Mühe und Arbeit gewesen. - Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ - In diesen Worten sah er den Glauben an die Unsterblichkeit, und war sehr zornig über die, die meinten, dass die Juden zu dieser Zeit noch keinen Glauben an die Unsterblichkeit hatten. Er glaubt mit der ganzen Kraft seines inneren Feuers; er glaubt, weil er seinen Glauben mit der ganzen Beharrlichkeit seiner Seele will. Luther interpretiert den 90. Psalm, der als einziger der Psalmen traditionell Moses zuge‐ schrieben wird, als Auseinandersetzung mit dem Tod und der Erkenntnis, dass der Tod ebenso wie das Leben das Werk Gottes sei. Gerade hierin liege, so Luther, aber auch die Möglichkeit, den Tod durch Gott selbst, also durch seinen Sohn Jesus Christus, zu überwinden (vgl. Dietz 2009: 290-293). Für Moses Aaron hingegen liegt in diesem Psalm der jüdische Glauben an die Unsterblichkeit begründet, der ohne den Glauben an Jesus Christus auskommt. Moses Aaron, der die Namen des stotternden Religionsgründers Moses und dessen eloquenten Bruders und Sprachrohrs Aaron trägt, wird durch das Rezitieren des Psalms Mose selbst zum Verkünder der Auferstehung nach dem Tod. Zugleich erklärt sich in dieser Textstelle auch, warum Moses Aaron von diesem Bankrott nicht betroffen ist, denn „han holder fast paa sin Tro som paa sit andet Eie. Den er min, siger det inderst i ham, 155 6.2 Der Jude als religiöses Monument DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) og Ingen maa komme til ham og tage Noget af den [er hält an seinem Glauben fest wie an seinem sonstigen Eigentum. Er ist meiner, sagt es tief in ihm drin, und niemand darf zu ihm kommen und etwas davon nehmen]“ (Sibbern 1927: 185). Bemerkenswert ist, dass nicht Moses Aaron für sich selbst spricht und seinen Glauben in eigener Figurenrede erläutert, sondern dass Gabrielis paraphrasiert, was Moses Aaron ihm über seinen Glauben gesagt hat. Dem Juden selbst bleiben in seiner Figurenrede nur die spöttischen Bemerkungen über die vom Atheismus angefochtenen Christen sowie die Bibelpassage, die er wörtlich zitiert. Eine eigene reflektierte Sprache über den Glauben, wie sie den anderen, nicht-jüdischen Figuren in diesem Roman zugestanden wird, erhält Moses Aaron also nicht. Besondere Beachtung verdient, dass Udaf Gabrielis’s Breve der einzige Text im Korpus dieser Arbeit ist, in dem der Liebesdiskurs vollkommen unabhängig von der jüdischen Figur stattfindet. Das gilt nicht nur für die romantische Liebe - in Moses Aarons Obhut befindet sich folglich auch keine ‚schöne Jüdin‘ -, sondern gleichermaßen für den Dis‐ kurs der Nächstenliebe. Weder ist Moses Aaron als ‚edler Jude‘ angelegt, der sich dem Christentum zuwendet, noch zeichnet er sich durch ausgeprägte Hilfsbereitschaft oder Nachsicht gegenüber den zweifelnden und verzweifelten Christen aus. Dennoch ist er nicht als habgierig, scheinreligiös oder gar bösartig charakterisiert, wie die Verwandten von Gyllembourgs Joseph Branco und Ingemanns Philip Moses, beziehungsweise wie Benjamin de Geers Widersacher Isak Amschel bei Hauch (vgl. Kapitel 2.3.1, 2.3.2, 4.2.1, 5.3). Die solitäre Figur des Juden Moses Aaron wirkt innerhalb der Stadtgemeinschaft vielmehr wie ein heiliges Monument, das von einer vergangenen Epoche zeugt und dabei prophetisch redet. Von den aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Glauben bleibt er in jeglicher Hinsicht unberührt. Auf der Ebene des Erzählens setzt die Figur des Juden allerdings den entscheidenden Impuls, um die Reflexionen des Ich-Erzählers über den Wert des Glaubens für die Gemeinschaft einzuleiten. Darüber hinaus sind mit der Figur des Moses Aaron jedoch keine Diskurse verbunden, die über Geld und Religion hinausgehen. Seine Bedeutung für die Romanhandlung verliert sich daher immer mehr, je lebendiger die Auseinandersetzung der anderen Figuren mit dem christlichen Glauben wird. 6.3 Der Jude als Irritationsmoment Die jüdische Figur in Sibberns Roman erscheint in hohem Maße holzschnittartig und tritt darüber hinaus nur in wenigen Textpassagen in Erscheinung. Doch offenkundig erfüllt der Jude eine Funktion innerhalb des Textes, die von den nicht-jüdischen Figuren nicht im selben Maße erfüllt werden kann. Der Roman stellt Religiosität und den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele als eine Art von Kapital dar, von dem das Wohl nicht nur des Einzelnen, sondern der gesamten Gemeinschaft abhängt. Das Christentum wird als verbindendes und stützendes Element der Gesellschaft herausgestellt, ohne das die Zukunft einer ganzen Stadt, einer Region und - in Verlängerung dieses Gedankens - schließlich einer ganzen Nation in Unsicherheit gerät. Ermöglicht wird die Parallelisierung von theologischem und monetärem Diskurs durch die jüdische Figur, die allein durch ihre unbeirrte Anwesenheit als moralische Instanz für die Bevölkerung der Stadt und als Impulsgeber für die Gedanken und Handlungen des Ich-Erzählers fungiert. Anders 156 6 Frederik Christian Sibbern: Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet (1850) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) als in den anderen Texten dieser Untersuchung liegt in Sibberns Roman keine explizite Aufforderung an die christlichen Adressaten zu Toleranz und Nächstenliebe; weder hat Moses Aaron in seiner Vergangenheit ausdrücklich Verfolgung erlitten, noch wird er selbst zum Vorbild gelebter Nächstenliebe stilisiert. Begründet werden mag dieser Unterschied zu den anderen Erzähltexten aus dem Entstehungskontext heraus: 1849, ein Jahr vor Erscheinen des Romans, war das Recht auf freie Religionsausübung in der dänischen Verfassung verankert worden. Die Emanzipation der Jüdinnen und Juden war zu diesem Zeitpunkt also zumindest rechtlich abgeschlossen und stand vorerst nicht mehr zur Debatte. Nicht abgeschlossen - da nicht abschließbar - waren hingegen die Themen des Romans: der Bedeutungsverlust der Religion, die theologische Auseinandersetzung mit der Säkularisierung der Gesellschaft und die philosophische Religionskritik. Die Figur Moses Aaron eröffnet durch diese thematische Einschränkung keine assozia‐ tive Vielfalt an Erzählmöglichkeiten, wie es beispielsweise im Fall der Spukgeschichte in Jøderne paa Hald oder im Alchemie- und Liebesdiskurs in Guldmageren gezeigt werden konnte. Die Funktion des Juden in Sibberns Roman scheint allein darin zu liegen, den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele als Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft zu diskutieren und zu behaupten. Gleichzeitig jedoch wird durch den Juden, der sich eben gerade nicht zum Christentum bekennt, deutlich, dass dieser Glauben kein christliches Alleinstellungsmerkmal ist und nicht zwangsläufig ins Christentum münden muss. Damit stellt der Roman trotz der holzschnittartigen Charakterisierung seiner jüdischen Figur eine Besonderheit dar. Er erlaubt seiner jüdischen Figur tatsächlich als einziger der hier untersuchten Erzähltexte, auf theologischer Ebene für das Judentum zu argumentieren und an ihm festzuhalten - wenngleich diese theologische Argumentation aus einer christlich-protestantisch unterfütterten Perspektive unter Berufung auf Luther vorgenommen wird. Moses Aaron verteidigt sein Judentum und wird gerade dadurch zur religiösen Instanz des Romans. Dabei wird er als Jude einerseits mit stereotypen Zuschreibungen charakterisiert, wodurch Vorurteile festgeschrieben werden: Er bleibt Jude, ergo bleibt er auch in seinem Verhalten als Jude erkennbar. Andererseits nimmt der Ich-Erzähler immer wieder eine positive Umdeutung dieses Verhaltens vor, so dass die jüdische Figur in ihrer Ambivalenz auf fruchtbare Weise Irritation stiftet und dazu einlädt, die Vorurteile zu hinterfragen, die der Roman selbst verfestigt. Auch der im folgenden Kapitel untersuchte Roman Kun en Spillemand von H.C. Andersen stellt den Bekehrungsdiskurs, der bislang mit den untersuchten jüdischen Figuren eng verbunden war, in Frage - und zwar schon 1837, also bereits zwölf Jahre vor der Verankerung der Religionsfreiheit in der dänischen Verfassung. Er tut dies allerdings auf ganz andere Weise als Sibberns Roman, denn Andersens Jüdin ist weit von Moses Aarons Frömmigkeit entfernt. Mehr Gemeinsamkeiten teilt sie dagegen mit den vier unruhestiftenden Philosophiestudenten, die Sibberns fünische Kleinstadt in Angst und Schrecken versetzt haben. 157 6.3 Der Jude als Irritationsmoment DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 In dieser Arbeit verwende ich den Begriff ‚Zigeuner‘ ohne Anführungszeichen. Ich beziehe mich bei dieser Entscheidung im Wesentlichen auf Klaus-Michael Bogdal, der in seiner Untersuchung Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung für den Kontext seiner Analyse feststellt: „Sinti oder Roma werden geboren, ‚Zigeuner‘ sind ein gesellschaftliches Konstrukt, dem ein Grundbestand an Wissen, Bildern, Motiven, Handlungsmustern und Legenden zugrunde liegt, durch die ihnen im Reden über sie kollektive Merkmale erst zugeschrieben werden. […] Weil es sich dabei also um Redeweisen und mediale Repräsentationen, um die Erfindung einer Ethnie in einem übertragenen Sinn handelt und nicht um denkende, fühlende und handelnde Subjekte, kann und muss die Bezeichnung Zigeuner (von hier an) ohne Anführungszeichen verwendet werden“ (Bogdal 2014: 15). Dieser Kontext ist auch in meiner Untersuchung gegeben, weswegen ich Bogdal hier folge. 2 Die schwedische Theaterwissenschaftlerin Tiina Rosenberg stellt eingangs in ihrem Buch Queerfe‐ ministisk Agenda [Queerfeministische Agenda] unter Berufung auf Judith Butler fest: „Egentligen bör ‚queer‘ inte preciseras [Eigentlich sollte ‚queer‘ nicht präzisiert werden]“ (2002: 11). Da eine wissenschaftliche Arbeit jedoch eine Begriffsdefinition verlangt, stütze ich mich auf Rosenbergs Verständnis des Begriffs, wie sie ihn in ihrem Buch Byxbegär [Hosenbegehren] formuliert hat, nämlich als „icke-heterosexuelle dissonans [nicht-heterosexuelle Dissonanz]“ (Rosenberg 2000: 17). Der Begriff ‚Dissonanz‘ wiederum beschreibt in diesem Zusammenhang „en form av aktivism och teori som inte smälter samman till en klangenhet utan uppfattas som spänningsfylld [eine Form von Aktivismus und Theorie, die nicht zu einer Klangeinheit verschmilzt, sondern als spannungsreich aufgefasst wird]“ (Rosenberg: 2002: 12). Das bedeutet, dass queer immer in Abgrenzung zu einer als normal verstandenen Heterosexualität steht. 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) Der letzte Erzähltext, der in dieser Arbeit ausführlich analysiert werden soll, wurde 1837 veröffentlicht. Kun en Spillemand [Nur ein Spielmann] ist der vierte Roman Hans Christian Andersens - und vielleicht der erstaunlichste. Er handelt von dem jungen Geiger Christian, der von einem Leben als berühmter Künstler träumt, und von seiner großen Liebe, dem jüdischen Mädchen Naomi. So weit scheint die Figurenkonstellation an diesem Punkt der Untersuchung bereits vertraut: Ein kreativer Christ, der durch die Liebe einer schönen Jüdin komplettiert wird, während sie aus dieser Beziehung nicht anders hervorgehen kann, denn als gläubige und dankbare Christin. Nur ist hier alles anders. Christian ist ein verkannter Künstler, der mit seinem Glauben hadert und am Ende unglücklich und einsam als einfacher Spielmann stirbt. Und Naomi widersetzt sich sämtlichen Erwartungen, die das erfahrene Lesepublikum und die Gesellschaft an sie stellen. Weder liebt sie Christian, noch wird sie eine gute Christin. Stattdessen verkleidet sie sich als Mann, schließt sich einer fahrenden Kunstreitergesellschaft an, reist mit gefälschtem Pass durch Europa, hat unehelichen Sex mit einem Zigeuner 1 und heiratet schließlich einen französischen Adeligen. Beide Lebensläufe finden weitestgehend ohne die jeweils andere Figur statt, und doch sind beide untrennbar miteinander verbunden. Naomis Jüdischsein und Christians Bedürfnis, sich musikalisch auszudrücken, haben oberflächlich betrachtet nichts miteinander zu tun. Der Romantext setzt beide aber fortwährend miteinander in Beziehung und erschafft so den Raum, von etwas Drittem zu erzählen, von sexuellem Begehren und Queerness  2 , und diese als Antriebsfeder von wahrer Kunst zu definieren. Der Roman ist ein außerordentliches Beispiel für das gewaltige produktive Potenzial, das durch eine jüdische Figur in einen literarischen Text gelangt. Kun en Spillemand ist weniger eine idealisierte Darstellung DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) einer oder mehrerer jüdischer Figuren, sondern macht sich vielmehr die enorm vielfältigen Assoziationsräume zunutze, die sich durch jüdische Figuren im Text ergeben. Er zeigt beispielhaft, dass Philosemitismus nicht vornehmlich bedeutet, dass sich eine - wie auch immer zu bestimmende - positive oder verklärende Grundeinstellung des Autors gegenüber Jüdinnen und Juden über die positive oder verklärende Darstellung jüdischer Figuren ausdrücken muss. In Kun en Spillemand zeigen sich, mehr noch als in allen zuvor untersuchten Texten, die vielfältigen und unerschöpflichen Erzählmöglichkeiten, die sich durch die jüdische Figur ergeben. Es handelt sich gewissermaßen um das eindrücklichste Beispiel für einen literaturinternen oder eben: einen literarischen Philosemitismus. 7.1 Jüdische Figuren bei H.C. Andersen Jüdische Figuren begleiten das Schreiben von Andersen von Anfang an. Gleich in seinem ersten Roman Fodreise [1829] hat der Erzähler eine Begegnung mit dem phantastischen Ahasverus. Dieser ist allerdings nur eine unter vielen flüchtigen Bekanntschaften des jungen Dichters auf seinem nächtlichen Spaziergang durch die Welt der Literatur, außerdem ist er mehr Topos denn Figur mit individuellem Charakter (vgl. Kapitel 2.8). Erik Dal wirft in seinem kurzen Artikel Jødiske elementer i H.C. Andersens Skrifter [ Jüdische Elemente in H.C. Andersens Schriften] ein Schlaglicht auf die jüdischen Figuren bei Andersen und verweist auf eine „lille Scene [kleine Szene]“ im Roman Improvisatoren [Der Improvisator; 1835] (1987), „hvor en biperson […] ydmyger en karl af pøbelen, der har villet ydmyge en jøde; denne viser sig at have en meget smuk datter, men kapitlet om hende har ingen rigtig funktion i bogen [in der eine Nebenfigur einen Kerl aus dem Pöbel demütigt, der einen Juden demütigen wollte; von diesem stellt sich heraus, dass er eine sehr schöne Tochter hat, aber das Kapitel über sie hat keine richtige Funktion im Buch]“ (Dal 1993). Mit Naomi in Kun en Spillemand gestaltet Andersen 1837 erstmals eine komplexe jüdische Figur. In seinen folgenden Texten mit jüdischen Figuren nimmt er von dieser Komplexität jedoch wieder Abstand und lehnt sich in einer stereotyperen Figurengestaltung mehr an die bereits bestehenden Topoi an. Es sind insbesondere Jüdinnen, weniger Juden, denen eine tragende Funktion innerhalb seiner Texte zukommt. In Andersens peu à peu entstandenen Billedbog uden Billeder [Bilderbuch ohne Bilder] wirft der Mond am Fem og Tyvende Aften [Fünfund‐ zwanzigster Abend; 1840] sein Licht auf die alte Mutter der reichen Rothschild-Söhne. Sie bewohnt ihr bescheidenes Haus im Frankfurter Ghetto und zieht dieses einem nobleren Wohnsitz vor, denn hier hat sie ihre Söhne geboren. „[F]orlod hun nu den ringeagtede Gade, det lille Huus, da vilde Lykken, maaske, forlade dem! det var nu hendes Tro” [„Verließe sie nun die unansehnliche (gering geachtete; KB) Gasse, das kleine Haus, da möchte das Glück vielleicht sie (ihre Söhne; KB) verlassen! Das war nun ihr Glaube“]. Als jüdische Mutter verkörpert sie die aufopfernde und fürsorgliche Mutterfigur schlechthin, und so endet das kurze Stimmungsbild mit dem Satz: „Det er en Overtro, men af det Slags, at naar man kjender Historien og seer Billedet, behøves der kun, for at forstaae dette, de to Ord, som Underskrift: E n M o d e r” [„Es ist ein Aberglaube; aber von der Art, daß, wenn man die Geschichte kennt und das Bild erblickt, es nur, um dieses zu verstehen, der zwei Worte als Unterschrift bedarf: ‚E i n e M u t t e r‘“] (Andersen 1877: 32; dt. Übers. Andersen 1845: 85-86). 160 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Eine andere jüdische Mutter beweist im Gedicht Rabbi Meyer [1847] (2007b) ihren über alle Zweifel erhabenen Glauben an Gott. Angesichts des plötzlichen Todes ihrer beiden Söhne ist sie es, die keiner Anfechtung erliegt und den Glauben ihres Mannes, Rabbi Meyer, wieder aufrichtet. Im selben Jahr greift Andersen noch einmal ausführlich das Ahasverusmotiv auf. In seinem Versdrama Ahasverus [1847] (1847) zeichnet er die Figur des „wandernden Juden“ als „eine allegorisierte Darstellung der Wahrheit des christlichen Glaubens auf ihrem Weg durch die Geschichte der Menschheit“ (Schnurbein 2007: 139; vgl. auch Thing 2001: 134-137). Weitere rund zehn Jahre später entstehen gleichzeitig das Märchen Jødepigen [1855] (2007a) und der Roman At være eller ikke være [1857] (2001). In beiden Texten findet ein frommes jüdisches Mädchen nicht nur den Weg zum Christentum, sondern auch den frühen Tod (vgl. Kapitel 2.5 u. 8). In Andersens letztem Roman Lykke-Peer [Glücks-Peter; 1870] (2000) taucht schließlich, wenn auch nur am Rande, eine männliche jüdische Figur auf, der Gesangslehrer des Protagonisten, der als dessen Förderer eine wichtige Rolle spielt. Schaut man auf Andersens Textproduktion, mögen die jüdischen Figuren im Verhältnis zur Anzahl der Texte zwar nicht überrepräsentiert erscheinen, doch fällt auf, dass sie Andersen durch sein gesamtes Schaffen begleiten, angefangen mit seinem ersten Roman Fodreise, den er als 23-Jähriger veröffentlichte, bis zu seinem letzten Roman Lykke-Peer, der erschien, als Andersen 65 Jahre alt war. Umso erstaunlicher ist es, dass seine jüdischen Figuren bislang kaum im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen (vgl. jedoch Kirmmse 1991). Einen Überblick über die hier relevanten Werke Andersens gibt Erik Dal (1993) in seinem oben bereits erwähnten Tagungsbeitrag, eine Analyse einiger ausgewählter Texte unternimmt Stefanie von Schnurbein (2007) in ihrem Aufsatz Hybride Alteritäten. Jüdische Figuren bei H.C. Andersen. Mogens Brøndsted hat mit dem Gedicht Rabbi Meyer und dem Märchen Jødepigen zwei wenig bekannte Texte Andersens in die von ihm herausgegebene Sammlung Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur aufgenommen und sie in seiner einleitenden literaturgeschichtlichen Darstellung kontextualisiert (Brøndsted 2007b: 12- 25). Finn O. Hvidberg-Hansen (2004) schenkt Andersens jüdischen Figuren aus einem biografischen Interesse heraus in seinem Aufsatz Mellem derwisher, jøder og katoliker [Zwischen Derwischen, Juden und Katholiken] kurze Beachtung. Eine Untersuchung, die sich ausführlich mit Andersens jüdischen Figuren beschäftigt, steht bislang aus. 7.2 Der Autor im Fokus Während über Andersens Zeitgenossen, deren Texte ich in den vorigen Kapiteln untersucht habe, verhältnismäßig wenig Forschungsliteratur verfasst wurde, ist es ob der schieren Menge nahezu unmöglich, einen umfassenden Überblick über die Sekundärliteratur zu Andersen zu gewinnen. Auffällig ist die einigermaßen einseitige Ausrichtung der An‐ dersen-Forschung, die Klaus Müller-Wille in seiner 2017 erschienenen Monografie Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik folgendermaßen charakterisiert: „Gene‐ rell kann gesagt werden, dass die Andersen-Forschung in stärkerem Ausmaß als andere Forschungszweige der Neueren Skandinavistik von biographischen, psychoanalytischen (meist von Freud oder Jung inspirierten) und rezeptionshistorischen Untersuchungen geprägt wird.“ Insbesondere gelte dies für Monografien über den Autor und sein Werk, 161 7.2 Der Autor im Fokus DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 3 Deutlich wird dies vor allem dort, wo sich Literaturwissenschaftler*innen in jüngerer Zeit von dieser Andersen-Rezeption abgrenzen und stattdessen die Komplexität seiner Texte hervorheben (vgl. Bøggild 2009: 199-200; Øhrgaard 2010: 91; Stössinger 2009: 21). „weniger für die Vielzahl von Artikeln, die der Interpretation einzelner Märchen gewidmet sind“ (Müller-Wille 2017: 13 [Fußnote 11]). Der Blick auf einige der umfangreichsten Neuerscheinungen der letzten Jahre bestätigt den Eindruck, dass die biografische Beschäf‐ tigung mit Andersen - vor allem in Dänemark - nach wie vor dominierend ist. 2003 erschien die mehr als 800 Seiten starke Biografie von Jens Andersen (2005, pünktlich zum 200. Geburtstag des Dichters, auch auf Deutsch). Einen vergleichbaren Umfang haben auch Johan de Mylius’ Werke HCA (2005a) und Livet og skriften. En bog om H.C. Andersen [Das Leben und die Schrift. Ein Buch über H.C. Andersen] (2016), in denen das literarische Schaffen des dänischen Nationaldichters im Lichte seiner Biografie betrachtet wird, wenngleich de Mylius selbst immer wieder den Mangel an literaturwissenschaftlich fundierter Auseinandersetzung, insbesondere bei der Analyse der Märchen Andersens, beklagt (vgl. Müller-Wille 2017: 13; de Mylius 2004: 9-17). Ebenfalls bemerkenswert ist einerseits das enorme Interesse an Andersen und andererseits der Ruf der Betulichkeit und Weinerlichkeit, passend zur „damalige[n] Weltschmerzära“ (Mayer 1981: 225), der dem Werk des Autors bereits zu dessen Lebzeiten anhaftet. 3 In Übersetzungen vom Dänischen in andere Sprachen wird der sentimentale Eindruck der Texte Andersens oftmals durch un‐ genaue oder glättende Übersetzungen noch verstärkt (vgl. Bøggild/ Grum-Schwensen/ Bøgh Thomsen 2015b: 9-10). Auch der Roman Kun en Spillemand steht, so formuliert es Heinrich Detering 1994 in seiner Arbeit zum literarischen Umgang mit (männlicher) Homoerotik, „in Deutschland heute im (irreführenden) Ruf eines biedermeierlich-sentimentalen Künst‐ lerromans“ (Detering 2002a: 205-206). Hans Mayer, der als Nicht-Skandinavist auf eine Übersetzung des Romans angewiesen war, beurteilt in seiner Untersuchung Außenseiter von 1975 den „Verfasser des in der Tat schwer erträglichen Romans ‚Nur ein Geiger‘“ gar als einen „mittelmäßige[n] Vielschreiber“ (Mayer 1981: 231), dabei wurde der Roman vom zeitgenössischen Lesepublikum zunächst positiv aufgenommen (vgl. Brøndsted 1988: 290-291). Zurückzuführen ist diese verbreitete Einschätzung im Wesentlichen auf Søren Kierkegaards 1838 erschienene vernichtende Rezension des Romans, die in der Forschung lange Zeit deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten hat als das eigentliche Werk, auf das sie sich bezieht. So stellt Klaus Müller-Wille mit Erstaunen fest, dass seit Johan de Mylius’ 1981 veröffentlichter Abhandlung Myte og roman [Mythos und Roman] über die Romane Andersens keine Sekundärliteratur zu Kun en Spillemand erschienen sei, die sich nicht auch oder überwiegend auf Kierkegaards Rezension beziehe (Müller-Wille 2014: 93 [Fußnote 2], 2017: 298 [Fußnote 9]; vgl. hierzu de Mylius 1981: 122-163; Detering 2002a: 210-212; Mayer 1981: 224-233; Müller-Wille 2017: 311-312; Schnurbein 2007: 144-145). 7.3 Kun en Spillemand auf der Couch Johan de Mylius, der als einer der tonangebenden Andersen-Forscher gilt und dessen Textproduktion zu Andersens Leben und Werk enorm ist, beklagt in seinem Nachwort 162 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 4 In seiner Nachbemerkung zur Studienausgabe von 2002 nimmt Detering Bezug auf die vielfache Kritik, die seit Erscheinen seiner Monografie 1994 an „den theoretischen und methodischen Grund‐ lagen des Buchs“ geäußert wurden, u. a. in Bezug auf das „Verhältnis[…] von Autor(schaft) und Text(-ualität)“ und verweist auf seine jüngsten Publikationen, in denen er sich (selbst)kritisch zu diesen Punkten äußert (Detering 2002a: 388). 5 Auf der erst 2017 erneuerten und aktualisierten Internetseite des Arkiv for Dansk Litteratur [Archiv für dänische Literatur] beispielsweise versucht de Mylius in erschütternd eindimensionaler Perspektive, den Nationaldichter vor „[t]eorien om Andersens homoseksualitet [der Theorie über Andersens Homosexualität]“ regelrecht in Schutz zu nehmen (de Mylius 2001-2017). zur deutschen Neuübersetzung des Romans, dass sich „ein immer größerer Teil der An‐ dersen-Literatur mit der ‚queer-Theorie‘ beschäftigt“ (de Mylius 2005c: 361). Das Problem besteht für de Mylius offensichtlich nicht in einer möglichen literarischen Textanalyse aus queer-theoretischer Perspektive, sondern in den daraus gezogenen Rückschlüssen auf Andersens eigene Sexualität: „Andersens Gefühlsleben ist komplex, auch im sexuellen Bereich, aber eine einseitige queer-Dimension seines Gesamtwerks oder einzelner seiner Werke ist kaum fruchtbar und auch nicht angemessen“ (de Mylius 2005c: 362). Damit formuliert de Mylius einerseits eine Kritik an der Tendenz, Andersens Texte autobiografisch zu deuten, andererseits trennt er hier selbst nicht zwischen der Analyse des Textes und der des Autors, wenn er eine queer-theoretische Beschäftigung mit Andersens Literatur deshalb als unfruchtbar und unangemessen betrachtet, weil er in Andersens Biografie keine eindeutigen Belege für dessen Homosexualität finden kann. Gerade die Textanalyse von Detering, auf die de Mylius sich hier unter anderem kritisch bezieht, zeigt jedoch eindrücklich, wie sexuelles Begehren, Travestie und Homoerotik in den Texten Andersens literarisch produktiv werden. Allerdings liegt Deterings Interesse tatsächlich nicht darin, eine queere Lesart des Textes vorzunehmen, sondern vielmehr darin, die „literarische Maskierung der Homosexualität“ (de Mylius 2005c: 360) des Autors zu entschlüsseln. So schreibt er einleitend zu seiner Textanalyse von Kun en Spillemand: „In der Tat konnte Andersen, scheint mir, schlechterdings nicht weiter gehen, als er es hier tat: Seine - wiederum im Text als autobiographisch markierte - eigene amphibische Existenz wird hier aufgespalten in zwei gleichberechtigte Protagonisten, einen ‚weiblichen‘ Mann und eine ‚männliche‘ Frau“ (Detering 2002a: 206). Irritierenderweise legt sich Detering in seiner Analyse also auf eine vereindeutigende homosexuelle Lesart des Textes fest, mit der Implikation, Spuren in den Texten Andersens aufzufinden, die dessen Homosexualität belegen können. 4 Über diese vereindeutigende Kategorisierung von Begehren und sexueller Identität hinaus geht Dag Heede (2005, 2009), indem er einen Queerness-Begriff jenseits des Konzepts von Homo- und Bisexualität anwendet. Doch auch seine Arbeit kulminiert letztlich in der Fokussierung auf die Sexualität und Genderidentität des Verfassers, statt auf die literarischen Texte selbst. Bis heute ist der dänische Andersen-Diskurs vom absurden Bemühen geprägt, Nachweise über Andersens wahlweise postulierte Hetero-, Homo-, Bi- oder Asexualität zu erbringen. 5 Dabei ist die Sichtbarmachung eines Autors als homosexuell beziehungsweise queer, unabhängig davon, ob diese Begriffe und Konzepte zu dessen Lebzeiten bekannt waren oder nicht, selbstverständlich begrüßenswert, denn sie bricht mit der heteronormativen Erwartungshaltung an einen Autor und seine Texte. Gleichzeitig lässt diese Perspektive ein ums andere Mal das Werk hinter den Verfasser zurücktreten. Die Texte werden so letztlich immer und immer wieder zum Beweismaterial, welches der Ergründung 163 7.3 Kun en Spillemand auf der Couch DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) des Autors, seiner Sexualität und seiner Geschlechtsidentität dient. Die Werke selbst scheinen in dieser biografischen Lesart keinen Wert zu haben, der über den Produzenten des Textes hinausweist. Dabei ist es für die Wirkung, die ein literarischer Text bei seinen Leser*innen entfaltet, vollkommen gleichgültig, ob diese wissen, wen Andersen auf welche Art begehrte oder liebte. Das Leseerlebnis ist unberührt vom biografischen Wissen um den Autor - die anhaltende, internationale und generationenübergreifende Popularität, insbesondere einiger von Andersens Märchen, unterstreicht genau dies. Selbstverständlich wird sich oftmals ein Interesse an der Biografie des Autors aus der Lektüre seiner Werke ergeben und schließlich ein weiteres Licht auf seine Texte werfen. Auch für produktions‐ ästhetische Fragestellungen und Perspektiven sind Geschlecht und Begehren des*r Autor*in bedeutsam. Gleiches gilt dort, wo ein Forschungsinteresse darin besteht, Autor*innen, Musiker*innen und andere Künstler*innen, die sich außerhalb eines heteronormativen, eurozentristischen und männlich dominierten Erwartungshorizonts befinden, überhaupt sichtbar zu machen. Doch „en queer optik […] og en postfeministisk tilgang [eine queere Optik und ein postfeministischer Zugang]“ (Heede 2005: 171), wie von Heede gefordert, muss nicht erst durch die Biografie des Autors legitimiert werden, sondern ergibt sich gegebenenfalls aus dem Werk selbst und sollte bestenfalls über den Autor hinausweisen. Ob ein Text berührt oder verärgert, ob er verwirrt oder beglückt, unterhält oder langweilt oder alles zugleich - er tut all dies in erster Linie von sich aus, in Kommunikation mit dem Leser. Die Relevanz des Romans Kun en Spillemand liegt nicht in seinem Autor, sondern darin, dass in ihm Spektakuläres auf spektakuläre Weise erzählt wird. 7.4 Der Text im Fokus Aller Fokussierung auf den Autor zum Trotz hat sich etwa seit Beginn der 2000er-Jahre, auch in Dänemark, verstärkt eine Perspektive etabliert, die von der biografisch-psy‐ chologischen Interpretation der Literatur Andersens Abstand nimmt und sich seinen Werken aus verschiedenen Blickrichtungen und mit vielfältigen Fragestellungen annähert (z. B. Detering 1998; Behschnitt 2006: 391-438, Bøggild/ Grum-Schwensen/ Bøgh Thomsen 2015a). Dabei fällt wiederum auf, dass seine Literatur oft mit dem Begriff der Moderne in Verbindung gebracht wird. Mit Beiträgen in verschiedenen Anthologien haben sich Forschende dem Aspekt der Moderne in seiner Literatur angenähert (vgl. Oxfeld 2006; Müller-Wille 2009; Bom/ Bøggild/ Nørregaard Frandsen 2014a). Die Blickrichtung ist dabei oft eine zweifache, wobei zum einen Andersen selbst als Vorbote der Moderne verstanden wird und zum anderen seine anhaltende Bedeutung bis in die Gegenwart von Interesse ist (vgl. Bom/ Bøggild/ Nørregaard Frandsen 2014b: 9). Einen umfassenden und aktuellen Forschungsüberblick über die Rezeption von Andersen als Vorläufer und Pionier der Mo‐ derne gibt Müller-Wille in seiner 2017 erschienenen Studie zu Andersens Materialästhetik, in der er aufzeigt, wie sich im Laufe seines Schaffens „Andersens Schreiben von den Positionen der Romantik entfernt“ (2017: 332) und „zentrale Theoreme der klassischen Moderne vorweg[nimmt]“ (2017: 331). Dem Roman Kun en Spillemand widmet Müller-Wille ein eigenes Kapitel, in dem er auch ausführlich auf die literaturwissenschaftliche Rezeption des Romans eingeht (2017: 297-301). In seiner Untersuchung richtet er den Blick auf die 164 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 6 Der Name Naomi stellt eine Verbindung zur gleichnamigen Figur (Noomi) aus dem Buch Rut im Alten Testament her. Das Buch Rut beschreibt einerseits wiederholten Aufbruch und Migration, andererseits eine entschlossene Frauenfigur, die der patriarchalischen Gesellschaft, in der sie gezwungen ist zu leben, ein Konzept entgegensetzt, dass ihr als Frau ein begrenztes Maß an Eigenständigkeit im Zusammenleben mit einer anderen Frau ermöglicht (vgl. West 2006: 190-194). 7 Neben der christlichen Bedeutung des Namens ist hier die Namensgleichheit mit dem Autor offensichtlich. Detering merkt dazu an: „[M]it diesem Namen unterschrieb Hans Christian Andersen seine vertraulichen Freundesbriefe“ (Detering 2002a: 219). Funktion von Kitsch und Konsum im Roman und zeigt erstens, wie diese in Beziehung zu den unterschiedlichen Lebensläufen der beiden Hauptfiguren stehen, und zweitens, wie Andersens Schreibverfahren selbst von populärkulturellen Einflüssen geprägt ist und diese reflektiert (vgl. hierzu auch Müller-Wille 2014). Die verschiedenen Textebenen und die komplexen Verflechtungen nicht nur der unterschiedlichen Themen und Motive, sondern der Figurenkonstellationen, strafen die seit Kierkegaard geläufige chronische Unterschät‐ zung des Romans Lügen, wie auch Schnurbein in ihrem Aufsatz Hybride Alteritäten. Jüdische Figuren bei H.C. Andersen darstellt (2007: 133-139). Sie zeigt auf, wie sich in der jüdischen Figur Naomi religiöse, ethnische, geografische, geschlechtlich-sexuelle und schließlich sogar animalisch-menschliche Gegensatzpaare verbinden. Ihr Beitrag ist der bislang einzige, der das Jüdischsein der Figur Naomi und deren Beziehung zur Figur des titelgebenden Spielmanns Christian in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Denn Naomi ist nur eine von zwei gleichberechtigten Hauptfiguren des Romans, deren Lebenswege unterschiedlicher kaum sein könnten, und die doch von Kindheit an miteinander verbunden sind. Ein Beispiel zum Einstieg in dieses Kapitel soll der Illustration dieser Gegensätzlichkeit dienen und zugleich die Erzählstrukturen offenlegen, mit deren Hilfe die Verbindung der beiden Figuren Naomi und Christian gestiftet wird. 7.5 Kun en Spillemand - Einstieg Naomi und Christian wachsen als Nachbarn auf, ohne jedoch ihre frühe Kindheit mit‐ einander verbracht zu haben. Denn Naomi ist Jüdin 6 und Christian Christ. 7 Erst mit Beginn der erzählten Handlung lernen beide einander kennen und verbringen heimlich in Naomis Garten spielend einen gemeinsamen Nachmittag. Zwei Tage später fallen Haus und Garten einem Brand zum Opfer, dessen Ursache im Romantext ungeklärt bleibt und nicht thematisiert wird. Das zeitgenössische (wie auch das heutige) Lesepublikum konnte den Brand jedoch leicht mit judenfeindlicher Gewalt assoziieren. Das Wissen um die Pogrome von 1819 konnte vorausgesetzt werden und ist, wie diese Arbeit bereits gezeigt hat, auch in der Literatur immer wieder aktualisiert worden (vgl. Kapitel 2.3, 3.6, 4.2.5 und 5.3). Dennoch bleibt die Brandursache im Roman unausgesprochen. Das Feuer erzählt also von judenfeindlicher Gewalt, während der Text selbst diese Gewalt verschweigt. Damit hat auch die Figur Naomi keine Möglichkeit, den Brand als judenfeindlichen Angriff auf ihr Leben zu verarbeiten. Überdies stirbt ihr Großvater beim Versuch, sein Geld aus dem brennenden Haus zu retten, wobei er seinen materiellen Besitz seiner Enkelin vorzieht 8 - eine zusätzliche seelische Beschädigung Naomis, die paradoxerweise zugleich eine implizite 165 7.5 Kun en Spillemand - Einstieg DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 8 Naomi geht es hier ähnlich wie der Figur Abigail, der Tochter von Christopher Marlowes Barabas, dem Juden von Malta. Ihr Vater nimmt bereitwillig ihren Tod in Kauf, um seine Interessen zu verfolgen (vgl. Marlowe 2009: 27-51). 9 Eine deutsche Übersetzung des Romans erschien erstmals 1847 unter dem Titel Nur ein Geiger. Für diese Arbeit verwende ich die jüngste Übersetzung aus dem Jahr 2005, angefertigt von Bernd Kretschmer. Alle übersetzten Romanzitate stammen aus dieser Ausgabe. Begründung für den Brandanschlag liefert, denn der alte Jude zeigt hier seinen ebenso verachtenswerten wie stereotyp gezeichneten Charakter. Naomi wird so zweifach zum Opfer: erstens zum Opfer judenfeindlicher Gewalt und zweitens zum Opfer ihres jüdischen Großvaters. Sie überlebt den Brand nur, weil sie von Christians Paten gerettet wird, der, wie sich später herausstellt, ebenfalls eine äußerst ambivalente und gewalttätige Figur ist und seinerseits ein mörderisches Geheimnis verbirgt. Übergangsweise findet Naomi Unterkunft bei Christians Familie und spielt dort nun mit erstaunlicher Sorglosigkeit mit Christian und den Nachbarskindern. Der Erzähler weiß über die kindliche Trauer zu berichten: Hvor let og snart glemmer ikke her Barnet sine Sorger, […] Naomi havde strax grædt saameget for Bedstefaderen, nu sad Smilet, hvor Taaren havde siddet; den store, blomstrende Jord havde jo alt dreiet sig eengang om sin Axe, og det er for Barnets Sorg hvad Uger og Maaneder er for den Ældre. (Andersen 1988: 26) Wie leicht und schnell vergisst das Kind doch seinen Kummer, […]. Naomi hatte viel um den Großvater geweint, jetzt spielte ein Lächeln auf ihrem Gesicht, wo vorher Tränen waren; die große, blühende Erde hatte sich ja schon einmal um ihre Achse gedreht, was für die Trauer der Kinder soviel bedeutet wie Wochen und Monate für die Erwachsenen. (Andersen 2005: 31) 9 Als einige Jahre vergangen sind, begegnen sich Naomi und Christian, beide noch im Kindesalter, wieder. Naomi, inzwischen von einer adeligen Familie adoptiert, verleugnet Christian und weist ihn schroff ab. Darüber gerät Christian in tiefe Verzweiflung. Der Erzähler bemerkt hier ebenso generalisierend wie zuvor bei Naomi: „En Barnesjæls dybe Sorg er stor som den største, den Voxne kjender; Barnet har i sin Smerte intet Haab, Fornuften rækker ei sin støttende Haand til Barnet, det har i Øieblikket Intet uden sin Sorg at klynge sig til“ [„Der tiefe Schmerz einer Kinderseele ist so groß wie der größte, den ein Erwachsener kennt; das Kind sieht in seinem Schmerz keine Hoffnung, keine Vernunft reicht dem Kind ihre helfende Hand, es hat im Augenblick nichts als seinen Kummer, an den es sich klammert“] (Andersen 1988: 104; Andersen 2005: 129). Wenngleich sich beide Beschreibungen kindlicher Sorgen nicht ausschließen müssen - der Schmerz kann ebenso heftig wie schnell überwunden sein -, so entsteht doch der Eindruck von Gegensätzlichkeit und bisweilen von Widersprüchlichkeit. Beides ist charakteristisch für die Darstellung der Figuren und begleitet sie durch den ganzen Roman. In der ersten der beiden zitierten Textstellen sind das Wesen und der Lebensweg Naomis bereits vorweggenommen: Aus der schmerzlichen Erfahrung geht sie scheinbar stark und unbekümmert hervor, auf den enormen Verlust reagiert sie mit nach Außen gekehrter Leichtigkeit. Ganz anders Christian: Während Naomi den Tod ihres Großvaters und den Verlust ihres Zuhauses buchstäblich spielend überwindet, erlebt Christian die Verleugnung durch Naomi als unüberwindlichen 166 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 10 Mogens Brøndsted wirft in seinem Nachwort zu Kun en Spillemand die Frage auf, ob die Figur Christian tatsächlich als Genie dargestellt werde, oder ob er nicht vielmehr nur ein Talent sei - eine Beurteilung, die Andersen in Bezug auf seinen Roman rückblickend selbst vorgenommen hat. Demnach wäre Christians künstlerischer Erfolg auch ohne äußere Hilfe eingetroffen, wenn er tatsächlich genial und nicht nur talentiert gewesen wäre, denn nur das Talent, nicht das Genie benötige Förderung und Unterstützung von außen (vgl. Brøndsted 1988: 288). Der Romantext selbst ist allerdings keineswegs so eindeutig in seinem Urteil über Christians Begabung und lässt beide Möglichkeiten offen, bzw. unternimmt diese strenge Unterscheidung nicht. Schmerz: „Hun havde ikke villet kjende ham, hun, som han holdt af som en Søster! Han følte, som Pariaen, at han hørte til en overseet Kaste. […] Naomi, der engang forstod ham, vendte sig nu fra den ‚smudsige Dreng! ‘“ [„Sie hatte ihn verleugnet, sie, die er wie eine Schwester liebte! Wie ein Paria spürte er, dass er zu einer verachteten Kaste gehörte. (…) Naomi, die ihn einst verstand, hatte sich jetzt von dem ‚schmutzigen Jungen‘ abgewandt“]. (Andersen 1988: 104; Andersen 2005: 129). Der Behauptung des Erzählers steht die bisherige Lektüreerfahrung der Leserin gegenüber: An keiner Stelle hatte Naomi ihn „verstanden“. Von Anfang an ist ihre Beziehung eine asymmetrische. Bereits die erste Begegnung der Kinder im Garten, die im nächsten Abschnitt der Romananalyse dargestellt wird, ist von diesem Ungleichgewicht geprägt. Nur nimmt Christian diese Asymmetrie selbst scheinbar nicht wahr. Das Zitat deutet noch einen weiteren wesentlichen Aspekt an: die Überkreuzung beider Figuren, bei der die eine die Ausgrenzung der anderen erlebt. Einem „Paria“ wird nämlich später auch Naomi ähnlich gemacht, als sie sich in einen Zigeuner verliebt und sich einer Kunstreitertruppe anschließt (vgl. Kapitel 7.7.6). Die beiden Schilderungen zweier scheinbar zusammenhangloser Kindheitsszenen veranschaulichen, wie wenig es möglich ist, die jüdische Figur Naomi isoliert in den Blick zu nehmen. Beide Schicksale sind von Beginn an aneinandergekoppelt, denn die beiden Kinder gehen einen Vertrag ein, der sie ihr Leben lang aneinander bindet. Dieser Vertrag - ein spielerischer Tauschhandel, bei dem Christian seine Augen und seinen Mund gegen ein paar bunte Blätter an Naomi „verkauft“ - ist Ausgangspunkt für meine Romananalyse und soll im Folgenden genauer dargestellt werden. Um die Implikationen dieses Handels zu verstehen, bedarf es jedoch zuvor einer Auffrischung und Aktualisierung des theoretischen Zugangs zu den Brüchen und Hindernissen des Romantextes. Im Anschluss daran werde ich die Entwicklung beider Figuren und ihre Beziehung zueinander genauer untersuchen. 7.5.1 Begehren Die Schlagworte, mit denen sich die beiden großen Themen des Romans grob benennen lassen, sind Kunst und Sexualität. Der Roman erzählt den Weg eines scheiternden Musikers, der mit Talent, ja, sogar mit Genie begabt ist und versucht, durch sein Geigenspiel zu Ruhm und Ehre zu kommen. 10 Der Entfaltung seines Genies und dem künstlerischen Erfolg stehen zum einen seine Herkunft aus einer sozial unterprivilegierten Familie und die mangelnde künstlerische und finanzielle Förderung im Weg, so dass der Roman, „als kritische Weiterentwicklung des Bildungs- und Künstlerromans bezeichnet werden kann“ (Müller-Wille 2017: 298). Zum anderen wird das künstlerische Scheitern der Figur 167 7.5 Kun en Spillemand - Einstieg DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Christian implizit mit seinem Mangel an sexueller Triebhaftigkeit in Verbindung gebracht. Sexualität wird im Roman durch die Figur Naomi verkörpert, die wiederum zwar ein ausgeprägtes ästhetisches Gespür hat, jedoch nicht mit künstlerisch produktivem Talent ausgestattet ist. Der Roman stellt Kunst und Sexualität als aneinandergekoppelt dar und macht diese Verbindung gerade dadurch sichtbar, dass sie im Roman nicht glückt: Beide Größen kommen nicht in einer Figur zusammen, der sexuelle und der künstlerische Körper sind nicht eins. So finden schließlich weder das künstlerische noch das sexuelle Begehren Erfüllung. Der Begriff ‚Begehren‘ wird in diesem Kapitel häufig gebraucht und verlangt daher, trotz oder wegen seiner scheinbaren Verständlichkeit, nach einer Bestimmung. Ich verwende ‚Begehren‘ als einen Begriff, der sich nicht zwangsläufig auf Sexualität beziehen muss, in dem jedoch gleichwohl stets eine sexuelle Konnotation, eine körperliche Dringlichkeit enthalten ist. So gebrauche ich ‚Begehren‘ in der Regel als sexuell verstandenen Begriff, benenne jedoch dort, wo es auch um andere Formen des Begehrens geht, worauf das Begehren sich in diesem Fall richtet. Die Körperlichkeit des Begehrens soll auch dort mitschwingen, wo es ein rein geistiges zu sein scheint; zumeist betrifft dies die Kunst beziehungsweise die Musik. Denn die Analyse des Romans zeigt, dass Kunst und Sexualität zwar getrennt erzählt werden, doch untrennbar miteinander verbunden sind. Aus der Lücke, die sich im Roman durch diese Trennung zwischen Kunst und Sexualität ergibt, entsteht das Begehren nach beidem. 7.5.2 Kunst und Körper - noch einmal Roland Barthes Die Beziehung zwischen Kunst und Körperlichkeit ist Gegenstand vieler Arbeiten von Roland Barthes. Im Kontext dieser Romananalyse sind insbesondere seine Aufsätze zur Musik von Interesse: Die Rauheit der Stimme [1972], Die Musik, die Stimme und die Sprache [1977] und Der romantische Gesang [1976/ 1977]. Dabei erscheint es Barthes fast unmöglich, eine angemessene Sprache für das Reden über Musik zu finden. Der Grund hierfür „liegt darin, daß es sehr schwierig ist, die Sprache, die dem Bereich des Allgemeinen angehört, mit der Musik zu verbinden, die dem Bereich des Unterschieds angehört“ (Barthes 1990b: 280). Naturgemäß entzieht sich dieser Bereich, da er sich gerade nicht in Worte fassen lässt, einer Benennung jenseits eines metaphorischen Annäherungsversuchs. Die Metaphern, die Barthes verwendet, sind Metaphern der lustvollen Störstellen: Es sind die „Rauheit“ der Stimme, „die Reibung zwischen der Musik und etwas anderem, das die Sprache ist (und keineswegs die Mitteilung)“ (Barthes 1990a: 275), die beim Hörenden Begehren erwecken. Barthes versucht dennoch, dasjenige der Musik in Sprache zu fassen, welches eine tiefe emotionale Bewegtheit beim Zuhörenden (und auch beim Ausübenden) hervorruft, was zur abschließenden Überlegung führt: Im Unausgesprochenen setzt sich die Lust fest, die Zärtlichkeit, die Feinfühligkeit, die Erfüllung, sämtliche Werte der feinfühligsten Phantasie. […] Die Musik ist […] ein Diskurs des Wertes, des Lobes: ein Diskurs der Liebe: Jede »gelungene« Beziehung - gelungen, insofern sie imstande ist, das Implizite zu sagen, ohne es zu artikulieren, über die Artikulation hinauszugehen, ohne in die Zensur des Begehrens oder die Sublimierung des Unsagbaren zu verfallen - eine solche Beziehung läßt sich mit Recht als musikalisch bezeichnen. (Barthes 1990a: 285) 168 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Nun bezieht Barthes sich in seinen Aufsätzen zur Musik überwiegend auf die menschliche Stimme und den Liedgesang. Doch die Figur Christian, dessen vereitelte musikalische Entwicklung der Roman erzählt, ist nicht Sänger, sondern Geiger. Der Klang, den er mit seinem Instrument erzeugt, ist nicht von der Anatomie des menschlichen Stimm- und Atemapparats beeinflusst, sondern von Holzkorpus und Knochenleim, von Darmsaiten und Pferdehaaren. So betrachtet ist mehr Tierisches als Menschliches, mehr Totes als Lebendiges an der Violine. Die Geige stellt in dieser Hinsicht also gewissermaßen ein Gegenstück zur menschlichen Stimme dar - und repräsentiert durch die Abwesenheit des Körpers doch umso mehr die Stimme. Über den Andante-Satz aus Franz Schuberts erstem Streichertrio schreibt Barthes: Es singt, es singt einfach ungeheuerlich, an der Grenze des Möglichen. […] Man könnte meinen, die menschliche Stimme ist hier umso gegenwärtiger, als sie sich durch andere Instrumente, die Streicher, vertreten läßt: Der Ersatz wird wahrer als das Original, die Geige und das Cello »singen« besser oder, um genauer zu sein, singen mehr als der Sopran oder der Bariton, weil die Bedeutung der Sinnesphänomene, falls es sie gibt, in der Verschiebung, der Substituierung, kurz, in der Abwesenheit letztlich immer am glanzvollsten hervortritt. (Barthes 1990c: 286) Das Beispiel dieses Zitats zeigt erstens, dass es der Stimme nicht bedarf, um Musik als körperlich zu begreifen, und zweitens, dass die Stimme auch dann als Ort des musikalischen Ausdrucks per se verstanden werden kann, wenn sie durch ein anderes, ein körperexternes Instrument „ersetzt“ wird. Die Widerständigkeit des Körpers kann bei jeder Art zu musizieren wahrnehmbar sein - oder fehlen. Es sei, so Barthes, nicht die „Lunge, dieses blödsinnige Organ (Katzenfutter)“ (Barthes 1990a: 273), sondern die Kehle und das Gesicht des Sängers, aus dem die Rauheit der Stimme entstehe, aber auch „das Cembalo Wanda Landowskas [kommt] aus ihrem Körperinneren […] und nicht aus der kleinen Fingertrick‐ serei so vieler Cembalisten (und zwar so sehr, daß es zu einem anderen Instrument wird)“ (Barthes 1990a: 278). Diese Verbindung zwischen Musik und Körper zu benennen, ist für den Zusammenhang meiner Untersuchung von Bedeutung. Denn der Geiger, von dem der Roman handelt, kann, so meine These, unter anderem deshalb keinen künstlerischen Erfolg haben, weil ihm symbolisch seine Stimme und somit der musikalischste Teil seines Körpers genommen wird. Diejenige, die ihm die Stimme nimmt, ist die Jüdin Naomi, die wiederum ihrerseits „von erotischer Anziehungskraft und durch eine ausgeprägte Körperlichkeit ausgezeichnet“ ist (Schnurbein 2007: 134). Den symbolischen Verlust von Körperteilen als Kastrationsmetapher zu lesen, ist naheliegend und wird dadurch komplett, dass Naomi ihm im Spiel nicht nur den Mund, sondern auch die Augen - und somit symbolisch das Sehvermögen - nimmt. So liegt in der Figur des Musikers Christian nichts Sexuelles, nichts Begehrendes und nichts Begehrenswertes. Barthes verwendet in der Reflexion über den Gesang eine phallische Metapher, wenn er schreibt, dass die Stimme, die er am meisten liebt, „immer eine gespannte, von einer gleichsam metallischen Kraft des Begehrens beseelte Stimme war: eine gereckte - (nach einem Wort Schumanns) aufgeregte Stimme, oder noch besser: eine Stimme im Zustand der Erektion“ (Barthes 1990b: 284). Symbolisch kastriert 169 7.5 Kun en Spillemand - Einstieg DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 11 Wobei angemerkt werden muss, dass die Stars des Bühnengesangs vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein oftmals ausgerechnet Kastraten waren. Zumindest literarisch wiegt also die symbolische Kastration schwerer als die physische. Diese konnte sogar, ganz im Gegenteil, Grundlage für die Ausbildung einer außergewöhnlichen Stimme sein, welche eine „sinnliche, ja sexuelle Wirkung […] auf Frauen, aber auch auf Männer“ hatte (Seedorf: 2015: 27). ist Christian zu solch einem virilen Geigenspiel nicht fähig. 11 Während für Barthes gerade dort das Wesen der Musik stattfindet, wo die Musik körperlich ist, sind im Roman Kun en Spillemand Körperlichkeit und Musik voneinander getrennt - und der Musiker wird kein genialer Künstler, sondern bleibt eben nur ein Spielmann. Dadurch entsteht eine Kluft, nicht nur zwischen den beiden Figuren, sondern im Romantext selbst. Diese Kluft ist eines jener Hindernisse, die im Sinne Barthes’ Wollust erzeugen. Denn auch in seinem Essay Die Lust am Text verwendet Barthes Metaphern der Störstellen: Die „Kluft“, der „Riss“, der „Bruch“ im literarischen Text seien es, die Wollust beim Lesen wecken (Barthes 1974: 13-14). Zwischen den beiden Figuren Naomi und Christian entsteht eine solche Kluft, die der Text nicht schließen kann, so lange er andauert. Als er sie schließt, stirbt Christian und der Roman endet. Die Kluft entsteht aus der Gegensätzlichkeit und dem jeweiligen Mangel, der beide Figuren voneinander trennt, und der gleichzeitig die Verbindung zwischen beiden Figuren überhaupt erst herstellt und aufrechterhält. Aus diesem Riss, dieser Störstelle im Text, entsteht die Möglichkeit, Ungewöhnliches zu erzählen und dadurch ein Kunstwerk entstehen zu lassen, das literarische „Wollust“ beim Leser weckt - den Roman selbst. „Weder die Kultur noch ihre Zerstörung sind erotisch; erst die Kluft zwischen beiden wird es“ (Barthes 1974: 13). Barthes bezieht diesen Satz auf die Literatur des Marquis de Sade, aber er gilt genauso hier. Der Roman ruft die kulturellen Normen auf und unterläuft sie permanent, ohne sie dabei vollkommen zu verwerfen. Er bricht mit normierten Erwartungen und stellt trotzdem kein Chaos her, da er sich stets zu den Normen verhält. In der Kluft, die der Roman zwischen der Erfüllung der Norm und ihrer Zerstörung entstehen lässt, wird das Erzählen von Otherness möglich. Es ist die Figur der Naomi, deren Handeln diese verbindende Kluft herstellt. Als Jüdin ist sie von vornherein als Außenseiterin markiert, auf die sich eine breite Palette verschiedenster exotisierender und erotisierender Assoziationen projizieren lassen. Die Figur der Jüdin schafft so die Möglichkeit, von dämonischem und triebhaftem Begehren zu erzählen, von einer Sexualität, die sich den bestehenden Normen widersetzt, und diese Abweichung dabei stets auf ihr Jüdischsein zurückzuführen. Naomis Jüdischsein bildet den Hintergrund, vor dem von Christians Begehren nach vollkommener Musik erzählt wird. Warum dieses Begehren nicht erfüllt werden kann, werde ich anhand der Analyse ausgewählter Textpassagen zeigen. Alles beginnt mit einem Tauschhandel im paradiesisch anmutenden Garten des Juden. 7.6 Christian 7.6.1 Der jüdische Paradiesgarten Christian und Naomi sind Nachbarn, doch haben sie einander in den ersten Jahren ihres Lebens nur aus der Ferne gesehen, wobei Christian von Naomis „gule Saffians Støvler“ 170 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 12 Asien wird hier, wie im 18. und 19. Jahrhundert üblich, mit dem Orient identifiziert (vgl. hierzu Polaschegg 2005: 84-85). [„gelbe(n) Saffian-Stiefelchen“] (Andersen 1988: 18; Andersen 2005: 20), die sie vom ersten Moment an als exotisch-orientalisch und reich markieren, tief beeindruckt war. Denn er wächst in Armut bei seinen Eltern auf, während Naomi bei ihrem wohlhabenden Großvater lebt, aus dessen Garten an warmen Sommerabenden der Duft von Jasmin herüberweht (vgl. Andersen 1988: 16; Andersen 2005: 18). Der Garten des Juden grenzt direkt an das Haus, in dem Christian lebt, und bleibt doch unerreichbar, bis Christian beim Spielen „i det tomme Tørvehuus, som udgjorde Grændsen mellem Hjemmet og hans Feeverden“ [„in dem leeren Torfschuppen, der die Grenze zwischen seinem Zuhause und seiner Feenwelt bildete“] (Andersen 1988: 17; Andersen 2005: 19), einige lose Steine in der Mauer zum Garten des Nachbarn entdeckt. Nach und nach vergrößert er das Loch in der Wand. Erst am nächsten Tag wagt er es, seine Hand durch das Loch zu stecken, um die reifen Erdbeeren im Nachbargarten zu berühren, ohne sich jedoch zu trauen, sie zu pflücken. Die Beeren sind „friske og fulde. Canaans Drueklase indgjød ikke rigere Tanker om Frugtbarhed end disse to Bær“ [„frisch und voll. Die Trauben Kanaans hatten keine reichere Vorstellung von Fruchtbarkeit erweckt, als diese beiden Beeren“] (Andersen 1988: 17; Andersen 2005: 20). Die Koordinaten sind gesetzt, die Wand stellt nicht nur die Grenze zu Christians Feenwelt dar, sondern den Übergang in einen biblischen Paradiesgarten. Auf der anderen Seite der Wand hat Naomi Christian schon längst entdeckt und berührt nun seine Hand mit ihrer. Wie in Blichers Jøderne paa Hald, wo Sulamith und Johan einander in einem orientalisch anmutenden Garten begegnen und durch einen Spalt in der Wand kommunizieren, findet auch zwischen Naomi und Christian der erste Kontakt durch ein Loch in einer zuvor trennenden Wand statt. Und hier wie dort deutet sich sowohl in der Darstellung des duftenden und üppigen Gartens als auch in der Begegnung durch eine Lücke in der Wand eine Verbindung zu Salomos Hohelied und zum körperlichen Begehren an (vgl. Kapitel 3.5). Doch Christian reagiert auf diese erste Berührung, indem er seine Hand wegzieht und dem Wunsch, den exotischen Garten samt seiner Bewohnerin kennenzulernen, zunächst nicht nachgibt. Erst als er Naomi erblickt und sie ihn bittet, das Loch in der Mauer zu vergrößern, und ihn zu sich in den Garten einlädt, gibt er seiner Neigung nach, den Garten zu betreten. Hier erwartet ihn eine Welt, die verschiedener von seiner eigenen nicht sein könnte, scheint er sich hier doch gleich in einem ganz anderen, in einem südlicheren Land zu befinden. So folgt der Erzähler dem Eindruck des Jungen, als er den Garten betritt, und leitet den Leser an, sich in Christian hinein zu versetzen: „[V]i maae med ham aande den stærke Blomsterduft, føle de varme Solstraaler, beskue den rige Pragt“ [„(W)ir müssen mit ihm den starken Blumenduft einatmen, die warmen Sonnenstrahlen fühlen, die reiche Pracht bewundern“]. Naomi passt mit ihrer als exotisch beschriebenen Erscheinung in diesen Garten, „med de kloge Gazel-Øine og den brune Teint, som antyder den asiatiske Slægt; men Blodet skinnede friskt og deiligt gjennem de runde Kinder, som ombølgedes af det sorte Haar. En mørk Kjole med et Læderbælte sluttede sig om den smukke Barneskikkelse“ [„mit den klugen Gazellen-Augen und dem braunen Teint, der auf die asiatische 12 Abstammung deutete; das Blut aber leuchtete frisch und schön durch die runden Wangen, die von dem schwarzen Haar umwogt wurden. Ein dunkles Kleid mit einem Ledergürtel umschloss die hübsche 171 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 13 In neueren Bibelübersetzungen wird statt des von Herder verwendeten Wortpaares „und doch“ allein die Konjunktion „und“ verwendet. In der Luther-Bibel von 1534 wird hingegen „aber“ gebraucht, und auch noch in der revidierten Fassung von 1984 steht „aber“ (vgl. Bibel 2006, 2016a, 2016b). 14 In der hier untersuchten Literatur stellt die (nicht oder nicht eindeutig jüdische) Figur Veronica in Carsten Hauchs Guldmageren die einzige weibliche Ausnahme dar (vgl. Kapitel 5.6.2). Kindergestalt“] (Andersen 1988: 18; Andersen 2005: 21). Obwohl sie noch ein Kind ist, wird Naomi durch den Verweis auf das Hohelied und den literarischen Topos der ‚schönen Jüdin‘ doch mit Attributen einer erwachsenen und somit begehrenswerten orientalischen Frau belegt. Sogar in der Betonung eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen dunkler Haut und frischen, schönen Wangen, der in der ‚schönen Jüdin‘ überwunden wird, nimmt der Text Bezug auf das Hohelied Salomos, in dem es mit der Stimme der Sulamith heißt: „Schwarz bin ich und doch lieblich“ (Hld, 1,5; Herder 1992: 10). 13 Die beiden Kinder spielen im Lusthaus - auch hier besteht eine Parallele zu Blichers Figuren Johan und Sulamith, die sich am Jasminlusthaus begegnen (vgl. Kapitel 3.5). Naomis und Christians Spiel heißt „at sælge Penge“ [„Geldverkaufen“] (Andersen 1988: 19; Andersen 205: 22), und es ist Naomi, die dieses Spiel vorschlägt. Ihre Figur knüpft so an die judenfeindliche Erzähltradition an, in der eine besondere Beziehung zum Geld als charakteristisches Merkmal von Juden betrachtet wird; eine Tradition, mit der sich zweifellos auch der Reichtum ihres Großvaters begründen lässt. Außerdem ist er nicht nur reich, sondern auch habgierig, wodurch sein Wohlstand im Vergleich beispielsweise zu dem der Figur Branco in Gyllembourgs Novelle Jøden als unmoralisch abgewertet wird. Bemerkenswert ist, dass diese Zuschreibung in der zeitgenössischen Literatur, wie in den vorigen Kapiteln gezeigt, ganz überwiegend männliche Juden betrifft, hier aber auf eine jüdische Frauenfigur übertragen wird. 14 In Naomi verbinden sich also bereits zu diesem Zeitpunkt Zuschreibungen von (jüdisch konnotierter) Weiblichkeit und Männlichkeit. Das Spiel, das sie vorschlägt, ist keineswegs fair, denn Naomi bestimmt die Regeln, nach denen Christian das Spielgeld abkaufen muss: Gule, røde og blaae Blade vare Penge. „De røde ere de kostbareste! “ sagde hun. „Du skal kjøbe, men Du maa give mig noget! det skal være et Pant. Du kan give mig din Mund! Vi lege det kun, jeg tager den ikke rigtigt! Du skal give mig dine Øine! “ Med Haanden gjorde hun en Bevægelse, som om hun tog dem, og Christian fik baade af de røde og blaae Blade. Aldrig havde han leget saa deiligt før. (Andersen 1988: 19) Gelbe, rote und blaue Blätter waren das Geld. „Die roten sind die kostbarsten! “, sagte sie. „Du musst sie kaufen, aber du musst mir auch etwas dafür geben! Das soll ein Pfand sein! Du kannst mir deinen Mund geben! Wir spielen das nur, ich nehme ihn nicht wirklich. Du musst mir deine Augen geben! “ Sie machte mit der Hand eine Bewegung, als ob sie sie nähme, und Christian bekam die roten und die blauen Blätter. Noch nie hatte er so schön gespielt. (Andersen 2005: 22) Wenngleich Naomi versichert, den Mund (und sicher auch die Augen) nicht wirklich zu nehmen, den Charakter der spielerischen Handlung also betont, wird sie an späterer Stelle Christian daran erinnern, dass sie noch immer seine Augen und sein Mund besitze 172 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 15 Als Naomi viele Jahre später, zum Christentum konvertiert, als Konfirmandin eine rote Rose an die Stelle über ihrem Herzen steckt, sind es eben jene Attribute, die mit der Figur verbunden sind und bei der Leserin gleichermaßen Mitgefühl und Ablehnung evozieren (vgl. Kapitel 7.7.3). (Andersen 1988: 161; Andersen 2005: 200). Der gespielte Tausch behält also seine Gültigkeit und wird Christians Lebensverlauf entscheidend prägen. Naomi nimmt Christian nicht nur Körperteile weg, sondern eignet sie sich auch selbst an. Mit der Behauptung des Erzählers, Christian habe noch nie so schön gespielt, nähert sich die Erzählstimme zwar dem spontanen Eindruck Christians an. Doch ist dieser Aussage zu misstrauen, denn der symbolische Gehalt dieses Tauschs muss dem Leser offenkundig sein. Der Gegenwert für seine Sinnes- und Ausdrucksorgane ist nicht nur geringer und weniger symbolhaft - es handelt sich schlicht um schöne, aber vergängliche Blütenblätter - sondern er verliert diese Blätter außerdem, als er brüsk von seiner Mutter gerufen wird und durch das Loch zurück in seine ärmliche, graue Welt kriechen muss. Der Garten bleibt ihm nun unzugänglich, denn das Loch wurde von der Gartenseite aus verschlossen (Andersen 1988: 20; Andersen 2005: 23). Christian muss also erfahren, dass er in der Welt des Juden und seiner Enkelin unerwünscht ist und Naomi, statt Stillschweigen zu bewahren, ihrem Großvater freimütig von seinem Besuch berichtet hat. Erwähnenswert ist dieser Ausschluss deshalb, weil er überhaupt erzählt wird, obwohl er für die Handlung kaum eine Rolle spielt. Denn schon in der darauffolgenden Nacht verbrennen das Haus des Juden und sein Garten. Die Planken vor der Öffnung zum Nachbarsgarten erzählen also nicht davon, dass die Kinder fortan nicht mehr miteinander spielen können, sondern sie erzählen von der Verletzung, die Christian durch diesen Ausschluss erfährt. Durch den Brand und die Zerstörung des Gartens ist dieser Ausschluss endgültig, es gibt keinen Weg mehr zurück. Darin ähnelt Christians Erfahrung zudem der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Die Verletzung durch die Zurückweisung begleitet Christian und ist dabei nur eine von vielen Ausschlüssen, die er im Laufe der nächsten Jahre erfährt. Das Muster, das sich in der Literatur (nicht nur dieser Untersuchung) zeigt, nämlich dass die jüdischen Figuren aus der christlichen Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen oder zumindest vom Ausschluss bedroht sind, kehrt sich hier um. Erst einmal aber kommt Christian Naomi schon am nächsten Tag wieder näher, denn der Brand zerstört nicht nur den Besitz des Großvaters, auch der alte Jude selbst stirbt in den Flammen, und Naomi findet im Haus von Christians Eltern ein vorläufiges Obdach. 7.6.2 Hochzeit spielen Der Brand, bei dem Naomis Großvater ums Leben kommt, deutet sich bereits beim Spielen im Lusthaus an, als Christian durch eine rote Scherbe blickt und glaubt, der Garten stehe in Flammen (Andersen 1988: 19; Andersen 2005: 22). Schmerz und Leidenschaft, Schönheit und Verlust sind fortan mit Naomi und mit ihrer jüdischen Herkunft verbunden. 15 Das Feuer, das Naomi ihr Zuhause nimmt, führt sie wieder mit Christian zusammen. Nachdem Naomi ihren Kummer im Laufe eines Tages überwunden hat, interessiert sie sich nun wieder für die Schönheit der materiellen Dinge. Voller Eitelkeit ist sie besorgt, ob ihr schönes neues Trauerkleid nicht Schaden nimmt, wenn sie es nun täglich anzieht, und „[s]it 173 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) smukke Legetøi, Dukkehuset med Kjøkken og Stue, spurgte hun anderledes om, end om Bedstefaderen.“ [„(n)ach ihrem hübschen Spielzeug, dem Puppenhaus mit der Küche und der Stube, fragte sie viel eifriger als nach dem Großvater.“] Gleichzeitig findet sie großes Vergnügen durchaus auch in materiell wertlosen Dingen, wie einem großen Blatt, „det var Vifte, Løvhytte og Have; ja hele den deilige Blomsterhave med Farver og Duft erstattedes ved det store, grønne Blad“ [„das ihr als Fächer, Laube und Garten diente; ja, dieses große, grüne Blatt ersetzte ihr den ganzen schönen Blumengarten mit seinen Farben und seinem Duft“] (Andersen 1988: 26; Andersen 2005: 31). Ihr Verhalten ist also widersprüchlich und erscheint sprunghaft zwischen Anspruch und Anspruchslosigkeit wechselnd. Im Spiel dominiert sie erneut Christian. Der drehende Kreisel, mit dem die Kinder spielen, sei eine Blume, schlägt sie vor. Als Christian fragt, ob er nicht lieber ein helfender Kobold sein solle, bestimmt sie, dass der Kobold nun sterben soll: „Saa begrave vi ham, ligesom min Bedstefader, og saa lege vi at sørge og holde Begravelse, det kan være saa morsomt! “ [„Dann begraben wir ihn, wie meinen Großvater, und dann spielen wir Trauern und Begräbnis, das wird Spaß machen! “] (Andersen 1988: 27; Andersen 2005: 32). Die Kinder spielen auch die Feuersbrunst nach, und so wird aus Naomis schmerzhaftem Verlust ein lustiges Kinderspiel, in dem sie selbst die Führung übernimmt. Naomi wird so als zwiespältige Figur entworfen, die einerseits Mitgefühl und andererseits Ablehnung hervorruft. Das asymmetrische Verhältnis, das Naomi und Christian durch das symbolische Tauschgeschäft eingegangen sind, wird so verstärkt und ihre lebenslange Verbindung schließlich noch einmal bestätigt durch ein abermals symbolisch aufgeladenes Spiel: eine Hochzeit zwischen Naomi und Christian, denen die Nachbarskinder das Geleit geben. Aldrig havde hun leget bedre, hvad var vel Dukkeskab, Billeder og Blomster imod de levende Legebrødre. Kjærligt klyngede hun sig til Christian, der slog sine Arme om hendes Hals og kyssede hende paa Munden; hun gav ham Medaillonen, hun bar paa sit Bryst, den skulde han pyntes med, saa var han Greve, sagde hun, og de kyssedes igjen medens alle de Andre stode […]. (Andersen 1988: 27) Nie zuvor hatte sie schöner gespielt; was waren auch Puppenhaus, Bilder und Blumen gegen lebendige Spielkameraden. Liebevoll hing sie sich an Christian, der seine Arme um ihren Hals schlang und sie auf den Mund küsste; sie gab ihm das Medaillon, das sie auf der Brust trug, als Schmuck, dann wäre er ein Graf, sagte sie, und sie küssten sich wieder, während die anderen alle herumstanden […]. (Andersen 2005: 32-33) War es zuvor noch Christian, ist es nun Naomi, die noch nie schöner gespielt hatte und die dieses schönste Spiel in einer Welt spielt, die ihr bislang unzugänglich war - die Welt der nicht-jüdischen Nachbarskinder. Und wie zuvor findet auch in diesem Spiel ein Tausch statt. Christian küsst Naomi auf den Mund, er gibt ihr also einen Kuss und erhält diesmal einen realen Gegenwert, ihr Medaillon. Diese Gabe könnte nun als Herzensgeschenk interpretiert werden, wenn ihr Zweck nicht ausdrücklich darin läge, Christian zu schmücken und seinen gesellschaftlichen Status - im Spiel - zu erhöhen, was wiederum auch den Status der Braut erhöht. Der Schmuck, den Christian nun trägt, steigert also sein Ansehen, ist 174 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 16 Das erfährt der Leser im folgenden Kapitel, als Christians Taufpate das Medaillon offensichtlich wiedererkennt. dadurch aber bedeutungsentleert. Denn zwar enthält das Medaillon eine Haarlocke, 16 von der anzunehmen ist, dass sie Naomis verstorbener Mutter gehört hat, und Naomi trägt es an einem intimen Ort, der Stelle über ihrem Herzen. Es handelt sich also um ein Schmuckstück mit einem hohen ideellen Wert. Doch durch die Leichtfertigkeit ihrer Geste und den profanen Zweck entwertet sie das Medaillon und ihre Gabe eigenhändig. Die Leichtfertigkeit, mit der sich Naomi von dem wertvollen Erbstück trennt, unterstreicht zum einen die Oberflächlichkeit ihres Charakters und leitet zum anderen die sukzessive Entfernung von ihrer eigenen, ihrer jüdischen Identität ein, die sich im Handlungsverlauf fortsetzt. Hinzu kommt, dass Christian durch das Schmuckstück effeminiert erscheint, da er eine empfangende, passive und somit weiblich konnotierte Rolle übernimmt, nämlich die der geschmückten Frau an der Seite des Mannes, wodurch dessen Status erhöht wird. Auf diese Weise und im selben Moment werden Naomi als handelnder Figur, als derjenigen, die Christian um ihres eigenen Status willen schmückt, männlich konnotierte Wesenszüge zugeschrieben. Noch im Spiel werden die Kinder voneinander getrennt, Naomi wird von einer ihr fremden adligen Dame in einer Kutsche abgeholt und gegen ihren (und Christians) Willen an einen anderen Ort gebracht. Mit diesem Abschied trennen sich die Lebenswege der Kinder, die zwar insgesamt nur drei Tage miteinander verbracht haben, in dieser Zeit aber durch verschiedene symbolische Handlungen eine lebenslange Bindung eingegangen sind. Der Erzähler folgt nun über mehr als hundert Seiten allein Christian, doch die Verbindung zu Naomi bleibt erhalten, wenngleich das Bindeglied zwischen beiden Kindern zu diesem Zeitpunkt für den Leser noch nicht als solches erkennbar ist. Zur Kompensation seines Verlusts - „‚Hvor skal min Kone hen? ‘, spurgte han“ [„‚Wo soll meine Frau hin? ‘, fragte er“] (Andersen 1988: 28; Andersen 2005: 34) - darf Christian seinen Taufpaten besuchen, den Mann, der, so erfährt es die Leserin im späteren Verlauf der Handlung, nicht nur derjenige ist, der Naomi aus dem brennenden Haus gerettet hat, sondern der auch ihr leiblicher Vater ist - und der Mörder ihrer Mutter. Er stellt ein weiteres Verbindungsglied zwischen Naomi und Christian dar und ist entscheidend für das Schicksal beider Figuren. 7.6.3 Pate und Dämon Christians Pate ist von Anfang an umhüllt von der Aura des Todes und des Dämonischen. Seine Gedanken erscheinen rätselhaft und bleiben ebenso im Verborgenen wie seine Vergangenheit. Beim Erzählen über seine Herkunft vermischt sich seine eigene Biografie mit den mythologischen Figuren seines Heimatlandes Norwegen. In seiner Kindheit habe er oft dem Neck gelauscht, einem Wassergeist, „der boede i Elvene og tidt ved Maanskin sad med sit lange, hvide Skjæg i Fossen og spillede saa deigligt, at man følte Lyst til at styrte sig derud“ [„der im Bergstrom hause und mit seinem langen, weißen Bart oft im Mondenschein am Wasserfall sitze und so schön spiele, dass man Lust verspüre, sich hineinzustürzen“]. Ein Nachbar Christians vermutet gar: „‚Nøkken har nok lært Din Gudfader at spille! ‘ […], og fra den Tid maatte Drengen altid, naar han hørte Gudfaderens Violin, tænke paa 175 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 17 Stefanie von Schnurbein und Erik Dal deuten diese Exotisierung des nördlichen Nachbarlandes „als Idiosynkrasie Andersens“, denn dieser „var aldrig helt trygg ved nordmænd! [hatte immer Vorbehalte gegenüber Norwegern! ]“ (Schnurbein 2007: 135; Dal 1993: 445). 18 Von 1814 bis 1851 war Juden und Jüdinnen der Zugang nach Norwegen per Verfassung verwehrt. Vor dieser Zeit haben nur vereinzelte, zeitlich begrenzte Aufenthalte sephardisch-jüdischer Geschäfts‐ leute in Norwegen stattgefunden. Zur Geschichte der Juden in Norwegen vgl. Bock (2020: 275-278), Räthel (2016: 273-277), Snildal (2012), Haxen (2001: 494-496), Sagmo (2000) und Mendelsohn (1969: 9-275). Nøkken i den brusende Fos, og han blev taus og drømmende“ [„‚Der Neck hat sicher deinen Paten spielen gelehrt! ‘ (…), und von dieser Zeit an musste der Junge stets an den Neck in dem brausenden Wasserfall denken, wenn er die Geige des Paten hörte, und er wurde stumm und träumerisch“] (Andersen 1988: 30; Andersen 2005: 36). Der Pate und der Neck verschwimmen zu einer Figur, der Norweger nimmt Merkmale des Wassergeistes an, und für Christian hat „hans Nærhed […] just noget af det, man tillægger Nøkkens Spil og Slangernes Blik“ [„seine Nähe (…) genau etwas von dem, was man dem Spiel des Neck und dem Blick der Schlange nachsagt“] (Andersen 1988: 30; Andersen 2005: 37). Norwegen wird so als wildes Herkunftsland des Paten exotisiert und die Figur des Paten dadurch ebenfalls. 17 Christian fühlt sich von ihm gleichermaßen angezogen und abgestoßen, betrachtet ihn „med an Blandning af Frygt og Hengivenhed“ [„mit einer Mischung aus Furcht und Ergebenheit“] (Andersen 1988: 30; Andersen 2005: 37). Bereits seine Herkunft und sein Äußeres, die - so suggeriert es der Text - zu einander im Widerspruch stehen, verweisen auf die Ambivalenz der Figur. Zwar ist er Norweger und ähnelt gar einem norwegischen Wassergeist, aber den guulbrune Ansigtsfarve, det kulsorte, glindsende Haar antydede en Sydbo, eller den jødiske Slægt, noget som dog de forunderlige blegblaae Øine modsagde; de vare saa aldeles Nordboens; deres klare, lyse Farve gjorde en forunderlig Contrast til de sortbuskede Øienbryn. (Andersen 1988: 30) die gelbbraune Gesichtsfarbe, das kohlschwarze, glänzende Haar deutet auf einen Südländer oder auf jüdische Abstammung hin, wogegen doch die auffallend hellblauen Augen sprachen. Diese waren ganz die eines Nordländers; ihre klare, helle Farbe bildete einen sonderbaren Kontrast zu den schwarzen, buschigen Augenbrauen. (Andersen 2005: 37) Obwohl der Text bereits des Paten Herkunft aus Norwegen offengelegt hat, wird diese Kategorie sogleich in Frage gestellt. Die Beschäftigung mit den anderen Erzähltexten in dieser Arbeit hat gezeigt, dass Herkunft und Zugehörigkeit über angeborene körperliche Marker angedeutet oder bestätigt werden. Der norwegische Pate ist durch ebenjene Marker gekennzeichnet, die ihn als eine jüdische Figur lesbar machen könnten, doch ist diese Schlussfolgerung nur bedingt möglich. Denn in Norwegen lebten zu der Zeit der Romanhandlung keine Juden, und auch wirtschaftliche Beziehungen zwischen Norwegern und handelsreisenden Juden waren äußerst selten. 18 Obwohl natürlich trotzdem nicht ausgeschlossen werden kann, dass theoretisch ein Jude als Vater des Paten denkbar ist, wäre ein solcher Nachweis nicht der Zweck dieser Markierung als „Südländer“. Vielmehr wird das Dämonische und Bedrohliche der Figur durch die Zuschreibungen äußerlicher Merkmale unterstrichen. Hilfreich für das Verständnis der Figur und ihrer Funktion innerhalb des 176 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 19 Das gilt auch für Christian und Naomi (vgl. Kapitel 7.5, Fußnoten 6 und 7). 20 Das gilt zum Beispiel auch für „He-who-must-not-be-namend“ Voldemort, dessen Macht unter anderem darauf beruht, dass sein Name nicht genannt werden darf. Seine langfristige Niederlage kündigt sich bereits in dem Moment an, als Harry Potter sich entscheidet, seinen Namen auszuspre‐ chen. 21 Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle fehlerhaft. Gemeint ist hier offensichtlich die durch elektrischen Strom erzeugte und als Galvanismus bekannte Kontraktion von totem Muskelgewebe. Doch ist die Übersetzung insofern stimmig, als es sich bei solchermaßen Obduzierten stets um Hingerichtete gehandelt hat. Textes ist also gerade die umgekehrte Blickrichtung: Die äußerlichen Merkmale werden mit „dem Jüdischen“ assoziiert, und mit dieser Assoziation erfolgt die Übertragung bestimmter Eigenschaften, die als Topoi des Jüdischen in der Literatur bekannt sind, auf eine eigentlich nicht-jüdische Figur. Die hellblauen Augen des Paten stellen zwar einen Bruch dar, sie scheinen dem Erzähler nicht ins Bild eines Juden passen zu wollen. Aber sie betonen dabei das Dämonische des Paten umso mehr. Mit dem Paten geschieht also ähnliches wie mit dem Vater der Figur Johan in Blichers Jøderne paa Hald, der durch seine dunklen Haare, seine buschigen Augenbrauen und vor allem durch seinen bohrenden Blick mit ahasverischen Zuschreibungen belegt wird (vgl. Kapitel 3.4.3). Auch bei ihm handelt es sich um eine dämonisch erscheinende Figur, und wie er bleibt auch der Pate als einzige Figur im Roman namenlos. Da aber gerade die Namen, wie in dieser Arbeit beispielhaft anhand einiger Figuren gezeigt wurde, entscheidend für die Zuordnung der Figuren als jüdisch oder nicht-jüdisch sind, 19 wird der Pate durch seine Namenlosigkeit zu einer Projektionsfläche, die vielfältige und paradoxe Zuschreibungen erlaubt. Vor allem ist der, der keinen Namen hat, unheimlich, ja geradezu unmenschlich. 20 Der Text deutet eine besondere Beziehung des Paten zu Naomi an, er tut dies aber auf eine Weise, die Christian verborgen zu bleiben scheint und nur der Leserin offenbar wird. „[M]ed et forunderligt Udtryk“ [„(M)it einem sonderbarem Gesichtsausdruck“] betrachtet der Pate das Medaillon, das Christian um den Hals trägt, und „smilede, som den Obduceredes Hoved kan smile, naar den galvaniske Stang berører hans Tunge“ [„lächelte, wie der zur Hinrichtung Verurteilte (sic! der Kopf des Obduzierten; KB) wohl lächelt, wenn die galvanische Stange seine Zunge berührt“] (Andersen 1988: 33; Andersen 2005: 40). 21 Zuvor hatte der Pate Christian heftig gestoßen, als dieser in verstörender Unbeschwertheit über die großen Kohlköpfe im Garten des Paten meinte, dass diese gute Übungsobjekte für einen Henker und seinen Lehrling seien (Andersen 1988: 32; Andersen 2005: 39-40). Durch den starken Stoß, den der Pate Christian daraufhin gibt, rutscht das Medaillon hervor. Dem Leser erschließt sich bereits hier, dass der Pate weiß, wessen Locke es ist, die in das Medaillon eingelegt ist. Die morbiden Assoziationen des Kindes, die heftige Reaktion des Paten und sein verstörender Gesichtsausdruck beim Betrachten des Medaillons lassen die Leserin ahnen, dass der Pate mit der Figur Naomi in einer besonderen Verbindung steht, die er einige Jahre später schließlich Christian gegenüber offenlegt - am Vorabend seines Selbstmordes. Er nämlich ist der leibliche Vater von Naomi, es besteht also ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihm, dem Dämonen, und der Jüdin. Ihr vererbt er Anteile seines dämonischen Wesens; umgekehrt aber scheint ihr Jüdischsein auf ihn überzuspringen, so dass auch sein Aussehen als „jüdisch“ lesbar ist. Eine Weitergabe von 177 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Eigenschaften, die biologisch unmöglich ist, kann literarisch offenbar denkbar werden. Dabei wird diese Erbfolge nicht etwa erzählt, sie stellt sich automatisch ein durch das Assoziationsfeld „jüdische Figuren“, das durch Naomi und ihren Großvater in den Roman eingeführt worden ist. Eine strukturelle Ähnlichkeit besteht hierin nicht allein zur Figur des Vaters von Johan in Blichers Novelle Jøderne paa Hald, sondern auch zu den Figuren Manon und Veronica in Hauchs Roman Guldmageren. Auch auf diese beiden Frauenfiguren werden Zuschreibungen des Jüdischen projiziert, die durch die beiden jüdischen Figuren Benjamin de Geer und Isak Amschel und deren Beziehungen zu den beiden nicht-jüdischen Schwestern legitimiert werden (vgl. Kapitel 5.6). Paradoxerweise steht das Dämonische des Paten mit seinem Aussehen in einem doppelten und sich selbst bedingenden Abhän‐ gigkeitsverhältnis. In seinem „südländischen“ Aussehen manifestiert sich einerseits das Dämonische, das in ihm ist. Und zugleich dient der Hinweis auf eine möglicherweise jüdische Herkunft, die sich äußerlich in seinem Gesicht andeutet, als implizite Begründung für das Vorhandensein des Dämonischen im Paten. Das „Jüdische“ ist also Ursache und Symptom in einem. Mittels der Figur des Paten, so fasst Stefanie von Schnurbein die paradoxen Zuschreibungen von Herkunft und Zugehörigkeit zusammen, „etabliert der Roman […] eine symbolische Geographie, in der Judentum, nordisches Heidentum und exotisch-dämonische Leidenschaft Mischverhältnisse eingehen, die für die komplexen und widersprüchlichen Verhandlungen von Alterität und Identität im Roman von größter Bedeutung sind“ (Schnurbein 2007: 135). Eine Auflösung dieses Paradoxons ist unmöglich, denn obwohl der Norweger mit ahasverischen Eigenschaften belegt wird, ist er tatsächlich kein Jude, sondern, das manifestiert sich auch in seinem Patenverhältnis zu Christian, zumindest offiziell ein Christ. 7.6.4 Teufelsgeiger Ebenso paradox wie seine Herkunft und religiöse Zugehörigkeit ist auch das Geigenspiel des Paten. Als Christian nach der Trennung von Naomi zu seinem Paten eilt, hört er bereits von draußen dessen Violinspiel. Andächtig lauscht er der Musik, allerdings spielt der Pate auf eine unheimliche Art und Weise, die von Anfang an mit dem Tod in Verbindung gebracht wird: Det var denne melodiske Jamren, der fra Paganinis Violin skabte Sagnet, at han havde dræbt sin Moder, og at hendes Sjæl nu bævede gjennem Strængene. Snart gik Tonen over i en blød Veemod, Nordens Amphion: Ole Bull kaldte det samme Thema paa sin Violin: „En Moders Smerte ved Barnets Død“. (Andersen 1988: 29-30) Es war jenes melodische Klagen, das die Sage von Paganinis Geige ins Leben rief, der seine Mutter getötet habe und deren Seele nun durch die Saiten bebe. Bald ging der Ton in sanfte Wehmut über; der Amphion des Nordens, Ole Bull, nannte dasselbe Thema auf seiner Geige: „Der Schmerz einer Mutter beim Tode des Kindes.“ (Andersen 2005: 36) Mit dem Bezug auf die beiden berühmten Violinisten Ole Bull und Niccolò Paganini nimmt der Erzähler eine Positionierung des Romans innerhalb der kulturellen Landschaft seiner Zeit vor. Darüber hinaus werden zwei wesentliche Merkmale des Paten auf diese Weise vorgestellt: Wie Ole Bull ist der Pate Norweger. Wie Paganini, der sogenannte Teufelsgeiger, 178 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 22 Aus diesem Grund habe ich mich in diesem Kontext für die Bezeichnung „Selbstmord“ statt „Suizid“ entschieden. ist er außerdem von einer Aura des Unheimlichen umgeben. Die Referenz auf die beiden Melodien unterstreicht dies, und der Text lässt nicht nach, das Unheimliche in der Musik des Paten herauszustellen. Seien es die Bilder mit „Dødningedandsen“ [„Darstellungen des Totentanzes“] (Andersen 1988: 31; Andersen 2005: 37), die zu Christians Verwunderung verkehrt herum an der Wand hängen, denn, so erklärt der Pate: „De have vendt sig i Dandsen! “ [„Sie haben sich beim Tanz gedreht! “] (Andersen 1988: 31; Andersen 2005: 38). Sei es der Vergleich mit einem Vexierbild, den der Erzähler anstellt, auf dem ein betendes junges Mädchen scheinbar vor einem Kreuz kniet - während auf den zweiten Blick deutlich wird, das es sich um einen Galgen handelt, auf dem mit gespreizten Beinen der Teufel sitzt. „Et lignende Billede i Toner frembød Gudfaderens Violinspil“ [„Ein ähnliches Bild, in Tönen, bot das Bild (sic! das Violinspiel; KB) des Paten“] (Andersen 1988: 33; Andersen 2005: 41). Müller-Wille betont, dass es gerade dieser Effekt des ständigen Wechsels ist, der das Vexierbild unheimlich erscheinen lässt: For billedets uhyggelige virkning består ikke bare i dets fremstilling af rædselsfulde dæmoner. Tværtimod relateres betragterens skræk til en dobbelt observation - differensen mellem det første og det andet blik - som bogstaveligt forvandler det hellige kors til en djævel med vidt udstrakte ben. (Müller-Wille 2015: 149) Denn die unangenehme Wirkung des Bildes besteht nicht allein in dessen Darstellung beängsti‐ gender Dämonen. Der Schrecken des Betrachters bezieht sich im Gegenteil auf eine doppelte Observation - die Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Blick -, die buchstäblich das heilige Kreuz in einen Teufel mit weit ausgestreckten Beinen verwandelt. Es sei die strukturelle Ambivalenz des Bildes, die den Betrachter beunruhige. Einige Zeit später wird sich das Bild in abgewandelter Form wiederholen: Der Pate selbst wird in einem Baum hängen, während Christian darunter friedlich schläft, nicht wissend, ob er einem Dämon oder seinem Beschützer Zuneigung entgegengebracht hat. Am Abend vor seinem Selbstmord erzählt der Pate Christian eine Geschichte, über der das erschöpfte Kind einschläft. Dem Leser jedoch wird in seiner Geschichte nicht nur enthüllt, dass der Pate der uneheliche Vater Naomis ist, sondern auch, dass er Naomis Mutter - und Jahre zuvor auch eine andere Frau - umgebracht hat (vgl. Andersen 1988: 81-83; Andersen 2005: 102-104). Wie das Vexierbild kippt die Figur des Paten von einem ins andere Extrem. Denn es ist der Pate, der Naomi aus dem brennenden Haus ihres Großvaters getragen und sie so vor dem Tod gerettet hat. Und er ist es, der für Christian einen Zufluchtsort und den Weg zur Musik darstellt. Sein erhängter Leichnam im Baum ist also eine Version des Vexierbilds, in dem der Pate beides ist: Mörder und Beschützer, Dämon und Taufpate; auf der einen Seite die Verzweiflung des reuigen Mörders, auf der anderen Seite die dämonische Handlung, sich über seinem schlafenden Patenkind zu erhängen. 22 179 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 23 Bei Andersens kleiner Meerfrau allerdings reichen die Augen allein nicht aus, um erkannt zu werden. Auch sie kann als mehrfach amputierte Figur gelesen werden (vgl. Detering 2002a: 197-205). 7.6.5 Verhinderter Künstler Von seinem Paten erlernt Christian das Geigenspiel. Er zeigt Talent, kommt jedoch nie über ein gehobenes Mittelmaß hinaus, denn seinen Zugang zur Musik erhält er allein über das dämonische Geigenspiel des Paten. Christian, der aus armen Verhältnissen kommt, findet in seinem Umfeld zunächst einen weiteren musikalischen Unterstützer; als er später aber den gesellschaftlichen Aufstieg in Kopenhagen versucht, findet er dort niemanden, der sein Ta‐ lent erkennt und fördert. So verbleibt er der ärmliche Geiger mit dem „forunderlige, dristige Buestrøg“ [„eigentümliche(n), kühne(n) Strich“] (Andersen 1988: 150; Andersen 2005: 185), dem man schon als Kind wenig mehr als desinteressiert-freundlich „Bifald og Opmuntring“ [„ermunternde(n) Beifall“] (Andersen 1988: 150; Andersen 2005: 186) entgegengebracht hat. Als junger Erwachsener kehrt er enttäuscht nach Fünen zurück und fügt sich in sein Schicksal als einfacher Spielmann, der ohne eine nennenswerte künstlerische Entwicklung durch seine Heimatregion zieht und bei Hochzeiten und anderen Festen aufspielt. Obwohl er auf diese Weise ein kleines regelmäßiges Einkommen hat, ist sein Weg der des Scheiterns, denn Kunst vollbringt er nicht. Der Roman lässt sich so mit Detering auch als Gegenentwurf zum klassischen Bildungsroman lesen, da „die gescheiterte Künstler-Existenz des ‚Spiel‐ manns‘ Christian […] über alles romantische Inventar hinaus […] den Konflikt zwischen Bürgertum und Künstlertum sehr handgreiflich als sozialen vor Augen führt“ (Detering 2002a: 212). Doch dabei belässt es Andersen nicht, sondern er stellt Christian mit Naomi eine zweite Hauptfigur zur Seite. Naomi und Christian sind mit gegensätzlichen, sich ergänzenden Wesenszügen ausgestattet, die einander bedürften, um zu einer geglückten Künstlerfigur zu geraten. Es scheint, als würde Naomi die Notwendigkeit, Anteile von Christian auf sich selbst zu übertragen, erkennen, als sie bereits bei ihrer ersten Begegnung den unfairen, wenngleich nur gespielten Tauschhandel initiiert, bei dem sie sich Christians Augen und Mund aneignet. Mit dieser symbolischen Kastration beraubt sie Christian der Möglichkeit, erfolgreich mit der Außenwelt zu kommunizieren und sich auszudrücken. Es sind die Organe, über die der Kontakt mit der Welt hergestellt werden kann. Der Mund ist das Organ der Sprache, der Mitteilung, der Kommunikation mit der Außenwelt, die Augen sind die Organe des Verstehens und der Erkenntnis. Sprechen und sehen sind, das haben die vorigen Kapitel gezeigt, männlich und aktiv konnotierte Eigenschaften, die sich Naomi zu eigen gemacht hat, während gelesen und gesehen werden der weiblich und passiv konnotierte Part der Kommunikation ist - der Christian nun allerdings ebenfalls versagt ist. Sulamith (Jøderne paa Hald), Benjamine (Den gamle Rabbin) und Manon (Guldmageren) sind allesamt weibliche Figuren, deren Schweigen unter anderem durch die Lesbarkeit ihrer Augen kompensiert wird. Augen sind also gleichermaßen aktiv wie passiv konnotierte Organe, die es ermöglichen zu erkennen und erkannt zu werden. 23 Christian ist beider Fähigkeiten beraubt: des Sehens, aber auch des Gesehenwerdens, was für einen erfolgreichen Künstler gleichermaßen bedeutend ist. Seine Ohren aber hat Naomi nicht genommen. Über das Gehör dringt die Außenwelt unmittelbar in den Körper, doch um zu den Ohren eines anderen über das Gehörte zu sprechen, bedarf es wiederum des Mundes. Das Gehör ist also eine kommunikative Einbahnstraße. Und die wird nun bei Christian auf 180 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 24 Auch eine religiöse Lesart des Glockenturmerlebnisses drängt sich auf und wird im folgenden Kapitel 7.6.7 vorgenommen. brutale Weise verstärkt. Der Pate spielt hierbei eine entscheidende Rolle, so dass Christians Ungleichgewicht der Sinnes- und Ausdrucksorgane in unmittelbarem Zusammenhang nicht nur mit der Jüdin Naomi, sondern auch mit ihrem Vater, dem dämonischen Norweger, stehen. Beide Figuren sind somit entscheidend für die künstlerische Entwicklungsfähigkeit - oder vielmehr Entwicklungsunfähigkeit - Christians. 7.6.6 Musikalische Erweckung Christian begleitet seinen Paten auf einen Tagesausflug in einen Nachbarort. Dort spielt er mit einigen Kindern Verstecken in einem Kirchturm und kriecht in die Glockenstube, um durch die Schallöffnung den Sonnenuntergang beobachten zu können, während die anderen Kinder nach ihm suchen. Ein gutes Versteck - denn er wird nicht gefunden, da die anderen Kinder nicht wagen, die Glockenstube zu betreten - und zugleich eine Falle. Denn zum Sonnenuntergang beginnt die Glocke zu läuten. Sie schwingt auf ihn zu und „syntes […] ham en Slanges uhyre Gab; Knebelen var Braadden, som den spilede henimod ham“ [„erschien ihm wie der ungeheure Rachen einer Schlange; der Klöppel war der Stachel, den sie gegen ihn ausstreckte“] (Andersen 1988: 41; Andersen 2005: 50), so dass er sich weder an ihr vorbei befreien noch die Hände von der Wand lösen und seine Ohren schützen kann. Letzteres wird zwar nicht direkt erwähnt, doch nach dem Geläut spürt Christian, „at Klæderne klæbete ham fast til Kroppen, og at begge hans Hænder sad som murede fast i Væggen“ [„dass ihm die Kleider am Körper fest klebten und dass seine beiden Hände wie in der Wand festgemauert waren“] (Andersen 1988: 41; Andersen 2005: 51). Vollkommen ohnmächtig in dieser Situation fällt er, als das Geläut zu Ende ist, tatsächlich in Ohnmacht und erwacht erst später, als er gefunden und gerettet im Bett liegt. Hier erfährt er von seinem Paten keinen Trost, sondern Schuldzuweisung und Androhung von körperlicher Gewalt. Johan de Mylius liest die Szene im Glockenturm als psychische Kastration mit „eindeutig sexuelle[r] Symbolik“ (2005: 363). Sie sei - neben den sozialen Gründen, die ständig als paralleles Thema mitlaufen - der Grund dafür, dass Christian niemals ein richtiger Künstler werden könne. Jedoch geht Christian, „han, hvis Sjæl usynligt fik Tonernes Daab“ [„er, dessen Seele unsichtbar mit Tönen getauft wurde“] (Andersen 1988: 43; Andersen 2005: 53) - paradoxerweise - aus der Lage der Machtlosigkeit nicht, wie zu erwarten wäre, mit einem geschädigten Gehör, sondern im Gegenteil mit einem verbesserten Gehör hervor. „Som Blomsten bøier Blad og Green efter Sollyset, higede hans Sjæl efter Tonerne. […] Altsom Nærverne bleve pirreligere, blev Øret mere aabnet for Tonernes Sprog“ [„Wie die Blume das Blatt und den Zweig zur Sonne hin wendet, so sehnte sich seine Seele nach Tönen. (…) So wie die Nerven empfindlicher wurden, so öffnete sich auch das Ohr mehr der Sprache der Töne“] (Andersen 1988: 44; Andersen 2005: 54-55). Warum nun kann Christian trotzdem kein Künstler werden, wo sein Gehör und sein musikalisches Empfinden im Glockenturm potenziert wurden? 24 Als Antworten wären sowohl das soziale Umfeld des Kindes als auch die von de Mylius konstatierte psychische Kastration im Glockenturm schon Grund genug. Doch ist sein Scheitern schon viel früher, 181 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 25 Aleida Assmann betont: „Im Gegensatz zu anderen Kulturen wie Altägypten oder China stellt die abendländische Tradition das Reden über das Schweigen. Ciceros Satz: ‚Sprich, damit ich dich sehe‘ bildete die Grundlage der lateinischen Rhetorik. Rhetorik setzt auf das Gespräch, die Interaktion, die öffentliche Rede. Erst die Sprache kann den Menschen bilden, ihm zu seiner wahren Gestalt verhelfen und diese auch sichtbar machen. In der westlichen Schriftkultur gilt dieser Satz auch für den Umgang mit sich selbst“ (Assmann, A. 2013: 52-53). 26 Christian sorgt sich in dieser Passage um seine Mutter, die gerade die Nachricht vom vermeintlichen Tod ihres Mannes erhalten hat. Auf Christians Fürsorge erwidert sie: „Du Guds Engel! […], lad mig kysse Dine Øine og Din søde Mund! ja, for Din Skyld vil jeg leve, hvad skulde der ellers blive af Dig! “ [„Du Engel! (…) Lass mich deine Augen und deinen lieben Mund küssen! Ja, für dich will ich leben, was sollte sonst aus dir werden! “] (Andersen 1988: 65; Andersen 2005: 81). Doch die Figur der Mutter ist selbst zu schwach, um Christians Wunden heilen zu können. Assmann schreibt über Trauma und Sprachlosigkeit: „Der enge Zusammenhang zwischen Trauma und Schweigen ist vielfach behandelt worden; im Kern geht es dabei um die Einsicht, dass dort, wo die Zunge überfordert ist oder im Zaum gehalten wird, der Körper in der Sprache der Symptome zu sprechen beginnt“ (Assmann, A. 2013: 57; vgl. hierzu auch Kapitel 7.7.1). in der symbolischen Kastration durch Naomi begründet: Sein Gehör wird ihm zwar brutal verstärkt, doch die Musikalität findet keinen Ausdruck, keinen Weg, mit der Außenwelt in einen wirklichen Kontakt zu treten. Sie bleibt im Inneren Christians verschlossen. Dabei ist die Fähigkeit zu reden, was im erweiterten Sinne bedeutet: sich zu äußern, eine notwendige Voraussetzung für die aktive Gestaltung der Welt. 25 Christian kann nur ein halber Künstler werden, denn ihm fehlen die dafür notwendigen Sinnes- und Ausdrucksorgane, was sich nun, in Folge seines traumatisierenden Glockenturmerlebnisses in schmerzenden Augen, Sehstörungen und Krampfanfällen äußert (Andersen 1988: 44; Andersen 2005: 54-55). Seine Sprachlosigkeit wird dabei nicht explizit benannt. Allerdings lässt der Erzähler ihn, dessen Figurenrede im Verhältnis zu der aller anderen Figuren ohnehin mit Abstand weit hinten liegt, bis zu seiner nächsten Figurenrede, die er an seine Mutter richtet, knapp 30 Seiten lang nicht zu Wort kommen. 26 Mit dem Paten als engster Bezugsperson wird diese emotionale Destabilisierung und Sprachlosigkeit Christians, die in der ersten Begegnung mit Naomi im Garten des Juden ihren Ursprung hat, immer weiter vertieft und weitet sich schließlich auf weitere Lebensbereiche aus. 7.6.7 Religiöse Verwirrung Zur Religion hat Christian ein ebenso instabiles, unsicheres Verhältnis wie zur Musik, was nicht erstaunt, da beide Bereiche gleichermaßen mit dem Glockenturmerlebnis und mit der Figur des Paten verknüpft sind. In seiner Funktion soll der Pate Stabilität im Glauben und im Leben des Kindes garantieren. Stattdessen ist er eine dämonische und außerordentlich unzuverlässige Figur, die ihn nicht nur nicht schützt, sondern ihn auch selbst in Gefahr bringt. Die Unzuverlässigkeit für Christians Leben wird veranschaulicht, als der Pate Christian noch vor der folgenreichen Ankunft an der Kirche ein Stück durch das Wasser der Förde trägt: „Det var Billedet af den hellige Christoffer med Barnet“ [„Es sah aus wie das Bild des Heiligen Christophorus mit dem Kind“] (Andersen 1988: 39; Andersen 2005: 48). Doch anders als der Heilige, der mit dem kindlichen Jesus Christus die ganze Last der Welt auf den Schultern trägt, ihn aber sicher am anderen Ufer absetzt, versinken 182 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 27 Eine prominente literarische Ausnahme ist Quasimodo, den die Glocken schließlich taub werden lassen. Christian ist zwar nicht so grotesk hässlich wie Quasimodo, doch zumindest ist er unansehn‐ lich genug, um nicht einmal seiner eigenen Mutter als hübsch zu gelten: „Alle Forældres Børn ere smukke! dog Maria hørte til de sjeldne Untagelser; hun kunde see, at hendes Søn ikke var smuk; men Christian und sein Pate zusammen im Wasser, wobei es uneindeutig bleibt, ob der Pate fällt oder absichtlich ins tiefe Wasser springt: Et vældigt Pladsk lød fra Vandet, og det lukkede sig over dem, spillede i store Ringe og boblede høit, der, hvor de forsvandt. […] Christian var ikke at see, han var i Springet gledet af. Gudfaderen savnede ham strax og stak i samme Nu ned til Bunden, greb Drengen og løftede ham igjen op over Vandspeilet. Det salte Vand løb den Lille ud af Munden, og han begyndte at græde. „Skam Dig! “ sagde Gudfaderen og gav sig Mine af, at Alt var, som det skulde være, men hans Puls slog heftigere end sædvanligt; […]. (Andersen 1988: 39) Da gab es ein gewaltiges Platschen. Die beiden verschwanden im Wasser, das sich in großen Ringen und hoch schäumend über ihnen schloss. […] Christian war nicht zu erblicken, er war bei dem Sprung heruntergerutscht. Der Pate vermisste ihn sogleich und taucht im selben Augenblick unter, griff den Jungen und hob ihn wieder über die Wasseroberfläche. Das salzige Wasser lief dem Kleinen aus dem Mund, und er fing an zu weinen. „Schäm dich! “, sagte der Pate und tat so, als sei nichts geschehen, aber sein Puls schlug schneller als gewöhnlich; […]. (Andersen 2005: 48) Christians religiöse und musikalische Orientierungsfigur ist also unzuverlässig und im‐ pulsiv und untermauert seine Unberechenbarkeit zudem mit der Beschämung des Kindes. Der Erzähler ist hier ebenso unzuverlässig, indem er einen Unfall schildert, ihn aber einen Sprung nennt. Der schnelle Puls des Paten lässt sich ebenso als Ausdruck des Schrecks über ein Missgeschick wie als Zeichen sadistischer Erregtheit interpretieren. So bleibt die Rolle des Paten unsicher, über sein möglicherweise sadistisches Motiv schweigt der Text. Er schließt es aber nicht aus, sondern legt es der Leserin im Gegenteil nahe. Auf dieses erste „Eventyret“ [„Abenteuer“] folgt mit dem oben geschilderten Ereignis im Glockenturm „et langt vigtigere […] den kommende Aften“ [„am nächsten Abend ein weit wichtigeres“] (Andersen 1988: 39; Andersen 2005: 48). Beide Ereignisse, die mit Christians musikalischer und religiöser Orientierungslosigkeit verbunden sind, das Wasser und das Glockenläuten, erinnert an zwei andere Figuren Andersens, an Agnete, die Menschenfrau, die dem Meermann ins Wasser folgt, und die kleine Meerfrau, die dem Menschenprinzen an Land folgt (vgl. Detering 2002a: 184-195, 197-205). Mit der kleinen Meerfrau teilt Christian überdies die symbolische Beschädigung des Körpers und den Verlust der eigenen Stimme. Beide Male „wird der Gegensatz von dämonisch-heidnischer und menschlich-christlicher Welt anschaulich im Gegensatz anta‐ gonistischer Schauplätze“ (Detering 2002a: 211). In beiden Texten dringt das Glockengeläut vom Land aus bis an den von Meerwesen bewohnten Meeresgrund und verbindet mit seinem Klang das Land als Sphäre des Menschen mit dem Christentum. Doch ruft der Klang der Glocken hier aus der Distanz, als unüberhörbares, doch in Normallautstärke erklingendes Zeichen. Christian hingegen kommt den Glocken unfreiwillig so körperlich nah, wie kaum ein Anderer. 27 Sie vermitteln ihm dadurch nicht das Gefühl von Zugehö‐ 183 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Ingen kunde heller finde ham hæslig“ [„Alle Eltern finden ihre Kinder hübsch, doch Maria gehörte zu den seltenen Ausnahmen: Sie konnte sehen, dass ihr Sohn nicht hübsch war; aber niemand fand ihn auch direkt hässlich“] (Andersen 1988: 34; Andersen 2005: 41-42). rigkeit zum christlichen Menschsein, sondern sie hämmern ihre Botschaft brutal in das machtlose, angststarre Kind hinein. Die musikalische Erweckung, die Christian hier erfährt, ist eine gebrochene, eine schmerzhafte, und sie ist unmittelbar mit einer gebrochenen Religiosität verbunden. Wie in allen anderen Lebensbereichen findet Christian auch in der Religion keinen Halt. Zum Ende seines Lebens wendet sich Christian einer frommen religiösen Gemeinschaft zu, die jedoch gesellschaftlich wenig Akzeptanz findet, da sie „vil føre os Catholicisme i Landet“ [„hierzulande den Katholizismus einführen will“] (Andersen 1988: 269; Andersen 2005: 334). Sie predigt eine extreme, da von der „normalen“ evangelisch-lutherischen Religiosität abweichende Gottesbeziehung, der obendrein der Vorwurf gotteslästerlicher Praktiken anhaftet: „Det er et Uvæsen! Man siger, at de skal have i en Potte en Hundehvalp, som de kysse, for at vise deres Ydmyghed! “ [„Es ist ein Unwesen! Man sagt, sie hätten in einem Topf einen jungen Hund, den sie küssten, um ihre Demut zu zeigen! “] (Andersen 1988: 267; Andersen 2005: 331). Christian hingegen beteuert: „Jeg vil kun have Kjærlighedskaaben bredt over alle Troessecter! “ [„Ich möchte nur, dass der Mantel der Liebe über alle Glaubensgemeinschaften gebreitet wird“] (Andersen 1988: 270; Andersen 2005: 335). Wie in den zuvor untersuchten Erzähltexten von Blicher und Hauch wird auch hier einmal mehr die evangelische Konfession als Gegenentwurf zur katholischen dargestellt, diesmal jedoch, ohne auf das Judentum direkt Bezug zu nehmen. Hier ergreift die christliche Hauptfigur Partei für den Katholizismus, wenngleich nicht ohne Einschränkungen: „Jeg troer,“ svarede Christian, „at vi hellere bør betragte den [Catholicismen] som et Drivhuus, der i Middelalderens Vinterveir var en Velsignelse! I Klostrene skjød Videnskaberne frodig op og vare sikkre mod den raae Kraft, som huserede udenfor; de udviklede sig for en kommende Sommertid. Og det er den, vi nu leve i: Aanden og Friheden har nu varmt Solskin ude; Alt grønnes og trives nu her langt anderledes end i det katholske Drivhuus; Varmen der, føle vi, er kunstig, der er lummert, og det Grønne er sygeligt grønt; vi have det bedre udenfor; her er Alt gaaet frem, inde er det derimod som før, ja der ere endogsaa færre ædle Træer, da disse have faaet deres Plads ude i Solskinnet.“ (Andersen 1988: 270) „Ich glaube“, erwiderte Christian, „dass wir ihn [den Katholizismus] eher mit einem Treibhaus vergleichen sollten, das im Winterwetter des Mittelalters ein Segen war. In den Klöstern blühten die Wissenschaften auf und waren vor der rohen Gewalt draußen sicher; sie entwickelten sich für einen künftigen Sommer. Und in diesem leben wir jetzt: Geist und Freiheit genießen draußen warmen Sonnenschein; alles grünt und sprießt jetzt hier, ganz anders als in dem katholischen Treibhaus; die Wärme dort, das spüren wir, ist künstlich, es ist schwül dort, und das Grün ist krankhaft grün; wir haben es draußen besser; hier hat sich alles weiterentwickelt, drinnen ist es dagegen wie vorher; ja, dort gibt es jetzt sogar weniger edle Bäume, da diese einen Platz draußen im Sonnenschein gefunden haben.“ (Andersen 2005: 335) Wenngleich die Reflexion über den Katholizismus ohne expliziten Verweis auf das Judentum beziehungsweise eine jüdische Figur auskommt, stellt der Text mit seiner 184 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Gartenmetaphorik implizit eine Verbindung her, da er an den paradiesischen Garten von Naomis Großvater erinnert. Die Referenz bleibt dabei ambivalent, denn es ist unklar, ob der Garten des Juden in seiner Abgeschlossenheit eher dem „katholischen Treibhaus“ ähnelt, oder ob sich die üppige Vegetation des Gartens vielmehr „draußen“, im „warmen Sonnen‐ schein“ entwickelt hat und somit dem Protestantismus ähnlich sein soll. In der Metapher des Gartens nimmt das Judentum eine dritte Position ein - allerdings eine, die bereits vergangen ist, denn der Garten des Juden ist längst verbrannt und verschwunden. Der Text stellt diese Assoziation her und lässt die daraus entstehende Spannung unausgesprochen und unaufgelöst stehen. So schwingt in der Gegenüberstellung der beiden christlichen Konfessionen das Judentum als Sinnbild für das verlorene Paradies mit, in dem Christian einen Nachmittag lang zu Gast war. Christian formuliert an keiner anderen Stelle so ausführlich seine eigenen Gedanken gegenüber einer anderen Figur, hat so viel Figurenrede, wie in dieser religionstheoretischen Reflexion, und auch hier zeigt sich erneut ein Paradoxon: Denn sein eigener Geist genießt keineswegs den „warmen Sonnenschein“, seine Freiheit kann er nicht entfalten. Aber auch dem Katholizismus mit seinem „krankhaften Grün“ gehört er nicht an: „[N]ei, det [hans liv] var jevnt graat, altid graat, man kunne stirre derpaa, saa man indbildte sig, at det var blaa Himmel“ [„Nein, sein Leben war gleichmäßig grau, immer grau, und wenn man fortwährend darauf starrte, konnte man sich einbilden, dass es blauer Himmel sei“] (Andersen 1988: 271; Andersen 2005: 336). Trotz seiner späten Frömmigkeit ist er also keiner Religion wirklich zugehörig. Gott, als derjenige, der Christians religiösem Verständnis zufolge Talent und Schönheit verteilt, scheint von Anfang an nicht auf seiner Seite zu stehen, denn nicht nur wurde Christian in ärmliche Verhältnisse hineingeboren, ihm mangelt es vor allem an Schönheit und damit an äußerlicher Liebenswürdigkeit. Mit dieser ihm angeborenen Benachteiligung hadert er erneut, als er als erwachsener Mann die Kinder seiner zweiten Jugendfreundin Luzie begrüßt: [H]an kyssede Børnene, især den yngste, den smukkeste, med de mørkebrune Øine; det Ydre er det, som griber os, det følte han selv; „ja havde jeg været smuk som Du,“ tænkte han, „da havde Alt været anderledes! selv den Ædleste, den Beste hylder den Smukke. O, hvilken Gudsgave, hvilken Kilde til at føle sig tilfreds ligger der ikke i Skjønheden! For den er Verden et Kjærlighedens Eden. […] O, Skjønhed er paa Jorden en lykkeligere Gave end Genie og Aandskraft! “ (Andersen 1988: 268) [E]r küsste die Kinder, besonders das jüngere, das hübschere mit den dunkelbraunen Augen; das Äußere ist es, was uns ergreift, das fühlte er selbst. „Ja, wäre ich so hübsch gewesen wie du“, dachte er, „alles wäre anders gekommen. Selbst der Edelste, der Beste huldigt dem Schönen. Oh, was für ein Gottesgeschenk, welche Quelle der Zufriedenheit liegt in der Schönheit! Für sie ist die Welt ein Garten Eden der Liebe. […] Oh, Schönheit ist auf der Erde eine glücklichere Gabe als Genie und Geisteskraft! “ (Andersen 2005: 332-333) Christian ist dieses „Gottesgeschenk“ versagt, und so zeigt sich in seinem angeborenen Mangel an Schönheit auch äußerlich sein gebrochenes Verhältnis zur Religion, seine Benachteiligung durch Gott. Durch den frühen Einfluss des Taufpaten, der seine christliche 185 7.6 Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Aufgabe nicht erfüllt, und durch das entmachtende Erlebnis im Glockenturm wird dieses Verhältnis weiter gestört. Der Zusammenhang zwischen Schönheit, Religion und Handlungsmacht wird bereits zu Beginn des Romans mit der Figur Naomi etabliert. Ihre Zugehörigkeit zum Judentum wird äußerlich markiert durch die „asiatisch“ anmutende Schönheit ihres Körpers und den „orientalischen“ Paradiesgarten ihres Großvaters (vgl. Kapitel 7.6.1). In diesem Körper und in diesem Garten, die beide gleichermaßen sinnlich wie religiös erscheinen, besitzt Naomi eine Macht über Christian, die sie im weiteren Handlungsverlauf nicht verliert. Damit stellt sie in jeglicher Hinsicht einen Kontrast zu Christian dar und bildet nicht nur den Schlüssel zum Verständnis seines Scheiterns, sondern ermöglicht auch das Erzählen von außerordentlichem Begehren. Als mehrfach gebrochene Figur scheitert auch sie, doch tut sie es auf glanzvolle Weise - und somit komplementär zu Christian. 7.7 Naomi 7.7.1 Traumata Naomi ist handelnd, wo Christian zögerlich ist, sie ist stolz, wo es ihm an Selbstbewusstsein mangelt. Seiner Unansehnlichkeit steht ihre Schönheit gegenüber, seinem gescheiterten Lebensweg ihr scheinbar geglückter. Nach dem Brand, bei dem ihr Großvater umkommt, wird sie von einer adeligen christlichen Pflegefamilie angenommen, schließlich heiratet sie einen französischen Adligen und führt ein luxuriöses Leben. Die alte Gräfin, die Naomi als Kind aus Christians Elternhaus abholt, ist die Mutter desjenigen, der Naomis Vater sein könnte, Naomi gegenüber auch vorgibt, es zu sein, es aber nicht ist. Nachdem sie einige Jahre als adelige Tochter bei ihm und der Gräfin aufgewachsen ist, beginnt Naomi als Jugendliche, sich für ihre Herkunft zu interessieren und danach zu fragen, erhält aber nur unvollständige Informationen (vgl. Andersen 1988: 157-158; Andersen 2005: 195-196). Naomi scheint sich zu diesem Zeitpunkt nicht daran zu erinnern, die ersten Kinderjahre bei ihrem jüdischen Großvater aufgewachsen zu sein - wohl aber erinnert sie sich daran, in dessen Garten mit Christian gespielt zu haben (vgl. Andersen 1988: 161; Andersen 2005: 200) -, auch kommt ihr nicht in den Sinn, dass sie selbst Jüdin sein könnte. Als Naomi zufällig ein Porträt ihrer Mutter in einer Kommode findet, fragt sie ihre vermeintliche Großmutter, die Gräfin: „Og dette Dameportrait, […] hvorfor ligger det her? Hun er deilig! men hun ligner en Jødinde! “ [„Und dieses Damenporträt (…), warum liegt es hier? Sie ist schön, aber sie gleicht einer Jüdin! “] Auf die Antwort der Großmutter: „Det er Din afdøde Moder! “ [„Das ist deine verstorbene Mutter“], verbirgt Naomi „Billedet ind paa sit Bryst“ [„das Bild an ihrer Brust“] (Andersen 1988: 154; Andersen 2005: 191), an der Stelle also, von der sie einst das Medaillon mit der Haarlocke ihrer Mutter genommen und Christian gegeben hat. Obwohl Judenfeindlichkeit der (wenngleich unausgesprochene) Anlass für den Brandanschlag auf das Haus ihres Großvaters war, misst sie dem Jüdischsein ihrer Mutter und ihrer eigenen jüdischen Herkunft weniger Bedeutung bei als der norwegischen Herkunft ihres Vaters, bei dem sie zunächst davon ausgeht, dieser sei wie ihr Adoptivvater ebenfalls adelig gewesen. Betont ungerührt stellt sie fest: „Jeg er altsaa af norsk Adel og ikke af dansk! […] Skal 186 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) vi nu gaae ud og spille Fjerbold! “ [„Ich bin also von norwegischem Adel und nicht von dänischem! (…) Jetzt sollten wir aber hinausgehen und Federball spielen! “] (Andersen 1988: 156; Andersen 2005: 193). Nach dem Tod ihres Großvaters wächst Naomi als Christin und als Mitglied einer dänischen adeligen Familie auf. Weder erzählt der Roman von den ersten Jahren in der neuen Familie noch von der Taufe als offiziellem Wechsel vom Judentum zum Christentum. Die Jahre des Übergangs sind von einer Amnesie geprägt, die sich oberflächlich mit der scheinbar naiven Logik des Erzählers begründen lässt, der nach dem Tod des Großvaters über Naomi zu sagen wusste: „Hvor let og snart glemmer ikke her Barnet sine Sorger“ [„Wie leicht und schnell vergisst ein Kind doch seinen Kummer“] (Andersen 1988: 26; Andersen 2005: 31). Indem die Adoptivfamilie offensichtlich über Naomis Herkunft schweigt, fördert sie das Vergessen, so dass nur einzelne Bruchstücke erinnert werden können. Mit dem erst lange nach Andersens Tod formulierten Konzept des Traumas, wie es beispielsweise der Sozialpsychologe und Kulturwissenschaftler Jürgen Straub beschreibt, ist diese teilweise Amnesie zu erklären: Personen leben nicht allein auf dem Boden bedeutungsvoller Geschichten, die sie als Vergangenheit repräsentieren, also sich selbst und anderen erzählen mögen. Sie handeln auch im Wirkungsfeld eines (erlebten) ehemaligen Geschehens, dem sie ausgesetzt waren (und das sie vielleicht selbst mit hervorgebracht oder in Gang gehalten haben). Dieses ehemalige Geschehen kann ihrem Bewusstsein (zumindest partiell) unzugänglich sein. (Straub 2014: 77) Auch wenn Andersen das Konzept ‚Trauma‘ nicht bekannt sein konnte, ist es doch genau dies, was der Erzähler in der verzerrt erscheinenden Darstellung von Naomis Verhalten schildert. In der Struktur des Romantextes wird das Vergessen, Verdrängen und Verleugnen sichtbar, gerade indem es unsichtbar bleibt, also nicht explizit benannt wird und somit unerzählt bleibt. Sichtbar wird es erst im Prozess des Lesens: nämlich dort, wo Naomis Erinnerung offensichtlich Lücken aufweist, die weder mit dem Alter der Figur noch mit der erzählten Handlung zu erklären sind. Während der Lektüre laufen die traumatisierenden Ereignisse aus Naomis Kindheit als Wissen der Leserin über die Figur mit und dienen so als implizite Erklärung für Naomis oftmals distanziertes und berechnendes Verhalten - eine Erklärung, die den Figuren selbst nicht zur Verfügung steht. Im Lichte heutiger sozialpsychologischer Ansätze erscheinen Naomis Erinnerungslücken erklärbar: Vieles von dem, was geschieht und Menschen widerfährt, zeitigt solche seelischen Wirkungen - unabhängig vom Bewusstsein und Wissen der direkt oder indirekt Betroffenen. Es zieht häufig psychosoziale Folgen und Nebenfolgen nach sich, deren Herkunft und Bedeutung den Akteuren und ihren Interaktionspartnern unklar sind. Oft sind solche meistens ‚unerbetenen‘ Auswirkungen mit Leid verbunden und der verborgene Grund für psychische Krisen und soziale Konflikte, für ‚störende‘ Anspannungen im Selbstverhältnis einer Person und für ebenso ‚negative‘ Spannungen in den (antipathischen, aversiven, aggressiven) Beziehungen zu anderen. (Straub 2014: 77) Ein Ereignis könne, so formuliert es die norwegische Literaturwissenschaftlerin Unni Langås, so stark sein, „at den ikke etterlater noe inntrykk, men bare åpner et mentalt hull [dass es keinen Eindruck hinterlässt, sondern nur ein mentales Loch öffnet]“ (Langås 2016: 187 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 28 In den USA war vor allem der Vietnamkrieg mit seinen massenhaft traumatisierten Kriegsveteranen Grund für eine verstärkte Traumaforschung (vgl. Langås 2016: 22). 24). Manfred Weinberg betont die besonderen Möglichkeiten der Literatur, von diesem Unerinnerten und somit Unerzählbaren zu erzählen: Während aber in der Philosophie und in der Geschichtsschreibung die traumatische Rückseite jeden Erinnerns vergessen (gemacht) werden muß, können literarische Texte sich auf das Zusammenspiel von Trauma und Erinnerung einlassen und solches Zusammenspiel zu ihrem Strukturprinzip machen. (Weinberg 1999: 206) Die literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, die zum Trauma in der Literatur vor allem seit den 1990er-Jahren erschienen sind, konzentrieren sich überwiegend auf die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts (z. B. Haverkamp 1994; Bronfen/ Erdle/ Weigel 1999; Fricke 2004; Assmann/ Assmann 2013; Langås 2016). Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: einerseits die beiden Weltkriege und die Shoah mit ihren massiven kollektiven und individuellen Traumatisierungen, 28 andererseits das Wissen der Autor*innen um das Konzept des Traumas und die daraus entstehenden Möglichkeiten, einen ästhetischen Umgang mit ihm zu finden. Umso bemerkenswerter ist das Textverfahren, mit dem es An‐ dersen bereits 1837 gelingt, die lebenslangen Folgen von überwältigender Gewalterfahrung und Verunsicherung sichtbar zu machen - ungeachtet der Tatsache, dass das Konzept des seelischen Traumas erst um 1900 erstmals formuliert wurde (vgl. Neumann 2008: 728-729; Langås 2016: 19-24). Kun en Spillemand weist ein Strukturprinzip auf, in dem die Erzählung Widersprüchlichkeiten und Ungenauigkeiten erzeugt und festigt. Der Text evoziert bei der Leserin eine ständige Irritation, die als Schatten der traumatischen Erfahrung der Figur verstanden werden kann. Es ist dieser Schatten, der sich für Anselm Haverkamp „in den Fugen, dem ›Unfug‹ des Codes“ zeigt (1994: 171-172) - eine Metapher, die wiederum anschlussfähig an Barthes’ Vorstellung von Fugen, Rissen und Störstellen im Text ist. Die Irritation tritt überall dort auf, wo im Roman Gewalt geschieht, die nicht explizit erzählt oder als solche benannt wird. Das gilt für das Nicht-Benennen des Brandes als judenfeindlichen Anschlag, es gilt für Christians wiederholte Erfahrungen von Gewalt und existenzieller Verunsicherung, die euphemistisch als „Spiel“ oder „Abenteuer“ bezeichnet werden, und es trifft auch auf das Schicksal von Naomis Mutter und die Umstände ihres Todes zu, von denen Naomi im Folgenden erfährt. Mit ihrer Pubertät, einer Phase des Da‐ zwischen also, wird Naomi mit ihrer Vergangenheit und Herkunft konfrontiert, beginnt sich zu erinnern und trifft Entscheidungen, wie mit den Erinnerungen an ihre Vergangenheit umzugehen sei. Die Konfrontation mit ihrer Herkunft, ihrer Familiengeschichte und ihrer Zeugung fällt zusammen mit den Vorbereitungen auf ihre Konfirmation. 7.7.2 Konfrontation mit dem Jüdischsein Naomi nimmt als Jugendliche vollkommen selbstverständlich am Konfirmandenunterricht teil, ohne dass ihre Taufe, die entweder bei ihrer Aufnahme in die christliche Familie statt‐ gefunden haben muss oder fälschlicherweise als gegeben vorausgesetzt wird, Erwähnung findet. Diese Nicht-Erwähnung ist insofern bemerkenswert, als Naomi offenbar von ihrer 188 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Umwelt nicht als Jüdin gelesen wird und ihr Jüdischsein ergo weder ein Hindernis für die Konfirmation darstellt noch Anlass für eine Infragestellung ihrer Zugehörigkeit zur christlichen Mehrheitsgesellschaft ist. Der Religionswechsel wird nicht thematisiert und erscheint damit weder von außen behindert noch von innen angetrieben zu sein. Der Erzähler schweigt in dieser Hinsicht gegenüber seinen Lesern, wie Naomis Adoptivfamilie ihr gegenüber schweigt. Da Naomi aber als jüdische Figur in den Roman eingeführt wurde, kommt dieses Verschweigen einer Verleugnung ihrer jüdischen Herkunft gleich - eine Verleugnung, die zur Folge hat, dass Naomi sich dieser nicht bewusst ist. Die Leserin aber liest Naomis Figur weiterhin vor der Folie ihrer jüdischen Herkunft und den damit verbundenen Zuschreibungen und Topoi. Ihr „eigentliches“ Jüdischsein wird ausgerechnet in der Zeit ihrer Konfirmationsvorbereitung erneuert und vertieft und kann als ursächlich angesehen werden für den Impuls, sich bald darauf aus der Gesellschaftsordnung, in der sie lebt, zu lösen. Während des Konfirmandenunterrichts wird Naomi zu einem alten Mann gerufen, der im Stall eines benachbarten Gutes im Sterben liegt. Es ist Joel, der frühere Diener ihres Großvaters, der sie unerwartet mit ihrer Familiengeschichte konfrontiert. In der Begegnung mit ihm wird exemplarisch Naomis Verhältnis zu ihrer eigenen jüdischen Herkunft veranschaulicht. Sie begegnet Joel respektvoll, jedoch mit unterkühlter Distanziertheit und erhält von ihm den Nachlass ihrer Mutter: ein Buch, „den høifornemme Frøkens Arvepart paa Mødrene Side. Der stod Vers og Tanker deri, og mellem Bladene laae nogle løse Papirer“ [„des hochvornehmen Fräuleins Erbteil mütterlicherseits. Verse und Gedanken standen darin, und zwischen den Blättern lagen einige lose Papiere“] (Andersen 1988: 171; Andersen 2005: 212). Was er ihr darüber hinaus mitteilt, bleibt unerzählt - „Kunde Du forstaae den foragtede Graaspurvs Qviddren, da hørte Du, hvad den og Naomi fik at høre! “ [„Könntest du das Gezwitscher des verachteten Spatzen verstehen, dann würdest du hören, was er und Naomi erfuhren! “] (Andersen 1988: 171; Andersen 2005: 211) -, doch es stimmt Naomi sehr nachdenklich. Im Zusammentreffen mit Joel wird sie mit der Möglichkeit eines anderen Schicksals konfrontiert, mit der Verachtung nämlich, die auch sie als Jüdin - ob arm oder reich - hätte erfahren können, wäre sie in ihrer jüdischen Familie aufgewachsen. In dem ärmlichen Stall findet die Begegnung mit ihrer eigenen Herkunft statt und fordert sie zu einem Bekenntnis heraus. Dies bleibt aus, doch gerät Naomi in einen inneren Konflikt. „Er det en Skam at tilhøre et verdensberømt Folk! “ var hendes Tanke. „Min Moders Fader har været rig. Joel var hans Tjener, hans gamle, tro Tjener. Da jeg var forladt, da Alt laae i Ild og Aske, gav han mig et Hjem, her hvor det er og maa være. Det gamle, trofaste Hjerte! “ Taarerne trængte frem i hendes Øine, de knustes mellem de mørke Øienhaar. (Andersen 1988: 171) „Ist es eine Schande, einem weltberühmten Volk anzugehören? “, dachte sie. „Der Vater meiner Mutter war reich. Joel war sein Diener, sein alter treuer Diener. Als ich einsam und verlassen war, als alles in Schutt und Asche lag, gab er mir ein Zuhause, hier, wo es ist und auch sein muss. Die alte, treue Seele! “ Tränen traten ihr in die Augen und wurden zwischen den dunklen Wimpern zerdrückt. (Andersen 2005: 212) Als die Häuslerin, in deren Stall Joel im Sterben liegt, Naomi nachläuft und ihr zuruft, der alte Mann sei tot, verleugnet Naomi die Verbindung zu Joel und behauptet, ihn nie zuvor 189 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) gesehen zu haben. Sie rechtfertigt dieses Verhalten aber vor sich selbst, indem sie auf die höchste Instanz zurückgreift: auf Gott. Auf die Frage der Häuslerin: „Herre Gud, kjente I ham ikke? “ [„Herrgott, Ihr habt ihn nicht gekannt? “], reagiert Naomi kühl: „Jeg! “ sagde Naomi og saae paa hende med et iiskoldt Udtryk, „Hvorfra skulde jeg kjende den gamle Jøde! “ Og hun red bort, men hendes Hjerte slog voldsomt. „Stakkels Joel! Gud har jo fornægtet Dit Folk, saa kan vel jeg ogsaa fornægte Dig! “ og hun tog Bogen frem, som hun havde skjult, og læste i den, sporede derpaa Hesten og jog afsted til Hjemmet. (Andersen 1988: 171-172) „Nein [sic! Ich; KB]! “, sagte Naomi und blickte sie mit eiskaltem Gesichtsausdruck an. „Warum [sic! Woher; KB] sollte ich den alten Juden kennen? “ Und sie ritt davon, aber ihr Herz klopfte heftig. „Armer Joel! Gott hat dein Volk verleugnet, dann kann wohl auch ich dich verleugnen! “ Und sie holte das Buch hervor, das sie verborgen hatte, und las darin; dann gab sie dem Pferd die Sporen und jagte nach Hause. (Andersen 2005: 213) Innerhalb weniger Zeilen wird die Leserin Zeugin von Naomis Verleugnungsprozess: ihrer Anteilnahme, ihrer nach außen gezeigten Teilnahmslosigkeit und schließlich der Rechtfertigung ihres Verhaltens vor sich selbst. Deutlich wird in der (wohl mehr gedachten als gesprochenen) Figurenrede Naomis außerdem, dass Naomi sich selbst nicht als Jüdin betrachtet, wenn sie denkt, Gott habe Joels Volk verleugnet, nicht ihr Volk. Doch mit dem Buch, das nun in ihren Beisitz gekommen ist, kommt die Erinnerung an ihre Herkunft zurück, og Huset, som engang sank i Kul og Aske, stod atter opreist med de gamle, snirklede Skabe, Indskrifterne paa Dørkarmen: „Jerusalem, glemmer jeg Dig, min visnede Høire jeg glemmer.“ De deilige Levkøier duftede, og Solen skinnede ind igjennem Lysthusets røde Glas, hvor Strudsægget hang under Loftet. (Andersen 1988: 172) und das Haus, das einst in Schutt und Asche versunken war, stand wieder aufgebaut da, mit den alten verschnörkelten Schränken und der Inschrift auf dem Türrahmen „Vergesse ich dich, Jerusalem, verdorre meine Rechte! “ Die herrlichen Levkojen dufteten, und durch das rote Glas des Lusthäuschens, wo unter der Decke das Straußen-Ei hing, schien die Sonne. (Andersen 2005: 213-214) Die Zeile aus dem 137. Psalm als Inschrift über der Tür taucht wie eine Prophezeiung vor Naomis innerem Auge auf, doch wirkt sie in der Reihe der erinnerten Dinge (Schränke, Blumen, rotes Glas, das Straußenei) wie eines von vielen dekorativen Objekten. Was für den Leser als Prophezeiung zu deuten ist, wird in Naomis Erinnerung zum bloßen Schmuckelement. Das geerbte Buch bringt Naomi Erkenntnis über das Schicksal ihrer Mutter. Die alte Gräfin hatte ihr auf Nachfrage lediglich gesagt, dass ihre Mutter den jungen Grafen mit einem Norweger betrogen habe (vgl. Andersen 1988: 155-156; Andersen 2005: 192-193). Hier nun erfährt sie, dass ihre Mutter nicht freiwillig mit dem Norweger geschlafen hat. Während sie nämlich den Grafen erwartete, war es der Norweger, 190 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 29 Das Fragezeichen an dieser Stelle stellt diese Gewiss möglicherweise gleich wieder in Frage. Im weiteren Textverlauf wird diese Infragestellung jedoch nicht wiederholt oder vertieft. An der Vaterschaft des Norwegers besteht kein Zweifel. Das mag der Grund für den Übersetzer der deutschen Ausgabe, Bernd Kretschmer, gewesen sein, hier, wie auch an einigen anderen Stellen, die Originalinterpunktion nicht zu übernehmen. der aflurede deres Stevne og selv i den mørke Nat i Grevens Sted sneg sig ind til den Ventende, og der var tyst, som naar Ormen overgnaver Stilken, der holder den modne Askefrugt. Da kom den rette Beiler, og Bagvaskelsens Sange blev gyldige Beviser. (Andersen 1988: 172) der auf ihr Treffen lauerte und sich in der dunklen Nacht an des Grafen Stelle selbst zu der Wartenden geschlichen hatte, und dann war es still, wie wenn der Wurm den Stängel durchnagt, der die reife Eschenfrucht hält. Dann kam der rechte Freier, und die Lieder der Verleumdung wurden zu goldenen [sic! gültigen; KB] Beweisen. (Andersen 2005: 214) Naomi findet so nicht nur ihre norwegisch-jüdische Herkunft bestätigt, sondern erfährt auch die gewaltsamen Umstände ihrer Zeugung und der Ermordung ihrer Mutter Sara. Um ihren Ruf zu wahren, sei sie, so schreibt es Joel in direkter Ansprache an die Ermordete, dem Norweger „med Forbandelser“ [„mit Verwünschungen“] in die Arme gesunken, „og han har trykket Dødsstilhed paa Dine Læber“ [„und er hat deine Lippen mit tödlichem Schweigen verschlossen“] (Andersen 1988: 173; Andersen 2005: 214). Mit der Kenntnis um die Vergewaltigung und den späteren Mord gewinnt Naomi letzte Gewissheit über ihre Herkunft und erkennt in ihrem Spiegelbild sich selbst als Jüdin: „Nordmanden er min Fader! “ sagde Naomi. „Det er jo en Vished? 29 O min Moder! ja ved Dig hører jeg hiint forskudte Folk til! Den Vished kan Intet rokke! “ Hun stillede sig for Speilet. „Jeg har ikke Nordboens blonde Haar og blaae Øine, jeg har Intet, som betegner, at jeg er født under Nordlys og Taager. Mit Haar er sort, som Asiens Børn eie det! mit Øie og min Blod sige, at jeg tilhører en varmere Sol! “ (Andersen 1988: 173) „Der Norweger war mein Vater! “, dachte [sic! sagte; KB] Naomi. [„]Das ist nun gewiss. Oh, meine Mutter! Ja, durch dich gehöre ich dem verstoßenen Volk an! An dieser Gewissheit ist nicht zu rütteln! “ Sie stellte sich vor den Spiegel. „Ich habe nicht das blonde Haar und die blauen Augen der Leute im Norden, ich habe nichts an mir, was darauf hindeutet, dass ich unter dem Nordlicht und im Nebel geboren wurde. Mein Haar ist schwarz wie das der Kinder Asiens. Meine Augen und mein Blut verraten, dass ich einer wärmeren Sonne angehöre! “ (Andersen 2005: 214) Bemerkenswert ist, dass nicht das Wissen um ihre jüdische Mutter, nicht die Begegnung mit dem sterbenden Joel bei Naomi die Selbsterkenntnis als Jüdin bewirkt hat, sondern erst das Wissen um ihre Zeugung: Die Kenntnis um die Verbindung des dämonischen Mörders mit seinem tugendhaften Opfer führt bei Naomi zur Erkenntnis des eigenen Jüdischseins. Dabei ist auch diese Erkenntnis instabil und wird im Laufe des Romans infrage gestellt. Im dritten Teil des Romans nämlich begegnet Naomi im Ausland unverhofft ihrem Adoptivvater und muss ihre gesellschaftlich nicht akzeptierte Lebensweise vor ihm rechtfertigen: „Allerede min Fødsel indviede mig dertil! […] Min Tilværelse er en Ungdomssynd, og som Frøet er, bliver Frugten! “ [„Schon durch meine Geburt war es mir so bestimmt. (…) Mein Dasein ist einer Jugendsünde zu verdanken, und wie die Saat, so die 191 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Frucht“] (Andersen 1988: 225; Andersen 2005: 278). Die Vergewaltigung wird plötzlich zur „Jugendsünde“ relativiert, das Gewaltverbrechen infrage gestellt, und Naomi identifiziert sich nicht mit ihrer Mutter, sondern mit ihrem Vater, dem Vergewaltiger. In der verzerrten Wahrnehmung Naomis - und der ausbleibenden Richtigstellung durch den Erzähler - wird sowohl die Unerzählbarkeit des Verbrechens deutlich als auch die Unmöglichkeit, es zu überwinden oder sich davon zu befreien. Ihr dienen die Umstände ihrer Zeugung zur Erklärung ihres Charakters, nicht ihr Jüdischsein. Doch dieses läuft in den Augen der Leserin stets mit und ist, wie oben gezeigt, auch in der Figur des Paten angelegt. 7.7.3 „Die Beste“ - Konfirmation einer Freidenkerin Während Naomi innerlich mit ihrer Vergangenheit, ihrem Judentum, ihrer Mutter und den familiären Gewalterfahrungen konfrontiert ist, glänzt sie nach außen als Konfirmandin. Dieses äußerliche Bekenntnis zum Christentum steht im krassen Gegensatz zu ihrer Innenwelt. Aus diesem Konflikt zwischen Innen- und Außenwelt ergibt sich im Romantext die Möglichkeit, Naomis religiöse Anschauungen ausführlich darzustellen. Naomi begibt sich „efter den gamle Grevindes Ønske“ [„auf Wunsch der alten Gräfin“] in den Konfirman‐ denunterricht „hos Godsets Præst, Hr. Patermann“ [„beim Hauspfarrer des Gutes, Herrn Patermann“]. In ihm verbinden sich alle Eigenschaften, „som en Geistlig ikke skulde besidde […]; noget væmmeligt, sødt, indsmigrende hvilede der paa de altid smilende Læber“ [„über die ein Geistlicher nicht verfügen sollte (…); auf seinen stets lächelnden Lippen lag etwas Widerliches, Süßliches und Einschmeichelndes“] (Andersen 1988: 168; Andersen 2005: 209). War Christians Begegnung mit der Kirche - jedoch mit dem Gebäude und nicht mit dem Kirchenpersonal! - entmachtend einerseits und erweckend andererseits, ist Naomis Zugang zur Kirche von der Person des Hauspfarrers geprägt: „Latterlig var han hende, og det maa den, som frembærer det Hellige, mindst være“ [„Er kam ihr lächerlich vor, und das darf derjenige, der das Heilige vor sich herträgt, am wenigsten sein“] (Andersen 1988: 169; Andersen 2005: 209). Vor allem aber ist er scheinheilig und somit in keiner Hinsicht ein positiv besetzter Vertreter des christlichen Glaubens. Als Naomi zu Joel in den Stall der Häuslerin gerufen wird, zeigt sich Herr Patermann unberührt. Der Text spitzt die Bigotterie des Pfarrers ironisch zu: Im Unterricht wird gerade das Gleichnis vom barmherzigen Samariter durchgenommen, doch im Gegensatz zu Naomi und der Leserin erkennt Herr Patermann die offensichtliche Parallele nicht, als er sagt: „‚Hertillands er Fattigfolk lumpent Pak, sammensat af Løgn og Kneb. Her kan man ikke handle som i de østerlandske Historier! ‘ og han lo, thi han havde sagt noget morsomt“ [„‚Hierzulande sind die armen Leute Lumpenpack, eine Mischung aus Lügen und Kniffen. Hier kann man nicht so handeln wie in den orientalischen Geschichten‘, und er lachte, denn er meinte, etwas Lustiges gesagt zu haben“] (Andersen 1988: 169; Andersen 2005: 210). Identitätsstiftende Eigenschaften besitzt das vom Pfarrer verkörperte Christentum also nicht. Die findet Naomi viel eher in der Bibel. Nachdem Naomi sich ihrer jüdischen Herkunft bewusst geworden ist, liest sie „i det gamle Testamente med en Begjerlighed, som den Adelstoltes, der læser i sin Stamtavle“ [„im Alten Testament mit einer Begierde wie der stolze Adlige in seiner Stammtafel“] (Andersen 1988: 171; Andersen 2005: 215) - einer Stammtafel, die sie selbst „aufgrund ihrer ungewissen Herkunft“ (Schnurbein 2007: 135) 192 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 30 Die Verwendung des Gottesnamens zur Markierung jüdischer Figuren habe ich an anderer Stelle bereits kommentiert (vgl. Kapitel 2.3.1, Fußnote 5). nicht hat. Aber es bleibt nicht allein bei den Schriften des Alten Testaments, ihr Interesse übersteigt fortan die Grenzen der Religionen, ja, sogar des Monotheismus: „Hun vilde vide, hvad Mohammed havde lært sit Folk, hun vilde høre Braminernes Viisdom, som den forkyndtes ved Ganges Bredder. ‚Alt bør man kjende for at vælge det Bedste! ‘ sagde hun“ [„So wollte sie wissen, was Mohammed sein Volk gelehrt hatte, sie wollte die Weisheit der Brahmanen hören, wie sie an den Ufern des Ganges verkündet wurde. ‚Man sollte alles kennen, um daraus das Beste zu wählen‘, sagte sie“] (Andersen 1988: 173; Andersen 2005: 215). Naomi verbindet verschiedene religiöse und philosophische Bewegungen zu einem Synkretismus, in dem die genaue religiöse Zugehörigkeit keine Relevanz besitzt. Die Erzählinstanz stellt jedoch genau hier den Versuch einer Definition von Naomis religiöser Zugehörigkeit an: Der udviklede sig hos hende en Anskuelse i Religionssager, som den i vor Tid begynder at udtale sig hos Enkelte i Tydskland, en Art Fritænkeri. Skulde man forresten nøiere bestemme hvad hun i Confirmationsaaret egentlig var, da vilde man rigtigere kalde hende Jøde, end give hende Navn af Christen. Prægtigere stod for hende den tordnende, strængtdømmende Jehovah end den milde Aand, som vi kunne tilraabe et „Abba, Fader! “ Hvad hun læste om i det gamle Testamente knyttede hun sammen med sine Barndoms Erindringer, og hun tænkte paa Joel, paa den Sidste Samtale med ham. (Andersen 1988: 174) Es entwickelte sich bei ihr eine Anschauung in religiösen Dingen, die heutzutage bei Einzelnen in Deutschland Ausdruck zu finden beginnt, eine Art Freidenkertum. Sollte man übrigens bestimmen, was sie in dem Jahr der Konfirmation eigentlich wirklich war, würde man sie richtiger als eine Jüdin bezeichnet haben statt als Christin. Ihr erschien der donnernde, streng urteilende Jehova 30 prächtiger als der sanfte Geist, dem wir „Abba, Vater! “ zurufen können. Was sie im Alten Testament las, verknüpfte sie mit den Erinnerungen an ihre Kindheit, und sie dachte an Joel, an ihr letztes Gespräch mit ihm. (Andersen 2005: 216) Einerseits macht der Erzähler deutlich, dass Naomi sich den religiösen Konventionen ihrer Zeit und ihrer dänischen Heimat vollkommen entzieht und eigene, unabhängige Positionen entwickelt. Andererseits leitet er mit genau dieser Feststellung über zu ihrer Definition als Jüdin. Der Erzähler stellt auf diese Weise einen Bezug zum großstädtischen Salonleben her. Denn es sind vor allem jüdische Frauen, die um 1800, nicht zuletzt in deutschen Großstädten wie Berlin, eine Salonkultur etablierten, die den Austausch zwischen jüdischen und christ‐ lichen Denkerinnen und Denkern und somit eben jenes beschriebene „Freidenkertum“ befördern konnten (vgl. hierzu Lund 2012), und auch Naomi wird als erwachsene Frau in Paris einen solchen Salon betreiben. An der jüdischen Religion, die sie der christlichen vorzieht, reizt sie nicht etwa die Glaubenslehre, sondern allein der effektvollere Auftritt Gottes, also die äußere Hülle der Religion. Zusätzlich stellt das Judentum eine Verbindung zu ihrer eigenen Herkunft dar. Damit wird es zwar zur Grundlage, um sich von der adeligen und christlichen Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen ist, in die sie aber nicht hineingeboren wurde, abzuwenden - das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich fortan dem Judentum zuwenden würde. Ganz im Gegenteil. Obwohl Herr Patermann ihre Entwicklung 193 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) mit Argwohn betrachtet und sie aufgrund ihrer religionskritischen Fragen als „Antichrist i Troen“ [„Antichrist im Glauben“] bezeichnet (Andersen 1988: 173; Andersen 2005: 215), steht sie am Tag ihrer Konfirmation „øverst; hun var den Første af Confirmanderne, altsaa den Bedste. Ingen svarede som hun, Ingen gav bedre end hun Beviset paa at have lært sin Christendom“ [„ganz oben; sie war die Erste der Konfirmanden, das heißt, die Beste. Niemand gab bessere Antworten als sie, keiner konnte besser als sie beweisen, dass sie ihren christlichen Glauben gelernt hatte“] (Andersen 1988: 175; Andersen 2005: 217). Durch die Diskrepanz zwischen öffentlichem und persönlichem Bekenntnis wird die Konfirmation ebenso beliebig und bedeutungslos wie einst die Gabe des Medaillons ihrer Mutter an Christian. Nach außen bekennt sie sich zum Christentum, so dass niemand ihre religiöse Zugehörigkeit in Zweifel ziehen kann. Ihrer inneren Überzeugung nach wird Naomi allerdings nicht zur Christin, sondern legt mit der Konfirmation lediglich vor der Außenwelt ihre religiöse Ambivalenz ab und nimmt eine religiöse Eindeutigkeit an. Die innere Zerrissenheit steht dabei im Kontrast zur äußerlichen Selbstdarstellung: „Idag har jeg svoret til de Christnes Fane! “ sagde Naomi tankefuld. „[…] Nu, om man staaer ved Rytteriet eller ved Fodfolket, bliver vel eet og det samme, naar det kun er een Konge man tjener! “ Hun blev tankefuld. „O Gud, jeg er ogsaa saa ene i denne Verden! “ sagde hun, og Vandet trængte frem mellem de mørke Øienhaar. […] Naomi var i Atlask, med den røde Rosenknop ved det bankende Hjerte. (Andersen 1988: 175) „Heute habe ich auf die Fahne der Christen geschworen! “, dachte Naomi. „[…] Nun, ob man bei der Reiterei oder beim Fußvolk ist, dürfte wohl das Gleiche sein, wenn es nur einen König gibt, dem man dient! “ Sie wurde nachdenklich. „Oh Gott, wie allein bin ich in dieser Welt! “, dachte sie, und die Tränen drangen ihr durch die dunklen Wimpern. […] Naomi war ganz in Atlas gekleidet, die rote Rosenknospe am klopfenden Herz. (Andersen 2005: 217-218) Die rote Knospe versinnbildlicht die junge, gerade erst im Aufblühen begriffene Schönheit Naomis ebenso wie ihr bald aufkeimendes sexuelles Begehren. Mit dem Rot der Rose, die wie eine blutende Wunde genau über ihrem Herzen angesteckt ist, wird zudem auf das Feuer im Haus ihres Großvaters als dem ersten einschneidenden Erlebnis zurückverwiesen. Vor allem trägt sie sie an der Stelle, von der Naomi als Kind das Medaillon ihrer Mutter genommen und leichtfertig Christian geschenkt hatte und an die sie später das Bildnis ihrer Mutter drückt, nachdem sie es zufällig gefunden hatte. Mit dem bevorstehenden Aufblühen der Rose wird die Wundenmetapher umso deutlicher, die auf den dauerhaften Schmerz über den Verlust der Mutter und den Verlust der (jüdischen) Zugehörigkeit verweist und sich im Gefühl der vollkommenen Einsamkeit äußert. Folgt man diesem Assoziationsweg ein wei‐ teres Stück, wird der Eindruck des Zugehörigkeitsverlusts außerdem durch die Möglichkeit einer ikonografischen Assoziation verstärkt, die mit der offenen Herzwunde verbunden ist: der katholischen Herz-Jesu- und Herz-Mariä-Frömmigkeit. Die Verbindungen, die dadurch hergestellt werden, verlaufen keineswegs gradlinig in einer eindeutig zu interpretierenden Richtung. Wird Naomi durch diese Wundenmetapher und die dadurch aufrufbaren Asso‐ ziationen in die Nähe einer Heiligen gerückt oder wird der Katholizismus durch die Figur der unzuverlässigen und religiös dissoziierten Naomi verhöhnt? Beides ist möglich und geschieht im gleichen Maße. Die Herstellung einer Verbindung zwischen Judentum und Katholizismus geschieht in literarischen wie nicht-literarischen Texten protestantischer 194 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Autoren regelmäßig, wie in den vorigen Textanalysen gezeigt wurde. Auch in Kun en Spillemand werden wiederholt antikatholische Ressentiments aufgegriffen, die später wiederum durch die Figur Christian abgemildert werden (vgl. Kapitel 7.6.7). Besonders deutlich werden diese Ressentiments zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt, als der Erzähler ein Stimmungsbild der Stadt Paris, in der Naomi am Ende des Romans lebt, entwirft: „Paris har for Øieblikket ingen Religion, de have glemt Madonna, ja næsten Faderen og Sønnen, Aanden er den eneherskende“ [„Paris hat zurzeit keine Religion, sie haben die Muttergottes vergessen, ja, fast auch Vater und Sohn, der Geist ist Alleinherrscher“]. Der Erzähler schildert eine Art katholischen Hexensabbat im verlassenen Nonnenkloster und konstatiert schließlich: „Det er i den katholske Stad Du seer dette, og det er eet af Tidsalderens Tegn“ [„In einer katholischen Stadt siehst du das, und es ist ein Zeichen unserer Zeit“] (Andersen 1988: 249; Andersen 2005: 208). Die Jüdin, die ihr Judentum verleugnet, gleichzeitig das Christentum nicht tatsächlich annimmt, wird mit einer ebenso areligiösen Form des Katholizismus in Verbindung gebracht, ohne dass diese Verbindung jedoch - wie es bei der Figur Veronica in Guldmageren der Fall ist - ausdrücklich bestätigt wird. Sie bleibt in der Schwebe und changiert mit dem Bild des blutenden Herzen zwischen Verklärung und Verhöhnung. So zeigt dieses Beispiel eindringlich, wie durch das Aufrufen von Assoziationen Naomi einerseits als literarische Jüdin bestätigt wird und andererseits ihr Jüdischsein immer wieder infrage gestellt wird. Sie ist weder zugehörig noch ganz unzugehörig und verbleibt dadurch im Raum des Dazwischen. Dieses Dazwischen stellt eine potenzierte Form der Unzugehörigkeit dar, und diese wiederum begründet Naomis nun einsetzende Rastlosigkeit. So wird trotz (oder gerade wegen) Naomis Abkehr vom Judentum der Ahasverustopos mit ihr als einzig verbliebener jüdischer Figur in Verbindung gebracht. Naomi kann vielleicht dem Judentum entkommen, nicht aber den Zuschreibungen des Jüdischen, die mit ihrer Figur verknüpft sind. 7.7.4 Ausgrenzung als Jüdin? Es liegt nahe, Naomis Ausgrenzungserfahrungen allein auf ihr Jüdischsein zurückzuführen. Insbesondere eine Passage im Roman verleitet zu dieser Schlussfolgerung, nämlich, so Detering, die „breit ausgeführte […] Darstellung der Kopenhagener September-Pogrome von 1819, in die Naomi bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt unversehens hineingerät“ (Detering 2002a: 226). Naomi versuche, ergänzt Schnurbein, im Handlungsverlauf des Romans „der Enge ihrer Welt und den Diskriminierungen, denen sie als Jüdin und aufgrund ihrer ungewissen Herkunft ausgesetzt ist, zu entkommen“ (Schnurbein 2007: 135). Und tatsächlich, als Naomi in Kopenhagen ankommt, wird sie von den judenfeindlichen Gewalttätern aufgrund ihres Äußeren sogleich als Jüdin identifiziert und auf diese Weise erneut mit ihrem gerade ad acta gelegten Jüdischsein konfrontiert. Zweifellos beschreibt diese Szene eine antijüdische Gewalterfahrung, jedoch lässt sich diese Passage nicht allein als eine Schilderung von Gewalt und Diskriminierung verstehen, sondern auch als eine Passage, die verdeutlicht, wie sehr sich Naomi vom Jüdischsein distanziert. Kaum wird sie bedroht, ist sie auch schon gerettet. „Hep, hep! “ skreg en vild Skare, som strømmede til; Karlen rev Karreetdøren op og kigede derind; Naomi stødte den modsatte Dør op og sprang i sin første, øieblikkelige Forvirring ud paa Gaden; 195 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 31 Allerdings ist anzumerken, dass Naomi an späterer Stelle, in der Verkleidung als Mann, behauptet: „Men jeg er ingen Qvinde! […] Du har taget feil! “ [„Aber ich bin keine Frau! (…) Du irrst dich! “] (Andersen 1988: 208; Andersen 2005: 257). Dass diese Behauptung jedoch ebenfalls nicht zwangsläufig als Lüge aufgefasst werden muss, sondern als Ausdruck geschlechtlicher Ambivalenz gelesen werden kann, zeigt Detering in seiner Analyse der Figur (vgl. Detering 2002a: 221). Kudsken derimod smældede med sin Pidsk og kjørte til; et Par Husarer med dragne Sabler trængte ind paa Skaren, midt i hvilken Naomi stod; hurtigt samlede hun sin Fatning, tilbageholdt sit Skrig og lod Sløret falde for sit Ansigt, idet hun endnu ikke vidste mere, end at her var et Folkeopløb. „For Guds Skyld kom! “ hviskede en Stemme tæt ved hende; en Mand greb hendes Haand, drog hende ud af Vrimlen og ind i den nærmeste Forstue. (Andersen 1988: 182-183) „Hep, hep! “, schrie eine wilde Schar, die herbeiströmte; der Kerl riss die Kutschentür auf und sah hinein; Naomi stieß die entgegengesetzte Tür auf und sprang in ihrer ersten, augenblicklichen Verwirrung auf die Straße hinaus; der Kutscher dagegen knallte mit der Peitsche und fuhr los. Ein paar Husaren drangen mit gezogenen Säbeln auf die Schar ein, in deren Mitte Naomi stand; schnell fasste sie sich wieder, hielt ihren Schrei zurück und ließ den Schleier über ihr Gesicht fallen, wobei sie noch nicht mehr wusste, als dass es sich hier um einen Volksauflauf handelte. „Um Gottes willen, kommen Sie! “, flüsterte eine Stimme nahe bei ihr; ein Mann ergriff ihre Hand und zog sie aus dem Getümmel in den nächsten Hausflur. (Andersen 2005: 227) Wesentlicher als die Schilderung von Gewalt selbst erscheint mir hier, dass Naomi sie gar nicht auf sich bezieht. Das wird aus dem Dialog mit ihrem Retter ersichtlich: „‚Hvem gjælder dette Opløb? ‘ spurgte Naomi. ‚Det er Deres Folk, de ville have overbord! ‘ svarede Manden […]. ‚Jeg er ingen Jøde! ‘ sagde Naomi. ‚Saa lyver s’gu’ Flaget! ‘ svarede Manden“ [„‚Wem gilt dieser Auflauf ? ‘, fragte Naomi. ‚Es sind Ihre Leute, die sie über Bord haben wollen‘, erwiderte der Mann (…). ‚Ich bin keine Jüdin! ‘, sagte Naomi. ‚Dann lügt fürwahr Ihre Flagge‘, erwiderte der Mann“] (Andersen 1988: 183; Andersen 2005: 227). Naomi sieht aus wie eine Jüdin, sie ist eine und dennoch lügt sie nicht, als sie behauptet, keine zu sein. 31 Vielmehr lügt ihr Äußeres, ihre „Flagge“. Ihrem Verständnis nach ist sie in der Tat keine Jüdin, hat sie doch gerade erst von ihrer jüdischen Herkunft erfahren und diese sogleich - sogar mit Bestnote - wie ein unbequemes Kleidungsstück abgestreift. Während Naomi ihr Jüdischsein verneint, bestätigt der Erzähler mit der Schilderung dieser Szene ihr Jüdischsein erneut. Die Szene macht die Ambivalenz der Figur sichtbar, die auch für die Leser zugleich Jüdin ist und es nicht ist. Mit ihrem jüdischen Hintergrund ermöglicht die Figur der Naomi es, kritisch auf die judenfeindliche Gewalt von 1819 Bezug zu nehmen und den „Roman […] auf weite Strecken zu einer scharfen Auseinandersetzung mit den Mechanismen antisemitischer Ausgrenzung“ geraten zu lassen, „der in der dänischen Literatur des 19. Jahrhunderts nur die Romane des (mit Andersen befreundeten) jüdischen Schriftstellers Meir [sic! ] Aron Goldschmidt an die Seite zu stellen sind“ (Detering 2002a: 225-226). Im Umfeld Naomis ereignen sich wiederholt judenfeindliche Handlungen, angefangen bei dem Brand im Haus ihres Großvaters, dessen Ursachen offen bleiben und so die Möglichkeit von Brandstiftung implizieren, über die würdelose Bestattung Joels am Straßenrand außerhalb der Friedhofsmauern (vgl. Kapitel 7.8.3), bis zur Schilderung der Hep-Hep-Krawalle in Kopenhagen. So schwingen für den Leser stets nachvollziehbar die Gründe mit, aus denen es für Naomi keine Option darstellt, sich als Jüdin zu verstehen und sich nach außen als solche 196 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) zu zeigen. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass Naomi selbst, bis auf die beschriebene Passage in Kopenhagen, seit der Aufnahme in ihre christliche Adoptivfamilie von den anderen Figuren nicht als Jüdin gelesen wird und daher auch keiner judenfeindlichen Diskriminierung ausgesetzt ist. Auch auf den nun folgenden Auslandsreisen und in ihrem späteren Wohnort Paris gilt sie als Dänin, nicht als Jüdin (vgl. Andersen 1988: 250; Andersen 2005: 309). Und trotzdem bricht Naomi aus der Gesellschaft, in der sie lebt, aus. Grund hierfür ist eine andere Diskriminierungserfahrung: die Beengtheit und die Zwänge, die sie als Frau erlebt und denen sie sich nicht unterordnen will. 7.7.5 Ausgrenzung als Frau! Christian und Naomi begegnen einander als Jugendliche auf einem Fest wieder - sie als adoptierte Tochter des dänischen Grafen, er als Musikant und mittlerweile ebenfalls in der Obhut temporärer Pflegeeltern. Mehrfach formuliert Naomi ihr Frausein als beengenden Zustand. Christian gegenüber schwärmt sie „om fremmede Lande, om berømte Mænd og Qvinder og sukkede da over, at hun skulde være en Pige, ‚men jeg vil da idetmindste,‘ forsikkrede hun, ‚ikke ligne de Andre! ‘“ [„von fremden Ländern, von berühmten Männern und Frauen und seufzte darüber, dass sie ein Mädchen sei, ‚aber wenigstens will ich‘, versicherte sie, ‚nicht so sein wie die anderen! ‘“] (Andersen 1988: 161; Andersen 2005: 200). Zu ihren Rollenvorbildern erklärt sie historische und mythologische Frauen, die in ähnlicher Beengtheit gelebt haben und die sich den Erwartungen, die an sie gestellt wurden, widersetzt haben: „Verden er en stor Maskeradesal,“ meente Naomi. „Man maa vide at give sin Rolle med Værdighed; man maa imponere! kun det, man ret forstaaer at representere, det er man! Jeg vil være en Amazone! en Staël-Holstein, en Charlotte Corday, ja en saadan, hvilken Omstændighederne nu bedst tillade! “ (Andersen 1988: 162) „Die Welt ist ein großer Maskenball“, meinte Naomi. „Man muss seine Rolle mit Würde zu spielen verstehen; man muss imponieren. Nur das, was man recht vorzustellen versteht, das ist man auch! Ich will eine Amazone sein, eine Staël-Holstein, eine Charlotte Corday, eben so eine, wie es die Umstände am besten erlauben.“ (Andersen 2005: 201) Doch verweist Naomis Figurenrede mit der Maskenball-Metapher nicht nur auf die Wahlfreiheit der Rolle, sondern auch auf das genaue Gegenteil, nämlich auf die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen, auf das Spielen nicht irgendeiner, sondern „seiner“, also einer vorgefassten Rolle, während die Frauen, mit denen sie sich identifiziert, mit den gesellschaftlichen Konventionen gebrochen haben. Während Naomi in ihrer Konfirman‐ dinnenzeit zu keinem inneren religiösen Bekenntnis findet, entdeckt sie in der Bibel - genauer: im Alten Testament und in den Apokryphen Schriften, die also nicht zum jüdischen Tanach gehören, wohl aber von Jüdinnen und Juden erzählen - Frauenfiguren, mit denen sie sich identifiziert: „Hendes Hjerte slog stærkt ved de kjække Qvinder, som Skriften taler om: den modige Judith og den forstandige Esther“ [„Heftig schlug ihr Herz bei den Geschichten von kühnen Frauen, von denen die Schrift berichtete, der mutigen Judith und der verständigen Esther“] (Andersen 1988: 173; Andersen 2005: 215). Beide Frauen sind Handelnde, die sich gegen die erdrückende Übermacht gewalttätiger 197 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 32 Überdies ist ihre Geschichte zwar Teil des christlichen, nicht aber des jüdischen biblischen Kanons und somit auch in dieser Hinsicht ambivalent. Männer durchsetzen. Insbesondere Judith, die Holofernes enthauptet, ist in ihrem Frausein ambivalent. 32 Einerseits steht sie für einen radikalen Bruch mit der Norm, einer Umkehr des Machtverhältnisses zwischen Mann und Frau, was diese Figur zu einem beliebten Motiv in der abendländischen Kunst gemacht hat (vgl. Osterkamp 2006). Andererseits ist ihre Tat nur möglich, weil sie eine Frau ist und „sehr schön von Gestalt und von blühendem Aussehen“ ( Jdt 9,7). Die Möglichkeit der Erniedrigung aufgrund des Frauseins ist in der Figur der Judith enthalten, wenngleich Judith ihr entgeht: „Mein Aussehen hat ihn verführt zu seinem Verderben, doch er konnte mir keine Gewalt antun, um mich zu beflecken oder zu schänden“ ( Jdt 11,16). Naomis weibliche Rollenvorbilder bieten also weder einen Ausweg aus der Beschränkung der Möglichkeiten, die ihr als Frau offenstehen, noch aus der Gefahr der Erniedrigung und Vergewaltigung - die auch ihre Mutter erlebt hat. Daher möchte sie zunächst durch Christian „realisere sine romantiske Drømme“ [„ihre romantischen Träume (…) verwirklichen“] (Andersen 1988: 160; Andersen 2005: 199). Ihn will sie dazu bringen, mit seiner Geige in die Fremde zu ziehen und die Freiheit zu leben, die ihr verwehrt ist. Im Gegenzug dafür, dass er das Leben lebt, das ihr aufgrund ihres Frauseins nicht möglich ist, gibt sie ihm das Versprechen ihrer Liebe - die aber keineswegs bedingungslos ist, sondern vom Erfolg seines Lebensweges abhängt: „Var jeg som Du, da bandt jeg Violinen i mit Tørklæde og listede mig bort fra alle de kjedelige Mennesker, som ligne hinanden lige til Sløifen paa Kjolen og Bindet om Halsen! […] Verden vilde just beundre Dit raske Skridt, og jeg, ja da troer jeg, at jeg kunde elske Dig! Men ellers ikke! nei! nei! Du maa blive noget Udmærket! “ (Andersen 1988: 160) „Wäre ich wie du, so würde ich die Geige in mein Tuch binden und mich von all den langweiligen Menschen fortstehlen, die sich von der Schleife am Kleid bis zur Halsbinde einander völlig ähnlich sind! […] Die Welt würde deinen entschlossenen Schritt geradezu bewundern, und ich, ja dann glaube ich, würde ich dich lieben können. Aber sonst nicht! Nein! Nein! Du musst etwas Außergewöhnliches werden! “ (Andersen 2005: 199) Während Naomi „dristig som en Dreng“ [„verwegen wie ein Junge“] (Andersen 1988: 150; Andersen 2005: 186) ist und daraus Stärke bezieht, kann Christian seinem schwachen und mithin als effeminiert gekennzeichneten Charakter nicht entkommen. Das Spiel mit der Vertauschung von weiblich und männlich codierten Rollenzuschreibungen ist augenfällig und wurde doch in der Sekundärliteratur bis in die 1990er-Jahre hinein wenig berücksichtigt. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine bloße Umkehrung weiblicher und männlicher Eigenschaften, um „einen ›weiblichen‹ Mann und eine ›männliche‹ Frau“ (Detering 2002a: 206). Vielmehr verlagern sich Geschlechtlichkeit und Begehren vollständig auf die Figur Naomi, während Christian geschlechtslos und ohne sexuelles Begehren erscheint. In Naomi verbinden sich also männliche und weibliche Eigenschaften, während Christian weder Mann noch Frau ist. Das heißt, beide Figuren sind nicht nur gender-über‐ kreuzt, sondern vielmehr ist Naomi geschlechtlich, während Christian ungeschlechtlich ist. Aber obwohl Naomi als männlich und weiblich zugleich dargestellt wird, kann sie nicht wie ein Mann agieren. Ihre Bewegungs- und Handlungsfreiheit ist durch ihr Geschlecht 198 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 33 Naomi wird mehrfach mit einem Hund identifiziert. begrenzt. Nur als Mann verkleidet ist es ihr möglich zu reisen und zu versuchen, das Leben zu führen, für das Christian der Antrieb fehlt. Doch damit setzt sie sich nicht nur der Gefahr aus, als Frau entdeckt zu werden, sie begibt sich auch in die Illegalität und in die Abhängigkeit von einem anderen Mann. 7.7.6 „Zigeunerblut“ und „Judenblut“ Als eine Kunstreitergruppe in Odense gastiert, ist Naomi fasziniert von der Lebensweise der Fahrenden: „O, hvilket lykkeligt, hvilket bevægeligt Liv! Hvor herligt maa det være, altid at tumle sig i fremmede Lande, altid Nyt! aldrig komme tilbage for at blive“ [„Oh, was für ein glückliches, bewegtes Leben! Wie herrlich muss es sein, sich stets in fremden Ländern zu tummeln! Immer etwas Neues. Nie zurückkommen, um zu bleiben“] (Andersen 1988: 192; Andersen 2005: 237). Insbesondere fühlt sie sich angezogen vom schönen Ladislaus, dem unangefochtenen Star der Gruppe, denn „han var den første Mand, hun havde betragtet med Beundring, den Første, hun havde skuet op til i Erkjendelse af, at han i Noget var hende overlegen“ [„er war der erste Mann, den sie mit Bewunderung betrachtete, der Erste, zu dem sie in dem Bewusstsein aufblickte, dass er ihr in etwas überlegen sei“] (Andersen 1988: 192; Andersen 2005: 238). Da Naomi außerordentliches Talent besitzt - schließlich war sie „før […] frit og uden Sadel, jaget over Mark og gjennem Skov“ [„auch schon früher einmal (…) frei und ohne Sattel über das Feld und durch den Wald gejagt“] (Andersen 1988: 193; Andersen 2005: 239) - gibt sie ihr Leben in Dänemark auf und schließt sich der Reitergruppe an. Die Unzugehörigkeit und Heimatlosigkeit, durch die sie als nicht-Adelige unter Adeligen gekennzeichnet war, ist per Definition Teil des Lebens, das sie fortan in Gesellschaft der fahrenden Kunstreitertruppe führt. Zu den Verkreuzungen von Geschlecht, Geographie, Religion und schließlich sogar Menschlich-Tierischem 33 (vgl. Schnurbein 2007: 136-137) kommt nun durch die Identifikation mit den Zigeunern eine weitere Verstärkung der Figur der Außenseiterin. Naomi und Ladislaus gehören beide dem „Familiennetz verachteter und ausgegrenzter Völker“ an, wie Klaus-Michael Bogdal (2014: 153) diese Beziehung in seiner Studie Europa erfindet die Zigeuner formuliert. Mit dem Bezug auf diese scheinfamiliäre Zusammengehörigkeit zwischen „den Juden“ und „den Zigeunern“ beginnt der dritte Teil des Romans: Kjender Du Hinduernes Fædreneland? […] Her, siger Sagnet, laae Paradiset, hvor Adam og Eva bleve forjagne. Her blomster endnu Paradiset, og det er den forskudte, ulykkelige Parias Hjem. Mongolernes vilde Horder bortjoge Landets Børn. Pariaen deler Ahasverus’s Skjæbne. Ægyptere, Tatare, Zigeunere, forskjellige Navne fik det omvandrende Folk. (Andersen 1988: 203) Kennst du die Heimat der Hindus? […] Hier, so die Sage, lag das Paradies, aus dem Adam und Eva vertrieben wurden. Hier blüht immer noch das Paradies, und es ist die Heimat des verstoßenen, unglücklichen Paria. Die wilden Horden der Mongolen verjagten die Kinder dieses Landes. Der Paria teilt das Schicksal des Ahasverus. Ägypter, Tater, Zigeuner - verschiedene Namen erhielt das umherziehende Volk. (Andersen 2005: 251) 199 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Naomi, die als Jüdin mit der Figur des rastlosen Ahasverus identifiziert wird, teilt das Schicksal des ebenfalls rastlosen Zigeuners - auch in seiner literarischen Produktivität, wie Schnurbein hervorhebt: Mit der Ahasverus-Identifikation schließt der Text an die romantische Wiederentdeckung und teilweise Aufwertung dieser Figur des christlichen Antijudaismus zu einer Verkörperung des In‐ teressanten, des Ruhelosen und des Ausgestoßenen an - eine ambivalente literarische Aufwertung, die auch die Figur des Zigeuners in dieser Zeit erfährt. (Schnurbein 2007: 135) Die Verbindung zwischen beiden ungewöhnlichen Figuren ermöglicht das Erzählen von Ungewöhnlichem. In Andersens Roman Kun en Spillemand geht dies weit über eine bloße Exotisierung und Erotisierung der Frauenfiguren und die Darstellung eines ungebundenen und gesetzlosen Nomadenlebens hinaus. Denn in der Begegnung mit dem Zigeuner entfaltet sich Naomis Geschlechtsambivalenz vollständig und ermöglicht das Erzählen einer ebenso ambivalenten Sexualität. Erst durch die zusätzliche Identifikation als Zigeunerin wird Naomi so sehr Außenseiterin, dass auch von einem Begehren erzählt werden kann, das ebenfalls von den Normen der Gesellschaft abweicht. Das ist möglich, weil sich Naomis Rolle der Außenseiterin potenziert, indem sie sich dem Zigeuner Ladislaus anschließt. Denn wie stark sich auch viele Zuschreibungen auf Jüd*innen und Zigeuner*innen ähneln - sie sind nicht identisch. Unter den Verachteten sind die Zigeuner die am meisten Verachteten. Während in der Zeit der Aufklärung über die rechtliche Gleichstellung und „Verbesserung“ der Juden diskutiert wurde, galten Zigeuner noch „als verachtungswürdige Fremde, wes‐ halb jeder Gedanke an Besserung abwegig erscheint“ (Bogdal 2014: 131). Entscheidende Kriterien, die beide Gruppen in der Bewertung durch die christliche Mehrheitsgesellschaft voneinander unterscheiden, sind die Schriftkultur und - damit verbunden - die Religion. „Jüdisches Leben wird von einer bis tief in die Menschheitsgeschichte zurückreichenden Religion bestimmt, die auf schriftlicher Tradierung und gelehrter Auslegung beruht. Unter den Zigeunern konnten“, so der Tenor bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, „keine glaub‐ würdigen Anzeichen für eine eigene Religion entdeckt werden“ (Bogdal 2014: 164). Dieser Befund lässt sich auch für Naomi erheben, die sich als Konfirmandin zur Freidenkerin entwickelt hat und die ihre religiösen Impulse nicht nur im Juden- und im Christentum, sondern auch bei „Mohammed“ [„Mohammed“] und sogar in „Braminernes Viisdom“ [„der Weisheit der Brahmanen“] sucht (Andersen 1988: 173; Andersen 2005: 215). So legt der Romantext nahe, dass in Naomi schon vor der Begegnung mit Ladislaus eine Art natürliche Zigeunerinnenhaftigkeit angelegt ist. Mit ihr gehen auch eine Erotisierung der Figur und zugleich die Betonung geschlechtlicher und sexueller Ambivalenz einher. Diese deutet sich bereits an, als der Erzähler, dem Blick Christians folgend, die jugendliche Naomi, die ausgelassen auf einem Ball tanzt, mit einer Figur Goethes vergleicht: „Naomi fløi som en Sommerfugl gjennem Salen; Bevægelsen gjorde hende dobbelt smuk; Blodet skinnede gjennem de fine Kinder; hendes mørke Teint vandt ved Belysningen. Hun var meget smuk: en deilig Mignon, kun for fiint bygget for et Sydens Barn“ [„Naomi flog wie ein Schmetterling durch den Saal; die Bewegung machte sie doppelt reizend; das Blut schien durch die feinen Wangen; ihr dunkler Teint gewann durch die Beleuchtung. Sie war sehr hübsch: eine schöne Mignon, nur zu fein gebaut für ein Kind des Südens“] (Andersen 200 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 34 Dass der Name Mignon im Originaltext nicht kursiv gedruckt ist wie die anderen Namen, deutet darauf hin, dass Mignon hier mehr als Topos denn als Eigenname aufgefasst wird. Bemerkenswert ist, dass wiederum der Name Ahasverus im Zitat weiter oben im Kursivdruck steht, dass Ahasverus also als konkrete Figur und nicht als Topos markiert ist. 35 Der einschränkende Zusatz über den feinen Körperbau Naomis, der scheinbar im Gegensatz zur Figur Mignon steht, verhüllt zwar, dass Mignon eine knabenhafte, wenngleich verführerische Mäd‐ chenfigur ist. Doch dieses Wissen kann Andersen bei seinem gebildeten Lesepublikum voraussetzen. 36 Die Funktion der Kleidung als bedeutungsvolle, weil äußerlich sichtbare und gesellschaftlich lesbare Geschlechtsmarkierung wird bereits ganz zu Beginn des Romans hervorgehoben, als der noch sehr junge Christian sich wundert, wie der Storch, der die kleinen Kinder aus dem Mühlteich hole, erkennen könne, um welches Geschlecht es sich bei dem Kind handle: „‚Men de have jo ingen Klæder paa, sagde Drengen, ‚hvor kan saa Storken see, hvilke der ere Drenge, og hvilke der ere Piger! ‘“ [„‚Aber die haben ja nichts an! ‘, sagte der Junge. ‚Wie kann der Storch denn sehen, welche die Jungen und welche die Mädchen sind? ‘“] (Andersen 1988: 11; Andersen 2005: 12). 1988: 151-152; Andersen 2005: 187). 34 Durch den Bezug auf die Goethe’sche Figur Mignon, die mit ebenjener Mischung aus Knabenhaftigkeit und Weiblichkeit besticht, wird die geschlechtliche Ambivalenz Naomis angedeutet, obwohl sie gerade hier als besonders mädchenhaft dargestellt wird. 35 Hinzu kommt durch den Vergleich mit Mignon sowohl die Assoziation ‚Zigeunerin‘ als auch die Uneindeutigkeit dieser Gruppenzugehörigkeit. Denn, so betont Wilhelm Solms in seiner Studie Zigeunerbilder: Mignon selbst ist keine „Zigeunerin“, aber der Erzähler schildert sie bei ihrem ersten Auftritt wie eine „Zigeunerin“ und bestärkt den Leser mehrmals in der Vorstellung, dass sie eine wäre. Der Name „Zigeuner“ bezeichnet ja nicht nur die Angehörigen dieser Ethnie, der Sinti und Roma, sondern auch die Fahrenden, zu denen sowohl die Gaukler gehören, von denen Mignon entführt worden und unter denen sie aufgewachsen ist, als auch die Mitglieder des Wandertheaters, die sich bei einer Landpartie wie „Zigeuner“ fühlen und von Jarno abfällig als „Zigeuner“ bezeichnet werden. (Solms 2008: 234) Die Ambivalenz des Geschlechts, die sowohl in Naomis zwischen Knabenhaftigkeit und Weiblichkeit changierendem Erscheinungsbild als auch in ihrem wilden Charakter angelegt ist, steht in Verbindung mit der Figur einer Zigeunerin, die in Wirklichkeit gar keine Zigeunerin ist, und die ihrerseits geschlechtsambivalent ist. So ist mit Naomi erstens die Zuschreibung „Zigeunerin“ assoziiert, zweitens die eigentliche Nicht-Zugehörigkeit zu dieser Gruppe und drittens die geschlechtliche Ambivalenz. Diese findet bei Naomi ihren Höhepunkt, als sie sich den Kunstreitern anschließt und inkognito in der Verkleidung eines Mannes neben Ladislaus an Deck des Schiffes steht, mit dem ihr Leben als Geliebte des Zi‐ geuners beginnt. In der Verkleidung als Mann reist sie mit einem auf Christian ausgestellten Reisepass durch Europa und wechselt mit der Kleidung mehrfach zwischen der Frauen- und der Männerrolle hin und her. 36 Die Liebesbeziehung zu Ladislaus ist von ungleichen Machtverhältnissen und unerlaubtem Begehren geprägt. Naomi, die offiziell als Mann auftritt, kann ihrem Begehren nach Ladislaus öffentlich keinen Ausdruck verleihen und muss mit ansehen, dass Ladislaus andere Frauen begehrt. Ladislaus genießt diese Situation und nutzt sie aus, fühlt sich aber gleichzeitig insbesondere von Naomis Verkleidung und Auftreten als Mann angezogen. 201 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) „[…] Du er mere Mand end Qvinde, og derfor lider jeg Dig! ja elsker Dig, saa at jeg kunde blive skinsyg! […] Deilig er Du! varm som en Qvinde skal være det, og Tanke har Du som en Mand! “ Han kyssede hendes Læber og Pande. „Ved mit Bryst maa Du troe paa Madonna; for hende maa Du bøie Dig! “ Naomi slyngede sine Arme om ham og gjengjældte hans Kys. „Din Kone maa for det første endnu bære Moustacher! “ sagde hun med et Smiil. „Som den danske Christian er jeg ikke bange for at tumle min Hest. Men Du vil altid gjøre større Lykke end jeg, det kan jeg misunde Dig! “ „Og jeg,“ svarede han, „jeg vilde maaske ikke tilgive Dig, dersom Du vandt mere Bifald! “ (Andersen 1988: 198-199) „[…] [D]u bist mehr Mann als Frau, und darum mag ich dich, ja, liebe ich dich, sodass ich sogar eifersüchtig werden könnte! […] Du bist schön! Warm, wie eine Frau sein soll, und denken tust du wie ein Mann! “ Er küsste sie auf die Lippen und die Stirn. „An meiner Brust musst du an die Madonna glauben; ihr musst du dich beugen! “ Naomi schlang ihre Arme um ihn und erwiderte seinen Kuss. „Deine Frau muss fürs Erste noch einen Schnurrbart tragen“, sagte sie mit einem Lächeln. „Als dänischer Christian traue ich mir zu, mein Pferd zu beherrschen. Aber du wirst stets besser sein, und darum kann ich dich beneiden! “ „Und ich“, entgegnete er, „ich würde es dir vielleicht nicht verzeihen, wenn du mehr Applaus bekommen würdest.“ (Andersen 2005: 246) Mit Naomis männlicher Verkleidung und Art wird das Begehren des Zigeuners und der Jüdin aneinander gesteigert, gleichzeitig treten beide in ein Konkurrenzverhältnis ein, das sich auf Klugheit, Schönheit, Kunstfertigkeit und - in einem beiläufigen Satz in der Figurenrede Ladislaus’ - auf die Religion erstreckt. Offenbar ist Ladislaus katholisch, und Naomi geht weder auf seine Forderung ein, noch widerspricht sie ihr. Die Beiläufigkeit, mit der der Glauben hier eingefordert und mit der dieser Forderung nicht widersprochen wird, korrespondiert mit den anderen Bezugslinien zwischen Judentum und Katholizismus, die im Roman hergestellt werden, und die stets auf religiöse Beliebigkeit und somit Nicht-Zu‐ gehörigkeit verweisen. So konkurrieren hier beide Figuren in ihrer Nicht-Zugehörigkeit. Denn auch Ladislaus, der als Zigeuner per se ein gesellschaftlicher Außenseiter ist, hat sich von seiner Familie und Herkunft gelöst und distanziert, gehört also keiner Gemeinschaft von Zigeunern an. Auch unter den Kunstreitern ist er der einzige Zigeuner. Darin gleicht er Naomi, die als Jüdin unter anderen Juden und Jüdinnen nicht zugehörig ist, ja, eine Zu‐ gehörigkeit sogar explizit von sich weist, und auf die der Text doch stets als Jüdin referiert. Ladislaus ist also kein Zigeuner und bleibt es doch. Diese gebrochene Zugehörigkeit ist für den Roman von Bedeutung. Denn das konkurrierende Außenseitertum, die vielfach gesteigerten Abweichungen beider Figuren von einer eindeutigen Kategorisierbarkeit ermöglichen das Erzählen von abweichendem Begehren, von einem Begehren jenseits des männlichen Blicks auf tränenverhangene dunkle Mädchenwimpern und keusches Schweigen. Naomi trägt ihren Kummer stets allein aus, und nicht immer weint sie dabei. Von Ladislaus verletzt und gedemütigt „bed [hun] sin Læbe, saa den blødte derved“ [„biss (sie) sich auf die Lippe, sodass sie blutete“], und „der var ingen Graad i hendes Øine, der kom intet Suk fra hendes Læber. Nu lød Fodtrin; Ladislaus kom“ [„keine Tränen traten ihr in die Augen, kein Seufzer kam über ihre Lippen. Jetzt hallten Tritte; Ladislaus kam“] (Andersen 1988: 212; Andersen 2005: 262). Naomis Leid ist nicht dafür bestimmt, von einem 202 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 37 Etliche Forscher*innen haben auf die geschlechtliche Ambivalenz in der Darstellung von Juden und Jüdinnen und auf die Langlebigkeit und die Flexibilität des Vorurteils von geschlechtlicher Uneindeutigkeit hingewiesen (vgl. z. B. Gender-Killer 2005; Robertson 1998; Schnurbein 2007: 144- 149). 38 Schnurbein weist darauf hin, dass erotisiertes Leiden bereits Teil des romantischen Liebesdiskurses war, noch bevor es unter Verwendung der Begriffe ‚Sadismus‘ und ‚Masochismus‘ gegen Ende des 19. Jahrhunderts pathologisiert wurde (vgl. Schnurbein 2007: 147). Mann gelesen, gedeutet und beseitigt zu werden - und so entzieht sich die Figur folglich auch einer manifesten Deutung und Einordnung durch den Leser. Zusätzlich verweigert sich die Figur Naomi einer eindeutigen Lesbarkeit dadurch, dass sie selbst einen eigenen begehrenden Blick hat, den sie auf Ladislaus richtet: „Hun taug og betragtede ham med sit stolte, harmfulde Blik“ [„Sie schwieg und betrachtete ihn mit ihrem stolzen, gramvollen Blick“]. Zwar ist dieser Blick aktiv und autonom und somit männlich konnotiert, doch Ladislaus begegnet ihm ebenso männlich und machtvoll: „[H]aanligt saae han paa hende og lo“ [„(E)r sah sie hämisch an und lachte“]. Beide Blicke prallen aufeinander, und es ist Naomi, die in diesem stillen Zweikampf unterliegt und schließlich trotz ihres als männlich verstandenen aktiven Blicks in die weiblich konnotierte passive Position gerät, in der es ihr die Sprache verschlägt: „Hendes Læber bevægede sig for at tale, men hun taug“ [„Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie sprechen, aber sie schwieg“] (Andersen 1988: 212; Andersen 2005: 262). Wie ihr Judentum ist auch ihr Begehren nach Ladislaus in gewisser Weise unaussprechlich. 7.7.7 Ambivalentes Begehren Die Sexualität, die Naomi mit Ladislaus lebt, mag freizügig erscheinen - frei ist sie nicht. In ihrer geschlechtlichen Ambivalenz unterscheidet sie sich nämlich von Ladislaus, dessen Geschlechtsidentität ungebrochen ist. Er ist es, der Naomi „voldsomt kjærtegnede“ [„gewaltsam liebkoste“] (Andersen 1988: 211; Andersen 2005: 261), „og hand greb om Pidsken, der laae paa Bordet, gjorde et Smeld i Luften med den, men henimod Naomi, saa at Snerten rørte hendes Hals“ [„und er ergriff die Peitsche, die auf dem Tisch lag, und knallte damit in der Luft, aber so dicht bei Naomi, dass die Schnur ihren Hals berührte“]. (Andersen 1988: 212; Andersen 2005: 263). Er ist ganz Mann und kann deshalb mit männlich konnotierter Dominanz agieren, während sie weder ganz Frau noch richtig Mann ist. 37 In ihrer Verkleidung als Mann, der sie jedoch nicht ist, kann sie weder als Mann noch als Frau agieren und ist somit Ladislaus’ grausamen Spielen und wechselnden Stimmungen ausgeliefert. Naomis Liebensbeziehung zu Ladislaus ist von Konkurrenz und Eifersucht geprägt, ihr Verhältnis trägt sadomasochistische Züge, die allerdings nicht auf einer ausgesprochenen Übereinkunft beruhen. 38 Die nicht eindeutige Lesbarkeit der Figur ermöglicht es hier, den Schlag mit der Reitpeitsche in einem sexuellen Kontext zu verstehen, eine Deutung, die auch Mayer nahelegt, wenn er den dritten Teil des Romans und die Entwicklung der Figur Naomi auf despektierliche Weise zusammenfasst: [D]as Judenblut macht sich bemerkbar. Sie läuft mit einem Zigeuner und Kunstreiter Ladislaus davon, verkleidet sich als Mann und wird die Geliebte des virilen Außenseiters, läßt sich mit der 203 7.7 Naomi DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 39 Polaschegg vergleicht das Orient-Konzept in Anlehnung an Wittgensteins Überlegungen zum Konzept ‚Spiel‘ mit einem rhizomartigen Familiennetz der Ähnlichkeiten, in dem sich eine ausge‐ sprochene Vielfalt an Geographie, Sprache, Geschichte, Kultur etc. verbinden lässt (vgl. Polaschegg 2005: 96-101; vgl. auch Kapitel 5.6.1). Reitpeitsche züchtigen, wird dann in die Adelswelt ihrer Adoptiveltern zurückgeholt, heiratet einen Marquis und verzehrt sich in Sehnsucht nach dem Zigeuner. (Mayer 1981: 232) Zwar ist diese Lesart eines masochistischen Begehrens eben gerade nicht so eindeutig, wie Mayer sie formuliert. Der Romantext eröffnet aber zumindest diesen Interpretations‐ spielraum. Allein durch die Andeutung eines masochistischen Begehrens und die dabei möglichen Assoziationen gelingt dem Roman eine „erstaunlich offene Schilderung […] erotisierten Leidens“ (Schnurbein 2007: 138). Dieses mit den Konventionen brechende Erzählen von sexuellem Begehren legitimiert der Erzähler ausdrücklich mit der diffusen, als Gemeinsamkeit behaupteten asiatisch-orientalischen Herkunft der beiden Figuren. Eine Herkunft, die gleichermaßen verbindend und trennend ist: Hun [Naomi, KB] blundede, som Araberen blunder, der veed, at hans Dødsfjende sover under det samme Telt som han; de havde drukket og spiist sammen; Gjestfrihed er det hellige Skjold, som staaer imellem begge, de række hinanden Haanden og - sove, men deres sidste Tanke er: vi mødes et andet Sted! Pariaens Søn og Israels Datter have asiatisk Blod, den hede Sol brænder deri. (Andersen 1988: 213) Sie [Naomi, KB] schlummerte, wie der Araber schlummert, der weiß, dass sein Todfeind mit ihm unter demselben Zelt schläft; sie haben zusammen getrunken und gespeist; Gastfreundschaft ist der heilige Schild, der zwischen beiden steht, sie reichen einander die Hand und - schlafen, aber ihr letzter Gedanke ist: Wir treffen uns an einem anderen Ort! Der Sohn des Paria und die Tochter Israels haben asiatisches Blut, in dem die heiße Sonne brennt. (Andersen 2005: 264) Der Roman stellt zwischen Naomi und Ladislaus eine quasi-natürliche ethnisch-geografi‐ sche Verbindung her, 39 zu deren Wesen rastlose Nicht-Zugehörigkeit und eine hitzige, ge‐ triebene Leidenschaft gehören, und begründet so deren ambivalentes Liebes-, Geschlechter- und Machtverhältnis. Zwischen diesen beiden brüchigen Figuren ist keine romantische Liebe möglich - nur Hass und sexuelles Begehren. Im Roman wird dieses Begehren durch Abweichung von der heterosexuellen und monogamen Norm erzählt. Es wird im Kern immer mit Naomis Herkunft als Jüdin begründet, denn im Topos der Jüdin ist die Möglich‐ keit zur Mehrdeutigkeit genuin enthalten. Weil Naomi „eigentlich“ Jüdin ist, hat sie keine eindeutige Religion, keine eindeutige familiäre Herkunft, keine eindeutige Zugehörigkeit; weil sie „eigentlich“ Jüdin ist, schließt sie sich Ladislaus und den Kunstreitern an und lässt das Modell eines normierten Lebens hinter sich, von dem sie selbst nie Teil war. Erscheint Naomis Jüdischsein für die anderen Figuren des Romans nicht relevant oder sichtbar, so ist es doch für die Lesenden von Bedeutung und dient dem Autor implizit als Freibrief für die Schilderung eines von der Norm abweichenden Lebens. An dieser Stelle lässt sich die Idee eines spezifisch literarischen Philosemitismus besonders deutlich veranschaulichen: Ob die jüdische Figur überwiegend durch positive oder negative Eigenschaften markiert ist, ob negative Stereotype in ein positives Gegenbild verkehrt 204 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 40 Das sind bei Mayer Frauen, Juden und (männliche) Homosexuelle. werden oder nicht - im Fall der Figur Naomi sind diese Fragen weder eindeutig zu beantworten noch relevant. Die Einteilung in „gute“ oder „böse“ jüdische Figuren ist nicht der Maßstab, um den Roman als „philosemitisch“ bezeichnen zu können. Vielmehr ist es die offensichtliche literarische Produktivität der jüdischen Figur, es sind die vielfältigen Asso‐ ziationsräume und Erzählmöglichkeiten, die sich im Text durch die jüdische Andersheit der Figur Naomi eröffnen. Es geht nicht darum, nachzuweisen, dass der Romantext oder der Autor Juden und Jüdinnen „liebt“. Es geht darum, dass es der Topos der Jüdin, die literarische Figur ist, die „geliebt“ wird, weil sie das Erzählen eines realistischen Romans ermöglichen, der anders nicht erzählt werden kann. Denn die ungewöhnliche Romanhandlung lässt sich allein mit dem Jüdischsein der weiblichen Hauptfigur legitimieren. Was das Genre ‚Märchen‘ in Andersens Die kleine Meerfrau ermöglicht, das Erzählen eines unerfüllbaren Begehrens im ebenfalls uneindeutigen Körper (vgl. Detering 2002a: 210-218), wird im Roman Kun en Spillemand durch die Jüdin möglich. Detering betont die besondere Verbindung zwischen brüchiger Weiblichkeit und Judentum, die sich in Naomi vereinen und somit eine als homoerotisch lesbare Liebesgeschichte ermöglichen: Die Gestalt Naomis […] vereint in sich alle drei Gruppen, die Hans Mayer als die „Außenseiter“ der bürgerlichen Aufklärung bestimmt hat. 40 Ihre „amphibische“ Geschlechtsnatur, ihre Homose‐ xualität ist camouflierend doppelt abgesichert - und produktiv geworden. Denn diese Gestalt erscheint erstens als Frau und muss, eben weil ihre weibliche Identität sich immer wieder als problematisch und brüchig erweist, alle Demütigungen, Rechtlosigkeit, Benachteiligung erfahren, die in der zeitgenössischen dänischen und deutschen Literatur erst ansatzweise, im Vergleich mit diesem Roman nur sehr zaghaft problematisch werden. Und sie ist, zweitens, eine Jüdin. In diesem (wie die Geschlechtsnatur) ‚angeborenen Makel‘ wird ihr Außenseitertum immer wieder explizit begründet und legitimiert. (Detering 2002a: 225) Mit der Fokussierung auf ein männlich-homosexuelles Begehren findet allerdings erneut eine Vereindeutigung statt, die im Text eben nicht angelegt ist. Durch Deterings starke Bezogen‐ heit auf die Person des Autors wird eine Kategorie aufgerufen, die eindeutig bestimmbar offen zu liegen scheint, sobald die Figuren durch den Leser dechiffriert wurden. Damit wird dem Roman jedoch ein Teil seiner Vieldeutigkeit abgesprochen. Zum einen werden andere Möglichkeiten von Identität und Begehren in dieser Perspektive ausgeschlossen. Zum anderen geht der Kunstdiskurs verloren, der an das Begehren gebunden ist. 7.8 Naomi und Christian 7.8.1 Musik und Queerness Der Roman schildert „den künstlerischen Trieb als einen an den sexuellen Trieb ge‐ bundenen - oder vielleicht geradezu aus diesem entsprungenen - und destruktiven, 205 7.8 Naomi und Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) dämonischen Trieb“, so de Mylius. „Christian hat das Träumerische und Künstlerische in sich, aber ihm fehlt die andere Seite, die Naomi von dem Norweger geerbt hat“ (de Mylius 2005c: 363). Dieser dämonische Trieb hatte Naomi als Kind veranlasst, Christians Mund und Augen zu „kaufen“ und ihn damit künstlerisch und sexuell seiner Virilität zu berauben. Obwohl dieser Handel auf symbolischer Ebene stattfand, bleibt er lebenslang auf Christians Ausdrucks- und Begehrensfähigkeit wirksam. Naomi wiederum mangelt es an der Tiefe und Innerlichkeit und an der künstlerischen Begabung, die Christian besitzt. Ihre Begegnungen mit Künstlern und den Künsten sind oberflächlich und beschränken sich auf Äußerlichkeiten. Wo Naomi mit Musik in Berührung kommt, ist diese in der Regel „Musik, saa jublende og deilig“ [„jubelnde, herrliche Musik“] (Andersen 1988: 103; Andersen 2005: 128), die Naomis eigenen, glanzvollen Auftritt begleitet. Die Kunstreitergruppe, der sie sich anschließt, trägt zwar die Kunst im Namen, es handelt sich aber lediglich um schöne Menschen auf schönen Tieren. In Rom verkehrt sie in einer Künstlerkneipe, doch hier findet sie nur alkoholfeuchte Schunkelstimmung statt künstlerischen Austausch: „[H]endes Dom var, at Lystigheden der var det tydske Burschevæsen i en ny Udgave“ [„Ihrer Ansicht nach handelte es sich bei dem lustigen Treiben um eine neue Ausgabe des deutschen Burschenschaftswesens“] (Andersen 1988: 244; Andersen 2005: 302). Dabei sucht Naomi ausdrücklich die Begegnung mit der Kunst. Am Ende ihrer Zeit in Rom hatte sie „[h]vert berømt Maleri i Kirker, Klostre og Galerier i Rom […] besøgt; […]. Alt fra hendes Barndom havde Maleri tiltalt hende“ [„alle berühmten Gemälde in Kirchen, Klöstern und Galerien besucht; […]. Schon seit ihrer Kindheit hatte die Malerei sie angezogen“] (Andersen 1988: 244; Andersen 2005: 302). Allerdings geht es auch hier nicht um die intensive Vertiefung in die Malerei, sondern um deren repräsentativen Charakter. Deutlich wird diese Reduzierung der Kunst auf ihre Äußerlichkeit in Naomis Auseinandersetzung mit der Bildhauerei. Bei einem Gesellschaftsspiel im Haus eines Diplomaten in Rom glänzt sie bei der Nachahmung von antiken Skulpturen. Auf einer kleinen Bühne stehend „viste hun nu, hvor herligt hun havde opfattet Billedhuggerens Værker, hvilken Legemsskjønhed og Aandskraft hun besad til at gjengive disse“ [„zeigte sie jetzt, wie gut sie die Werke der Bildhauer verstanden hatte, welch körperliche Schönheit und Geisteskraft sie besaß, um diese wiederzugeben“] (Andersen 1988: 245; Andersen 2005: 304). Allein, ihre ganze Kunstfertigkeit besteht in der Imitation, sie ist nicht Ausdruck einer tiefen, innerlichen Auseinandersetzung, geschweige denn eines eigenen künstlerischen Schaffensdrangs. Naomi besitzt also nicht nur die dunkle, sexuelle Triebhaftigkeit, die Christian fehlt, sie verfügt auch über die Schönheit und die Ausdruckskraft, an der es Christian mangelt. Doch die Innerlichkeit, der künstlerische Trieb fehlen wiederum ihr. Der Erzähler stellt die Dichtung und die Musik auf der einen Seite der bildenden Kunst auf der anderen Seite gegenüber und etabliert dabei eine Hierarchie zwischen den Künsten: Du Mægtige! Du fatter Malerens og Billedhuggerens Værker, thi disse pynte dine Sale; men Digterens Frembringelser, Tonekunstnerens Værker ere Dig endnu en Leg; Aandens rigeste Tapeter, som ei Møl eller Rust kunne fortære, begriber Du ei ret, et Aarhundrede maa først have fortalt Dig om deres Guddommelighed. Lad ei det sande Talent jordisk gaae til Grunde! (Andersen 1988: 229) 206 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 41 Der südafrikanische Künstler William Kentridge beschreibt einen ganz ähnlichen künstlerischen Prozess, indem er Uncertainty, also die Unsicherheit, Ungewissheit und Unbestimmtheit als Kern und Antriebskraft seiner Kunst sichtbar macht (vgl. Kentridge 2016). 42 Virginia Woolf führt in ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein [1929] den Gedanken des englischen Dichters Samuel Taylor Coleridge (1722-1834) weiter, der gesagt habe, „ein großer Geist sei androgyn. Erst wenn diese Verschmelzung stattfindet, wird der Geist wirklich befruchtet und nutzt all seine Fähigkeiten. […] Doch wäre es ratsam, zu überprüfen, was man mit männlich-weiblich und umgekehrt mit weiblich-männlich meint, indem man innehält und in das eine oder andere Buch hineinschaut“ (Woolf 2012: 134). Fast genau ein Jahrhundert nach Andersens Tod, im Jahr 1975, greift die bildende Künstlerin Meret Oppenheim in ihrer Rede anlässlich des Kunstpreises der Stadt Basel dieses Prinzip erneut auf: „Aus einem großen Werk der Dichtung, der Kunst, der Musik, der Philosophie spricht immer der ganze Mensch. Und dieser ist sowohl männlich als weiblich“ (Oppenheim 2013: 270). 43 Der hier aufgegriffene Gedanke eines „dritten Raums“ wurde erstmals von Homi K. Bhabha als Konzept des ‚third space‘ entwickelt: “But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ‘third space’ which enables other positions to emerge” (Rutherford 1990: 211; vgl. auch Bhabha 2000). In diesem Kontext ist auch die Idee einer „Figur des Dritten“, wie von Holz (2010) vorgestellt, zu betrachten (vgl. hierzu auch Kilcher 2012). Du Mächtiger, du verstehst die Werke des Malers und des Bildhauers, denn diese schmücken deine Säle; aber die Schöpfungen des Dichters, die Werke des Tonkünstlers sind für dich noch ein Spiel; die reichsten Tapeten des Geistes, die weder Motten noch Rost zerfressen können, begreifst du nicht recht, ein Jahrhundert muss dir erst von ihrer Göttlichkeit erzählt haben. Lass das wahre Talent nicht irdisch zugrunde gehen! (Andersen 2005: 284) Naomi vertritt in ihrem Verhältnis zur Kunst das leicht Verständliche, das Repräsentative. In ihrem Begehren und ihrer Geschlechtlichkeit verkörpert sie hingegen die Abweichung, das Nicht-Verständliche. Christian wiederum drängt es nach der unverstandenen, der abweichenden Kunst, während sich sein Begehren nach Naomi als romantische, unerfüllte Liebe zeigt und mithin als „normal“ gilt. Die Aufteilung dieser Eigenschaften auf zwei einzelne Figuren verhindert auf Ebene der Romanhandlung sowohl das Zustandekommen von Kunst als auch die Erfüllung sexuellen Begehrens. Allerdings ist es diese Lücke, dieser Riss, der zwischen den Figuren, zwischen beiden Hälften einer einzigen Künstlerfigur klafft, aus dem heraus schließlich mit dem Roman selbst ein eigenständiges Kunstwerk entsteht, in dem von sexuellem Begehren erzählt wird. Während der Roman von einem gescheiterten Künstler und einem gescheiterten Begehren erzählt, entsteht er - aus der Kluft zwischen beiden Figuren heraus. Was Naomi und Christian nicht glückt, gelingt dem Roman, der von ihnen erzählt. In jeder der zwei Figuren schillert Ambivalenz und macht so den bleibenden Zwischenraum, die ungewisse Lücke zwischen ihnen sichtbar und bildet zugleich den Ursprung und den Kern des Romans selbst. Der Roman ist dabei keine romantische Erzählung davon, dass zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, zusammengehören, um einander zu komplettieren und ein Ganzes bilden. Es geht vielmehr um die Möglichkeit zur Uneindeutigkeit, 41 um die sich mehrfach kreuzenden Überschneidungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Sie weisen auf das Vorhandensein von Ambivalenz, von Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit hin - ein Schweben zwischen den Normen von eindeutiger Männlichkeit einerseits und eindeutiger Weiblichkeit andererseits. 42 Von diesem Dazwischen, diesem dritten Raum 43 jenseits der binären Geschlechterordnung erzählt der Roman Kun en Spillemand mit seinen beiden, gleichberechtigten Hauptfiguren, einem weiblich erscheinenden Mann und einer männlich 207 7.8 Naomi und Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) erscheinenden Frau, mit einem romantisch liebenden Musiker und einer queer begehrenden Jüdin. Das künstlerische Begehren erzählt der Roman anhand eines Musikers, nicht eines Dichters. Dabei lässt Andersen seinen Erzähler ausdrücklich eine ideelle Nähe zwischen Musik und Dichtung hervorheben, wie das obige Zitat verdeutlicht. Es mag einfach sein, in dem unglücklichen Musiker den unglücklichen Autor zu erkennen und die Wahl der Kunstgattung als offensichtlichen Versuch der Verschleierung autobiografischer Details zu verstehen. Doch scheint die Musik als Kunstform für das Erzählen von queerem Begehren einen besonders geeigneten Raum zu eröffnen. Clemens Räthel beschreibt in seiner Analyse von Andersens letztem Roman Lykke-Peer einen ähnlichen Raum, der durch ein gemeinsames Musikerlebnis zwischen dem Protagonisten Peer und seinem jüdischen Gesangslehrer entsteht, und der von einer Spannung erfüllt ist, die Räthel als queer tremor bezeichnet: „Beethoven’s symphony qualifies as more than ,simply‘ music; it initiates a process of difference, it facilitates melodious (dis-)harmonies and thus makes room for multiple perspectives and ambiguous encounters“ (Räthel 2020a: 152). Der Roman erzeuge in der Schilderung des gemeinsamen musikalischen Erlebens „a ,queer tremor‘ - a noisy-melodious, performative (dis-)placement, a non-verbal transformation that shakes Peer, his environment, the audience, and surely the reader“ (Räthel 2020a: 153). Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen der deutschen Publizistin Carolin Emcke, die in ihrem autobiografischen Langessay Wie wir begehren betont: Es war Musik, die mir den Weg zu meinem Begehren gewiesen hat. Nicht Literatur. Nicht Film. Sondern Musik, genauer gesagt: die Vielschichtigkeit der Erfahrung von Musik, die damals, auf dem Gymnasium, die Spuren gelegt hat für jene Lust, die ich viele Jahre später erst erschließen sollte. In einer Zeit, in der von Homosexualität, von Bisexualität, von anderen Arten des Begehrens nicht gesprochen wurde, war es die Musik, deren Sprache mir all das eröffnete, was ich später erotisch erleben sollte. (Emcke 2012: 48) Emcke schildert eine Art der strukturellen Sprachlosigkeit, vor der in ähnlicher Weise auch die Lebenswege der Figuren Naomi und Christian entfaltet werden. Musik bietet dabei einen Raum, die dem Unaussprechlichen einen Ausdruck gibt, wenngleich das sexuelle Begehren in Kun en Spillemand ebenso unerfüllt bleibt, wie das musikalische. Doch den Roman durchzieht die Musik, mehr noch: die Sehnsucht nach Anerkennung für Christians Art der Musik, und wenngleich diese Anerkennung ausbleibt, gelingt es dem Roman doch, davon erzählen. 7.8.2 Bändigung Im Roman Kun en Spillemand, das hat die Untersuchung bis hierher gezeigt, ist das abwei‐ chende Begehren, sei es in Form von Queerness oder in Form von Gewalt und Leiden, an dämonische Triebhaftigkeit gebunden, die durch Naomi und durch die mit ihr verbundenen männlichen Figuren, dem Paten und Ladislaus, verkörpert werden. Eine weitere Figur jedoch scheint diese Konstellation und die scheinbar klare Verteilung zwischen Naomi und Christian ins Ungleichgewicht zu bringen: Luzie, eine andere Jugendfreundin von 208 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Christian. Über weite Strecken des Romans tritt sie als brave und fromme Freundin von Christian auf, die dessen künstlerischen Ambitionen eher gleichmütig gegenübersteht, dabei aber stets hilfsbereit, gut und darüber hinaus sehr hübsch ist. Damit wirkt sie wie das langweilige, berechenbare Gegenbild zur wilden, unberechenbaren Naomi. Doch auch Luzie ist eine außerordentlich ambivalente Figur, deren Name sowohl Assoziation zum gefallenen Luzifer weckt als auch zur Heiligen Lucia. Auch sie ist eine Figur, mit der die Themen Krankheit und Dämonie verbunden sind. Christian begegnet Luzie erstmals als „den vanvittige“, „sindssvage Pige“ [„wahnsinnige(m)“, „geistesschwache(m) Mädchen]“ (Andersen 1988: 55; Andersen 2005: 69) an der Heilquelle, an der auch er von den nervösen Folgen seines Erlebnisses im Glockenturm geheilt werden soll. In einer traumhaften Sequenz vermischen sich vor Christians innerem Auge Naomi und Luzie zu einer einzigen, verwirrenden Figur. Die Erinnerungen an Naomi, an den Paradiesgarten des alten Juden und an das Feuer verschwimmen mit Christians frischen Eindrücken von der Heilquelle und dem halluzinierenden Mädchen, das „som den hvide, skinnende Elverpige, med nøgent Bryst og nøgne Skuldre“ [„wie eine weiße glänzende Elfe, mit nackter Brust und nackten Schultern“] auf seinen Füßen hockt, während „det store Haar omflagrede hende“ [„das lange Haar (sie) umwehte“] und sie von einem „phosphoriske Skjær“ [„Phosphor-Schein“] umgeben ist (Andersen 1988: 55; Andersen 2005: 69). Somit sind beide Figuren, Naomi und Luzie, von Anfang an miteinander assoziiert, ohne sich begegnet zu sein. Christian trifft Luzie, die in jener Nacht an der Heilquelle tatsächlich genesen ist, just an dem Morgen wieder, als er gerade unter seinem tot im Baum hängenden Paten, dem „Skrækkebilledet“ [„Schreckgebilde“], erwacht und voll „Rædsel og Skræk […] i vild Flugt“ [„Schauder und Schreck (…) in wilder Flucht“] davongelaufen war (Andersen 1988: 83; Andersen 2005: 104). In dieser Situation eröffnet Luzie ihm die Möglichkeit, als Schiffsjunge an Bord des Schiffes ihres Onkels anzuheuern und so seiner ausweglos erscheinenden familiären Situation zu entkommen. Die freundschaftliche Verbindung zwischen Luzie und Christian scheint stabil, sie erwägen zu einem späteren Zeitpunkt gar zu heiraten. Als der Zufall alle drei Figuren als Jugendliche in Kopenhagen zusammenbringt und Christian dort die Gelegenheit hat, beide Mädchen im Schlaf nebeneinander zu betrachten, scheinen die Wesenszüge Beider gänzlich vertauscht zu sein. Der Schlaf als Ort des Unbewussten lässt das unausgesprochene Dämonische in Luzie sichtbar werden. Den stille, milde Pige var sovende et Billede paa Lidenskab, medens den vilde Naomi syntes en stille, yndig Skabning, hos hvem Alt aandede Fred og Hvile. Christian betragtede dem begge. De urolige Drømme, som med galvanisk Kraft virkede paa Luzie, tilbagekaldte hos ham Erindringen om hiin Nat ved Kilden, og det forekom ham, som om hun i sin Søvn vuggedes tilbage i hiin Sjæletilstand. Det var ham ængsteligt at see. Uvilkaarligt stillede han sig tæt ved Naomi, stirrede paa hende, til hans Blod blev Ild; han følte en Trang, et vildt Instict til at trykke sine Læber til hendes. I Beskuelsen inddrak han Kjærlighedens stærke Gift. Hun laae ubevægelig; det deilige Medusahoved forstenede ikke, men smeltede hans Bryst, medens Luzie kun indjog Skræk og Angst. (Andersen 1988: 187-188) Das stille, ruhige Mädchen war schlafend ein Bild der Leidenschaft, während die wilde Naomi ein stilles liebliches Geschöpf zu sein schien, bei dem alles Frieden und Ruhe atmete. Christian betrachtete sie beide. Die unruhigen Träume, die mit galvanischer Kraft auf Luzie wirkten, riefen 209 7.8 Naomi und Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) bei ihm die Erinnerung an jene Nach bei der Quelle wach, und es kam ihm vor, als ob sie in ihrem Schlaf in jenen Seelenzustand zurückgewiegt würde. Es war ihm unheimlich, dies mit anzusehen. Unwillkürlich stellte er sich dicht neben Naomi und blickte sie an, bis sein Blut zu Feuer wurde; er fühlte in sich einen Drang, einen wilden Instinkt, seine Lippen auf ihre zu pressen. Als er sie so betrachtete, sog er das starke Gift der Liebe ein. Sie lag unbeweglich da; das schöne Medusenhaupt versteinerte ihn nicht, sondern schmolz seine Brust, während Luzie ihm nur Schrecken und Angst einflößte. (Andersen 2005: 233) Das Dämonische in Luzie wird sichtbar, während das Dämonische in Naomi zur Ruhe kommt. Es scheint, als wäre es von Naomi auf Luzie übergegangen, als wäre Luzie die Platzhalterin für Naomis dämonische Eigenschaften. Und erst in diesem Moment ist Chris‐ tian in der Lage, ein eigenes, sexuelles Begehren zu entwickeln, das sich auf Naomi richtet. Die Wörter „Drang“, „wild“ und „Instinkt“ sowie der Wunsch, Naomi nicht nur zu küssen, sondern seine Lippen auf ihre zu „pressen“ verdeutlichen die Triebhaftigkeit, die Christian in diesem Augenblick - und nur hier! - überkommt. Für den kurzen Zeitraum einer Nacht scheint die bekannte, erwünschte und als normal verstandene Ordnung zwischen begehrendem, männlichem Subjekt und begehrtem, weiblichem Objekt hergestellt zu sein. Im Verhältnis zwischen Naomi und Christian bedarf es dazu jedoch einer dritten Figur, die das Dämonische, das Naomi in sich trägt, für die Zeit des Schlafs an sich bindet und es Christian so ermöglich, ein wildes, instinktives Begehren für Naomi zu entwickeln. Luzies Funktion im Figurengefüge lässt sich als Katalysator des Dämonischen beschreiben. Als einzig Wachender neben den beiden schlafenden Mädchen befindet sich Christian dieses eine Mal gegenüber Naomi in einer aktiven Position. In dieser Situation, in der Naomi und Luzie als einander überkreuzende Frauenfiguren nebeneinander schlafen, stellt sich zum ersten Mal eine gesellschaftliche akzeptierte und erwünschte Ordnung zwischen Christian und Naomi ein, die mit dem nächsten Tag sogleich wieder zerfallen ist. Naomi reist ohne Abschied ab. Als Mann verkleidet nimmt sie nun auch äußerlich männliche Züge an und tritt unter Christians Namen die Reise durch Europa an, die er hätte tun sollen. Während dessen künstlerischer Weg bis zu diesem Zeitpunkt noch offen war und er in einem gewissen Rahmen gefördert wurde und erste Erfolge erlangen konnte, geht er nun unaufhaltsam den Weg des Scheiterns. In Kopenhagen wird er zum Bettler und kehrt schließlich in seinen Heimatort zurück. Dort erarbeitet er sich als Gelegenheitsgeiger im Lauf der folgenden Jahre zwar ein solides kleines Vermögen, doch ist sein Dasein durch den Mangel gekennzeichnet, der mit Naomis Verschwinden eingetreten ist. Sein Geld spart er für Naomi, in der Hoffnung, dass sie wiederkehrt und er dann als männlicher Versorger ihre Zuneigung gewinnen kann: „[D]e Andre ville ikke kjende hende, men jeg skal være hende en Broder! hun skal ikke lide mere! “ [„(D)ie anderen werden sie dann nicht kennen wollen, aber ich will ihr ein Bruder sein; sie soll nicht mehr leiden! “] (Andersen 1988: 271; Andersen 2005: 336). Das kurze Aufflackern eines sinnlichen Begehrens nach Naomi, das er beim Anblick der schlafenden Mädchen erlebt hat, ist der sehnsuchtsvollen Hoffnung auf ein geschwisterliches Zusammenleben mit ihr gewichen. Die Triebhaftigkeit war von vornherein mit Naomi verbunden, aber indem diese endgültig aus Christians Lebenswelt verschwunden ist, ist auch der zur Kunst notwendige Trieb verschwunden. Als Naomi viele Jahre später für einen Besuch in ihrer alten Heimat wiederkehrt, ist sie reich und adelig verheiratet - und Christian ist tot. 210 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 7.8.3 Herstellung der Ordnung Am Ende des Romans, Naomi ist mit einem Marquis verheiratet und lebt in Paris, bereitet sie sich auf einen großen Ball vor. Sie ist nach der aktuellen Mode als Orientalin gekleidet, mit Turban und exotischem Federschmuck (vgl. Andersen 1988: 264; Andersen 2005: 327), ähnlich wie Veronica in Guldmageren und Rebecca in Ivanhoe beschrieben sind (vgl. Kapitel 5.6.2). Sie (ver)kleidet sich als diejenige, als die sie in den Roman eingeführt wurde, als Jüdin. Die Maske zeigt, wer sie einmal war, und ist doch nur noch ein Spiel, eine Verkleidung, die sich ablegen lässt, und der man in Paris ohnehin nicht glaubt. Naomi gilt in Paris als Dänin, nicht als Jüdin (vgl. Andersen 1988: 251; Andersen 2005: 310). In der Verkleidung als Orientalin beziehungsweise Jüdin wird sichtbar, was sich schon nach der Begegnung mit Joel entschieden hat: Sie hat sich entschlossen, ihre religiöse Ambivalenz und die Ambivalenz ihrer jüdischen Herkunft abzulegen. Sie kann sich nur deshalb als Orientalin kleiden, weil sie sicher sein kann, nicht als Jüdin gelesen zu werden. Für die Leserin allerdings wird gerade in der Verkleidung ihr Jüdischsein noch einmal sichtbar. Die Verkleidung hebt außerdem hervor, dass Naomi auch ihre geschlechtliche Ambi‐ valenz abgelegt hat. Die einstige Knabenhaftigkeit ihres Körpers ist einer fraulichen Üppigkeit gewichen (vgl. Andersen 1988: 251; Andersen 2005: 311), und auch ihr Trotz und ihre Eigenständigkeit wurden gebändigt. Sie muss schließlich sogar die gewöhnlichen Demütigungen einer verheirateten Frau akzeptieren: nämlich dass ihr Mann sie mit anderen Frauen betrügt (vgl. Andersen 1988: 265; Andersen 2005: 329). Sein Druckmittel, das sie zum stillen Erdulden ihrer Situation zwingt, ist die Kenntnis um ihre Vergangenheit als Geliebte des Ladislaus, als Frau in Männerverkleidung, als illegal umherreisendes Mitglied einer Kunstreitergesellschaft - ein Skandalon, der bei Bekanntwerden Naomis Leben ruinieren würde. Sein Stillschweigen ist an ihren weiblichen Gehorsam gebunden. Somit gibt Naomi gezwungenermaßen nach dem Jüdischsein einen weiteren Teil ihrer Vergangenheit auf: ihre geschlechtliche Ambivalenz und ihr eigenes Begehren. Diese Entscheidung wird in ähnlicher Weise besiegelt wie einst die endgültige Abkehr vom Judentum. Der Vergleich zweier Textpassagen verdeutlicht dies: An einem Frühlingstag, gut 14 Jahre nach ihrer Abreise aus Kopenhagen, kehrt Naomi ge‐ meinsam mit ihrem Ehemann nach Fünen zurück, um ihm zu zeigen, wo sie aufgewachsen ist. Christian, der im Herbst zuvor erfahren hat, dass Naomi wiederkommen wird und dass sie wohlhaben und adelig verheiratet ist, verkraftet diese Nachricht nicht und stirbt kurz vor ihrer Ankunft. Am Tag seiner Beerdigung erreicht Naomi den Ort ihrer und Christians Kindheit, ihre Kutsche passiert den bescheidenen Trauerzug. Bønderne gik ned i Grøften med Liigkisten, for at det fornemme Herskab kunde komme frem, de blottede deres Hoveder, og den naadige Frue, Naomi, med det stolte Blik, det indtagende Smiil, stak Hovedet ud og hilsede. Det var en fattig Mand, de begravede. Kun en Spillemand! (Andersen 1988: 275) Die Bauern stiegen mit dem Sarg in den Straßengraben, um die vornehme Herrschaft vorbeizu‐ lassen; sie zogen den Hut, und die gnädige Frau, Naomi, grüßte aus dem Fenster, mit ihrem stolzen Blick, ihrem einnehmenden Lächeln. Es war ein armer Mann, den sie begruben. Nur ein Spielmann! (Andersen 2005: 342) 211 7.8 Naomi und Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 44 Die korrekte Übersetzung an dieser Stelle müsste heißen: „denn sie wussten, da lag ein Jude.“ Die Parallele, die sich in der deutschen Übersetzung dieser Ausgabe zwischen den beiden Szenen ergibt („nur ein Jude“ und „nur ein Spielmann“), besteht im dänischen Originaltext nicht. Der Roman endet mit diesen Worten und verweist zugleich zurück auf eine viel frühere, ganz ähnliche Textstelle. Hier wird zunächst die Grabstelle des armen Juden Joel geschildert, kurz darauf fährt die Kutsche mit der frisch konfirmierten Naomi über das Grab hinweg. Den ærlige Joel, fik selv en [Grav; KB] udenfor Kirkegaardens Steengjærde, hvor den fattige Huusmandskones Ko græssede ved Stien. I fire Dage saae man endnu Spor af det hvide Sand, hun havde strøet paa Graven, men siden kastede Ungdommen, i hvem endnu det onde Dyr stikker, Stene paa den, thi de vidste, at der laa en Jøde. (Andersen 1988: 172) Der rechtschaffene Joel […] bekam selbst eins [ein Grab; KB] draußen vor der Steinmauer des Friedhofs, wo die Kuh der amen Häuslerfrau am Weg graste. Noch vier Tage lang sah man die Spuren des weißen Sandes, den sie auf das Grab gestreut hatte, danach aber warfen die Jugendlichen, in denen noch das Böse steckt, Steine darauf, denn sie wussten, da lag ja nur [sic! ] 44 ein Jude. (Andersen 2005: 213) Wenige Seiten später wird Naomi konfirmiert. An die Schilderung ihrer Konfirmation schließt unmittelbar der nächste Absatz an, der nur aus einem Satz besteht: „Karreten rullede fra Kirken; Hjulsporet gik over Joels Grav“ [„Die Kutsche rollte von der Kirche fort; die Radspur führte über Joels Grab“] (Andersen 1988: 175; Andersen 2005: 217). Der einzelne Satz als eigener Absatz hebt das achtlose Überrollen des Grabes als bedeutsam hervor. So ist die Radspur wie ein Siegel, das ein für alle Mal ihre Entscheidung für ihre Abkehr vom Judentum bekräftigt, wie ein Schlussstrich unter einem unliebsamen Teil ihrer Vergangenheit. Zudem führt das Schriftbild des isoliert stehenden Absatzes dem Lesenden visuell die Einsamkeit und Ausgrenzung vor Augen, der Joel auch im Tod noch ausgesetzt ist. Anders als bei Joels Grab rollt Naomis Kutsche nicht tatsächlich über Christians Grab hinweg - denn das wird auf dem Friedhof sein -, aber sie drängt die einfachen Bauern mit dem Leichnam des armen Christian in den Straßengraben. Er befindet sich ebenfalls außerhalb der Friedhofsmauern und gewissermaßen unter Straßenniveau. Diese Kutsche rollt also zumindest symbolisch über sein Grab hinweg. Der Unterschied zwischen der stolz blickenden und gewiss - so darf das innere Bild ergänzt werden - aufrecht sitzenden Naomi in der Kutsche und dem toten Spielmann in seinem einfachen Sarg im Straßengraben - in der Gosse! - könnte größer nicht sein, wie auch der Unterscheid zwischen der aufblühenden Konfirmandin und dem kümmerlich bestatteten Juden. Hatte Naomi mit dem Überfahren seines Grabes ihr Jüdischsein und damit ihre religiöse Ambivalenz abgelegt und diesen Schritt mit den Rädern der Kutsche besiegelt, so hat Naomi nun ihre geschlechtliche Am‐ bivalenz abgelegt und somit den letzten Teil ihrer uneindeutigen Vergangenheit hinter sich gelassen. Auch dies besiegelt sie mit den Rädern einer Kutsche. Durch die Ähnlichkeit der beiden Szenen geschieht noch etwas Weiteres: Christian wird quasi „jüdisch gemacht“ ein literarischer Kunstgriff, der an anderer Stelle, anhand der Figurenanalysen von Christians Paten, von Manon und Veronica (Guldmageren) und dem Vater von Johan (Jøderne paa Hald) ausführlich dargestellt wurde (vgl. Kapitel 3.4.3, 3.9, 5.6 und 7.6.3). 45 Dies erscheint 212 7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 45 Darüber hinaus teilt Christian als effeminierter Mann das literarische Schicksal etlicher jüdischer Männerfiguren (vgl. Gender-Killer 2005). plausibel, wenn man berücksichtigt, dass Naomi zwar vor sich selbst und den anderen Figuren ihr Jüdischsein abgelegt hat, dass sie jedoch gegenüber den Leserinnen stets eine jüdische Figur blieb. Am Ende des Romans ist nun also durch die Ähnlichkeit der beiden Kutschen-Grab-Szenen und die damit einhergehende „Judaisierung“ des toten Christian auch gegenüber den Lesenden Naomis jüdische Ambivalenz beseitigt. Mit Christians Tod und dem Verschwinden seiner eigenen Ambivalenz aus dem Roman wird Naomi endgültig zur nicht-jüdischen Frau vereindeutigt. Ihr stolzer Blick und ihr einnehmendes Lächeln lassen sich in dieser Lesart auch als Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Normen verstehen. Die produktive Kluft zwischen den beiden Figuren ist geschlossen. Der Roman ist zu Ende, aber er füllt - je nach Ausgabe - nun rund 300 Seiten. Die Romanfigur des Künstlers ist tot, aber ein Kunstwerk ist entstanden. 213 7.8 Naomi und Christian DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 Niels Kofoed charakterisiert At være eller ikke være einerseits als „filosofisk debatroman [philosophi‐ schen Debattenroman]“, der andererseits im Kleinen „en hverdag fuld af sociale typer med baggrund i hovedstaden og landsbymiljøet [einen Alltag voller gesellschaftlicher Typen vor dem Hintergrund der Hauptstadt und des Milieus der ländlichen Gemeinden]“ reflektiere (Kofoed 2004: 85). 8 Hans Christian Andersen: At være eller ikke være (1857) Rund 20 Jahre nach Erscheinen von Kun en Spillemand schrieb Andersen erneut einen Roman mit einer jüdischen Frauenfigur, At være eller ikke være [Sein oder Nichtsein; 1857]. Die Themen dieses Romans unterscheiden sich von denen des früheren. Hier geht es nicht vorwiegend um Sexualität und Kunst, sondern um Religion und den Tod. Die Hauptfigur ist kein Künstler, sondern Mediziner und Naturwissenschaftler. Die Leserinnen und Leser begleiten den jungen Niels auf seiner Suche nach einem Christentum, in dem Wissenschaft und Glauben nebeneinander bestehen, ja, sich idealerweise sogar befruchten können. 1 Die Freundschaft zur Jüdin Esther ist ausschlaggebend für das Gelingen dieser Fusion. Als Waisenkind aus Kopenhagen gelangt Niels durch einen glücklichen Zufall als Pflegesohn in ein Pastorenhaus in Jütland, wo er in einem kindlichen Glauben bestärkt wird und von wo aus er als junger Mann zum Theologiestudium nach Kopenhagen zurück‐ kehrt. In der Hauptstadt und durch die Begegnung mit unterschiedlichen Menschen und Ansichten entwickelt er ein Interesse für die Naturwissenschaften und stellt zunehmend die Glaubenssätze seiner Kindheit infrage. Er bricht sein Theologiestudium ab, studiert stattdessen Medizin, überwirft sich ob dieser Entscheidung mit seiner Pflegefamilie und wird schließlich Arzt. Der Verlust seines kindlichen Glaubens an die unsterbliche Seele jedoch plagt ihn, da ihm die Naturwissenschaft keine Antworten auf die letzten Fragen zu geben vermag. Es ist schließlich die Jüdin Esther, durch die in Niels die unverrückbare Gewissheit über ein Leben nach dem Tod verankert wird. Allerdings geschieht dies zum Preis ihres Todes. Die Figur der Esther ist in ihrer Konzeption der frommen Sara in Andersens Märchen Jødepigen ähnlich - beide Texte entstanden zur gleichen Zeit - und stellt einen glücklichen und geglückten, man könnte aber auch sagen: einen biederen und literarisch gewöhnlicheren Gegenentwurf zur wilden und freigeistigen Naomi dar. Der Frauentypus erscheint nach der Analyse von Ingemanns und Blichers Novellen Den gamle Rabbin und Jøderne paa Hald und auch nach Hauchs Roman Guldmageren allzu bekannt: die schöne Jüdin, schöne Seele und exotische Orientalin in einem, die Seelenchristin, die sich in die Lektüre des Neuen Testaments vertieft, eine Taufe anstrebt und sich selbstlos für andere - in der Regel Männer: den Großvater, den Vater, den Geliebten - aufopfert. Auch Esther passt nur zu gut in dieses Schema. Es scheint, als habe Andersen, der 20 Jahre zuvor mit Kun en Spillemand auf höchst unkonventionelle Weise literarische Vorstellungen von Jüdinnen und Juden aufgegriffen und auf neue Weise produktiv gemacht hat, nun in die Mottenkiste literarischer Konventionen gegriffen und mit Esther eine weitaus weniger interessante Figur entworfen. Doch ganz so einfach, wie es scheint, macht Andersen es sich und den Lesern nicht. Auch in At være eller ikke være finden sich Motive, Themen und Topoi, die in Kun en Spillemand prägend sind: Dämonisches und Unheilvolles, verkümmertes künstlerisches Talent und oberflächliche Künstlichkeit, DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 2 Zur Zirkulation von materiellen und immateriellen Gütern in At være eller ikke være vgl. Wenner‐ scheid (2013: 69-87). 3 Zur Funktion der Landschaftsbeschreibungen in At være eller ikke være und anderen Prosawerken Andersens vgl. Behschnitt (2006: 396-423). 4 Die deutschen Übersetzungen der Zitate stammen hier wie im Folgenden aus der von Erik Gloßmann übersetzten Ausgabe des Romans (2003). 5 Als Herr Svane Niels seinen neuen Pflegeeltern anvertraut, die lieber „et forsømt Barn“ [„ein verwahrlostes Kind“] in Pflege genommen hätten, sagt er: „Saa I vil have en slem Dreng […] et noget moralsk fordærvet Barn? Vor Herre under Eder det bedre! […] Der skal nu absolut være Skavank ved, Noget I kunne pille ud! - det er her ogsaa. Han har et Stykke Troldhex i sig, han er en Sprutbakkelse; fut fut! “ [„Sie wollen also einen bösen Buben haben, ein moralisch verdorbenes Kind? Unser Herrgott gönnt es ihnen besser! (…) Wenn nun absolut ein Makel dabei sein muss, damit Sie etwas zum Verbessern haben - nun, den gibt es. Er hat ein Stück von einem Troll in sich, er geht manchmal in die Luft! “] (Andersen 2001: 19; Andersen 2003: 19). In die Luft geht er tatsächlich, als er fälschlicherweise des Diebstahls beschuldigt wird und sich später herausstellt, dass die Katze das vermisste Schmuckstück hat verschwinden lassen: Er schleudert das Tier in blinder Wut gegen den Kachelofen, so dass es schwerverletzt getötet werden muss (vgl. Andersen 2001: 41; Andersen 2003: 47). Eine Analyse dieser Passage bei Wennerscheid (2013: 77-78). die Frage nach schlichtem Zufall und göttlicher Fügung, Fragen nach ökonomischem und symbolischem Besitz 2 und schließlich auch eine Vertauschung von männlich und weiblich konnotierten Eigenschaften. Allerdings sind diese Themen im Gegensatz zu dem 20 Jahre älteren Roman hier in eine klare, in eine eindeutige Ordnung gebracht: eine dämonische Zigeunerin mit ihrem nicht minder dämonischen behinderten Kind, die alle Jahre wieder auf der Suche nach einem verlorenen magischen Amulett durch die jütländische Heide 3 streift; ein neurotischer Flickschneider, „der som en Legetøi for Tilfældigheder piintes og kastedes hen“ [„der wie ein Spielball der Zufälle gepeinigt und hin- und hergeschleudert wurde“]; die „Musikant-Grethe paa Heeden“ [„Musikant-Grethe auf der Heide“] mit ihrer alten Harmonika und „de bortkastede Evner“ [„ihrem ungenutzten Talent“] (Andersen 2001: 188; Andersen 2003: 221). 4 Niels’ große Pflegeschwester Bodil, die sich ihren naiven Gottesglauben bewahrt und jederzeit in geschwisterlicher Fürsorge Partei für Niels ergreift; der kauzige aber sympathische Pate Herr Svane, der als tragisch-komischer Hagestolz - im Gegensatz zu Christians Paten in Kun en Spillemand - eine zuverlässige Konstante in Niels’ Leben darstellt; etliche neue Bekannte in Kopenhagen, die der Erzähler süffisant persifliert, indem er beispielsweise einem offenbar nur mittelmäßig begabten Maler die Bezeichnung „Geniet paa Skulderen af ‚de Ældre‘“ [„das Genie auf den Schultern ‚der Älteren‘“] verleiht und einem wenig tiefsinnigen Philosophen den Spitznamen „Salon-Diogenes“ [„Salon-Dio‐ genes“] gibt (Andersen 2001: 68; Andersen 2003: 80). Die Figuren mit ihren Eigenschaften bilden viel eindeutiger als in Kun en Spillemand einzelne, thematisch begrenzte Einheiten, zwischen denen Niels sich auf seiner Suche bewegt, von denen er selbst wiederum mehr oder weniger kleine Anteile in sich trägt, und an denen er wächst. Darin unterscheidet er sich maßgeblich von Christian, der in seiner Innenwelt wie verschlossen ist, und die er nicht verlassen kann, weswegen er folglich nicht am Austausch mit anderen Figuren wachsen kann. Anders als Christian trägt Niels das Sanfte und das Dämonische, 5 das Liebevolle und das Überhebliche in sich und wird deshalb am Ende seine eigene Position in der Welt finden. 216 8 Hans Christian Andersen: At være eller ikke være (1857) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 6 „Edel sei der Mensch,/ hilfreich und gut! “ - So beginnt Goethes 1783 entstandenes Gedicht Das Göttliche (1789: 215-218). 7 In seinem Nachwort zur deutschen Neuübersetzung von At være eller ikke være macht Erik Gloßmann darauf aufmerksam, dass die Beschreibung von Esthers Schönheit stereotyp und „leidenschaftslos“ sei, ganz im Gegensatz zu Andersens Beschreibung von Julius’ Schönheit, denn „der ist ihm einen Blick mehr wert“ (Gloßmann 2003: 285). 8.1 Jüdische Geschwister: Esther und Julius In dieser klar gegliederten Welt, in der Niels seine eigene Position zu bestimmen versucht, ist es die Jüdin Esther, die es ihm ermöglicht, sich zu einem edlen, hilfreichen und guten Menschen im Goethe’schen Sinne 6 und somit schließlich zu einem glücklichen Menschen zu entwickeln. Darüber hinaus wird an der Jüdin Esther und ihrem Bruder Julius eine Ge‐ schlechterüberkreuzung vorgenommen, die allerdings weitaus weniger spektakulär angelegt ist als in der Figur der Naomi. Auf der einen Seite wird die schöne Esther - „mangt et udødeligt Digt af Persiens og Arabiens Sangere have ikke havt en Skjønheds-Gjenstand som hende“ [„manch ein unsterbliches Gedicht der Sänger Persiens und Arabiens hat keine so große Schönheit besungen wie ihre“] (Andersen 2001: 180; Andersen 2003: 212) - mit männlich konnotierten Eigenschaften wie Bildung, Intellekt und argumentativer Überzeugungskraft versehen: Sie, als die Frau und überdies die deutlich Jüngere, legt Niels und dem Leser „das ‚männliche Wort‘ Goethes“ (Schnurbein 2007: 142) aus, indem sie eine messerscharfe - und als essayistischer Exkurs aus dem Text hervorgehobene - Analyse seines Dramas Faust II vorlegt (vgl. Andersen 2001: 136-139; Andersen 2003: 160-165), einem Werk, das im Ruf steht, von niemandem eigentlich wirklich verstanden werden zu können. Auf der anderen Seite steht Julius, der seiner Schwester äußerlich sehr ähnelt (vgl. Andersen 2001: 67; Andersen 2003: 79) und gleichzeitig auch an Naomi in ihrer Männerverkleidung erinnert: „[H]an var jo selv af Slægten fra Østerland og smuk, dog halv Dreng endnu; men om Mund og Hage viste sig et fiint mørkt Duun; Øienbryn og Haar var kulsort, Huden fiin og rødmende som hos en Pige“ [„Er war ja selbst ein Sohn des Orients und schön, wenn auch noch halb ein Knabe. Aber um Mund und Kinn zeigte sich schon ein feiner dunkler Flaum. Seine Haare und Augenbrauen waren pechschwarz, die Haut fein und gerötet wie bei einem Mädchen“] (Andersen 2001: 72; Andersen 2003: 85). 7 Mit ihm erlebt Niels seine erste Auslandsreise und erhält Einblick in eine Welt der oberflächlichen Vergnügungen. Später zieht Julius in den Krieg um Schleswig-Holstein von 1848, jedoch fällt er nicht heldenhaft „paa Kamppladsen“ [„auf dem Schlachtfeld“], sondern erkrankt und stirbt an Typhus (Andersen 2001: 181; Andersen 2003: 214). Über die Art des Todes wiederum zeigt sich Esther diskret enttäuscht - sie hätte ihren Bruder lieber im Kampf fallen als an einer Infektionskrankheit sterben sehen. Damit ist Julius mit Zuschreibungen von Weiblichkeit, Schwäche und Krankheit versehen, die im Gegensatz zu Esthers männlich konnotierter geistiger Stärke und Identifikation mit dem nationalen Anliegen des Krieges stehen (vgl. Schnurbein 2007: 140-144). 217 8.1 Jüdische Geschwister: Esther und Julius DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 8 Schnurbein weist darauf hin, dass „Krankheit, Leiden und Tod […] also nicht allein weiblichen oder verweiblichten, sondern gerade jüdischen Körpern eingeschrieben [sind], womit Andersen ebenfalls auf ein lange etabliertes Stereotyp der mangelnden physischen Kondition von Juden zurückgreift“ (Schnurbein 2007: 144). 9 In ihrer Aufzählung nennt Esther drei der einflussreichsten Köpfe des Goldenen Zeitalters in Dänemark und entwirft einen Dreiklang aus Bildender Kunst, Naturwissenschaft und Dichtung: den Bildhauer Bertel Thorvalsen (1770-1844), den Physiker, Chemiker und Naturphilosophen Hans Christian Ørsted (1777-1851) und den Dichter Adam Oehlenschläger (1779-1850). 10 Die Referenz auf Aladdin/ Aladin bezieht sich auf Oehlenschlägers berühmtes Drama Aladdin eller Den forunderlige Lampe [Aladdin oder Die Wunderlampe; 1805]. 8.2 Sex und Religion Die Figur Esther nimmt im Romantext und in der Bedeutung für Niels’ Lebensweg einen deutlich größeren Raum ein als ihr Bruder Julius, dem Niels zwar leichte Unterhaltung und prägende Reiseerlebnisse verdankt, mit dem er aber keinen tieferen Gedankenaustausch pflegt. Die schwache und mithin „verweiblichte“ Männerfigur tritt zugunsten der starken, latent „vermännlichten“ Frauenfigur in den Hintergrund. Mit ihr entsteht ein lebhafter geistiger Austausch, und die Anziehung steigt in dem Maße, in dem Esther ihre intellek‐ tuellen Fähigkeiten im Disput mit Niels schärft. Sucht man an irgendeiner Stelle des Romans nach einer Form der sexuellen Spannung, dann findet man sie in ihrem letzten Gespräch, einen Tag vor Esthers plötzlichem Tod - auch sie stirbt an einer Krankheit, der Cholera, die sich 1853 in Kopenhagen epidemisch ausbreitete. 8 Hier erleben beide den gemeinsamen irdischen Höhepunkt ihrer intimen, doch ausschließlich platonischen Verbindung. Die Erzählung ihrer geistig-geistlichen Ekstase gelingt bezeichnenderweise in dem Moment, als der Roman der Dichotomie ‚Glauben vs. Wissen‘ als verbindende Kraft die Kunst zur Seite stellt. Gemeinsam phantasieren Niels und Esther über die zukünftigen Möglichkeiten der Technik, beispielsweise, dass es bald möglich sein werde, Klavierkon‐ zerte mittels der Telegraphie von einem Land ins andere zu übertragen; Esther dankt Gott dafür, „sin Tids Store“ [„die Großen ihrer Zeit“], „mellem os Hverdags-Mennesker de Udkaarne“ [„die Auserkorenen unter den (sic! uns; KB) Alltagsmenschen“], „Thorvaldsen, Ørsted, Oehlenschläger“ [„Thorvaldsen, Ørsted und Oehlenschläger“] (Andersen 2001: 213; Andersen 2003: 253) erlebt haben zu dürfen; 9 und Niels räsoniert, „at Digteren skal staae i Høidepunktet af sin Tidsalders Udvikling, bortkaste det Forældede til Poesiens gamle Rustkammer, og benytte Videnskabens Aander til at opføre sit Aladdins Slot“ [„dass der Dichter auf der Höhe der Entwicklung seines Zeitalter stehen, das Veraltete in die Rüstkammer der Poesie werfen und die Geister der Wissenschaft bewusst einspannen sollte, um sein Schloss des Aladin zu bauen“] (Andersen 2001: 214; Andersen 2003: 253). 10 Mit der Einbeziehung der Künste in den theologisch-naturwissenschaftlichen Konflikt findet die von Niels angestrebte Befruchtung zwischen Religion und Wissenschaft statt, es kommt zu einer regelrechten „Sammensmeltning“ [„Verschmelzung“] (Andersen 2001: 214; Andersen 2003: 253) - ein Begriff, dem eine sexuelle Konnotation innewohnt. Und auch Esthers Ausdruck verändert sich: In ihm vermischen sich nun religiöse und künstlerische Beseeltheit, und erst infolgedessen geht auch in Niels eine entscheidende Veränderung vor: 218 8 Hans Christian Andersen: At være eller ikke være (1857) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Esthers Øine lyste med en Skjønheds-Glands - Billedet af hende i dette Nu var for alle Tider brændt ind i Vennens Sjæl - Vennen sige vi - fra denne Time var han en Anden, Forvandlingen var skeet. […] [H]endes Ord klang som Musik, hendes Tale fik en Betydning, langt anderledes end før. (Andersen 2001: 214) Esthers Augen leuchteten in einem solchen Glanz, dass sich dieses Bild für immer in die Seele des Freundes brannte. Des Freundes, sagen wir - von diesem Moment an war er ein anderer; die Verwandlung war geschehen. […] Ihre Worte klangen wie Musik, ihre Worte bekamen eine ganz andere Bedeutung als früher. (Andersen 2003: 253) Kurz nach diesem geistig-geistlichen Befruchtungsakt stirbt Esther. Ihre Ekstase mündet nicht in la petite mort, den „kleinen Tod“, sondern führt direkt in den großen Tod. Ihr Auftrag im Leben ist erfüllt, sie hat Niels erfolgreich befruchtet - in Niels’ Geist wächst nun neues Leben heran: nämlich der Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und das ewige Leben. Religion und Naturwissenschaft sind über einen ästhetischen Diskurs in Einklang miteinander gebracht worden, so dass endlich eine Vereinigung dieser beiden scheinbar unauflösbaren Gegensätze möglich wurde. Wieder ist es das Sprechen über Kunst - wenn auch nicht vorrangig über Musik -, das eine Art erotisches Flimmern hervorbringt, von dem der Roman ansonsten schweigt. So treffen auch in diesem Roman, wenngleich auf verstecktere Weise als in Kun en Spillemand, Kunst und Sexualität aufeinander. Zwar ist dieses Flimmern kein queer tremor (vgl. Kapitel 7.8.1). Aber auch in der scheinbar konventionellen Figurenkonstellation finden Vertauschungen zwischen traditionellen Rol‐ lenzuschreibungen und Begehrensmustern statt. Ihren spirituellen Höhepunkt findet dieses Spiel mit den Geschlechterkategorien in der Verklärung der sterbenden Esther. Die mittlerweile getaufte Jüdin wird nämlich zu einer christusähnlichen und somit per se männlich konnotierten Erlöserfigur stilisiert. Statt eines profanen körperlichen Akts findet eine spirituelle Erweckung oder vielmehr: Wiedererweckung des christlichen Mannes durch die jüdische Frau statt. Der Romantext benennt dies ganz konkret: „[H]ans evige Lykke, den nødvendige Betingelse for den Overgangs-Udvikling, der maatte skee i hans Indre, fandtes maaskee alene for ham i Esthers tidelige Død“ [„Sein ewiges Glück, die notwendige Bedingung für die Übergangsentwick‐ lung, die in seinem Inneren geschehen musste, war für ihn vielleicht allein in Esthers frühem Tod zu finden“] (Andersen 2001: 219; Andersen 2003: 260). Ähnlich ambivalent wie im Christentum der Tod Jesu sowohl beklagt als auch gefeiert wird, ist Niels über Esthers Tod zwar von Schmerz, mehr aber noch von Freude erfüllt: Det var, som fornam han Esther om sig, som om hans Tanker vare hendes Tale; Samlivet mellem dem forekom ham saa levende, saa indvirkende som nogensinde her; […]. (Andersen 2001: 221) Es war, als vernähme er Esther um sich, als wären seine Gedanken ihre Rede. Das Zusammenleben zwischen ihnen kam ihm so lebendig, so inspirierend vor wie nichts zuvor. (Andersen 2003: 262) Und: Esthers Bortgang var Vaarens Sol, der brød til Vækkelse og Liv. „Esther! “ sukkede han. Med hende var den bedste Deel af denne Verden gaaet bort fra ham; […] Under denne hans uendelige Smerte og 219 8.2 Sex und Religion DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 11 Wie sie z. B. in der Braut- und Hochzeitsmystik sowie der mittelalterlichen Frauenmystik praktiziert wurde (vgl. hierzu auch Kapitel 3.5, Fußnote 7). 12 Vgl. hierzu nicht nur sämtliche ‚schöne Jüdinnen‘ in dieser Untersuchung, sondern auch Krobb (1993: 49-54). Længsel kom Barnesindet, Hænderne knugede sig om hinanden, og Bønnen var paa hans Læber: „Gud, min Gud, giv mig Tro! “ Der var den dybt knugede, prøvede Sjæls Inderlighed i Bønnen, Taarer strømmede over hans Kinder - det blev lyst i hans Hjerte. […] Udødeligheds-Tanke var blevet Tro! (Andersen 2001: 222) Esthers Hinscheiden war die Frühlingssonne, die Erweckung und Leben brachte. „Esther! “, seufzte er. Mit ihr war der beste Teil dieser Welt von ihm gegangen. […] Bei diesem unendlichen Schmerz, dieser grenzenlosen Sehnsucht kehrte das kindliche Gemüt zurück; die Hände falteten sich, und das Gebet war auf seinen Lippen: „Gott, mein Gott, gib mir den Glauben! “ In dem Gebet war die Innerlichkeit der tief bedrückten und geprüften Seele. Tränen strömten über seine Wangen - und es wurde hell in seinem Herzen. […] Der Unsterblichkeitsgedanke war zum Glauben geworden. (Andersen 2003: 263-264) Der Eindruck der Lebendigkeit der Verstorbenen, der Vergleich von Esthers Tod mit der Sonne, das innige Gebet und schließlich die erlösende Gewissheit legen Vergleiche mit dem Kreuzestod Jesu und dessen Bedeutung für die Christen nahe. Gleichzeitig steht Esthers Tod in der geschlechterkonformen literarischen Tradition, die jüdischen Frauenfiguren eine außerordentliche Opferbereitschaft gegenüber einer geliebten (meist männlichen) Person zuschreibt. Wenngleich Esther ihr Leben zwar nicht aus freiem Willen gibt, tut sie es zumindest ohne zu klagen. Ihr Tod hat einen höheren Sinn, von dem ein geliebter Mann profitiert. Dabei ist Dag Heede hier beizupflichten, wenn er anmerkt: „Som så ofte hos H.C. Andersen er kvindens død ikke egentlig sørgelig. Det kan næsten synes som om, Niels er godt tilfreds med at ‚realisere‘ sin kærlighed til hende uden krop [Wie so oft bei H.C. Andersen ist der Tod der Frau nicht traurig im eigentlichen Sinne. Es scheint fast so, als sei Niels recht zufrieden damit, seine Liebe zu ihr ohne den Körper zu ‚realisieren‘]“ (Heede 2005: 58). Die Liebe Niels’ zur toten Esther trägt vielmehr Züge mystisch-erotischer Christusverehrung. 11 Anders als Ingemanns christlicher Künstler Veit, der seiner ‚schönen Jüdin‘ als eine Art Christusfigur mit einem leuchtenden Kreuz entgegentritt, dabei aber selbst nicht tot ist, sondern in der Blüte seines Lebens steht (vgl. Kapitel 2.4.3), ist bei Andersen die nunmehr tote Jüdin Esther diese Lichtgestalt. Sie ist Niels’ „Brud for Gud! Med den reneste Kjærligheds-Tanke fulgte han hendes Skikkelse, hun der ligesom til Lys og Ledelse for ham var ført ind paa hans Livsvei i denne Verden“ [„Braut vor Gott! Mit den reinsten Liebesgedanken folgte er ihrer Gestalt. War sie ihm nicht wie ein Licht, wie eine Orientierungsfigur auf seinem Lebensweg in dieser Welt erschienen? “] (Andersen 2001: 228; Andersen 2003: 271). Als getaufte Jüdin beglaubigt sie das Christentum als Religion und bleibt literarisch doch weiterhin ausschließlich als Jüdin lesbar. In dieser (literarisch überaus beliebten) 12 Doppelrolle als Jüdin und Christin spiegelt sich die Ambivalenz wider, mit dem sich der christliche Glauben stets auseinanderzusetzen hat: Christus, der Gott der Christen, ist Jude. 220 8 Hans Christian Andersen: At være eller ikke være (1857) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 13 Am deutlichsten geschieht dies in Blichers Jøderne paa Hald (vgl. Kapitel 3.6). 14 Elisabeth Oxfeldt schreibt über die Bedeutung des Tivoli in Kopenhagen: „The Oriental theme park turned into a significant institution defining Danishness, not by defining Danes in terms of their history (Grundtvig’s and Blicher’s projects) but by defining themselves from a cosmopolitan point of view where they could see themselves in terms of their relation to the rest of the world, specifically the Orient“ (Oxfeldt 2005: 67). 8.3 Alles auf Anfang? Im Vergleich mit Kun en Spillemand erscheint At være eller ikke være hinsichtlich der Darstellung jüdischer Figuren konventioneller und vorhersagbarer. Das Jüdischsein der Figur Esther hat eine klar erkennbare religiös motivierte Funktion im Text und wird nicht zwischenzeitlich unsichtbar wie das der Figur Naomi. Als konversionswillige und später getaufte Jüdin stellt Esther selbst das stärkste Argument für einen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele dar. Denn ihre Konversion erfordert nicht nur gegenüber Niels, sondern auch vor der Leserin eine Erklärung. Dabei ist es nicht der Erzähler, sondern Esther selbst, die in ihrer Figurenrede das Bekenntnis zum Christentum formuliert und dieses über das Judentum erhebt. Das Argument der jüdischen Figur gewinnt damit an Durchschlagskraft: „‚Det gamle Testament,‘ sagde Esther, ‚er en Samling af Folkets Bøker, det nye Testament, veed De som Christen, er en Aabenbarelse af Gud, og den lover det evige Liv‘“ [„‚Das Alte Testament‘, sagte Esther, ‚ist eine Sammlung von Volksbüchern. Das Neue Testament, das wissen Sie als Christ, ist eine Offenbarung Gottes und verheißt uns das ewige Leben‘“] (Andersen 2001: 184; Andersen 2003: 217). Andersen bedient sich hierbei eines Verfahrens, das aus den früheren Texten seiner Kolleg*innen bekannt ist und in fast allen hier vorgelegten Textanalysen - mit Ausnahme von Andersens eigenen frühen Texten Fodreise und Kun en Spillemand - deutlich wurde: Die jüdischen Figuren führen einen religiösen Diskurs in den Text ein und avancieren oftmals gar zu den überzeugtesten Verteidiger*innen der christlichen Glaubenslehre, die sie gegenüber einer anderen, zweifelnden Figur in ihrer Figurenrede ausführlich erklären. 13 Als ‚schöne Jüdin‘ ist Esther eine für den Autor bequeme Figur: Der Topos ist litera‐ risch reizvoll und darf als vertraut vorausgesetzt werden, er bedarf keiner individuellen Ausgestaltung. In ihm schwingt aber zugleich auch das Fremde, Orientalische mit, das wiederum seit Adam Ohlenschlägers Aladdin eller den forunderlige Lampe [Aladdin oder Die Wunderlampe; 1805] (1857) und der Eröffnung des Vergnügungsparks Tivoli 1843 zugleich fester Teil des dänischen Selbstverständnisses ist. 14 Die Möglichkeit des Spiels mit Geschlechtszuschreibungen ist Teil dieses Topos, der es so erlaubt, Esther in Teilen mit „männlichen“ Eigenschaften zu belegen, ohne ihre Weiblichkeit und ihre Rolle als Veredlerin des Mannes in Frage zu stellen. Weniger offensichtlich ist die Funktion von Esthers Bruder Julius im Roman. Doch ist es gerade seine Anwesenheit im Text, die eine „ordentliche“, da zwischen den jüdischen Figuren stattfindende, Geschlechterüberkreuzung möglich macht, ohne eine Figur von der verwirrenden Ambivalenz Naomis entstehen zu lassen. Die christliche Figur Niels ist, anders als Christian, von dieser Geschlechterüberkreuzung nicht tangiert. Mit Naomi hatte Andersen 20 Jahre zuvor seine interessanteste jüdische Figur geschaffen. Mit Esther - und mit Sara in seinem 1855 veröffentlichten Märchen Jødepigen - scheint Andersen zu einer 221 8.3 Alles auf Anfang? DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Jüdinnenfigur zurückzukehren, die Ingemann 1827 in seiner Novelle Den gamle Rabbin mit Benjamine in die dänische Literatur eingeführt hat. Einzig das Wundern der Leserin über Julius’ kurzen aber intensiven Auftritt im Roman und die Beschreibung seiner außergewöhnlichen männlichen Schönheit bleiben als kleine Irritation zurück, die an die angenehme Geschlechterverwirrung erinnert, die einst Naomi in ihrer Männerkleidung ausgelöst hatte: „[F]ine og smidige var hans Lemmer, Øiet udtrykkede Kraft og Villie, fine Moustacher krusede sig om de friske Læber; - man kaldte ham Hr. Christian“ [„(S)eine Glieder waren fein und geschmeidig, das Auge drückte Kraft und Willen aus, ein leichter Schnurbart kräuselte sich um die frischen Lippen; - man nannte ihn Herr Christian“] (Andersen 2001: 196; Andersen 2003: 243). 222 8 Hans Christian Andersen: At være eller ikke være (1857) DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 1 David Gantt Gurley stellt die außergewöhnliche Position von Goldschmidts En Jøde heraus, wenn er schreibt: „A Jew is an anomaly in nineteenth-century fiction. It was the first Jewish novel in Scandinavia; it was one of the first Jewish novels in northern Europe not written in Hebrew or Yiddish; and it was the first Jewish bildungsroman“ (Gurley 2016: 67). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen in verschiedenen europäischen Ländern erstmals Werke jüdischer Autor*innen in der jeweiligen Landessprache. Die meisten dieser Romane und Erzählungen sind jedoch in einer idealisiert-sephardischen Vergangenheit angesiedelt. Andere spielen zwar in der Gegenwart, sparen aber die zeitgenössischen Konflikte der Emanzipation aus und beschränken sich auf eine Idealisierung jüdischen Familienlebens. Heinrich Heines Fragment gebliebener Roman Der Rabbi von Bacharach [1840] stellt zwar einen kritischen Kommentar zu seiner Gegenwart dar, die Handlung liegt aber im Spätmittelalter und somit ebenfalls in der Vergangenheit (vgl. Gurley 2016: 11-14, 19). 2 Schnurbein zeigt auf, dass für Goldschmidt wie für dessen Protagonisten Bendixen die Akkulturation in die dänisch-christliche Mehrheitsgesellschaft nur über die Herstellung einer allgemein aner‐ kannten Männlichkeit denkbar ist. Die Konstruktion einer solchen Männlichkeit bedarf allerdings der Vorstellung einer stereotyp weiblichen Frau, deren Funktion es ist, den Mann zu ergänzen und somit in seiner Männlichkeit zu bestätigen (vgl. Schnurbein 2006: 117-128). 9 Schlussbemerkungen 1845 erschien unter dem Pseudonym Adolph Meyer der Roman En Jøde [Ein Jude]. Der Autor hieß in Wirklichkeit Meïr Aron Goldschmidt und war ein junger jüdischer Journalist, gerade 25 Jahre alt. Sein Roman ist furios. Er schildert den Lebensweg des Juden Jakob Bendixen, und dieser Weg ist das Gegenteil dessen, was in den Texten erzählt wird, die ich in dieser Arbeit untersucht habe. Die Komplexität und psychologische Tiefe, mit der Goldschmidt aus der Perspektive eines Juden schreibt, stellt die Erzähltexte der anderen Autor*innen in den Schatten, zumindest in Bezug auf die Darstellung der jüdischen Figuren. Drastisch formuliert lässt sich sagen, dass bei Goldschmidt zum ersten Mal Juden überhaupt als ernstzunehmende Figuren dargestellt werden und nicht als Variation eines literarischen Topos. Beim Lesen des Romans eröffnet sich ein Blick in die Erlebniswelt eines dänischen Juden, und das muss auf das Lesepublikum 1845 großen Eindruck gemacht haben. Denn dies ist nicht nur der erste dänische Roman, sondern der erste europäische Erzähltext überhaupt, der aus einer jüdischen Innenperspektive erzählt ist und in dem zeitgenössisches jüdisches Leben nicht nur phantasiert, sondern realistisch dargestellt wird. 1 Zahlreiche Fußnoten erläutern religiöse Praktiken oder übersetzen hebräische und jiddische Redewendungen und Begriffe (vgl. Brandenburg 2014). Die Handlung des Romans bildet einen eklatanten Gegensatz zu den Geschichten, die von den christlichen Autor*innen über Juden und Jüdinnen erzählt wurden. Nicht nur die Kenntnis von jüdischen Religionspraktiken und Lebensverhältnissen unterscheidet diesen Text von den anderen, es ist auch und vor allem der Weg des Protagonisten. Jakob Bendixen erlebt ein unauflösbares Dilemma zwischen dem Wunsch, in der christlichen Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu sein, und dem Gefühl der Entwurzelung, das sich mit zunehmender Entfernung von seinem orthodoxen Eltern‐ haus einstellt. Es ist der erste Roman, der die vertrauten Geschlechterrollen vertauscht und von der Liebe zwischen einem Juden und einer Christin erzählt - wenngleich diese Liebesgeschichte ihrerseits stereotyp konstruiert ist. 2 Und er ist der erste Roman, der DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) tatsächlich von den großen Schwierigkeiten und Herausforderungen und schließlich der Unmöglichkeit einer interreligiösen Liebe erzählt. Die Konversion, die den jüdischen Figuren in den Texten meiner Untersuchung oftmals so leichtfällt - sei es am Taufbecken, auf dem Totenbett oder zumindest im Innersten ihres Herzens -, kann Bendixen nicht vollziehen, trotz oder gerade wegen seiner christlichen Schwiegerfamilie in spe, die genau dies von ihm erwartet. Und der Romantext lässt keinen Zweifel daran, warum dieser Schritt für ihn nicht möglich ist. Mit psychologischer Genauigkeit erzählt En Jøde von dem Dilemma, das sich für Bendixen immer weiter verstärkt, je mehr er ihm zu entkommen versucht. Am Ende ist er gebrochen und wird zu dem Juden, den die Christen stets in ihm gesehen haben. Goldschmidts En Jøde wurde gegen Ende des Zeitraums geschrieben, in dem auch ein Großteil der hier untersuchten Erzähltexte entstanden ist, und auch die Romanhandlung ist in dieser Zeit, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, angesiedelt. Vor diesem Hintergrund ist der Blick auf die Texte der nicht-jüdischen Autor*innen ernüchternd. Wobei an dieser Stelle spezifiziert werden muss, dass in diesem Fall tatsächlich vor allem die Autoren, Maskulinum, gemeint sind. Gyllembourg unterscheidet sich mit ihrer Erzählung Jøden in einigen Punkten deutlich von den anderen Texten. Immerhin hinterfragt sie den Zustand des Emanzipationsfortschritts und konfrontiert ihr Lesepublikum mit der unbequemen Ein‐ sicht, dass Juden in Dänemark im Jahr 1836 nach wie vor Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Und sie erzählt als einzige bereits vor Goldschmidt eine Liebesgeschichte zwischen einem jüdischen Mann und einer christlichen Frau, wenngleich sie hier nicht wie die anderen eine Konversionsgeschichte, sondern eine Verwechslungsgeschichte erzählt, in der der jüdische Mann zunächst gar nicht weiß, dass er Jude ist. Im Wesentlichen lässt sich jedoch feststellen, dass keiner der untersuchten Erzähltexte sich tatsächlich für Juden und Jüdinnen, für jüdische Lebenswelten, jüdische Traditionen oder das Judentum als Religion interessiert. Kaum einer der Texte setzt sich mit den inneren und äußeren Konflikten auseinander, die aus dem Emanzipationswunsch der Juden und den Assimilationserwartungen der Christen entstehen. Einzig Gyllembourg stellt die Frage, ob nicht das Nicht-Wissen um die eigene jüdische Herkunft beziehungsweise das Nicht-Wissen der anderen um diese Herkunft die einzige Möglichkeit für einen Juden darstellt, tatsächlich gesellschaftlich akzeptiert zu sein - sofern sich dann überhaupt noch von Akzeptanz sprechen lässt. Implizit fragt Gyllembourg mit ihrer Novelle auch danach, wann ein Jude überhaupt ein Jude ist, und wer letzten Endes darüber bestimmt, wer sich als Jude empfindet und als Jude gesehen wird - Fragen, die auch Goldschmidt aufwirft, Fragen, die bis heute virulent sind, und mit denen sich beispielsweise die Beiträge in der von Juliane Sucker und Lea Wohl von Haselberg herausgegebenen Anthologie Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert (2013a) befassen. Identität, und somit eben auch ein jüdisches Selbstverständnis, entsteht zu einem großen Teil über Fremdzuschreibungen (vgl. hierzu Braun 2013: 1-9; Sucker/ Wohl von Haselberg 2013b: 11-18), und diese waren der Untersuchungsgegenstand der vorangegangenen Kapitel. Die Literatur über jüdische Figuren macht nicht nur sinn- und identitätsstiftende Angebote für nicht-jüdische Leserinnen und Leser, indem sie deren eigene Position, deren dänisch-protestantische Identität über die Auseinandersetzung mit Juden und Judentum 224 9 Schlussbemerkungen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 3 Massey beruft sich hier auf Eda Sagarra (1987: 172). 4 Die Sprache von Goldschmidts jüdischen Figuren ist zwar von hebräischen und jiddischen Ausdrü‐ cken und Redewendungen durchzogen und erweckt so den Anschein von Authentizität. Doch erfüllen diese Formen jüdisch markierten Sprechens vergleichbare Funktionen, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert aus der dänischen Dramenliteratur und von den dänischen Bühnen bei der Darstellung jüdischer Figuren vertraut waren (vgl. Brandenburg 2014). prägen und bestärken. Auch für ein jüdisches Lesepublikum bieten die literarischen Texte Orientierungsangebot und Sinnstiftung bei der Neuverhandlung über das Wesen von jüdischer Identität in einer christlichen und zunehmend säkularisierten Gesellschaft (vgl. hierzu Brandenburg 2014). Und dieses Angebot wurde offenbar angenommen. So äußert Bruce Kirmmse sein Erstaunen darüber, dass Andersens Märchen Jødepigen „i sin tid ikke vakte forargelse, og at forfatteren, en ikke-jøde, altid havde et særledes gunstigt forhold til det danske, jødiske samfund og faktisk blev feteret af dette samfund. [seinerzeit keinen Ärger hervorrief und dass der Autor, ein Nicht-Jude, immer ein besonders gutes Verhältnis zur dänischen jüdischen Gemeinschaft hatte und tatsächlich von dieser Gemeinschaft gefeiert wurde]“ (Kirmmse 1991-1992: 60; vgl. auch Kapitel 2.5). Auch Irving Massey bemerkt in seiner Untersuchung über Philosemitismus in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts verwundert, dass Freytags Roman Soll und Haben „was read widely by Jews as well and, interestingly enough, we are told, was even a common Bar Mitzvah gift“ (Massey 2000: 92). 3 Dabei scheinen in den Erzähltexten die allgemeine Akzeptanz gegenüber der jüdischen Minderheit oder gar ein Wohlwollen gegenüber Juden und Jüdinnen nur zum Preis ihres Verschwindens möglich. Zweifellos prägt diese Literatur also nicht nur die Vor‐ stellungen der christlichen Mehrheit über das Wesen des Judentums und des Jüdischseins, sondern nimmt auch - direkt oder indirekt - auf das Selbstbild und den gesellschaftlichen Gestaltungsspielraum von Juden und Jüdinnen Einfluss, die sich zu diesem ambivalenten Diskurs verhalten müssen. Goldschmidts Roman En Jøde ist genau eine solche Reaktion, und er bestätigt durch seine differenziertere Figurengestaltung den phantasmatischen Objektcharakter, den Juden und Jüdinnen im philosemitischen Diskurs der nicht-jüdischen Autor*innen haben (vgl. hierzu Kapitel 1.6; vgl. auch Theisohn/ Braungart 2017b: 11-12). Doch auch Goldschmidt kommt nicht ohne Rückgriffe auf stereotype Muster aus, 4 und für die Handlung seines zweiten Romans Hjemløs [Heimatlos; 1853-57] (1999), „macht er einen Nicht-Juden zum Protagonisten, weil er glaubt, die allgemein-menschlichen Themen des Romans nicht mit einer jüdischen Hauptfigur ausdrücken zu können“ (Schnurbein 2006: 124). Es scheint Goldschmidt schlicht nicht möglich zu sein, jüdische Figuren ohne die literarische Tradition zu denken, in der sie bislang, im christlichen Diskurs über Juden und Jüdinnen, standen. Jüdische Figuren sind also auch hier Außenseiter, die für das Abweichende, das Andere stehen, nicht für das Allgemeine. 9.1 Rückblick In den Literaturanalysen habe ich aufzeigt, welche vielfältigen Erzählmöglichkeiten sich durch jüdische Figuren in einem literarischen Text ergeben. Ich bin den Romanen und Erzählungen in ihre Assoziationsräume gefolgt, habe mit ihnen für orientalische Frauen‐ 225 9.1 Rückblick DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) schönheiten, duftende Gärten und die wahre Liebe geschwärmt, ich habe mich begeistern lassen für Alchemie im historischen Dresden, für Spuk und Eislaufkunst im winterkalten Jütland, für eine Frau in Männerkleidung, die eine Affäre mit einem Zigeuner hat, während ihr sprachloser Jugendfreund als Künstler scheitert. Ich habe mich überzeugen lassen von eschatologischen und kunstreligiösen Vereinigungsphantasien, habe die einstimmige Stellungnahme dänischer Autor*innen gegen judenfeindliche Gewalt und für die bürger‐ liche Gleichstellung der Juden und Jüdinnen als progressiv honoriert. Obwohl ich auch immer wieder die Ambivalenz dieser Texte herausgearbeitet habe, konnte ich beim Lesen doch stets selbst erfahren, wie überzeugend sie ihre Leser*innen für sich einzunehmen vermögen. Ich habe nachvollzogen und hoffentlich auch nachvollziehbar machen können, warum jüdische Figuren in der dänischen Literatur des 19. Jahrhunderts literarisch so interessant und produktiv waren. Und doch bleibt ein Ärger. Ärger über die Reduktion der jüdischen Religion auf einige wenige Teile des Alten Testaments, Ärger über die meist schablonenhafte Gestaltung der jüdischen Figuren und deren eindimensionale Verklärung, Ärger über die Leichtigkeit, mit der die Jüdinnen und einige der Juden in den Texten ihre religiöse, ihre traditionelle, ihre familiäre Bindung ans Judentum aufgeben, als wäre dies nur eine Formalität. Und als wäre dies ein Schritt, der tatsächlich endlich Akzeptanz von christlicher Seite gewährleisten würde. Welche Perspektive bieten die Texte den jüdischen Figuren also an? Ihnen bleibt oft nur der Tod oder die Taufe. Zur Rekapitulation: Ingemanns alter Rabbiner Philip Moses (Den gamle Rabbin) stirbt und wird im Sterben vom Heiligen Geist ergriffen, er empfängt damit eine ähnliche Art der Taufe wie Andersens Judenmädchen Sara (Jødepigen), der mangels Mann keine irdische Zukunft beschieden ist. Auch Andersens späte Jüdin Esther (At være eller ikke være) stirbt, wenn auch getauft, und das obwohl sie einen christlichen Mann gefunden hat, den sie liebt und der sie wiederliebt. Der allerdings sucht noch nach seiner eigenen Glaubensgewissheit und findet diese erst durch den Tod der getauften Jüdin. Die Enkelin des alten Rabbiners, Benjamine, hingegen darf leben, lieben und heiraten. Ihre Zukunft allerdings liegt allein im Christentum, und so findet die Vereinigung zwischen konversionswilliger Jüdin und rettendem Christ symbolisch überfrachtet über das Grab des alten Rabbiners hinweg statt. Blichers Juden und Jüdinnen auf Hald (Jøderne paa Hald) konvertieren geschlossen zum Christentum, und auch hier wird erst durch die Taufe eine Eheschließung möglich. Gyllembourgs Jude Branco (Jøden) und Hauchs Alchemist De Geer (Guldmageren) konvertieren nicht, jedoch sind sie zumindest Christen im Herzen, so wird ihnen, vor allem aber den Leser*innen, jeweils durch eine christliche Figur versichert. Sie stellen allerdings die Ausnahmen unter den gewöhnlichen, den unedlen und somit „typisch jüdischen“ Juden dar. Ihr edles und gutes Verhalten wird so als ausgewiesen christliche Eigenschaft dargestellt, Nächstenliebe zu einem dezidiert christlichen Wert erklärt. Eine Zukunft haben auch sie nicht, denn beide sind alt und alleinstehend, und so erzählen beide Texte schließlich auch von ihrem Tod. Sibberns Jude Moses Aaron (Udaf Gabrielis’s Breve) ist von absoluter Entwicklungslosigkeit geprägt. Er bleibt zwar Jude und verteidigt als einziger der Figuren vehement sein Judentum, und auch sterben tut er nicht. Allerdings verschwindet er einfach aus der Handlung, als er nicht mehr gebraucht wird. So ist auch er nur ein Vehikel, um das Christentum als überlegene Religion zu bestätigen. Sibberns Roman steht dabei, wie auch At være eller ikke være und Guldmageren, exemplarisch für 226 9 Schlussbemerkungen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 5 Luther nutzt den Verweis auf die angebliche Schlechtigkeit der Juden, um seine Kritik am Papsttum zu üben; später führt auch Shakespeare mit der Figur des Shylock einen ähnlichen Gedanken fort (vgl. Nirenberg 2015: 253-304). ein Christentum in der Krise, das sich seiner eigenen Relevanz und Aktualität versichern muss und für diese Auseinandersetzung die jüdischen Figuren benötigt. Das Judentum wird als überkommene Mutterreligion des Christentums dargestellt. Seine Funktion ist es, von den aufrichtigen christlichen Figuren geehrt und respektiert zu werden. Dadurch wird weniger das Judentum selbst respektiert - denn es ist lediglich ein christlich imaginiertes Judentum - als vielmehr die Ehrenhaftigkeit und Redlichkeit der christlichen Protagonisten in den Fokus gerückt. In vielen der Texte wird außerdem über die jüdischen Figuren ein interkonfessioneller Konflikt zwischen Protestantismus und Katholizismus verhandelt, der stets zu der Überzeugung führt, im Protestantismus die bessere Version des Christentums zu finden. Das geschieht sogar in Andersens Kun en Spillemand, dem Roman, der ansonsten als einziger der Texte das Christentum nicht als persönlichen, theologischen und gesellschaftlichen (Aus-)Weg aus der Perspektivlosigkeit des Judentums anbietet. Auf theologische Fragen und religiöse Inhalte gehen die Texte dabei kaum ein. Die Überlegenheit des Christentums bleibt eine bloße Behauptung, ebenso wie die Religiosität der jüdischen Figuren. In den Texten werden gute Juden mit schlechten Juden kontrastiert. Die guten Juden und Jüdinnen werden zu Christen und Christinnen oder wenigstens zu Seelenchrist*innen, so dass am Ende (fast) nur diejenigen Juden Juden bleiben, die mit stereotypen Mitteln als negativ charakterisiert werden: Nebenfiguren wie Brancos Vetter (Jøden) oder die Söhne des alten Rabbiners (Den gamle Rabbin), vor allem aber Isak Amschel (Guldmageren), der korrupte Gegenspieler des edlen Alchemisten De Geer. Zugleich aber machen diese Texte deutlich, dass als Schuldige für die unangenehmen Eigenschaften dieser Juden die Christen selbst auszumachen seien. Der Appell, der also von diesen Texten ausgeht, folgt dem Muster einer äußerst ambivalenten Toleranz, wie sie nicht erst seit Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, sondern bereits bei Luther Teil des Diskurses über Juden und Jüdinnen ist: 5 Behandelt man die Juden gut, dann werden sie bald aufhören jüdisch zu sein; begegnet man ihnen mit Nächstenliebe, dann werden sie sich vom Christentum überzeugen lassen. Doch nicht nur dieser deutliche Appellcharakter an die lutherisch-dänische Leserschaft ist ambivalent, auch die literarische Funktion der jüdischen Figuren ist es. Es wird nie um ihrer selbst willen von ihnen erzählt, nie um einer tatsächlich versuchten Annäherung an Juden und Jüdinnen, ans Judentum und an jüdische Lebenswelten willen. Die jüdischen Figuren machen - mit Ausnahme von Naomi in Kun en Spillemand - keine eigene Entwicklung durch, außer der zum Christentum. Sie stehen in den Titeln vieler der Texte, Den gamle Rabbin, Jødepigen, Jøderne paa Hald, Jøden, auch Guldmageren bezieht sich auf eine der beiden jüdischen Figuren. Doch meist geht es gar nicht oder nicht primär um diese Figuren, sondern vielmehr um die christlichen Hauptfiguren, junge verliebte Männer, oder um den Weg einer schönen Jüdin ins Christentum, meist in Verbindung mit der Liebe zu einem Christen. In aller Regel münden diese Texte also ins Verschwinden des Judentums. Einerseits. Andererseits müssen die jüdischen Figuren als Juden und Jüdinnen lesbar bleiben, um als Türöffner für eine 227 9.1 Rückblick DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Vielzahl literarisch attraktiver Assoziationsräume dienen zu können; sie müssen ewig ‚ewige Juden‘ bleiben. So bleiben sie also auch dann noch Jüd*innen, wenn sie bereits (innerlich oder auch institutionell) konvertiert und akkulturiert sind. Sie sind nicht nur äußerlich weiterhin als Jüd*innen markiert - wobei diese Markierung in einigen Fällen auch uneindeutig bleibt, so bei Johan (Jøderne paa Hald) und Volmer (Jøden) -, sie bleiben vor allem assoziativ mit dem Judentum verbunden: Auch als Christinnen bleiben die einstigen Jüdinnen noch ‚schöne Jüdinnen‘. Und als Seelenchristen bleiben die ‚edlen Juden‘ weiterhin mit ihren alttestamentlichen Vorbildern assoziiert. Sie legen auch im Glaubensübertritt ihr Judentum literarisch nicht ab, sondern bestätigen und beglaubigen gerade als Juden und Jüdinnen die vermeintliche Überlegenheit des Christentums, das durch die Aufnahme des Judentums wiederum selbst eine Erneuerung erfährt. Der religiöse Diskurs wird immer wieder auch mit dem nationalen Diskurs verbunden, indem implizit oder explizit die Frage nach der Nationszugehörigkeit der jüdischen Figuren aufgeworfen und diskutiert wird. Das markanteste Beispiel hierfür ist Salamiel (Jøderne paa Hald). Er wird einerseits sowohl durch sein Äußeres als auch durch seine Figurenrede als Gegner der Akkulturation charakterisiert. Andererseits ist er mit Fähigkeiten und Eigenheiten ausgestattet, die ihn als holländisch beziehungsweise dänisch akkulturiert markieren. Der Text stellt damit ausdrücklich das Narrativ eines jüdischen „Staates im Staate“ infrage. Darüber hinaus setzt er den dänischen Staat in eine geistige Verwandt‐ schaftsbeziehung zu den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, die nicht nur hinsichtlich des Diktums der religiösen Toleranz als Vorbild für eine erwünschte dänische Haltung der Toleranz gehandelt werden. Auch als globale Wirtschaftsmacht und kosmopolitischer Ort nehmen die Niederlande eine Vorbildfunktion ein, die in der Novelle mit den Juden Salamiel und Joseph Lima verbunden ist. Über die wohlhabenden und gebildeten nieder‐ ländisch-jüdischen Geschäftsleute, die in der königlichen Gunst stehen, geschieht eine ideelle Aufwertung der dänischen Provinz Jütland, die für die Dauer der Handlung Wohnort der jüdischen Figuren ist und auf diese Weise literarisch interessant wird für das Kopenhagener Lesepublikum. In den anderen Erzähltexten werden Fragen der natio‐ nalen Selbstvergewisserung überwiegend über den Religionsdiskurs verhandelt, schließlich hat Dänemark zu dieser Zeit eine evangelisch-lutherische Staatskirche und noch keine verfassungsrechtlich zugesicherte Religionsfreiheit. Konfessionelle Fragen bedeuten somit auch stets eine Auseinandersetzung mit Fragen des nationalen Selbstverständnisses. Die Handlung vieler der Texte spielt sich ganz oder in Teilen im europäischen Ausland ab - oftmals vorangetrieben durch die Rastlosigkeit der jüdischen Figuren (Guldmageren, Kun en Spillemand, Jøderne paa Hald) - wobei in einigen Fällen eine mentale Einheit von Nation und Konfession (beispielsweise französisch/ katholisch oder holländisch/ protestantisch) suggeriert wird. Dies ermöglicht eine Auseinandersetzung mit den Nachbarländern, die Identifikation mit oder Abgrenzung zu ihnen und hierüber schließlich auch die Definition eines dänischen Nationalverständnisses. Insbesondere die jüdischen Frauenfiguren ermöglichen es, der Erzählung exotische und erotische Elemente hinzuzufügen. Die assoziative Verbindung zu einer orientalisierten Erotik ist über zahlreiche populäre Frauenfiguren und Textpassagen aus dem Alten Testament so etabliert, dass selbst keuscheste Jüdinnenfiguren erotisch konnotiert sind. 228 9 Schlussbemerkungen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Für die weniger keuschen Jüdinnen, wie Naomi (Kun en Spillemand), dient ihr Jüdischsein hingegen als implizite Begründung für ihr ungewöhnliches - damit literarisch allerdings umso interessanteres - Verhalten. Diese Assoziationslinien sind offenbar so zuverlässig herzustellen, dass sie auch dann noch wirksam sind, wenn die Frauenfiguren gar keine Jüdinnen sind, sondern durch ihre Beziehungen zu jüdischen Männerfiguren mit Zuschrei‐ bungen des Jüdischen belegt werden, wie es bei Veronica - und in der keuschen Form auch bei Manon - (Guldmageren) der Fall ist. Dadurch wird aber nicht nur die Jüdin als literarische Figur sexualisiert, es wird zugleich auch die Norm fortgeschrieben, nach der eine „normale“ christliche Frau kein erotisches Begehren hat und nicht als erotisch handelnde und fühlende Figur erzählt werden kann. Diese überspringende Assoziation ist nicht nur bei Darstellungen von unechten Jüdinnen wie Manon und Veronica zu finden, sondern auch in der Darstellung von nicht-jüdischen Männerfiguren, wie zum einen das Beispiel des grundlos spukenden Gemäldes auf Schloss Hald zeigt (Jøderne paa Hald) und zum anderen der unheimliche Pate von Christian/ Vater von Naomi (Kun en Spillemand). Auch hier wird abnormes Verhalten wie Mord und Spuk implizit durch eine literarische „Judaisierung“ der nicht-jüdischen Figuren erklärbar, die durch die bloße Anwesenheit „des Jüdischen“ in der Erzählung möglich ist. Eigenschaften, die als jüdisch verstanden werden, die einer Tradition der literarischen Darstellung von Juden und Jüdinnen folgen, können also auf andere Figuren überspringen oder sich als latente Andeutungen durch den Text bewegen, ohne mit den Mitteln der Logik erklärbar zu sein. Solange eine jüdische Figur in den Text geschrieben ist, besteht die Möglichkeit, sämtliche Assoziationen, die in einer literarischen Tradition mit Juden, Jüdinnen, Judentum stehen, beliebig aufzurufen und miteinander zu kombinieren. Das macht diese Figuren literarisch ausgesprochen attraktiv, denn es bedarf nur einer jüdischen Figur, und schon kann beispielsweise ein Garten in Dänemark oder Holland als orientalisch anmutender Paradiesgarten imaginiert werden (Kun en Spillemand, Jøderne paa Hald). So kann eben auch ein Gemälde mit dem ‚ewigen Juden‘ Ahasverus in Verbindung gebracht werden, nicht nur, weil es neben den Porträts von zwei Juden hängt und somit selbst in Verdacht gerät, einen Juden zu zeigen (Jøderne paa Hald), sondern allein schon, weil der Titel der Novelle diesen Zusammenhang suggeriert. Und der Alchemist De Geer (Guldmageren) ist als Jude eine deutlich gefährdetere und somit tragischere Figur, als er es als nicht-jüdischer Alchemist wäre, wodurch zusätzliche Erzählmöglichkeiten eröffnet werden. Darüber hinaus reichen seine Präsenz im Text und der unausgesprochene und schnell widerlegte Verdacht einer Vaterschaft aus, um zwei christliche junge Frauen als zwei ‚schöne Jüdinnen‘ zu schildern. Durch das Ausgegrenztsein und die nicht abzulegende Andersheit der jüdischen Figuren bieten diese auch immer wieder Identifikationsmöglichkeiten für den schreibenden Autor selbst, für eine Inszenierung des Künstlers als seinerseits Ausgegrenzter, beziehungsweise eine Möglichkeit zur Reflexion über den Kunstschaffensprozess. Explizit kommt dies zum Ausdruck in Andersens Fodreise, als die Figur des Dichters auf seiner Suche nach literarischem Stoff Ahasverus begegnet, sich von ihm Inspiration erhofft und sich dessen Stiefel ausleiht. Auch Ingemanns christlicher Künstler Veit (Den gamle Rabbin) ist aufgrund seiner eigenen Besonderheit als einziger in der Lage, den Juden Philip Moses und die Jüdin Benjamine wahrhaftig zu erkennen, sie künstlerisch darzustellen und schließlich als ihr Erlöser zu fungieren. Der Autor-Erzähler Blicher (Jøderne paa Hald) reflektiert auf ver‐ 229 9.1 Rückblick DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 6 So konstatieren Theisohn und Braungart: „Die Vorstellung der Heimatlosigkeit, der Exzentrizität und des Lebens in Schrift als gemeinsamer Charakterzug von Schriftsteller- und Judentum führt langfristig zur Affirmation der Dichtung als jüdischer Praxis, insofern alle ‚qui traitent ou habitent la langue en poètes‘ - so Derrida - ‚Juden‘ sind“ (Theisohn/ Braungart 2017b: 17). Sie verweisen in diesem Zitat auf Jaques Derrida: Schibboleth: pour Paul Celan (1986: 99). schiedenen Ebenen die Fiktionalität seiner Erzählung und den Prozess des Schreibens sowie das Ineinanderwirken von Fiktion und Wirklichkeit. Seine Juden werden zu Kippfiguren, deren Darstellung zwischen Stereotypie und überraschenden Brüchen mit den gerade aufgerufenen Stereotypen changiert. Gleichzeitig findet auch hier über die Figur Johan, dem Tagebuch schreibenden Ich-Erzähler der Binnenhandlung, eine Identifikation zwischen Schreiben und Judentum statt, 6 als dieser von seiner eigenen jüdischen Familiengeschichte erfährt. Am ambivalentesten und komplexesten stellt sich der Kunstdiskurs in Andersens Kun en Spillemand dar. Hier sind Sexualität und Kunst aneinandergekoppelt und gleichzeitig durch die Aufteilung auf zwei Figuren unvereinbar voneinander getrennt. Die Jüdin Naomi verkörpert sexuelles Begehren. Sie tut dies als Frau und weicht bereits dadurch von der als normal verstandenen Frauenrolle ab. Ihr Begehren ist somit männlich und weiblich zugleich, sie selbst wird mit Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit belegt, so dass auch die Kategorie ‚Geschlecht‘ samt ihren gedachten Grenzverläufen zwischen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ unscharf und ambivalent wird. Dabei ist Naomis Andersheit als Jüdin stets implizite Begründung für die Andersheit von Sexualität und Geschlecht, von der der Roman erzählt, genauso wie für ihre religiöse Indifferenz und ihren exzentrischen Lebenswandel, der sie zwischen fahrendem Volk und Adel hin und her wechseln lässt. Für ihre Gegenfigur Christian ist sein Nicht-Identischsein mit Naomi, das Fehlen ihrer sexuellen Andersheit und damit verbunden das Fehlen jeglicher Sexualität und Lebenskraft schließlich ausschlaggebend für sein Scheitern als Künstler. Obwohl der Roman über weite Strecken scheinbar fast vergessen machen will, dass Naomi als Jüdin in den Roman eingeführt wurde, bleibt ihr Jüdischsein stets in Erinnerung und macht sie so zur Projektionsfläche für alle anderen Arten der Andersheit. 9.2 Philosemitisches Begehren Theisohn und Braungart konstatieren, im Zentrum der „philosemitische[n] Literarizität“ stehe „eine Denkfigur, die das Judentum benutzt, um über die Sehnsüchte derjenigen sprechen zu können, die keine Juden sind“ (Theisohn/ Braungart 2017b: 12). Sie richte ihre „rhetorische Energie weniger darauf, das Andere sich gleichzumachen, als vielmehr selbst ein Anderer werden zu können, hinüberzugehen, geliebt und anerkannt zu werden“ (Thei‐ sohn/ Braungart 2017b: 10). In Kun en Spillemand wird dieses „philosemitische Begehren“ (vgl. Theisohn/ Braungart 2017b: 10, 16, 21) auf besonders vielschichtige Weise wirksam. Aber auch die anderen Erzähltexte stellen eine je eigene Variante dieser Denkfigur dar, so dass die jüdischen Figuren einerseits schließlich, einem eschatologischen „Vereinigungs‐ phantasma“ (Theisohn/ Braungart 2017b: 15; vgl. auch Heinrichs 2009) folgend, aufhören, Jüd*innen zu sein, andererseits jedoch zwingend jüdisch bleiben müssen. Sobald sich 230 9 Schlussbemerkungen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) das Verschwinden ihres Jüdischseins in der Handlung abzeichnet - durch die Taufe, den Tod oder die bürgerlich-christliche Ehe - endet die Erzählung. Die Geschichte dauert, so lange die jüdischen Figuren jüdisch sind, und gerade deshalb bleiben sie es - literarisch gesehen - dauerhaft. Das ist ihre Ambivalenz: Sie werden geliebt, begehrt, verehrt - von den christlichen Figuren, von den Erzählstimmen, von den Autor*innen und schließlich von den Lesenden. Doch sie werden es nicht um ihretwillen, sondern um unseret- und um der guten Erzählung willen - und um der Bestätigung und Aufwertung des eigenen, des christlich-protestantischen Glaubens willen. So dient „der Jude“ als philosemitische Denkfigur den Christen, den Nicht-Jüdinnen, den politisch und literarisch engagierten Philosemit*innen und Künstlern letztlich nur zur eigenen Selbstvergewisserung. Der Titel der Arbeit, Philosemitische Schwärmereien, ist wie eine Klammer, die es mir ermöglicht hat, die teilweise sehr unterschiedlichen Texte hinsichtlich dieser Ambivalenz zu betrachten, die ich nicht anders als mit den Begriffen ‚philosemitisch‘ und ‚schwär‐ merisch‘ zu spezifizieren vermag. Das Begriffspaar ermöglichte es mir, das Anziehende und Überzeugende dieser Texte herauszuarbeiten, das ja tatsächlich bemerkenswert ist, und zugleich stets zu reflektieren, dass in den Texten Projektionen und Zuschreibungen vorgenommen werden, die schon deshalb problematisch sind, weil ihre Objekte, die jüdischen Figuren, eben genau dies sind: Objekte philosemitischer Schwärmereien. Der Phi‐ losemitismusbegriff ist dabei mehr als eine Behelfslösung. Mit ihm lässt sich ein Phänomen untersuchen und benennen, das bemerkenswert ist und ohne einen solchermaßen eng gefassten Begriff schnell übersehen oder übergangen werden kann: die auffallende Häufung jüdischer Figuren in der dänischen Literatur des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts und damit verbunden die Tatsache, dass diese Figuren zwar ambivalent, trotz ihrer Ambivalenz aber zum allergrößten Teil positiv konnotiert sind. So hat sich gerade aus diesen Gründen der dänische Kontext als besonders fruchtbar für die systematische Untersuchung des philosemitischen Diskurses erwiesen, die bislang in der Literaturwissenschaft kaum stattgefunden hat. Dabei zeigen die zahlreichen expliziten intertextuellen Verbindungen vor allem zur deutsch- und englischsprachigen Literatur und zu Topoi der europäischen Literaturgeschichte, wie ‚Ahasverus‘ und der ‚schönen Jüdin‘, dass Philosemitismus kein exklusiv dänischer Diskurs ist, sondern sich dieser spezifische Blick auch auf die Literaturen anderer Länder und Sprachen lohnt. Es geht bei der philosemitischen Darstellung jüdischer Figuren nicht allein um die Darstel‐ lung von Juden und Jüdinnen als Andere, als Außenseiter*innen. Zwar geht es darum auch, aber eben nicht allein und nicht überwiegend. Im philosemitischen Diskurs wird etwas grundlegend anderes von den Juden und Jüdinnen gewollt als im antisemitischen Diskurs. Die Juden sollen nicht verschwinden, sondern sie sollen bleiben. Sie werden nicht als Bedrohung verstanden, die bekämpft werden muss, sondern als notwendige und begehrte Größe auf dem Weg zu religiöser, nationaler und schließlich auch zu künstlerischer Vollkommenheit. Das ist vereinnahmend, es stellt die eigene, die christliche Perspektive und Erlösungsvorstellung über die jüdische, es ist ein Diskurs der Fremdzuschreibung und Stereotypisierung. Es ist ein schwärmerischer, ein verklärender Diskurs, der sich nicht oder nur sehr wenig für jüdische Lebenswelten, Traditionen und theologische Fragestel‐ lungen interessiert, sondern in aller Regel nur dafür, wie sich die Beziehung zu Juden, Jüdinnen und Judentum positiv auf das eigene, das christliche, hier protestantisch-dänische 231 9.2 Philosemitisches Begehren DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) 7 Zur Diskussion um die Sinnhaftigkeit einer Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antiju‐ daismus vgl. Bärsch (2009) und Hoffmann (1994). Selbstverständnis und Selbstbild auswirkt. Aber es ist ein eigenständiger Diskurs, der, wie ambivalent er auch sein mag, Toleranz gutheißt und Intoleranz verurteilt, Nächstenliebe propagiert und Gewalt ablehnt, und der die juristische und soziale Gleichstellung von Juden und Nicht-Juden einfordert, wenngleich daran die Erwartung geknüpft ist, das Juden und Jüdinnen über kurz oder lang die nicht erwünschten Anteile ihres Jüdischseins ablegen würden. Es ist ein Diskurs, der die Vereinigung mit dem Judentum herbeisehnt und damit vom Verschwinden des Judentums phantasiert, der aber zugleich im Judentum den Weg zur eigenen Veredelung und Vollendung sieht und es deshalb braucht. Das sind wesentlich andere Prämissen als die eines judenfeindlichen, eines antisemitischen oder antijudaistischen, 7 Diskurses, wenngleich auch Ähnlichkeiten und Überschneidungen zwischen den Diskursen offenkundig sind und ein Kippen vom einen ins andere Extrem oder eine Vermischung jederzeit möglich sind. Um aber das zugrundeliegende Begehren des Philosemitismus benennen zu können, bedarf es eines Begriffskonzepts, das enger gefasst ist als das übergeordnete Begriffskonzept des Allosemitismus. So lässt sich schließlich auch verstehen, dass die ambivalent-positive Konnotation der untersuchten Texte sich nicht allein durch stereotyp-jüdische Zuschreibungen unter (vermeintlich) positiven Vorzeichen ergibt, sondern vor allem durch die Wirkung der jüdischen Figuren auf die Möglichkeiten des Erzählens, auf die Vervielfachung der Asso‐ ziationen und Diskurse: Diese reichen von postaufklärerischer Toleranz bis zur Kritik an der Säkularisierung, von romantischer Kunstreligiosität bis zur nationalen Selbstdefinition, von der Beglaubigung unglaubwürdiger Ereignisse bis zur regionalen Aufwertung des ruralen Dänemarks, von erotisierten Frauendarstellungen bis zur Infragestellung heterosexueller Normen. Trotz ihrer Ambivalenz vollbringen die Romane und Erzählungen und mit ihnen ihre Autor*innen Leistungen, die es anzuerkennen gilt. Die Texte bieten keine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judentum, aber sie setzen sich mit der Bedeutung des Judentums für das Christentum auseinander. Sie bieten keinen Einblick in jüdische Lebenswelten und den Prozess der Emanzipation innerhalb der jüdischen Gemeinden, aber sie reflektieren und verurteilen verbale und körperliche Gewalt von Christ*innen gegenüber Jüd*innen. Sie greifen Stereotype auf, um ihre Juden als Juden und die Jüdinnen als Jüdinnen zu markieren, sie stellen diese Stereotype aber auch immer wieder in Frage. Die Autor*innen betrachten das Judentum aus einer christlichen Perspektive, die sie nicht verlassen und vielleicht auch nicht verlassen können, und konstruieren ein Judentum nach ihren Vorstellungen. Sie benutzen jüdische Figuren, um literarische Effekte zu erzeugen, begehren sie also auch auf Ebene der Textproduktion philosemitisch. Aber sie evozieren dabei Mitgefühl und Sympathie für ihre jüdischen Figuren. Philosemitische Literatur macht jüdische Stimmen nicht hörbar. Aber sie misst dem Judentum und mit ihm den Jüdinnen und Juden eine erhebliche kulturelle Bedeutung für die eigene, die nicht-jüdische Identität bei. 232 9 Schlussbemerkungen DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Abstract & Keywords Introductory Remarks Beginning in the late 1820s, numerous Jewish characters surface in Danish fiction. Inge‐ mann and Blicher, Hauch and Sibbern, Gyllembourg and Andersen - all of them wrote at least one novella or novel, in which a Jewish character plays a central role. Often, the names of the Jewish figures also serve as the title. Although none of these characters is free from stereotypes and ambivalent attributions, it is noticeable that the narrative voices are sympathetic to the Jewish figures. They consistently express admiration for the Jewish characters and consequently generate sympathy and empathy in their readers. Though mostly positive - or better in quotation marks “positive” - the representations of Jews are not unproblematic. The title of this book summarizes this ambivalence: The phenomena at the centre is an idealizing devotion to a coveted object - the enthusiasm for “the Jew” or “Judaism”. It is thus a philosemitic enthusiasm. The concept of “philosemitism” serves primarily as a tool for naming that which connects the selected novels and novellas. It thus helps grasp the irritating ambivalence inherent in them. Context and Questions The texts analysed were created during the Guldalderen (the Golden Age), a period in the first half of the 19 th century during which a rich cultural life developed in Denmark. It was also a time of crisis both economically and politically, due to the Napoleonic Wars. The tension between the rich cultural development and crisis is also evident with regards to the emancipation of Jews. Denmark was one of the first European countries, in which the Jewish population received extensive equal legal rights. Danish Jews were granted civil rights in 1814, however remained excluded from holding certain offices and positions. Equality was only fully attained - at least legally - after religious freedom was anchored in the constitution in 1849. The emancipation process was accompanied by fierce, public debates; the dispute in 1813 became known as litterære jødefejden (the literary Jewish feud). In different cities during the autumn and winter of 1819/ 1820 Christians grew violent against the Jewish population. These so-called Hep-Hep riots began in Würzburg and spread from southern Germany across a large part of Europe. Violent attacks against Jews were documented again in 1830. The texts I am analysing, thus arose amidst national uncertainty, Jewish emancipation and anti-Jewish violence. On the one hand, they are commentaries on the political and social processes of their time; on the other hand, they themselves, constitute the discourse. As philosemitic texts, they reflect and criticize anti-Jewish tendencies and actions, while countering them with their own positions. They thus shape and change the discourse which first produced them, with which they then inevitably remained tied to. My book pursues the following questions: What impact do the Jewish characters have in the text? Which narrative possibilities do they open up? And following that: When, how and why are Jewish characters written about and how is knowledge about Jews questioned, changed or consolidated in the literature? The focus however, lies not exclusively on Jewish characters. I also consider non-Jewish characters and plot lines that initially seem unrelated to Jews. It is here, in the seeming incoherence DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) between the described events and the Jewish characters, that the most impressive and surprising explanations for the literary attractiveness of Jewish characters is often found. Approaches In order to gain a deeper understanding of the object of my investigation, I negotiate within a framework of different methods and theories. The work ties into antisemitism research in literary studies. Methodological impulses are derived primarily from Stephen Greenblatt and Moritz Baßler’s poetics of culture approach, as well as from Roland Barthes and his metaphors of pleasurable obstacles and irritations, tears and shadows, fissures and breaks of a text. The concept of ‘philosemitism’ is not only useful in identifying and naming these moments of irritation and ambivalence in my analysis, but also seems necessary. For me, ‘philosemitism’ is in no way a clear concept, quite the contrary, it is highly ambivalent. Ultimately, it is always tied to external attributions, always tied to conditions, such as how to be a Jew, to behave and how to develop. In my work, the concept serves as a heuristic tool which aids in capturing and naming a commonality between the analysed texts: namely, the strong irritation springing from these texts, although they position themselves for the equality of Jews and against anti-Jewish violence and discrimination. In addition, I also follow Philipp Theisohn and Georg Braungart’s approach: They identify philosemitism as a decidedly Christian discourse, in which Judaism is a Christian phantasm and “the Jew” is an object of desire, which should disappear in the unification with Christianity and at the same time, always remain Jewish so as to remain desirable. Texts Analyses My work aims to undertake an as complete as possible analysis of the “Golden Age’s” narrative texts, in which Jewish characters are narrated from a Christian perspective. Moreover, the analysis of these previously, rarely considered texts should demonstrate how the concept of philosemitism can be made fruitful for Scandinavian literary studies and beyond. Based on Bernhard Severin Ingemann’s novel Den gamle Rabbin [The Old Rabbi; 1827], the Danish novella, in which Jewish characters first surface, I introduce the topoi of the ‘fair Jewess’ the ‘noble Jew’ and ‘Ahasverus’/ ‘eternal Jew’, which are repeatedly taken up and modified in the following texts. I also use this novel to carve out the subjects and motifs that are also significant for the subsequent readings: Questions about Jewish emancipation and hostility towards Jews, about religion and secularization, about gender images and about the role of art and the artist in this web of discourse. A comparison with H.C. Andersen’s tale Jødepigen [The Jewish Maiden; 1855] demonstrates the tenacity of certain narrative patterns, in particular that of conversion discourse and the topos of the ‘fair Jewess’. A further comparison with one of Andersen’s texts, a chapter from his satirical-phantastic novel Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 [A Journey on Foot from Holmen’s Canal to the Eastern Point of Amager 1828 and 1829; 1829], and a look at the history of reception of the extremely productive Ahasverus topos show that both the restlessness and lack of development of many Jewish figures is part of this topos. The next text, Steen Steensen Blicher’s Jøderne paa Hald [The Jews at Hald; 1828] is an impressive example of this. This novella illustrates what it is about Jewish characters that is interesting for 19 th century narrative literature: They bring an excess of associations 234 Abstract & Keywords DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) to the text, which can also spill over onto non-Jewish characters. They make improbable connections and events plausible, without requiring an explanation or resolution. With them, erotically connotated images of an imagined Orient can be evoked in the middle of a northern European winter landscape. They facilitate a space in which positions can be taken on then current social and political issues. Above all, they make it possible to reflect and valorise Christianity and moreover, to assert Protestantism as tolerant and superior to Catholicism. Thomasine Gyllembourg questions this superiority at least to some degree in her novella Jøden [The Jew; 1836]. Her Jew is so magnanimous, that he raises his son as a foster child in the Christian faith in order to protect him from anti-Jewish discrimination. The novella broaches the subject of a specific Jewish physicality, without giving into the temptation to give a clear or clarifying answer. Instead it asks: When is a Jew a Jew, and who or what makes him one? And: How tolerant and accepting of Jews is the Danish-Christian majority really? Carsten Hauch’s historical novel Guldmageren [The Gold Maker; 1836/ 1851] takes place in baroque Dresden and tells the story of two contrasting Jewish characters: a stereotypically negatively drawn court Jew and a noble Jewish alchemist. Above all, it focuses on a young Christian and his journey to become an adept. As a novel about alchemy, the text deals with the search for the philosopher’s stone. Hauch thus draws on the parallel of the philosopher’s stone and Christ, first established in the Middle Ages. Moreover, the text equates (Protestant) Christianity and romantic love. Consequently, in the end, the Christian protagonist turns away from alchemy and finds the true philosopher’s stone in romantic love, which the novel treats as exclusively Christian. The Jewish characters provide the opportunity for the text to reflect on different religions, confessions and ideological concepts as well as to delve into the contemporary issues of emancipation and Christian hostility towards Jews. They establish or at least amplify the novel’s discourses. Even though the two Jews are narrated rigidly and stereotypically, the other, non-Jewish characters are aesthetically valorised through their relationships with them. In the case of the female figures, this involves them being orientalised and eroticised. The Jewish protagonist in Frederik Christian Sibbern’s epistolary novel Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet [From Gabrielis’ Letters To and From Home; 1850] is characterized by rigidity as well. The novel intertwines discourses on ‘money’ and ‘religion’ by describing a religious crisis using the metaphors of an economic bankruptcy; the supposed beneficiary of which is presented as the Jew. The text therefore exposes anti-Jewish stereotypes, but fails to break with them completely, instead perpetuating them through the pairing. The Jewish character in this novel is the only “good” Jew in the body of my analysis, who is not described as being a Christian at heart and who is allowed to argue for Judaism on a theological level. That is, similar to the other Jewish protagonists, he too fails to develop, however, by adhering to his own faith he becomes a stable religious authority and point of reference for the first-person narrator. He thus, to some extent, calls into question the conversion discourse of the other texts. Hans Christian Andersen does the same with his Jewess in his novel Kun en Spillemand [Only a Fiddler; 1837]. Nonetheless, she neither remains a Jew, nor does she fully commit to being Christian. Instead she develops her own syncretistic and superficial belief. Her counterpart is a Christian male character, who fails equally as a man, Christian and artist. The 235 Abstract & Keywords DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) novel continually sets the two in relation to one another, thus creating a space to discuss a third matter: sexual desire and queerness, and to identify this as the driving force behind true art. Here, the otherness of the Jewess as Jew is always the implicit reason for the alterity of sexuality and gender which the novel discusses, as well as for her religious indifference and her eccentric way of life. For her Christian counter-figure, the artist, his non-identification with her, the absence of her sexual otherness and therefore, the related lack of any sexuality and potency is ultimately responsible for his failure as artist. Although the novel seems to want to suppress that the Jewess was introduced into the novel as a Jew, her being Jewish remains in the reader’s memory and thus makes her a projection surface for different kinds of otherness. The novel is therefore an extraordinary example of the productive potential achieved through Jewish characters in a literary text. With At være eller ikke være [To be or Not to be; 1857] Andersen returns to the conventions he so impressively broke with 20 years previously in Kun en Spillemand. This novel is not concerned with sexuality and art, but with a young, sceptical Christian’s search for the belief in the immortality of the soul. His girlfriend and fiancée, a “fair Jewess”, transforms into the most convicted and convincing spokesperson for Christianity, eventually choosing to be baptised. Her early death becomes a moment of redemption for the Christian hero, through which he returns to his Christian beliefs. This novel thus enters into the same conversion discourse which Ingemann had utilized in 1827, when initiating the Danish narrating of Jews. Closing Thoughts The results of my analysis are ambivalent: The texts do not represent any scrutinization of Judaism, but they do examine the significance of Judaism for Christianity. They use known stereotypes and paradigms, however, repeatedly call them into question and develop counter-images. The Jewish protagonists confirm time and time again the supposed superiority of (Protestant! ) Christianity, but are also imperative for its renewal. The authors use Jewish characters to generate literary effects while - with the exception of the Jewess in Andersen’s Kun en Spillemand - allowing them no space to develop. In doing so, they still evoke in readers, an advocative voice for Jews - literary as well as real ones - and clearly criticize anti-Jewish violence and discrimination. The concept of philosemitism makes it possible to understand the attraction and persuasiveness of these texts and to consistently reflect that the texts undertake projections and attributions that are clearly problematic, because their objects, the Jewish characters, are precisely these: objects of philosemitic enthusiasm. Translated from German into English by Rett Rossi. 236 Abstract & Keywords DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Keywords 19th century literature; Danish golden age; Danish literature; Denmark; Jews in literature; Novel; Novella; Philosemitism; Andersen, Hans Christian; Blicher, Steen Steensen; Gyl‐ lembourg, Thomasine; Hauch, Carsten; Ingemann, Bernhard Severin; Sibbern, Frederik Christian. Literatur des 19. Jahrhunderts; Dänisches Goldenes Zeitalter; Dänische Literatur; Däne‐ mark; Juden in der Literatur; Jüdinnen in der Literatur; Roman; Novelle; Philosemitismus; Andersen, Hans Christian; Blicher, Steen Steensen; Gyllembourg, Thomasine; Hauch, Carsten; Ingemann, Bernhard Severin; Sibbern, Frederik Christian. 237 Abstract & Keywords DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Literaturverzeichnis Primärliteratur Abel, Jacob Friedrich (1985). Einleitung in die Seelenlehre. Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1786. Hildesheim, Zürich und New York: Olms. Almqvist, Carl Jonas Love (2002). Samlade Verk 6. Törnrosens bok. Duodesupplagan. Band IV. Drottnin‐ gens Juvelsmycke. Burman, Lars (Hg.). Stockholm: Svenska Vitterhetssamfundet. Almqvist, Carl Jonas Love (2006). Das Geschmeide der Königin. Romaunt in zwölf Büchern. Deutsch und mit einem Nachwort von Klaus-Jürgen Liedtke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Andersen, Hans Christian (1845). Bilderbuch ohne Bilder. Übers. von Julius Reuscher. Dritte, mit 11 Abenden vermehrte Aufl. Berlin: C.A. Wolf. Andersen, Hans Christian (1847). Ahasverus. Erster und Zweiter Theil. Gesammelte Werke. Bde. 29-30. Andersen, Hans Christian (Hg.). Leipzig: Carl B. Lorck. Andersen, Hans Christian (1847). Nur ein Geiger. Gesammelte Werke. Bde. 9-11. Andersen, Hans Christian (Hg.). Leipzig: Carl B. Lorck. Andersen, Hans Christian (1849). „Billedbog uden Billeder“. In: Andersen, Hans Christian. H.C. Andersens Samlede Skrifter. Sjette Bind. Anden Udgave. Kopenhagen: Reitzel, S. 1-40. Andersen, Hans Christian (1855). „Jødepigen“. In: Folkekalender for Danmark 1856, S. 134-138. Andersen, Hans Christian (1986). Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829. Tekstutgivelse, efterskrift og noter af Johan de Mylius. Valby: Borgen. Andersen, Hans Christian (1987). Improvisatoren. Original roman i to dele. Tekstudgivelse, efterskrift og noter af Mogens Brøndsted. Valby: Borgen. Andersen, Hans Christian (1988). Kun en Spillemand. Original Roman i tre Dele. Tekstudgivelse, efterskrift og noter af Mogens Brøndsted. Valby: Borgen. Andersen, Hans Christian (1990a). „Prinsessen på ærten“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab (Hg.). H.C. Andersens Eventyr. Bd. IV. Kopenhagen: Reitzel, S. 41-42. Andersen, Hans Christian (1990b). „Den lille Havfrue“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab (Hg.). H.C. Andersens Eventyr. Bd. IV. Kopenhagen: Reitzel, S. 87-106. Andersen, Hans Christian (1990c). „Jødepigen“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab (Hg.). H.C. Andersens Eventyr. Bd. IV. Kopenhagen: Reitzel, S. 63-66. Andersen, Hans Christian (2000). Lykke-Peer. Tekstudgivelse, efterskrift og noter ved Erik Dal. Kopenhagen: Det Danske Sprogog Litteraturselskab. Andersen, Hans Christian (2001). At være eller ikke være. Roman i tre Dele. Tekstudgivelse og noter ved Erik Dal. Efterskrift af Mogens Brøndsted. Kopenhagen: Det Danske Sprogog Litteraturselskab. Andersen, Hans Christian (2003). Sein oder nicht sein. Übers. von Erik Gloßmann. Cadolzburg: Ars Vivendi. Andersen, Hans Christian (2005). Nur ein Spielmann. Übers. von Bernd Kretschmer. Frankfurt a.M.: Fischer. Andersen, Hans Christian (2007a). „Jødepigen“. In: Brøndsted, Mogens (Hg.). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 123-126. DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Andersen, Hans Christian (2007b). „Rabbi Meyer“. In: Brøndsted, Mogens (Hg.). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 127-130. Baggesen, Jens (1965). Labyrinten eller Reise giennem Tydskland, Schweitz og Frankerig. Med efterskrift af Torben Brostrøm. Kopenhagen: Gyldendal. Baggesen, Jens (2007a). „Jødegaden“. In: Brøndsted, Mogens (Hg.). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 57-61. Baggesen, Jens (2007b). „Det christne Fadermord“. In: Brøndsted, Mogens (Hg.). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 62-66. Bibel (2006). Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Durchgesehene Ausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Bibel (2011). Bibel in gerechter Sprache. 4., erweiterte und verbesserte Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Bibel (2016a). Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Revidiert 2017. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Bibel (2016b). Biblia/ das ist/ die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Nachdruck der Ausgabe von 1534. Köln: Taschen. Blicher, Steen Steensen (1928). „Mosaiterne, som Stænder-Deputerede“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab (Hg.). Steen Steensen Blichers Samlede Skrifter. Bd. 21. Kopenhagen: Gyldendal, S. 94-97. Blicher, Steen Steensen (1929). „Ikke saameget til B. R. og Syskind, som om dem til Publicum“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab (Hg.). Steen Steensen Blichers Samlede Skrifter. Bd. 23. Kopenhagen: Gyldendal, S. 19-24. Blicher, Steen Steensen (1983a): „Bør Jøderne taales i Staten? “. In: Blicher-Selskabet (Hg.). St. St. Blicher: Udvalgte Værker. Bd. 4. Kopenhagen: Gyldendal, S. 215-220. Blicher, Steen Steensen (1983b). „Bedømmelse over Skrivtet Moses og Jesus“. In: Blicher-Selskabet (Hg.). St. St. Blicher: Udvalgte Værker. Bd. 4. Kopenhagen: Gyldendal, S. 221-229. Blicher, Steen Steensen (2007). „Jøderne paa Hald“. In: Brøndsted, Mogens (Hg.). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 67-98. Boccaccio, Giovanni di (1921). Das Dekameron. Leipzig: Insel. Buchholz, Friedrich (1803). Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische Verhältnis der Juden und Christen. Eine historisch-politische Abhandlung. Berlin: Unger. Buchholz, Friedrich/ Thaarup, Thomas (1813). Moses og Jesus eller om Jødernes og de Christnes intellektuelle og moralske Forhold, en historisk-politisk Afhandling af Friedrich Buchholz, oversat med en Forerindring af Thomas Thaarup, Ridder af Dannebrogen. Kopenhagen: Fr. Brummer. Chamisso, Adelbert von (2010). Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Mit den Farbholzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner und Beiträgen von Anita Beloubek-Hammer und Peter von Matt. Stuttgart: Reclam. Comenius, Johann Amos (1698). Orbis sensualium pictus. Die sichtbare Welt. Das ist : Aller vornehmsten Welt=Dinge / und Lebens=Verrichtungen / Vorbildung und Benamung. Aufs neue aufgelegt / und an vielen Orten verbessert : neben einem Titel= und Wörter=Register. Nürnberg Michaelis & Joannis Friderici Endteri. Dohm, Christian Wilhelm (1781). Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Mit Königl. Preußi‐ schem Privilegio. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai. 240 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Freytag, Gustav (1926). Soll und Haben. Berlin: Schreiter. Gellert, Christian Fürchtegott (2015). Leben der schwedischen Gräfin von G***. 4. Aufl. Stuttgart: Reclam. Goethe, Johann Wolfgang von (1789). Goethe’s Schriften. Bd. 8. Leipzig: Göschen. Goethe, Johann Wolfgang von (2008). Faust. Der Tragödie Zweiter Teil. Stuttgart: Reclam. Goldschmidt, Meïr Aron (1927). En Jøde. 6. Aufl. Kopenhagen: Gyldendal. Goldschmidt, Meïr Aron (1992). Ein Jude. Übers. von Ernst Guggenheim. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Goldschmidt, Meïr Aron (1999). Hjemløs. Tekstudgivelse og efterskrift ved Mogens Brøndsted. Kopenhagen: Det Danske Sprogog Litteraturselskab. Grimm, Jacob und Wilhelm (2010). Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Ori‐ ginalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam. Gyllembourg-Ehrensvärd, Thomasine (1867). „Jøden“. In: Gyllembourg-Ehrensvärd, Thomasine. Samlede Skrifter af Forf. til „En Hverdags-Historie,“ fra Gyllembourg-Ehrensvärd. Sjette Bind. Anden Udgave. Kopenhagen: Reitzel, S. 1-150. Hauch, Carsten (1836). Guldmageren. En romantisk Begivenhed fra det forsvundne Aarhundrede. Kopenhagen: Reitzel. Hauch, Carsten (1837). Der Goldmacher. Eine Schilderung aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Aus dem Dänischen von W. C. Christiani. Kiel: Universitäts-Buchhandlung. Hauch, Carsten (1900). Guldmageren. En romantisk Begivenhed fra det forsvundne Aarhundrede. Kopenhagen: Gyldendal. Hauff, Wilhelm (2011). „Die Geschichte von dem kleinen Muck“. In: Wilhelm Hauff. Sämtliche Märchen. Mannheim: Albatros, S. 66-81. Heiberg, Peter Andreas (1806). „Chinafarerne. Syngestykke i to Acter, med en Mellem-Act“. In: Heiberg, Peter Andreas (Hg.). Samlede Skuespill. Anden Deel. Kopenhagen: Schulz, S. 287-374. Herder, Johann Gottfried (1992). Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus dem Morgenlande. Nebst vier und vierzig alten Minneliedern. Mit einem Nachwort von Regine Otto. Zürich: Manesse. Hoffmann, E. T. A. (2005). Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. Stuttgart: Reclam. Ingemann, Bernhard Severin (1833). Blade af Jerusalems Skomagers Lommebog. Kopenhagen: Andreas Seidelin. Ingemann, Bernhard Severin (1853a). „Renegaten“. In: Ingemann, Bernhard Severin (Hg.). Dramatiske Digte af Bernhard Sev. Ingemann. Sjette Deel. Anden Udgave. Renegaten. Salomons Ring. Kopenhagen: Reitzel, S. 1-143. Ingemann, Bernhard Severin (1853b). „Salomons Ring, dramatisk Eventyr med et lyrisk Forspil“. In: Ingemann, Bernhard Severin (Hg.). Dramatiske Digte af Bernhard Sev. Ingemann. Sjette Deel. Anden Udgave. Renegaten. Salomons Ring. Kopenhagen: Reitzel, S. 145-340. Ingemann, Bernhard Severin (2007). „Den gamle Rabbin“. In: Brøndsted, Mogens (Hg.). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 99-122. Kierkegaard, Søren (1838). Af en endnu Levendes Papirer. Udgivet mod hans Villie af Søren Kierkegaard. Om Andersen som Romandigter, med stadigt Hensyn til hans sidste Værk: »Kun en Spillemand«. Kopenhagen: Reitzel. Kleist, Heinrich von (2001). Der zerbrochene Krug. Stuttgart: Reclam. 241 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Kruse, Lauritz/ Blicher, Steen Steensen (1831). „Die Juden auf Hald. Dem Dänischen des S. S. Blicher nacherzählt“. In: Kruse, Lauritz (Hg.). Le Dragon rouge. Leipzig: Kollmann, S. 211-312. Lessing, Gotthold Ephraim (2000). Nathan der Weise. Durchges. Ausgabe. Stuttgart: Reclam. Lessing, Gotthold Ephraim (2001). Emilia Galotti. Stuttgart: Reclam. Lessing, Gotthold Ephraim (2002). Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzug. Durchges. Ausgabe. Stuttgart: Reclam. Marlowe, Christopher (2009). The Jew of Malta. With Related Texts. Edited, with Introduction and Notes, by Stephen J. Lynch. Indianapolis und Cambridge: Hackett. Mozart, Wolfgang Amadeus (1791). Die Zauberflöte. (KV 620). Munch, Andreas (2012). Jøden. Med et innledende essay av Andreas Snildal. Bjerke, Ernst/ Hansen, Tor Ivar/ Snildal, Andreas (Hg.). Oslo: Det norske studentersamfund. Oehlenschläger, Adam (1857). „Aladdin eller den forunderlige Lampe“. In: Liebenberg, F. J. (Hg.). Oehlenschlägers Poetiske Skrifter. Første Del. Kopenhagen: Lind, S. 69-362 Ovid (2017). Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Hrsg. u. übers. von Niklas Holzberg. Berlin und Boston: de Gruyter. Petersen, E. (1816). Anekdoter om ædle og gode Jøder. Kopenhagen: Forfatterens Forlag. Petersen, E. (1816). De kristne Jøder. Et Skuespil i tre Acter. Sidestykke til vor Handtering. Kopenhagen; Forfatterens Forlag. Prévost, Abbé (2013). Manon Lescaut. Übers. von Jörg Trobitius. Zürich: Manesse. Pückler-Muskau, Hermann Fürst von (1994). Aus Mehmed Alis Reich. Ägypten und der Sudan um 1840. Mit einem Nachwort versehen von Günther Jantzen und einem biografischen Essay von Otto Flake. Zürich: Manesse. Rosenkilde, Adolph (1849). En Jøde i Mandal. Vaudeville i een Act. Christiania: West & Steensballe. Schiller, Friedrich (1793). Über Anmuth und Würde. An Carl von Dahlberg in Erfurth. Leipzig: Göschen. Schmieder, Karl Christoph (1832). Geschichte der Alchemie. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses. Scott, Sir Walter (1971). Ivanhoe. Aus dem Englischen übersetzt von Christine Hoeppner. Mit einem Nachwort von Klaus Udo Szudra. Berlin: Rütten & Loening. Shakespeare, William (2014). Der Kaufmann von Venedig. Aus dem Englischen übersetzt von Maik Hamburger. Nachwort von Ulrike Draesner. Stuttgart: Reclam. Sibbern, Frederik Christian (1927). „Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet“. In: Tuxen, Poul (Hg.). Gabrielis’ Breve. Kopenhagen: Holbergselskabet af 23. September, S. 14-402. Wergeland, Henrik (1919a). „Jøden. Ni blomstrende Torneqviste“. In: Jæger, Herman (Hg.). Henrik Wergeland. Samlede Skrifter. I. Digte. 3. Bind 1842-1845. Kristiania: Steenske, S. 19-49. Wergeland, Henrik (1919b). „Jødinden. Elleve blomstrende Torneqviste“. In: Jæger, Herman (Hg.). Henrik Wergeland. Samlede Skrifter. I. Digte. 3. Bind 1842-1845. Kristiania: Steenske, S. 319-402. Sonstige Quellen und Forschungsliteratur Achinger, Christine (2007). Gespaltene Moderne. Gustav Freytags Soll und Haben: Nation, Geschlecht und Judenbild. Würzburg: Königshausen & Neumann. Adams, Jonathan/ Heß, Cordelia (Hg.) (2020). Antisemitism in the North. History and State of Research (= Religious Minorites in the North: History, Politics, and Culture 1). Berlin und Boston: de Gruyter. 242 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Ahlgren Jensen, Lisbeth (2012). „Sex og Magt i Drot og Marsk - bidrag til kritikken af den kanoniserede kulturav“. In: HAL archives-ouvertes.fr, S. 0-12. https: / / hal-hprints.archives-ouvertes.fr/ hprints-0 0714638/ document (abgerufen am 02.10.2020). Akhøj Nielsen, Marita (2001-2017). „B.S. Ingemann“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab & Det Kongelige Bibliotek (Hg.). Arkiv for dansk litteratur. http: / / adl.dk/ solr_documents/ ingemann-p (abgerufen am 02.10.2020). Albertsen, Leif Ludwig (1984). Engelen Mi. En bog om den danske jødefejde. Med en bibliografi af Bent W. Dahlstrøm. Kopenhagen: Privattryk. Albertsen, Leif Ludwig (1989). „Die neuen Tabus des poetischen Realismus: Ingemanns Änderungen am eigenen romantischen Frühwerk“. In: Fetzer, John F./ Hoermann, Roland/ McConell, Winder (Hg.). In Search of the Poetical Real. Essays in Honor of Clifford Albrecht Bernd on the Ocassion of His Sixtieth Birthday (1989) (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 220). Stuttgart: Heinz, S. 1-10. Albøge, Gordon (1987). „Som rygtet siger - om nogle formodede Blicher-tekster“. In: Danske studier 82: 7: 10, S. 26-57. Albøge, Gordon (2003). Blicher og samfundet. Kopenhagen: Syddansk Universitetsforlag. Alpers, Svetlana (2001). „Interpretation ohne Darstellung - oder: Das Sehen von Las Meninas“. In: Baßler, Moritz (Hg.). New Historicism. Tübingen und Basel: A. Francke, S. 209-228. Andersen, Jens (2003). Andersen - En biografi. Kopenhagen: Gyldendal. Andersen, Jens (2005). Hans Christian Andersen. Übers. von Ulrich Sonneberg. Frankfurt a. M. und Leipzig: Insel. Assmann, Aleida (2013). „Formen des Schweigens“. In: Assmann, Aleida/ Assmann, Jan (Hg.). Schweigen (= Archäologie der literarischen Kommunikation 11). München: Wilhelm Fink, S. 51-68. Assmann, Aleida/ Assmann, Jan (Hg.) (2013). Schweigen (= Archäologie der literarischen Kommuni‐ kation 11). München: Wilhelm Fink. Assmann, Jan (1998). Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München: Hanser. Bach, Tine (2004). Exodus. Om den hjemløse erfaring i jødisk litteratur. Hellerup: Spring. Bachmann, Manuel/ Hofmeier, Thomas (Hg.) (1999). Geheimnisse der Alchemie. Basel: Schwabe. Baggesen, Søren (1965). Den blicherske novelle. Odense: Odense Universitetsforlaget. Baggesen, Søren (2001-2017). „Carsten Hauch“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab & Det Kongelige Bibliotek (Hg.). Arkiv for Dansk Litteratur. http: / / adl.dk/ solr_documents/ hauch-p (abgerufen am 02.10.2020). Bak, Sofie Lene (2004). Studier i dansk antisemitisme 1930-1945. Brydninger i den nationale selvforstå‐ else. Kopenhagen: Aschehoug. Bärsch, Claus-Ekkehard (2009). „Antijudaismus oder Antisemitismus/ Philojudaismus oder Philose‐ mitismus - Adäquate Begriffe? “. In: Diekmann, Irene/ Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Geliebter Feind - gehasster Freund: Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Berlin: VBB, S. 167-187. Barthes, Roland (1974). Die Lust am Text. Übers. von Traugott König. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Barthes, Roland (1990a). „Die Rauheit der Stimme“. In: Barthes, Roland. Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 269-278. Barthes, Roland (1990b). „Die Musik, die Stimme, die Sprache“. In: Barthes, Roland. Der entgegenkom‐ mende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 279-285. Barthes, Roland (1990c). „Der romantische Gesang“. In: Barthes, Roland. Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 286-292. 243 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Barthes, Roland (2000). „Der Tod des Autors“. In: Jannidis, Fotis/ Lauer, Gerhard/ Martinez, Ma‐ thias/ Winko, Simone (Hg.). Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, S. 185-196. Barthes, Roland (2006). „Junge Forscher“. In: Barthes, Roland. Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 92-99. Barthes, Roland (2014). Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bartl, Andrea/ Famula, Marta (2017). Vom Eigenwert der Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte. Würzburg: Könighausen & Neumann. Baßler, Moritz (2001). „Einleitung: New Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur“. In: Baßler, Moritz (Hg.). New Historicism. Tübingen und Basel: A. Francke, S. 7-28. Baßler, Moritz (2005). Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie (= Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 1). Tübingen und Basel: A. Francke. Battistini, Matilde (2007). Astrology, magic, and alchemy in art. Los Angeles: J. Paul Getty Museum. Bauman, Zygmunt (1995). „Große Gärten, kleine Gärten. Allosemitismus: Vormodern, Modern, Post‐ modern“. In: Werz, Harald (Hg.). Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt a.M.: Neue Kritik, S. 44-61. Becking, Bob (2006). „Jahwe/ JHWH“. In: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 22127/ (abgerufen am 02.10.2020). Behschnitt, Wolfgang (2006). Wanderungen mit der Wünschelrute. Landesbeschreibende Literatur und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert (= Identitäten und Alteritäten 23). Würzburg: Ergon. Behschnitt, Wolfgang (2007). „Aladdin und der romantische Dichter. Adam Oehlenschlägers Aladdin-Drama als dänische und deutsche Orientphantasie“. In: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.). Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Bielefeld: Aisthesis, S. 163-181. Belsey, Catherine (2000). „Von den Widersprüchen der Sprache. Eine Entgegnung auf Stephen Greenblatt“. In: Greenblatt, Stephen (Hg.). Was ist Literaturgeschichte. Mit einem Kommentar von Catherine Belsey. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 51-72. Berger, John (2016). Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Frankfurt a.M.: Fischer. Bergmann, Werner/ Wyrwa, Ulrich (2011). Antisemitismus in Zentraleuropa. Deutschland, Österreich und die Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Darmstadt: WBG. Bering, Dietz (2014). War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin: University Press. Bhabha, Homi K. (2000). Die Verortung der Kultur. Übers. von M. Schiffmann u. J. Freudl. Tübingen: Stauffenburg. Birklund Andersen, Ole (1996). Den faktiske sandheds poesi. Studier i historieromanen i første halvdel af det 19. århundrede. Aarhus: Aarhus Universitetsforlag. Blüdnikow, Bent (1981-1983). „Jødeuroen i København 1830“. In: Historie/ Jyske Samlinger, Ny række 14, S. 633-650. Blüdnikow, Bent/ Jørgensen, Harald (Hg.) (1984). Indenfor murene. Jødisk liv i Danmark 1684-1984. Udgivet af Selskabet for danskjødisk historie, i anledning af 300-året for grundlæggelsen af Mosaisk Troessamfund. Kopenhagen: Reitzel. Bock, Katharina (2011). Blühende Dornenzweige. Henrik Wergelands Gedichte und der „Judenparagraf “ in der norwegischen Verfassung. Humboldt-Universität zu Berlin (Masterarbeit). 244 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Bock, Katharina (2019). „Un-unheimliche Juden oder: Warum spukt es im Schloss? Steen Steensen Blichers Novelle über eine jüdische Familie in Jütland“. In: Hahn, Hans-Joachim/ Kistenmacher, Olaf (Hg.). Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II. Antisemitismus in Text und Bild - zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 37). Berlin und Boston: de Gruyter, S. 83-107. Bock, Katharina (2020). „Der Jude. Neun blühende Dornenzweige - Henrik Wergelands politische Dichtung gegen den ›Judenparagrafen‹ in der norwegischen Verfassung von 1814“. In: Räthel, Clemens/ Schnurbein, Stefanie von (Hg.). Figurationen des Jüdischen. Spurensuchen in der skandi‐ navischen Literatur (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik 27). Berlin: Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 275-313. Bogdal, Klaus-Michael (2014). Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin: Suhrkamp. Bogdal, Klaus-Michael/ Holz, Klaus/ Lorenz, Matthias N. (Hg.) (2007). Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart und Weimar: Metzler. Bøggild, Jacob (2009). „Genre- und Stimmenvielfalt in den Erzählungen von Hans Christian An‐ dersen“. In: Müller-Wille, Klaus (Hg.). Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne (= Beiträge zur Nordischen Philologie 46). Tübingen und Basel: A. Francke, S. 199-214. Bøggild, Jacob/ Grum-Schwensen, Ane/ Bøgh Thomsen, Torsten (Hg.) (2015a). H.C. Andersen og det uhyggelige. Odense: Syddansk Universitetsforlag. Bøggild, Jacob/ Grum-Schwensen, Ane/ Bøgh Thomsen, Torsten (2015b). „H.C. Andersen og det uhyggelige. En indledning“. In: Bøggild, Jacob/ Grum-Schwensen, Ane/ Bøgh Thomsen, Torsten (Hg.). H.C. Andersen og det uhyggelige. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 9-17. Bom, Anne Klara/ Bøggild, Jacob/ Nørregaard Frandsen, Johs. (Hg.) (2014a). H.C. Andersen i det moderne samfund. Odense: Syddansk Universitetsforlag. Bom, Anne Klara/ Bøggild, Jacob/ Nørregaard Frandsen, Johs. (2014b). „H.C. Andersen i det moderne samfund. En indledning“. In: Bom, Anne Klara/ Bøggild, Jacob/ Nørregaard Frandsen, Johs. (Hg.). H.C. Andersen i det moderne samfund. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 9-20. Boyarin, Daniel (2007). Border lines. The Partition of Judeo-Christianity. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Brandenburg, Florian (2013). „Ökononemesis und der maßlose Wert der Literatur. Zu Figuren des Ökonomischen in Carsten Hauchs Slottet ved Rhinen (1845)“. In: Müller-Wille, Klaus/ Schiedermair: Joachim (Hg.). Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus (1800-1870) (= Beiträge zur Nordischen Philologie 51). Tübingen und Basel: A. Francke, S. 165-192. Brandenburg, Florian (2014). „‚At Orientaleren skal tale som Orientaler…‘ Zur Problematik von Form und Funktion ‚Jüdischen Sprechens‘ in M. A. Goldschmidts En Jøde (1845/ 52)“. In: European Journal of Scandinavian Studies 44: 1, S. 103-126. Braun, Christina von (1992). „‚Der Jude‘ und ‚Das Weib‘. Zwei Stereotypen des ‚Anderen‘ in der Moderne“. In: Heid, Ludger/ Knoll, Joachim (Hg.). Deutsch-jüdische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart und Bonn: Burg, S. 289-322. Braun, Christina von (2013). „Vorwort: ‚Jüdische Identität‘? “. In: Sucker, Juliane/ Wohl von Haselberg, Lea (Hg.). Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 6). Berlin und Boston: de Gruyter, S. 1-9. Brøndsted, Mogens (1967). Goldschmidts Fortællekunst. Kopenhagen: Gyldendal. 245 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Brøndsted, Mogens (1988). „Efterskrift“. In: Hans Christian Andersen. Kun en Spillemand. Original Roman i tre Dele. Valby: Borgen, S. 279-295. Brøndsted, Mogens (Hg.) (2007a). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag. Brøndsted, Mogens (2007b). „Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Indledning“. In: Brøndsted, Mogens (Hg.). Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 9-61. Bronfen, Elisabeth (2009). „Pop Nacht. Andersens Spaziergang in einer Sylvesternacht (1829)“. In: Müller-Wille, Klaus (Hg.). Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne (= Beiträge zur Nordischen Philologie 46). Tübingen und Basel: A. Francke, S. 117-131. Bronfen, Elisabeth/ Erdle, Birgit R./ Weigel, Sigrid (Hg.) (1999). Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster (= Literatur - Kultur - Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 14). Köln, Weimar und Wien: Böhlau. Broue Jensen, Anni (1983). Penge og kærlighed. Religion og socialitet i Thomasine Gyllembourgs forfatterskab. Odense: Odense Universitetsforlag. Brovold, Madelen Marie (2016). De første jødene. Norsk dramatikk (1825-1852). Universität Oslo (Masterarbeit). Brovold, Madelen Marie (2019). „Stereotypier og satire: Jødeparagrafen debattert i tre norske damaer 1844-1852“. In: Norsk Litteraturvitenskapelig tidsskrift 22: 1, S. 55-75. Brunotte, Ulrike/ Ludewig, Anna-Dorothea/ Stähler, Axel (Hg.) (2015). Orientalism, gender, and the jews. Literary and artistic transformations of European national discourses (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 23). Berlin und Boston: de Gruyter. Buckser, Andrew (2003). After the rescue. Jewish identity and community in contemporary Denmark. New York: Palgrave Macmillan. Budde, Michael (2001). „Eisvergnügen und andere Lebenswirklichkeiten. Bedeutungsebenen hol‐ ländischer Winterlandschaften“. In: Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Preußischer Kulturbesitz (Hg.). Die „Kleine Eiszeit“. Holländische Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert. Berlin: Staatliche Museen zu Berlin, S. 64-84. Buntz, Herwig (1986). „Alchemie und Aufklärung: Die Diskussion in der Zeitschrift Parnassus Boicus (1722-1740)“. In: Meinel, Christoph (Hg.). Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, S. 327-344. Burdorf, Dieter/ Fasbender, Christoph/ Moennighoff, Burkhard/ Schweikle, Günther/ Schweikle, Irm‐ gard (Hg.) (2007). Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart: Metzler. Cheyette, Brian (1993). Constructions of ‘The Jew’ in English Literature and Society. Racial representa‐ tions, 1877-1945. Cambridge: Cambridge University Press. Chraska, Wilhelm (1986). Steen Steensen Blicher zwischen Dichtung und Wirklichkeit (= Europäische Hochschulschriften 894). Frankfurt a. M., Bern und New York: Peter Lang. Daemmrich, Horst S. und Ingrid G. (1995). Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Tübingen und Basel: A. Francke. Dal, Erik (1965). „Ahasverus, den evige Jøde. I: Sagnet i dansk og tysk folkedigning“. In: Fund og Forskning 12, S. 31-42. Dal, Erik (1993). „Jødiske elementer i H. C. Andersens skrifter“. In: de Mylius, Johan/ Jørgensen, Aage/ Hjørnager Pedersen, Viggo (Hg.). Andersen og verden. Indlæg fra den første internationale 246 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) H. C. Andersen-konference, 25.-31. august 1991. Odense: Odense Universitetsforlag, S. 444-452. http: / / andersen.sdu.dk/ forskning/ konference/ tekst_e.html? id=9723 (abgerufen am 02.10.2020). de Mylius, Johan (1981). Myte og roman. H. C. Andersens romaner mellom romantik og realisme. En tradisjonshistorisk undersøgelse. Kopenhagen: Gyldendal. de Mylius, Johan (2004). Forvandlingens pris. H. C. Andersen og hans eventyr. Kopenhagen: Høst & Søn. de Mylius, Johan (2005a). HCA. Et livs digtning. Kopenhagen: Aschehoug. de Mylius, Johan (2005b). „Luzifer als Märchenonkel“. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 46: 1-2, S. 3-16. de Mylius, Johan (2005c). „Nachwort“. In: Hans Christian Andersen. Nur ein Spielman. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 355-367. de Mylius, Johan (2016). Livet og skriften. En bog om H.C. Andersen. Kopenhagen: Gads. de Mylius, Johan (2001-2017). „Hans Christian Andersen“. In: Det Danske Sprogog Litteraturselskab & Det Kongelige Bibliotek (Hg.). Arkiv for Dansk Litteratur. www.adl.dk/ solr_documents/ hca-p (abgerufen am 02.10.2020). Derrida, Jaques (1986). Schibboleth: pour Paul Celan. Paris: Ed. Galilée. Det Danske Sprogog Litteraturselskab (1927). „Jomfru“. In: Ordbog over det Danske Sprog. Historisk Ordbog 1700-1950. Bd. 9. Kopenhagen: DSL. https: / / ordnet.dk/ ods/ ordbog? query=jomfru (abge‐ rufen am 02.10.2020). Det Danske Sprogog Litteraturselskab (1929). „Kreol“. In: Ordbog over det Danske Sprog. Historisk Ordbog 1700-1950. Bd. 11. Kopenhagen: DSL. https: / / ordnet.dk/ ods/ ordbog? query=kreol (abge‐ rufen am 02.10.2020). Det Danske Sprogog Litteraturselskab (1939). „sgu“. In: Ordbog over det Danske Sprog. Historisk Ordbog 1700-1950. Bd. 18. Kopenhagen: DSL. https: / / ordnet.dk/ ods/ ordbog? query=sgu (abgerufen am 02.10.2020). Det Danske Sprogog Litteraturselskab (1981-1988). „Jomfru“. In: Holberg-Ordbog. Bd. 3. Kopenhagen 1981-1988. https: / / holbergordbog.dk/ ordbog? query=jomfru (abgerufen am 02.10.2020). Detering, Heinrich (1998). „‚Zukunftspoesie‘. Zu Andersens poetologischen Schriften“. In: Heitmann, Annegret/ Hoff, Karin (Hg.). Ästhetik der skandinavischen Moderne. Bernhard Glienke zum Gedenken (= Beiträge zur Skandinavistik 14). Frankfurt a. M., Bern und New York: Peter Lang, S. 17-34. Detering, Heinrich (2002a). Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Durchgesehene und mit einer Nachbemerkung versehene Studienausgabe. Göttingen: Wallstein. Detering, Heinrich (2002b). „‚der Wahrheit, wie er sie erkennt, getreu‘. Aufgeklärte Toleranz und religiöse Differenz bei Christian Wilhelm Dohm“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 55: 4, S. 326-351. Diekmann, Irene/ Kotowski, Elke-Vera (Hg.) (2009). Geliebter Feind - gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Berlin: VBB. Dietz, Thorsten (2009). Der Begriff der Furcht bei Luther. Tübingen: Mohr Siebeck. Dupré, Sven/ Kerssenbrock-Krosigk, Dedo von/ Wismer, Beat (Hg.) (2014). Kunst und Alchemie. Das Geheimnis der Verwandlung. Düsseldorf: Stiftung Museum Kunstpalast. Dvergsdal, Alvhild (1993). „‚Pleiaderne ved Midnat‘ av Carsten Hauch. Om å gjøre et rum ubegribe‐ ligt“. In: Årsberetning 1992. Institut for nordisk Sprog og Litteratur, Aarhus Universitet, S. 27-35. 247 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Edelmann, R. (1965). „Ahasverus, den evige Jøde. II: Sagnets oprindelse og baggrund“. In: Fund og Forskning 12, S. 42-46. Ejrnæs, Anne Marie (1986). Som svalen. Kopenhagen: Rosinante. Ejrnæs, Anne Marie (2000). Wie die Schwalbe am Himmel. Übers. von Sigrid Engeler. München: dtv. Elkins, James (1999). What painting is, how to think about painting, using the language of alchemy. New York: Routledge. Emcke, Carolin (2012). Wie wir begehren. Frankfurt a.M.: Fischer. Engel, Manfred (2009). „Das ‚Wahre‘, das ‚Gute‘ und die ‚Zauberlaterne der Begeisterten Phantasie‘. Legitimationsprobleme der Vernunft in der Spätaufklärerischen Schwärmerdebatte“. In: German Life and Letters 62: 1, S. 53-66. Erb, Rainer/ Bergmann, Werner (1989). Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860. Berlin: Metropol. Eriksen, Nicolai (1999). „Mellem kosmos og fædreland - et blik på B.S. Ingemanns salmer og historiske romaner“. In: Transfiguration, nordisk tidsskrift for kunst og kristendom 1: 1, S. 87-116. Frick, Eckhard (2000). „C.G. Jung und die Alchemie: Die Anerkennung des Unbewussten im Nicht‐ psychischen“. In: Analytische Psychologie 31: 4, S. 318-321. Fricke, Hannes (2004). Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen: Wallstein. Frübis, Hildegard (2014). Die Jüdin als Orientalin oder die orientalische Jüdin. Zur Konstruktion eines Bild-Typus (= Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien 8). Graz: Leykam. Galster, Kjeld (1930). Carsten Hauchs Barndom og Ungdom (1790-1827). Kolding: Jørgensen. Galster, Kjeld (1935). Carsten Hauchs Manddom og Alderdom (1827-1872). Kolding: Jørgensen. Gardiner, John Elliot (2016). Bach. Musik für die Himmelsburg. München: Hanser. Gebelein, Helmut (1998). „Zur Alchemie im Werk Novalis.“ In: Rommel, Gabriele/ Forschungsstätte für Frühromantik und Novalis-Museum Schloss Oberwiederstedt (Hg.). Geheimnisvolle Zeichen. Alchemie, Magie, Mystik und Natur bei Novalis. Berlin: Edition Leipzig, S. 133-140. Gebelein, Helmut (2002). „Alchemy and Chemistry in the Work of Goethe. Lecture with experiments“. In: Lembert, Alexandra/ Schenkel, Elmar (Hg.). The Golden Egg. Alchemy in Art and Literature (Leipzig Explorations in Literature and Culture 4). Glienicke/ Berlin und Cambridge/ Massachusetts: Galda + Wilch, S. 9-29. Gender-Killer, A.G. (Hg.) (2005). Antisemitismus und Geschlecht. Von „effiminierten Juden“, „maskuli‐ nisierten Jüdinnen“ und anderen Geschlechterbildern. Münster: Unrast. Glauser, Jürg (1987). „Italienische Kindheit und nordisches Foyer. Zu Bernhard Severin Ingemanns Erzählung ‚Altertavlen i Sorø‘“. In: Baumgartner, Walter (Hg.). Applikationen. Analysen skandinavi‐ scher Erzähltexte (= Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik 13). Frankfurt a. M., Bern und New York: Peter Lang, S. 131-160. Gloßmann, Erik (2003). „Die Prosa seines Lebens. Zu Hans Christian Andersens Roman Sein oder nicht sein“. In: Andersen, Hans Christian. Sein oder nicht sein. Cadolzburg: Ars Vivendi, S. 276-287. Greenblatt, Stephen (1988). Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansicht der englischen Renaissance. Berlin: Wagenbach. Grimm, Jacob und Wilhelm (1854-1961). „Schwärmerei“. In: Grimm, Jacob und Wilhelm (Hg.). Deut‐ sches Wörterbuch. Bd. 15. Leipzig: S. Hirzel, Sp. 2292 f. http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNe tz/ wbgui_py? sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GS20656#XGS20656 (abgerufen am 02.10.2020). 248 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Grimm, Markus (2013). „Die Begriffsgeschichte des Philosemitismus“. In: Jahrbuch für Antisemitis‐ musforschung 22, S. 244-266. Grözinger, Elvira (2003). Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur. Berlin: Philo. Gubser, Martin (1998). Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein. Gurley, David Gantt (2016). Meïr Aaron Goldschmidt and the Poetics of Jewish Fiction. Syracuse: Syracuse University Press. Gutsche, Victoria Luise (2014). Zwischen Abgrenzung und Annäherung. Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des 17. Jahrhunderts (= Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 186). Berlin und Boston: de Gruyter. Hansen, Sten (1997). „Inspirationskilder i Thomasine Gyllembourgs Ægtestand. Selvoplevelse og digtning“. In: Danske studier 92, S. 197-208. Harbo, Erik (2008). Frøkenen fra Hald. Kopenhagen: Gyldendal. Hartwich, Wolf-Daniel (2005). Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Haverkamp, Anselm (1994). „Anagramm und Trauma: Zwischen Klartext und Arabeske“. In: Kot‐ zinger, Susi/ Ripple, Gabriele (Hg.). Zeichen zwischen Klartext und Arabeske (= Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 7). Wien und Amsterdam: Rodopi, S. 169-174. Haxen, Ulf (2001). „Skandinavien“. In: Kotowski, Elke-Vera/ Schoeps, Julius H./ Wallenborn, Hiltrud (Hg.). Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Band 1. Länder und Regionen. Darmstadt: Primus, S. 487-500. Heede, Dag (2005). Hjertebrødre. Krigen om H.C. Andersens seksualitet. Odense: Syddansk Universi‐ tetsforlag. Heede, Dag (2009). „Busenfreunde und Frauenleichen oder Der dänische Krieg um Hans Christian Andersens Sexualität“. In: Müller-Wille, Klaus (Hg.). Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne (= Beiträge zur Nordischen Philologie 46). Tübingen und Basel: A. Francke, S. 179-196. Heinrichs, Wolfgang E. (2009). „Juden als ideelle Hoffnungs- und Heilsträger im Protestantismus des 18. und 19. Jahrhunderts“. In: Diekmann, Irene/ Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Geliebter Feind - gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Berlin: VBB, S. 213-231. Heitmann, Annegret (2015). „Nicht-Wissen und Geheimnis in Thomasine Gyllembourgs Extremerne (1835)“. In: Schiedermair, Joachim/ Müller-Wille, Klaus (Hg.). Diskursmimesis. Thomasine Gyllem‐ bourgs Realismus im Kontext aktueller Kulturwissenschaften. München: Hubert Utz, S. 37-56. Henningsen, Bernd (2009). Dänemark. München: Beck. Heß, Cordelia (2020). „Nordic Otherness. Research on Antisemitism in the Nordic Countries in an international Context“. In: Adams, Jonathan/ Heß, Cordelia (Hg.). Antisemitism in the North. History and State of Research (= Religious Minorites in the North: History, Politics, and Culture 1). Berlin und Boston: de Gruyter, S. 3-18. Himmelstrup, Jens (1934). Sibbern. En Monografi. Kopenhagen: J.H. Schultz. Hoffmann, Christhard (1994). „Christlicher Antijudaismus und moderner Antisemitismus. Zusam‐ menhänge und Differenzen als Problem der historischen Antisemitismusforschung“. In: Sie‐ 249 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) gele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.). Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme deutscher Christen. Frankfurt a.M.: Haag + Herchen, S. 293-317. Hoheisel, Karl (1986). „Christus und der philosophische Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg“. In: Meinel, Christoph (Hg.). Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschafts‐ geschichte. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, S. 61-84. Holz, Klaus (2001). Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Ed. Holz, Klaus (2010). „Der Jude. Dritter der Nation“. In: Eßlinger, Eva/ Schlechtriemen, Tobias/ Schweitzer, Doris/ Zons, Alexander (Hg.). Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Para‐ digma. Berlin: Suhrkamp, S. 292-303. Hvidberg-Hansen, Finn O. (2004). „Mellem derwisher, jøder og katoliker“. In: Bach-Nielsen, Carsten/ Ottesen, Doris (Hg.). Andersen & Gud. Teologiske læsninger i H.C. Andersens forfatterskab. Kopen‐ hagen: ANIS, S. 119-138. Jolles, André (1986). Einfache Formen. 4., unveränderte Aufl. Tübingen: Max Niemeyer. Jung, Carl Gustav (1995). Psychologie und Alchemie. In: C. G. Jung. Gesammelte Werke. 20 Bde., Bd. 12. Jung-Merker, Lilly/ Rüf, Elisabeth (Hg.). Düsseldorf: Walter. Karp, Jonathan/ Sutcliffe, Adam (Hg.) (2011a). Philosemitism in history. Cambridge u.a.: Cambridge University Press. Karp, Jonathan/ Sutcliffe, Adam (2011b). „Introduction: A Brief History of Philosemitism“. In: Karp, Jonathan/ Sutcliffe, Adam (Hg.). Philosemitism in History. Cambridge u.a.: Cambridge University Press, S. 1-26. Katz, Jacob (1994). Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819. Berlin: Metropol. Kaufmann, Thomas (2013). Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisie‐ rung. 2. durchges. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck. Kaufmann, Thomas (2014). Luthers Juden. Stuttgart: Reclam. Kentridge, William (2016). Sechs Zeichenstunden. The Charles Eliot Norton Lectures, 2012. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Kilcher, Andreas (2012). „‚jüdisch-christlich‘. Topik und Rhetorik eines Dritten“. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 22, S. 19-33. Kinzig, Wolfram (2009). „Philosemitismus - was ist das? Eine kritische Begriffsanalyse“. In: Diekmann, Irene/ Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Geliebter Feind - gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemi‐ tismus in Geschichte und Gegenwart. Berlin: VBB, S. 25-60. Kirmmse, Bruce H. (1991-1992). „Hans Christian og Jødepigen. En historisk undersøgelse af noget ‚underligt‘“. In: Rambam. Tidsskrift for jødisk kultur og forskning 31: 1, S. 59-66. Kjærgaard, Kristoffer (2011). „St. St. Blicher og jøderne. Blichers politiske forfatterskap“. In: K & K, Kultur & Klasse Nr. 111: 1, S. 49-65. Kjærgaard, Kristoffer (2013). Opfindelsen af jødiskhed, 1813-1849. Semitisk diskurs og produktionen af jødiskhed som andethed. Universität Roskilde (Dissertation). Klüger, Ruth (2007). „Die Säkularisierung des Judenhasses am Beispiel von Wilhelm Raabes ‚Der Hungerpastor‘“. In: Bogdal, Klaus-Michael/ Holz, Klaus/ Lorenz, Matthias N.. Literarischer Antise‐ mitismus nach Auschwitz. Stuttgart und Weimar: Metzler, S. 103-110. Koch, Ulrike (2017). „Erzählung als Eigenwert von Literatur. Oder über den Zusammenhang von Lesen und Identität“. In: Bartl, Andrea/ Famula, Marta (Hg.). Vom Eigenwert der Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 279-296. 250 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Kofoed, Niels (1992). H. C. Andersen og B. S. Ingemann. Et livsvarigt venskab. Kopenhagen: Reitzel. Kofoed, Niels (2004). „Den religiøse fritænker. Nogle erkendelsesmæssige antinomier i romanen At være eller ikke være (1857)“. In: Bach-Nielsen, Carsten/ Ottesen, Doris (Hg.). Andersen & Gud. Teologiske læsninger i H.C. Andersens forfatterskab. Kopenhagen: ANIS, S. 81-99. Koolhaas, Marnix (2010). Schaatsenrijden. Een cultuurgeschiedenis. Amsterdam: Veen. Körte, Mona (1998). „Das ‚Bild des Juden in der Literatur‘. Berührungen und Grenzen von Litera‐ turwissenschaft und Antisemitismusforschung“. In: Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin (Hg.). Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Berlin und Frankfurt a.M.: Metropol und Campus, S. 140-150. Körte, Mona (2000). Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt a.M. und New York: Campus. Körte, Mona (2006). „Unendliche Wiederkehr. Der ewige Jude und die Literatur“. In: Jasper, Willi/ Lezzi, Eva/ Liebs, Elke/ Peitsch, Helmut (Hg.). Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur 15). Wiesbaden: Harras‐ sowitz, S. 43-59. Körte, Mona (2007). „Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘. Technik oder Demontage eines Literarischen Antisemitismus? “. In: Bogdal, Klaus-Michael/ Holz, Klaus/ Lorenz, Matthias N. (Hg.). Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart und Weimar: Metzler, S. 59-73. Kowalski, Jörg (1987). „Die Chiffre der Lösung“. In: Neue deutsche Literatur 35: 3, S. 118-123. Kremer, Detlef (1993). „Alchemie und Kabbala. Hermetische Referenzen im ‚Goldenen Topf ‘“. In: E.-T.-A.-Hoffmann-Jahrbuch. Mitteilungen der E.-T.-A.-Hoffmann-Gesellschaft 2, S. 36-56. Krobb, Florian (1993). Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzähllite‐ ratur vom 17. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg (= Conditio Judaica 4). Tübingen: Niemeyer. Krobb, Florian (2007). „Was bedeutet literarischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert? Ein Proble‐ maufriss“. In: Bogdal, Klaus-Michael/ Holz, Klaus/ Lorenz, Matthias N. (Hg.). Literarischer Antise‐ mitismus nach Auschwitz. Stuttgart und Weimar: Metzler, S. 85-101. Langås, Unni (2016). Traumets betydning i norsk samtidslitteratur. Bergen: Fagbokforlaget. Langballe, Carl (1949). B. S. Ingemann. Et Digterbillede i ny Belysning. Kopenhagen: Gyldendal. Langballe, Jesper (2004). Anlangendes et menneske. Blichers forfatterskap - selvopgør og tidsopgør. Odense: Syddansk Universitetsforlag. Lembert, Alexandra/ Schenkel, Elmar (Hg.) (2002). The Golden Egg. Alchemy in Art and Literature. (= Leipzig Explorations in Literature and Culture 4). Glienicke/ Berlin und Cambridge/ Massachu‐ setts: Galda + Wilch. Lezzi, Eva (2006). „‚… ewig rein wie die heilige Jungfrau …‘ Zur Enthüllung des Jüdischen in der Rezeption von deutschsprachigen Romanen um 1800“. In: Jasper, Willi/ Lezzi, Eva/ Liebs, Elke/ Petisch, Helmut (Hg.). Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur 15). Wiesbaden: Harrassowitz, S. 61-86. Lezzi, Eva (2013). »Liebe ist meine Religion! « Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein. Liedtke, Ralf (1998). „Hardenbergs Chemo-Technik. Romantisches Naturdenken im Geiste von Al‐ chemie und Hermetik“. In: Rommel, Gabriele/ Forschungsstätte für Frühromantik und Novalis-Mu‐ seum Schloss Oberwiederstedt (Hg.). Geheimnisvolle Zeichen. Alchemie, Magie, Mystik und Natur bei Novalis. Berlin: Edition Leipzig, S. 119-132. 251 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Lorenz, Matthias N. (2007). „Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusfor‐ schung. ‚Tod eines Kritikers‘ im Werkkontext“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte ZRGG 59: 2, S. 142-154. Ludewig, Anna-Dorothea (2008). „‚Schönste Heidin, süßeste Jüdin! ‘ Die ‚Schöne Jüdin‘ in der europäischen Literatur zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert - ein Querschnitt“. In: Medaon. Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung 3, S. 1-15. Lund, Hannah Lotte (2012). Der Berliner „jüdische Salon“ um 1800. Emanzipation in der Debatte (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 1) Berlin und Boston: de Gruyter. Lundgreen-Nielsen, Flemming (1989). „Sjælens natside. Det ubevidste i dansk romantik“. In: Boll-Jo‐ hansen, Hans/ Lundgreen-Nielsen, Flemming (Hg.). Kaos og kosmos. Studier i europæisk romantik. Kopenhagen: Museum Tusculanums Forlag, S. 75-100. Lundgreen-Nielsen, Flemming/ Harding, Merete (2020). „B.S. Ingemann“. In: Gyldendal. Den Store Danske. Kopenhagen: Gyldendal (zuletzt bearbeitet: 07.05.2020). https: / / denstoredanske.lex.dk/ B. S._Ingemann (abgerufen am 07.10.2020). Mahal, Günther (1998). „Faust und Alchemie“. In: Mahal, Günther (Hg.). Faust. Neuried: ars una, S. 51-58. Marquardt, Franka (2003). Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Münster u.a.: LIT. Massey, Irving (2000). Philo-semitism in nineteenth-century German literature (= Conditio Judaica 29). Tübingen: Niemeyer. Mayer, Hans (1981). Außenseiter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Meinel, Christoph (Hg.) (1986a). Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden: Harrassowitz. Meinel, Christoph (1986b). „Alchemie und Musik“. In: Meinel, Christoph (Hg.). Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden: Harrassowitz, S. 201-225. Meller, Harald/ Reichenberger, Alfred/ Wunderlich, Christian-Heinrich (Hg.) (2016). Alchemie. Die Suche nach dem Weltgeheimnis. Halle: Landesmuseum für Vorgeschichte. Mendelsohn, Oskar (1969). Jødenes Historie i Norge gjennom 300 år. Bd. 1. Oslo: Universitetsforlaget. Minke, Kim (2008). „En himmels glans på jord - sange og salmer“. In: Mortensen, Klaus P./ Schack, May (Hg.). Dansk litteraturs historie. Bd. 2. Kopenhagen: Gyldendal. https: / / dansklitteraturshistor ie.lex.dk/ En_himmelsk_glans_på_jord_-_sange_og_salmer (abgerufen am 07.10.2020). Møller, Lis (2015). „Refashioning the ‚Marsk Stig‘ Ballads: B.S. Ingemann’s The Childhood of King Erik Menved and Carsten Hauch’s Marsk Stig“. In: European Romantic Review 26: 4, S. 417-433. Mortensen, Klaus P. (1986). Thomasines oprør. En familiehistorisk biografi om køn og kærlighed i forrige århundrede. Kopenhagen: Gad. Müller-Jahncke, Wolf-Dieter/ Telle, Joachim (1986). „Numismatik und Alchemie. Mitteilungen zu Münzen und Medaillen des 17. und 18. Jahrhunderts“. In: Meinel, Christoph (Hg.). Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden: Harrassowitz, S. 229-275. Müller-Wille, Klaus (Hg.) (2009). Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne (= Bei‐ träge zur Nordischen Philologie 46). Tübingen und Basel: A. Francke. Müller-Wille, Klaus (2014). „H.C. Andersen og den moderne populærkultur. Om kitsch og rutsjebaner i Kun en Spillemand“. In: Bom, Anne Klara/ Bøggild, Jacob/ Nørregard Frandsen, Johs. (Hg.). H.C. Andersen i det moderne samfund. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 91-109. 252 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Müller-Wille, Klaus (2015). „At læse udenad og indeni - fikserbilledet og H.C. Andersens uhyggelige retorik“. In: Bøggild, Jacob/ Grum-Schwensen, Ane/ Bøgh Thomsen, Torsten (Hg.). H.C. Andersen og det uhyggelige. Odense: Syddansk Universitetsforlag, S. 149-174. Müller-Wille, Klaus (2016). „Romantik - Biedermeier - Poetischer Realismus (1800-1870)“. In: Glauser, Jürg (Hg.). Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler, S. 133-185. Müller-Wille, Klaus (2017). Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik (= Zur Genea‐ logie des Schreibens 21). Paderborn: Wilhelm Fink. Müller-Wille, Klaus/ Schiedermair, Joachim (2013). „Wechselkurse des Vertrauens - Zur Einführung“. In: Müller-Wille, Klaus/ Schiedermair, Joachim (Hg.). Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptu‐ alisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus (1800-1870) (= Beiträge zur Nordischen Philologie 51). Tübingen und Basel: A. Francke, S. IX-XXVI. Nate, Kramer (2013). „‚Ud maate jeg‘: Andersen’s Fodreise as Transgressive Space“. In: Scandinavian Studies. The Journal of the Society for the Advancement of Scandinavian Study 85: 1, S. 39-66. Neumann, Birgit (2008). „Trauma und Literatur“. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, S. 728-729. Nirenberg, David (2015). Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. München: Beck. Nørvig, Johannes (1943). Steen Steensen Blicher. Hans liv og værker. Kopenhagen: Munksgaard. Nun, Katalin (2013). Women of the Danish Golden Age. Literature, Theater and the Emancipation of Women. Kopenhagen: Museum Tusculanum Press. Øhrgaard, Per (2010). „Hans Christian Andersens Fußreise und die deutsche Romantik“. In: Heitmann, Annegret/ Roswall Laursen, Hanne (Hg.). Romantik im Norden. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 91-103. Oppenheim, Meret (2013). „Rede anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Basel 1974 am 16. Januar 1975“. In: Eipeldauer, Heike/ Brugger, Ingried/ Sievernich, Gereon (Hg.). Meret Oppenheim. Retrospektive. (Ausstellungskatalog Bank Austria Kunstforum, Wien, Martin-Gropius-Bau, Berlin). Ostfildern: Hatje Cantz, S. 270-271. Osterkamp, Ernst (2006). „Judith. Schicksale einer starken Frau vom Barock zur Biedermeierzeit“. In: Martus, Steffen/ Polaschegg, Andrea (Hg.). Das Buch der Bücher - gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Band 13). Frankfurt a. M., Bern und New York: Peter Lang, S. 171-195. Oxfeldt, Elisabeth (2005). Nordic orientalism. Kopenhagen: Museum Tusculanum Press. Oxfeldt, Elisabeth (Hg.) (2006). H. C. Andersen - eventyr, kunst og modernitet. Bergen: Fagbokforlaget. Penzold, Michael (2010). Begründungen weiblichen Schreibens im 19. Jahrhundert. Produktive Aneig‐ nungen des biblischen Buches Rut bei Bettine von Arnim und Thomasine Gyllembourg (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 713). Würzburg: Königs‐ hausen & Neumann. Poggendorff, J. C. (1863). Biografisch-Literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissen‐ schaften. Enthaltend Nachweisungen über Lebensverhältnisse und Leistungen von Mathematikern, Astronomen, Physikern, Chemikern, Mineralogen, Geologen usw. aller Völker und Zeiten. Bd. 2, M-Z. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth. Polaschegg, Andrea (2005). Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin und Boston: de Gruyter. 253 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Priesner, Claus (2010). „Der junge Goethe, die Alchemie und die Anfänge des ‚Faust‘“. In: Wellnitz, Philippe (Hg.). Goethes Faust I zwischen Tradition und Modernität. Straßburg: Presses Univ. de Strasbourg, S. 175-215. Räthel, Clemens (2016). Wie viel Bart darf sein? Jüdische Figuren im skandinavischen Theater. Tübingen: Narr Francke Attempto. Räthel, Clemens (2020a). „All the world is a stage - Theatre and the means of otherness in H. C. Andersen’s Lucky Peer and Karen Blixen’s The Dreamers“. In: Räthel, Clemens/ Schnurbein, Stefanie von (Hg.). Figurationen des Jüdischen. Spurensuchen in der skandinavischen Literatur (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik 27). Berlin: Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 139-158. Räthel, Clemens (2020b). „Beyond Shylock. Depictions of Jews in Scandinavian Theatre and Litera‐ ture“. In: Adams, Jonathan/ Heß, Cordelia (Hg.). Antisemitism in the North. History and State of Research (= Religious Minorites in the North: History, Politics, and Culture 1). Berlin und Boston: de Gruyter, S. 107-123. Räthel, Clemens/ Schnurbein, Stefanie von (Hg.) (2020a). Figurationen des Jüdischen. Spurensuchen in der skandinavischen Literatur (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik 27). Berlin: Nordeuropa-In‐ stitut der Humboldt-Universität zu Berlin. Räthel, Clemens/ Schnurbein, Stefanie von (2020b). „Einleitung“. In: Räthel, Clemens/ Schnurbein, Stefanie von (Hg.). Figurationen des Jüdischen. Spurensuchen in der skandinavischen Literatur (= Berliner Beiträge zur Skandinavistik 27). Berlin: Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 7-23. Rensmann, Lars/ Faber, Klaus (2009). „Philosemitismus und Antisemitismus: Reflexionen zu einem ungleichen Begriffspaar“. In: Diekmann, Irene/ Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Geliebter Feind - ge‐ hasster Freund: Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Berlin: VBB, S. 73-91. Robertson, Ritchie (1998). „Historizing Weininger: The Nineteenth-Century German Image of the Feminized Jew“. In: Cheyette, Brian/ Marcus, Laura (Hg.). Modernity, Culture and ‚the Jew‘. Cambridge: Polity Press, S. 23-39. Rohde, H. P. (1977). „Om Steen Steensen Blicher“. In: Rohde, H. P. (Hg.). Steen Steensen Blicher. Samlede Noveller. Bd. 1. Odense: Lademann, S. 7-21. Rohlén-Wohlgemuth, Hilde (1995). Svensk-judisk litteratur 1775-1994: en litteraturhistorisk översikt. Spånga: Megilla-Förlaget. Rohrbacher, Stefan (2002). „The ‚Hep Hep‘ riots of 1819. Anti-Jewish ideology, agitation, and violence“. In: Hoffmann, Christhard/ Bergmann, Werner/ Walser Smith, Helmut (Hg.). Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History. Ann Arbor: University of Michigan Press, S. 23-42. Rölleke, Heinz (2004). Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam. Rosenberg, Tiina (2000). Byxbegär. Göteborg: Anamma. Rosenberg, Tiina (2002). Queerfeministisk agenda. Stockholm: Atlas. Rosenfeld, Hellmut (1982). Legende. 4., verbesserte und vermehrte Aufl. Stuttgart: Metzler. Rossel, Sven H. (1990). „Midnight Songs and Churchyard Ballads: The Other Ingemann. A Study in Danish ‚Gothic‘ Romanticism“. In: Sooman, Imbi (Hg.). Vänbok. Festgabe für Otto Gschwantler. Wien: VWGÖ, S. 237-264. Roth, Michael (2005). Splendor Solis oder Sonnenglanz. Von der Suche nach dem Stein der Weisen. Berlin: Staatliche Museen zu Berlin. 254 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Rothlauf, Getraud (2009). Vom Schtetl zum Polarkreis. Juden und Judentum in der norwegischen Literatur. Universität Wien (Dissertation). Ruck, Carl A.P./ Hoffman, Mark A. (2012). The effluents of deity, alchemy and psychoactive sacraments in medieval and Renaissance art. Durham, N.C.: Carolina Academic Press. Rürup, Reinhard (1975). Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ in der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rutherford, Jonathan (1990). „The Third Space. Interview with Homi Bhabha“. In: Rutherford, Jonathan (Hg.). Identity: Community, Culture, Difference. London: Lawrence and Wishart, S. 207- 221. Sagarra, Eda (1987). „Jewish emancipation in nineteenth-century Germany and the stereotyping of the Jew in Gustav Freytag’s Soll und Haben (1855)“. In: Dunne, Tom (Hg.). The Writer as Witness: literature as historical evidence. Historical Studies XVI. Papers read before the Irish Conference of Historians, held at University College, Cork, 23-26 May 1985. Cork: Cork University Press, S. 160-176. Sagmo, Ivar (2000). „Der Judenartikel in der norwegischen Verfassung von 1814 in der Sicht deutscher Kommentatoren“. In: Sirges, Thomas/ Schöndorf, Kurt Erich (Hg.). Haß, Verfolgung und Toleranz. Beiträge zum Schicksal der Juden von der Reformation bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M., Bern und New York: Peter Lang, S. 73-87. Sandauer, Artur (1985). Pisma Zebrane. Bd. 3. Warschau: Czytelnik. Schenkel, Elmar (2003). Die Elixiere der Schrift. Alchemie und Literatur. Eggingen: Edition Isele. Schiedermair, Joachim (2009). (V)erklärte Gesichter. Der Porträtdiskurs in der Literatur des dänisch-nor‐ wegischen Idealismus (Stiftung für Romantikforschung. Band XLIII). Würzburg: Königshausen & Neumann. Schiedermair, Joachim (2013). „Der Kaufmann von Kopenhagen. Geld und Gabe in Thomasine Gyllembourgs Novelle ›Jøden‹ (1836)“. In: Müller-Wille, Klaus/ Schiedermair: Joachim (Hg.). Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus (1800-1870) (= Beiträge zur Nordischen Philologie 51). Tübingen und Basel: A. Francke, S. 51-68. Schiedermair, Joachim/ Müller-Wille, Klaus (Hg.) (2015a). Diskursmimesis. Thomasine Gyllembourgs Realismus im Kontext aktueller Kulturwissenschaften (= Münchner Nordistische Studien 13). München: Utz. Schiedermair, Joachim/ Müller-Wille, Klaus (2015b). „Einleitung“. In: Schiedermair, Joa‐ chim/ Müller-Wille, Klaus (Hg.). Diskursmimesis. Thomasine Gyllembourgs Realismus im Kontext aktueller Kulturwissenschaften (= Münchner Nordistische Studien 13). München: Utz, S. 7-9. Schnurbein, Stefanie von (2004). „Darstellungen von Juden in der dänischen Erzählliteratur“. In: Nordisk Judaistik - Scandinavien Jewish Studies 25: 1, S. 57-78. Schnurbein, Stefanie von (2006). „Kampf um Subjektivität. Nation, Religion und Geschlecht in zwei dänischen Romanen um 1850“. In: Barz, Christiane/ Behschnitt, Wolfgang (Hg.). bildung und anderes. Alterität in Bildungsdiskursen in den skandinavischen Literaturen (= Identitäten und Alteritäten 22). Würzburg: Ergon, S. 111-129. Schnurbein, Stefanie von (2007). „Hybride Alteritäten. Jüdische Figuren bei H.C. Andersen“. In: Behschnitt, Wolfgang/ Herrmann, Elisabeth (Hg.). Über Grenzen. Grenzgänge der Skandinavistik. Festschrift zum 65. Geburtstag von Heinrich Anz (= Identitäten und Alteritäten 26). Würzburg: Ergon, S. 129-150. 255 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Schoeps, Julius H. (2010). Die missglückte Emanzipation. Wege und Irrwege deutsch-jüdischer Ge‐ schichte. Vol. 1. Deutsch-jüdische Geschichte durch drei Jahrhunderte. Hildesheim, Zürich und New York: Olms. Schößler, Franziska (2009). Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Athur Schnitzler und Émile Zola (= Figurationen des Anderen. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien 1). Bielefeld: Aisthesis. Schovsbo, Henrik (2001-2017). „Frederik Christian Sibbern“. In: Det Danske Sprogog Litteratur‐ selskab & Det Kongelige Bibliotek (Hg.). Arkiv for Dansk Litteratur. www.adl.dk/ solr_documents/ sibb-p-val (abgerufen am 08.10.2020). Schramm, Christian (2011). „Hahn“. In: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 46857/ (abgerufen am 12.10.2020). Schrøder Simonsen, Cecilie S. (2012a). En kosmopolitisk jøde - om M. A. Goldschmidts forhold til den jødiske emancipering. Universität Roskilde (Masterarbeit). Schrøder Simonsen, Cecilie S. (2012b). „Formidlende fortællinger - M. A. Goldschmidts forfatterskab“. In: Rambam. Tidsskrift for jødisk kultur og forskning 21, S. 27-41. Schumacher, Manfred (2000). Barabas’ Enkel. Juden-Bilder in der englischen Literatur bis zur Moderne (= Aspekte der englischen Geistes- und Kulturgeschichte 30). Frankfurt a. M., Bern und New York: Peter Lang. Schütt, Hans-Werner (2000). Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie. München: Beck. Schwarz Lausten, Martin (2002). Oplysning i kirke og synagoge. Forholdet mellem kristne og jøder i den danske oplysningstid (1760-1814). Kopenhagen: Akademisk Forlag. Schwarz Lausten, Martin (2005). Frie jøder? Forholdet mellem kristne og jøder i Danmark fra Friheds‐ brevet 1814 til Grundloven 1849. Kopenhagen: ANIS. Schwarz Lausten, Martin (2012). Jøder og kristne i Danmark fra middelalderen til nyere tid. Frederiks‐ berg: ANIS. Schwarz Lausten, Martin (2015). Jews and Christians in Denmark. From the Middle Ages to Recent Times, ca. 1100-1948 (= The Brill Reference Library of Judaism 48). Leiden und Boston: Brill. Seedorf, Thomas (2015). Heldensoprane. Die Stimmen der eroi in der italienischen Oper von Monteverdi bis Bellini (= Figurationen des Heroischen 1). Göttingen: Wallstein. Seegers, Ulli (2003). Alchemie des Sehens, Hermetische Kunst im 20. Jahrhundert, Antonin Artaud, Yves Klein, Sigmar Polke. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Sexl, Martin (1996). „Was ist Literatur und warum brauchen wir sie? “ In: Neohelicon 23: 2, S. 179-201. Skorgen, Torgeir (2010). „Toleransens grenser. Wergeland og jødeemansipasjonen i Europa“. In: Agora. Journal for metafysisk spekulasjon 1-2, S. 56-88. Snildal, Andreas (2012): „›De ere Jøder! ‹ Andreas Munch, jødesaken og tilblivelse av et ukjent drama“. In: Munch, Andreas. Jøden. Med et innledende essay av Andreas Snildal. Bjerke, Ernst/ Hansen, Tor Ivar/ Snildal, Andreas (Hg.). Oslo: Det norske studentersamfund, S. VII-XXVII. Solms, Wilhelm (2008). Zigeunerbilder. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann. Sørensen, Knut (1984). St. St. Blicher. Digter og samfundsborger. Kopenhagen: Gyldendal. Spöhrer, Markus (2017). „Zum Eigen- und Stellenwert geisteswissenschaftlicher Literaturproduktion. Schreiben als Experimentalsystem“. In: Bartl, Andrea/ Famula, Marta (Hg.). Vom Eigenwert der 256 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 195-212. Stern, Frank (1991). Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg (= Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte Universität Tel Aviv 14). Gerlingen: Bleicher. Stewart, Jon (Hg.) (2018). Sibbern’s Remarks and Investigations Primarily Concerning Hegel’s Philo‐ sophy. Kopenhagen: Museum Tusculanum Press. Stiasny, Kurt (1997). E.T.A. Hoffmann und die Alchemie. Aachen: Shaker. Stössinger, Verena (2009). „Schuhe, Störche und ein Dank“. In: Müller-Wille, Klaus (Hg.). Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne (= Beiträge zur Nordischen Philologie 46). Tübingen und Basel: A. Francke, S. 21-25. Straub, Jürgen (2014). „Verletzungsverhältnisse - Erlebnisgründe, unbewusste Tradierungen und Gewalt in der sozialen Praxis“. In: Zeitschrift für Pädagogik 01, S. 74-95. Sucker, Juliane/ Wohl von Haselberg, Lea (Hg.) (2013a). Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschrei‐ bungen im 20. und 21. Jahrhundert (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 6). Berlin und Boston: de Gruyter. Sucker, Juliane/ Wohl von Haselberg, Lea (2013b). „Einleitung“. In: Sucker, Juliane/ Wohl von Hasel‐ berg, Lea (Hg.). Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 6). Berlin und Boston: de Gruyter, S. 11-30. Surall, Frank (2008). „Vom Sieg der Vernunft über das Vorurteil. Gotthold Ephraim Lessings Frühwerk ‚Die Juden‘“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte ZRGG 60: 4, S. 310-329. Szulakowska, Urszula (2011). Alchemy in contemporary art. Burlington und Farnham: Ashgate. Telle, Joachim (2013). Alchemie und Poesie. Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Untersuchungen und Texte. 2 Bde. Berlin und Boston: de Gruyter. Theisohn, Philipp/ Braungart, Georg (2012). „Philosemitismus als literarischer Diskurs“. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 22, S. 9-17. Theisohn, Philipp/ Braungart, Georg (Hg.) (2017a). Philosemitismus. Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte. Paderborn: Wilhelm Fink. Theisohn, Philipp/ Braungart, Georg (2017b). „Die überspringende Rede. Philosemitismus als literari‐ scher Diskurs”. In: Theisohn, Philipp/ Braungart, Georg (Hg.). Philosemitismus. Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 9-28. Thing, Morten (2001). Den historiske jøde. Essays & Ordbog. Kopenhagen: Forum. Thurn, Nike (2011). „Falschmünzer und Findelkinder: Fingierte jüdische Identitäten in der Literatur - ein Desiderat der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung? “. In: Medaon. Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung 8, S. 1-6. http: / / medaon.de/ pdf/ A_Thurn-8-2011.pdf (abgerufen am 08.10.2020). Thurn, Nike (2013). »Falsche Juden«. Performative Identitäten in der Literatur von Lessing bis Walser. Göttingen: Wallstein. Till, Dietmar (2017). „Die Psalmen als Modell poetischer Rede. Umrisse eines Diskurses, ca. 1650- 1850“. In: Theisohn, Philipp/ Braungart, Georg (Hg.). Philosemitismus. Rhetorik, Poetik, Diskursge‐ schichte. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 83-98. Törne, Björn von (1980). Zwischen Loyalität und Servilität. Steen Steensen Blichers politische Publizität und ihre Voraussetzungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Nationalismus und des Pressewesens in der ersten Hälfte des 19. Jh. in Dänemark (= Skandinavische Studien 12). Neumünster: Wachholtz. 257 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Torsy, Jakob/ Kracht, Hans-Joachim (2002). Der große Namenstagskalender. 3850 Namen und 1680 Lebensbeschreibungen der Heiligen und Namenspatrone. Freiburg, Basel und Wien: Herder. Tudvad, Peter (2010). Stadier på antisemitismens vej. Søren Kierkegaard og jøderne. Kopenhagen: Rosinante. Veit, Valentin (1895/ 2016). „Veit, Philipp“. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.). Allgemeine Deutsche Biographie. München: Bayerische Staatsbibliothek, S. 546-551. Völlnagel, Jörg/ Brafman, David (Hg.) (2017). Alchemie. Die große Kunst. Berlin: Staatliche Museen zu Berlin. Volquardsen, Ebbe (2010). „Die Orange im Turban. Über die Funktion von Orientrepräsentationen in der dänischen Literatur des 19. Jahrhunderts“. In: TijdSchrift voor Skandinavistiek 31: 2, S. 99-126. Wagner, Thorsten (2001). „Fællesskabets nationalisering og jødespørgsmålet i en liberal kultur“. In: Banke, Cecilie (Hg.). Folk og fællesskab. Kopenhagen: Dansk Center for Holocaustog Folkedrabs‐ studier, S. 47-61. Wagner, Thorsten (2002). „Demokratiets akilleshæl: Jødehad og antisemitisme i brydningsfeltet mellem socialog kulturhistorie“. In: Mogensen, Michael (Hg.). Antisemitisme i Danmark? . Kopen‐ hagen: Dansk Center for Holocaustog Folkedrabsstudier, S. 7-41. Wamberg, Jacob (Hg.) (2006). Art & Alchemy. Kopenhagen: Museum Tusculanum Press. Wamberg, Niels Birger (1984). „Dansk-jødisk digtning og dansk digtning om jødiske skæbne“. In: Blüdnikow, Bent/ Jørgensen, Harald (Hg.). Indenfor murene. Jødisk liv i Danmark 1684-1984. Udgivet af Selskabet for danskjødisk historie, i anledning af 300-året for grundlæggelsen af Mosaisk Troessamfund. Kopenhagen: Reitzel, S. 143-182. Weinberg, Manfred (1999). „Trauma - Geschichte, Gespenst, Literatur - und Gedächtnis“. In: Bronfen, Elisabeth/ Erdle, Birgit R./ Weigel, Sigrid (Hg.). Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Denkmuster (= Literatur - Kultur - Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 14). Köln, Weimar und Wien: Böhlau, S. 173-206. Weiner, Marc A. (2000). Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners. Berlin: Henschel. Wennerscheid, Sophie (2013). „Haben und Nichthaben. Zur Zirkulation der Werte in H.C. Andersen ›At være eller ikke være‹ (1857)“. In: Müller-Wille, Klaus/ Schiedermair: Joachim (Hg.). Wechsel‐ kurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus (1800-1870) (= Beiträge zur Nordischen Philologie 51). Tübingen und Basel: A. Francke, S. 69-87. West, Mona (2006). „Ruth“. In: Bohache, Thomas/ Goss, Robert E./ Guest, Deryn/ West, Mona (Hg.). The Queer Bible Commentary. London: SCM Press, S. 190-194. Wojcik, Paula (2013). Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegen‐ wartsliteratur. Bielefeld: Transkript. Wolff, Christoph (2009). Johann Sebastian Bach. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer. Woolf, Virginia (2012). Ein Zimmer für sich allein. Übers. von Axel Monte. Stuttgart: Reclam. Yuval, Israel Jacob (2007). Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 4). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zeller, Rosmarie (Hg.) (2012). Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 22. Frankfurt a. M., Bern und New York: Peter Lang. 258 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Zuckermann, Moshe (2009). „Aspekte des Philosemitismus“. In: Diekmann, Irene/ Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Geliebter Feind - gehasster Freund: Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Berlin: VBB, S. 61-71. 259 Literaturverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Personenregister Abel, Jacob Friedrich 40 Almqvist, Carl Jonas Love 137 Andersen, Hans Christian 12, 14, 20, 37f., 59-65, 67-71, 73, 99, 113, 122, 145, 157, 159-167, 171-212, 215-222, 225ff., 229f., 233-236 August II. 121 Averkamp, Henrik 94 Bach, Johann Christoph 83 Bach, Johann Sebastian 83 Baggesen, Jens 18f. Barthes, Roland 27ff., 168ff., 188, 234 Beethoven, Ludwig van 208 Blicher, Steen Steensen 16, 20, 55, 73-93, 96ff., 100, 103, 107, 122, 134, 147f., 153f., 171f., 177f., 184, 215, 221, 226, 229, 233f. Boccaccio, Giovanni di 41, 107 Bosch, Hieronymus 94 Böttger, Friedrich 113 Breughel d. Ä., Pieter 94 Buchholz, Friedrich 16, 74 Buxtehude, Dieterich 83 Chamisso, Adelbert 68 Comenius, Johann Amos 81 Dohm, Christian Wilhelm von 16, 30, 79, 119, 227 Frederik III. 75 Frederik VI. 15f. Freytag, Gustav 32, 225 Gellert, Christian Fürchtegott 41, 107, 118 Goethe, Johann Wolfgang von 68f., 122, 125, 151, 200, 217 Goldschmidt, Meïr Aron 20f., 106, 114, 196, 223ff. Goyen, Jan van 94 Grimm, Jacob und Wilhelm 11, 63 Gyllembourg, Thomasine 20, 49, 103-106, 108- 111, 122, 134, 154, 156, 172, 224, 226, 233, 235 Hauch, Carsten 20, 81, 87, 90, 107, 113f., 116-121, 124-137, 139-148, 154, 156, 172, 178, 184, 215, 226, 233, 235 Hauff, Wilhelm 32, 68 Heiberg, Johan Ludvig 103 Heiberg, Peter Andreas 18, 41, 103, 107 Herder, Johann Gottfried 57, 84-87, 172 Hoffmann, E. T. A. 37, 68, 122 Ingemann, Bernhard Severin 19f., 37-51, 53, 55- 59, 63, 65, 67, 70f., 86f., 99, 104, 106f., 110, 113, 122, 134, 147f., 154, 156, 215, 220, 222, 226, 229, 233f., 236 Jung, Carl Gustav 124, 130f., 161 Kentridge, William 207 Kierkegaard, Søren 21, 62, 73f., 151, 162, 165 Kleist, Heinrich von 40 Kruse, Lauritz 82, 92 Lessing, Gotthold Ephraim 18, 24, 30, 41f., 45, 54, 68f., 104, 107f., 110, 129, 137 Ludwig XIV. 113 Luther, Martin 11, 16, 85, 107, 120f., 130, 132, 149, 154f., 157, 172, 184, 227f. Marlowe, Christopher 45, 166 Mozart, Wolfgang Amadeus 54, 123 Munch, Andreas 23, 137 Neer, Aert van der 94, 97 Oehlenschläger, Adam 218, 221 Oppenheim, Meret 207 Ovid 84 Petersen, E. 19 Prévost, Abbé 147 Pückler-Muskau, Hermann Fürst von 145 Raabe, Wilhelm 32 Rosenkilde, Adolph 23, 137 Schelfhout, Andreas 94 Schiller, Friedrich 40 Schmieder, Karl Christoph 126, 128, 134 Scott, Sir Walter 37, 39, 41, 84, 142 Shakespeare, William 26, 41, 45, 104, 106, 227 Sibbern, Frederik Christian 20, 151-157, 226, 233, 235 Thaarup, Thomas 16f., 19, 74 Treitschke, Heinrich von 30 Vega, Lope de 107 BNPh 67 (2021) DOI 10.2357/ 9783772057472 Wagner, Richard 118 Wergeland, Henrik 22f., 107 Woolf, Virginia 207 261 Personenregister DOI 10.2357/ 9783772057472 BNPh 67 (2021) Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Die Schweizerische Gesellschaft für Skandinavische Studien (SGSS) gibt die Schriftenreihe "Beiträge zur Nordischen Philologie" (BNPh) heraus. Es sind wissenschaftliche Untersuchungen aus dem gesamten Fachbereich Nordische Philologie/ Skandinavistik. Die Untersuchungen befassen sich mit Studien zur Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaft der skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Färöer, Island, Norwegen und Schweden. Sie sind nicht nur auf die schweizerische Nordistik begrenzt. Es sind die Ergebnisse skandinavistischer Forschungsprojekte in Form von Tagungsbänden, Dissertationen, Habilitationsschriften und anderen Monographien, die dadurch allen Interessierten zugänglich gemacht werden sollen. Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / narr.de 34 Astrid Surmatz Pippi Langstrumpf als Paradigma Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext 2001, 632 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-3097-0 35 Iris Ridder Der schwedische Markolf Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung 2002, 276 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3098-7 36 Barbara Sabel Der kontingente Text Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit 2003, 171 Seiten €[D] 32,90 ISBN 978-3-7720-3099-4 37 Oskar Bandle, Jürg Glauser, Stefanie Würth (Hrsg.) Verschränkung der Kulturen Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern 2004, 600 Seiten €[D] 129,- ISBN 978-3-7720-8030-2 38 Silvia Müller Schwedische Privatprosa 1650-1710 Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich 2005, 320 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-7720-8035-7 39 Klaus Müller-Wille Schrift, Schreiben und Wissen Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Amlqvist 2005, 522 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8086-9 40 Jürg Glauser (Hrsg.) Balladen-Stimmen Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen 2011, 195 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8173-6 41 Anna Katharina Richter Transmissionsgeschichten Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit 2009, 337 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8292-4 42 Jürg Glauser, Anna Katharina Richter (Hrsg.) Text - Reihe - Transmission Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800 2011, 320 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8293-1 43 Lena Rohrbach Der tierische Blick Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur 2009, 394 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8307-5 44 Andrea Hesse Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen 2009, 264 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8328-0 45 Jürg Glauser, Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.) Rittersagas Übersetzung, Überlieferung, Transmission 2013, 288 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8357-0 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.) Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne 2009, 246 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8351-8 47 Oskar Bandle Die Gliederung des Nordgermanischen Reprint der Erstauflage mit einer Einführung von Kurt Braunmüller 2011, 168 Seiten €[D] 100,- ISBN 48 Simone Ochsner Goldschmidt Wissensspuren Generierung, Ordnung und Inszenierung von Wissen in Erik Pontoppidans Norges naturlige Historie 1752/ 53 2011, 295 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8439-3 49 Frederike Felcht Grenzüberschreitende Geschichten H. C. Andersens Texte aus globaler Perspektive 2013, 312 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8487-4 50 Thomas Seiler (Hrsg.) Skandinavisch-iberoamerikanische Kulturbeziehungen 2013, 240 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8480-5 51 Klaus Müller-Wille, Joachim Schiedermair (Hrsg.) Wechselkurse des Vertrauens Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus (1800-1870) 2013, 213 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8478-2 52 Hendrik Lambertus Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur 2013, 260 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8486-7 53 Alois Wolf Die Saga von der Njálsbrenna und die Frage nach dem Epos im europäischen Mittelalter 2014, 128 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8496-6 54 Walter Baumgartner Gibt es den Elch? - Fins elgen? Aufsätze 1969-2011 zur neueren skandinavischen Lyrik - Essays 1969-2011 om nyere skandinavisk lyrikk 2014, 338 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8540-6 55 Lukas Rösli Topographien der eddischen Mythen Eine Untersuchung zu den Raumnarrativen und den narrativen Räumen in der Lieder-Edda und der Prosa- Edda 2015, 235 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8552-9 56 Katharina Seidel Textvarianz und Textstabilität Studien zur Transmission der Ívens saga, Erex saga und Parcevals saga 2014, 248 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8558-1 57 Laura Sonja Wamhoff Isländische Erinnerungskultur 1100-1300 Altnordische Historiographie und kulturelles Gedächtnis 2016, 260 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8585-7 58 Klaus Müller-Wille, Sophie Wennerscheid (Hrsg.) Kierkegaard und das Theater in Vorb., ca. 220 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8621-2 59 Klaus Müller-Wille, Kate Heslop, Anna Katharina Richter, Lukas Rösli (Hrsg.) Skandinavische Schriftlandschaften Vänbok till Jürg Glauser 2017, 345 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8628-1 60 Hans-Peter Naumann Metrische Runeninschriften in Skandinavien Einführung, Edition und Kommentare 2018, 488 Seiten €[D] 69,- ISBN 978-3-7720-8652-6 61 Petra Bäni Rigler Bilderbuch - Lesebuch - Künstlerbuch Elsa Beskows Ästhetik des Materiellen 2019, 304 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8661-8 62 Kathrin Hubli Kunstprojekt (Mumin-)Buch Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission 2019, 184 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8655-7 63 Sandra Schneeberger Handeln mit Dichtung Literarische Performativität in der altisländischen Prosa-Edda 2020, 206 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8672-4 64 Jürg Glauser (Hrsg.) 50 Jahre Skandinavistik in der Schweiz Eine kurze Geschichte der Abteilungen für Nordische Philologie an der Universität Basel und der Universität Zürich 1968-2018 2019, 296 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8679-3 65 Elena Brandenburg Karl der Große im Norden Rezeption französischer Heldenepik in den altostnordischen Handschriften 2019, 237 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8680-9 66 Kevin Müller Schreiben und Lesen im Altisländischen Lexeme, syntagmatische Relationen und Konzepte in der Jóns saga helga, Sturlunga saga und Laurentius saga biskups 2020, 310 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8694-6 67 Katharina Bock Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19.-Jahrhunderts 2021, 264 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8747-9 ISBN 978-3-7720-8747-9 Dieser Band untersucht anhand ausgewählter dänischer Prosa im 19. Jahrhundert die Ambivalenz philosemitischer Literatur. Es wird gezeigt, wie bestehende Vorstellungen über Juden und Jüdinnen einerseits literarisch entlarvt und gebrochen werden, und wie andererseits jüdische Figuren weiterhin Projektionsfläche und christliches Phantasma bleiben. Philosemitismus wird als spezifisch literarisches Phänomen betrachtet, indem gefragt wird, welche Erzählmöglichkeiten sich durch die jüdischen Figuren im Text eröffnen und was diese Figuren literarisch so attraktiv macht. Obwohl die untersuchten Texte zumeist um das Thema Religion kreisen, interessieren sie sich kaum für das Judentum ihrer jüdischen Figuren. Vielmehr dienen die Juden und Jüdinnen dazu, das Christentum aufzuwerten und zu erneuern. Dabei spielen Fragen nach Politik und nationalem Selbstverständnis ebenso eine Rolle wie nach Geschlecht, Begehren und der Bedeutung von Kunst. Katharina Bock hat an der Humboldt-Universität zu Berlin Germanistik und Skandinavistik studiert und promovierte dort im Fach Skandinavistik.