V. Hennings: Jüdische Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik

Cover
Titel
Jüdische Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik.


Autor(en)
Hennings, Verena
Reihe
Schriftenreihe des Arbeitskreises Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland, Bd. 3
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Fachhochschulverlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Universität Siegen

Die Geschichte der jüdischen Wohlfahrtspflege in Deutschland wird weitgehend von ihrem Ende in der Zeit des Nationalsozialismus her kommuniziert.1 Verena Hennings' Überblick über die Entwicklung in der Zeit der Weimarer Republik ist die erste Monographie zum Thema und ermöglicht, Regionalstudien 2 und Spezialuntersuchungen 3 einzuordnen. Die 2007 an der Universität Oldenburg abgeschlossene Dissertation basiert wesentlich auf der Auswertung von zwischen 1921 und 1933 erschienenen Zeitschriften 4 sowie dem „Führer durch die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland“.5

Zum besseren Verständnis hat Hennings ihrer Darstellung einen Exkurs zur Geschichte der Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik vorgeschaltet. Detailliert gibt sie einen Überblick zur Wohlfahrtsgesetzgebung und den einzelnen Arbeitsbereichen (Jugend-, Gesundheits- und Wirtschaftsfürsorge). Sie informiert über die wohlfahrtspflegerische Arbeit in den jüdischen Gemeinden am Beispiel von Berlin, Mannheim, Hamburg, Altona, Köln und über die gemeindeübergreifende Arbeit. Hier werden unter anderem angesprochen der Deutsch-Israelitische Gemeindebund und der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden, der Unabhängige Orden Bne Briss und Vereine wie z.B. der Jüdische Frauenbund.

Ausführlich geht die Autorin auf die religiösen Grundlagen der jüdischen Wohlfahrt ein: Die wichtigsten Prinzipien sind "Zedakah" – das Prinzip der Gerechtigkeit – und "Gemilut Chessed" – das Prinzip der Nächstenliebe. Hinzu kommt noch das Prinzip der Fremdenliebe. Auf die Verwirklichung dieser Grundsätze geht sie – nach ausführlichen Beschreibungen der wohlfahrtspflegerischen Arbeit durch jüdische Gemeinden und Vereine und ihrer Einrichtungen sowie die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden – in einem umfangreichen Kapitel zur Geschichte der jüdischen Arbeits- und Wanderfürsorge ein. Dieses früher so wichtige Arbeitsgebiet – für das der Begriff "Ostjuden" steht – ist heute nahezu unbekannt. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich diese besondere Fürsorge zu einem der wichtigsten Arbeitsbereiche der jüdischen Wohlfahrt. Die chaotischen Verhältnisse in Osteuropa und insbesondere zahlreiche Pogrome hatten zu großen Flüchtlingswellen geführt. Zeitgleich mit diesem Exodus wuchs der Antisemitismus in Westeuropa. Für die nach Frankreich, Belgien, Luxemburg und Spanien, nach Palästina und häufig über den Atlantik in die Vereinigten Staaten, nach Kanada, Mexiko, Argentinien und Brasilien strebenden Flüchtlinge aus Russland, Rumänien und Polen war Deutschland ursprünglich weitgehend ein Durchgangsland. Der Weg führte oft zu den Häfen in den Niederlanden, Belgien und Frankreich sowie nach Hamburg oder Bremen bzw. Bremerhafen. Hier bemühte sich die Durchwandererfürsorge bei der Weiterleitung mit Erfrischungen, sanitärer Hilfe, Informationen für die Weiterfahrt und nötigenfalls einem Nachtquartier. Die Einwanderungsbeschränkungen westeuropäischer Staaten hatten zur Folge, dass viele Migranten bleiben mussten und Deutschland oft zum dauerhaften Aufenthalt wurde. "Als Ausländer und teilweise auch Staatenlose waren die Ostjuden auf die Einrichtungen der jüdischen Wohlfahrtspflege angewiesen. Die Notwendigkeit der Betreuung der ostjüdischen Wanderer, der ausländischen und staatenlosen Arbeitssuchenden, hat viel zum Ausbau der jüdischen Arbeits- und Wanderfürsorge beigetragen" (S. 222).

Vom Hilfsverein der deutschen Juden und anderen Organisationen wurden Schul- und Fortbildungsunterricht angeboten, Lehrstellen gefunden, Kinder bekleidet, Erholungskuren organisiert, Kranke behandelt usw. "Zu erwähnen ist hier auch der Bahnhofsdienst am Schlesischen Bahnhof [heute Ostbahnhof, K.S.] in Berlin" (S. 254). Das Spektrum der Hilfsorganisationen reichte von der "Agudas Jisroel" (Bund Israels), dem Arbeiterfürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands und ähnlichen Institutionen bis hin zu internationalen jüdischen Hilfsorganisationen wie dem American Joint Distribution Committee, der Alliance Israélite Universelle oder der Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society of America – um nur die wichtigsten aufzuführen.

Neben die Pogromflüchtlinge traten jüdische Migranten, die aus verschiedenen Gründen nach Deutschland gekommen bzw. hier "hängengeblieben" waren: Die sich für Juden ständig verschlechternde Situation in Polen war ein Grund. Auch kamen junge Männer, die im polnisch-sowjetischen Krieg nicht eingezogen werden wollten. Schließlich gelangten auch russische Juden, die Russland aufgrund der Revolution verließen, nach Deutschland. Die Zahl der Ostjuden stieg ständig an. Bei der Volkszählung 1933 wurden 88.000 Ostjuden gezählt.

Neben der ausführlichen Darstellung der Entwicklung der jüdischen Wohlfahrtspflege und des Wirkens der Hilfsorganisationen ist eine der Stärken der Arbeit Verena Hennings‘ die Beschreibung der religiösen Traditionen als Grundlagen der Hilfstätigkeit: Die Wohltätigkeit ergab sich aus den jüdischen Wurzeln und Moralvorstellungen, die ein Satz von Jonathan Sacks illustriert: "Eine Tat, die den Empfänger in die Lage versetzt, auf Wohltätigkeit nicht mehr angewiesen zu sein, ist höher zu bewerten als jedes Wohltätigsein" (S. 326). Den in den Parlamenten und Behörden agierenden Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitikern ist ein Kurs zur Geschichte der jüdischen Wohlfahrtspflege durchaus zu empfehlen.

Die Darstellung Hennings‘ verdeutlicht das große Gewicht der jüdischen Wohlfahrtspflege für die Geschichte der Sozialen Arbeit im Besonderen wie für die jüdische Kultur in Deutschland im Allgemeinen. Sie ist auch – wie Jost von Maydell im Vorwort hervorhebt – "ein Beitrag zur Überwindung der Verdrängung der jüdischen Kultur aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland" (S. 7).

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933-1943), München 2002; Salomon Adler-Rudel, Jüdische Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939. Im Spiegel der Berichte der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974; Gudrun Maierhof, Selbstbehauptung im Chaos. Frauen in der Jüdischen Selbsthilfe 1933 bis 1943, Frankfurt am Main 2002.
2 Cornelia Wustmann, „Das Ideal will nicht gelobt, es will gelebt werden“. Jüdische Wohlfahrt am Beispiel der wohltätigen jüdischen Stiftungen in Dresden und Leipzig, St. Katharinen 2002.
3 Claudia Prestel, "Jugend in Not": Fürsorgeerziehung in deutsch-jüdischer Gesellschaft (1901-1933), Wien 2003; Angelika Kipp, Jüdische Arbeits- und Berufsfürsorge in Deutschland 1900-1933, Berlin 1999.
4 Vgl. Zedakah. Zeitschrift der jüdischen Wohlfahrtspflege. Reprint der Ausgaben von 1925-1928. Mit einer Einführung und Autorenbiographien, hrsg. von Ulrich Stascheit, Franz-Michael Konrad, Renate Heuer, Frankfurt am Main 1997.
5 Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (Hrsg.), Führer durch die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland. Ausgabe 1928/29, Berlin 1929; Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (Hrsg.): Der Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932/33, Berlin 1933.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension