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Publicly Available Published by De Gruyter June 20, 2016

Wozu dient der Monotheismus in der jüdischen Religion angesichts der Zehnfaltigkeitslehre der Kabbala

  • Karl E. Grözinger EMAIL logo
From the journal Aschkenas

Abstract

Judaism is seen as the archetypal monotheistic religion. And yet, the history of the Jewish faith seems to contradict this view: there were other gods besides the God of Israel, later superior angels, Metatron; in speaking of a tenfold deity the Kabbala goes against the philosophical doctrine of oneness to which it also adheres. These seeming contradictions can only be explained if one considers that the various creeds of oneness stem from very different religious and philosophical ways of thinking and concerns, which do not always endeavour to describe God’s existence, but are rooted in a human longing for happiness, the wish to refer to a God, to liturgical accessibility etc. The creed of the one God is ontology for some, for others it is epistemology, liturgical performance, emotional expression or sociological or historical reflection. Monotheism figures in various »linguistic games« and with various meanings.

1 Die Rede vom einen Gott in der Bibel und in der Antike

Ich bin der Herr, und keiner sonst, außer mir ist kein Gott. Ich habe dich gegürtet, ohne dass du mich kanntest, damit sie erkennen vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang, dass keiner ist außer mir. Ich, der Herr, und keiner sonst, der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich binʼs, der Herr, der dies alles wirkt.[1]

Diese Worte des nachexilischen Propheten Deuterojesaja haben nach einer längeren erst polytheistischen und später der Monolatrie verpflichteten Religiosität des biblischen Israel das zum ersten Mal deutlich formuliert, was man den Monotheismus nennt. Betrachtet man indessen die weitere jüdische Religionsgeschichte, wird man sich die Frage stellen müssen, was denn mit dieser Formel vom einen Gott wirklich gemeint ist. In der nachbiblischen Zeit liest man in jüdischen Texten viel von mächtigen Himmelsfürsten, welche zwar dem einen Himmelskönig unterstellt sind, die aber dennoch eine außerordentliche Machtbefugnis haben. Das heißt, der Deuterojesajanische Monotheismus wird durch eine reich ausgefaltete Angelologie offenbar relativiert. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Gestalt des Oberengels Metatron. Dazu erlaube man mir den einschlägigen Absatz aus meiner Darstellung des Jüdischen Denkens mit geringen Veränderungen hier zu wiederholen: »Schon die alte angelologische Literatur, die Apokryphen und die Qumrantexte kannten im Himmel so genannte Ober- oder Erzengel. Die vier geläufigsten sind jedermann bekannt: Michael, Gabriel, Rafael und Phanuel. Neben solchen Gruppen von Oberengeln gibt es auch Einzelgestalten, so Michael, Anafiel, den Menschensohn und Metatron. Diese Oberengel wurden, vergleichbar dem Christus der Kirche, mit ungeheurer Machtfülle ausgestattet, sodass sie fast zu einer zweiten Gottheit im Himmel aufrückten. Anafiel wird z. B. Anteil an der Schöpfung zugeschrieben, Metatron ist vielleicht der Metathronos oder Metatyrannos und ihm wird gegen jegliches himmlisches Gesetz sogar das Privileg zuteil, wenigstens vorübergehend zu sitzen, was im Himmel sonst nur Gott selbst vorbehalten ist.« Die Machtfülle, die diesem Oberengel übertragen wurde, wird in einer bestimmten Schicht der altjüdischen Literatur – im Umkreis der sogenannten Hechalot-Texte – als Übertragung eines Teiles der göttlichen Namen dargestellt, in denen die Machtfülle Gottes konzentriert ist. »Dem Metatron wurden 70 Namen von den Namen Gottes übertragen oder es heißt, sein Name ist wie der Namen seines Herrn. Durch die Verleihung von Namen wird [ihm] Macht verliehen.« Die Machtfülle Metatrons wird an mehreren Stellen der Texte deshalb dadurch ausgedrückt, »dass er als JHWH ha-katan oder als Adonaj ha-katan, der ›Kleine JHWH‹, der ›Kleine Adonaj‹, d. h. der ›Kleine Herrgott‹, bezeichnet wird. Gott selbst ist im Verhältnis zu ihm der ›Große Name‹, die nächstniedrige Machtfülle ist der ›Kleine Name‹. Das bedeutet: Gott selbst, das heißt sein Name, entäußert sich eines Teiles seiner eigenen Macht und gibt sie an gleichsam von ihm abgespaltene Potenzen weiter. Diese neuen Mächte sind aber letztlich dann doch wieder göttlicher Name, wenn auch in permutierter Form. Die himmlischen Mächte und die Schöpfung erscheinen demnach als Variationen des Gottesnamens, als Veränderungen des göttlichen Urwortes, mit dem er ja auch laut der Bibel die Welt erschaffen hat – nur ist er und dieses Urwort hier identisch.«[2]

In der antiken jüdischen Literatur hat sich der Blick der Menschen weit in den Kosmos hinein geöffnet, es ist das Bewusstsein entstanden, dass diese Fülle, diese weiten Räume des Kosmos nur durch eine Fülle von Kräften, die je für bestimmte Bereiche des Weltbestandes zuständig sind, erhalten und gelenkt werden kann. Eine Antwort auf dieses neue Wissen ist die oben skizzierte Angelologie mit ihren Oberengeln. Diesen Auffassungen gegenüber versuchen andere altjüdische Strömungen die Herrschaft des nur einen Gottes über all diese Mächte und Räume zu verteidigen. Eine deutliche Resonanz dieser Diskussionen findet man zum Beispiel in einem alten Midrasch zum Schmaʽ Jisraʼel:

»Höre Israel«, dies ist es was die Schrift sagt: »Wen habe ich im Himmel? Und außer dir begehre ich nichts auf Erden.« (Ps 73,25). Rav sagte: Es gibt zwei Himmel […] Rabbi E[lieser?] sagte es gibt sieben Himmel […] und sie alle öffnete der Heilige, E. s. g. vor Israel, um ihnen kundzutun, dass es keinen anderen Gott außer ihm gibt […].[3]

Der Babylonische Talmud bringt gegen solche die Eingott-Lehre gefährdenden Auffassungen eigens eine Auseinandersetzung mit jenen Kreisen, die in Metatron einen »Kleinen JHWH« sehen wollten:

Acher […] sah, dass man Metatron die Erlaubnis erteilte, sich niederzusetzen und die Verdienste Israels aufzuschreiben. Da sprach er: Es ist ja überliefert, dass es droben kein Sitzen […] gebe; gibt es vielleicht, behüte und bewahre, zwei Gewalten?[4] Hierauf holte man Metatron und versetzte ihm sechzig Feuerschläge, indem man zu ihm sprach: Weshalb bist du nicht aufgestanden, als du ihn bemerkt hast?[5]

Die Existenz dieses hohen Engels, hier als himmlischer Gerichtsschreiber vorgestellt, wird im Talmud nicht bestritten, auch nicht, dass er sich wie Gott selbst setzen darf und damit Anlass zu der Meinung geben konnte, dass es zwei Herrschergewalten im Himmel gibt. Auch der Talmud akzeptiert demnach, dass es eine himmlische Hierarchie von Gewalten gibt, unter denen Gott gleichsam nur wie die Spitze erscheinen mag. Um es deutlicher zu sagen: Der Gott Israels könnte nach dieser Vorstellung eher als der höchste, nicht unbedingt als der einzige Gott erscheinen. Damit soll nicht der altrabbinische »Monotheismus« in Frage gestellt, sondern nur gezeigt werden, dass in der anthropomorphistisch-personalistisch denkenden Theologie des antiken Judentums die Vorstellung von nur einem Gott noch nicht die absolute Schärfe hat, die sie hernach in der mittelalterlichen jüdischen Philosophie gewinnen sollte.

Betrachtet man die Entwicklung der Lehre vom Monotheismus in der jüdischen Philosophie des Mittelalters und in der nachfolgenden Kabbala, verschärft sich die Frage nach der Bedeutung des jüdischen »Monotheismus«. Der kurze Blick auf die altjüdische Angelologie mit ihren Oberengeln zeigt, dass mit dieser Lehre eine bestimmte Herrschaftsform der Gottheit beschrieben werden soll. Wie bei einem orientalischen Hochkönig ist es für den himmlischen Gottkönig nicht angezeigt, dass er die ganzen Herrschaftsaufgaben selbst durchführt, sondern an Engelwesen delegiert, womit allerdings der unmittelbare Kontakt des Menschen zu diesem Gottkönig fraglich und er auf die dienenden Engelsfürsten verwiesen wird. Die religionsgeschichtliche Forschung zur altbiblischen Religion hat ja schon lange erkannt, dass das zentrale Bekenntnis zu dem einen Gott »Höre Israel, JHWH unser Gott ist ein JHWH« (Dtn 61) im vorexilischen Kontext des Deuteronomium tatsächlich nur der Aufruf zur Monolatrie, das heißt der Verehrung nur eines Gottes unter den vielen, war. Dies erkennt man zum Beispiel am Kontext jenes biblischen Textes, der schlechthin als das zentrale Bekenntnis zu dem einen Gott dient. Dort liest man:

Höre Israel JHWH unser Gott ist ein JHWH. […] JHWH deinen Gott sollst du fürchten und ihm dienen […] gehet nicht anderen Göttern nach aus den Göttern der Völker die um Euch her sind. (Dtn 6, 4. 13.–14.)

Man nehme noch die über alle Zweifel erhabene eindeutige Rede von Josua bei der Versammlung der Stämme Israels in Sichem hinzu:

So spricht JHWH, der Gott Israels: Jenseits des Euphratflusses wohnten eure Väter seit Urzeiten […] und sie dienten anderen Göttern […] nun aber fürchtet JHWH und dienet ihm vollkommen und wahrhaftig und tut die Götter von euch ab, denen eure Väter dienten […] und dienet JHWH (Jos 24, 2. 14)

Der im Schmaʽ Jisrael erfolgende Aufruf zum Dienst an nur einem Gott muss darum aus dem jeweiligen denkerischen Kontext verstanden werden und kann nicht einfach als »Monotheismus« deklariert werden. Die Anerkennung nur eines Gottes hat einen jeweils verschiedenen denkerischen Kontext, in dem er eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat. Während dies bei den soeben zitierten Texten aus Deuteronomium und Josua zunächst eine Abgrenzung von den Kulten der umgebenden Völker des alten Israel war, ist es bei dem eingangs zitierten Deuterojesaja dann in erster Linie die Auseinandersetzung mit einem gnostisch-persischen Dualismus, der das Weltgeschehen, die Lenkung der persönlichen wie der Völkergeschichte einem Gott alleine zuschreibt, er ist es der das Geschehen der Geschichte schon im Vorhinein kundtun kann (Jes 44,6–8) – eine philosophische Existenz- und Wesensaussage ist damit nicht intendiert. Es gibt nur einen der die Macht besitzt, die Geschichte zu lenken. Eine solche Aussage lässt sich am ehesten vor dem Hintergrund der Zerstörung der beiden israelitischen Königreiche, Judäa und Israel, verstehen, deren Funktion es demnach ist, den Glauben an den Gott Israels trotz der historischen Katastrophen zu stärken. In der jüdischen Antike galt es hingegen, die Stelle des »einen« Gottes innerhalb einer Fülle von göttlich-angelischen Mächten zu beschreiben und zu definieren.

Es ist die hiermit angedeutete Frage nach der Funktion der Lehre von nur einem Gott im Rahmen des jeweiligen Weltbildes, die auch meine folgenden Betrachtungen bestimmt. Was also will damit gesagt sein und wozu wird es gesagt, wenn man auf der Lehre von dem einen Gott beharrt. Die Frage, die sich demnach auch für das Mittelalter stellt, ist die: Wozu diente die Lehre von dem einen Gott im Mittelalter, welchen Stellenwert und welche Bedeutung hatte sie im damaligen Denken. Die Frage des Monotheismus verschiebt sich durch die hier angestellten Überlegungen von einer ontologischen Frage zu einer epistemologischen. Was bedeutet die Aussage vom einen Gott für das menschliche Denken, es ist nicht die Frage ob es wirklich nur einen Gott gibt.

2 Die Rede vom einen Gott im Mittelalter

2.1 Monotheismus und spiritueller »Polytheismus« entspringen verschiedenen Geistesbeschäftigungen des Menschen

Die bisherige Skizze von Stelle und Funktion der Lehre von nur einem Gott hat gezeigt, dass ihr Wurzelboden in durchaus unterschiedlichen menschlichen Denkhorizonten oder Geistesbeschäftigungen angesiedelt war. Im altbiblischen Kontext scheinen soziale Bezüge und der dazugehörige Gruppenkult die Forderung der Verehrung nur eines Gottes bestimmt zu haben, ohne dass damit eine grundsätzliche ontologische Frage nach der Existenz nur eines oder mehrerer Götter gestellt wurde. Die deuterojesajanische Wende zu dem, was man gemeinhin als den Beginn des biblischen Monotheismus bezeichnet, wurde allem Anschein nach vor allem durch geschichtliches Denken herbeigeführt. Wollte man dem spezifischen Gott Israels treu bleiben und angesichts der geschichtlichen Entwicklungen nicht zweifeln, ob die Götter der siegreichen anderen Völker nicht doch die mächtigeren und verehrungswürdigeren Götter sind, so musste man all das – gerade auch für Israel verheerende – Geschehen dem einen Gott Israels zuschreiben und die Geschichtsmächtigkeit anderer Götter in Abrede stellen. Im Mittelalter haben sich die Koordinaten für das Ein-Gott-Denken erneut verschoben, es entspringt einem anderen Denkhorizont, einer anderen, neuen menschlichen Geistesbeschäftigung. Dies soll hier zunächst in wenigen Thesen vorangestellt werden. Mit ihrer Hilfe kann anschließend versucht werden, das fragliche und anscheinend widersprüchliche Verhältnis von Monotheismus und Sefirot-Lehre der Kabbala auf den Punkt zu bringen:

  1. Der Gedanke des Monotheismus entspringt auch im Mittelalter einer spezifischen Geistesbeschäftigung des Menschen – hier war dies zunächst der philosophische Rationalismus.

  2. Die anscheinend polytheistischen Neigungen der Kabbala gehören zu einer anders gearteten Geistesbeschäftigung des Menschen, zum Gefühl, zum Staunen über die Vielfalt der Welt und zur religiösen Performanz.

  3. Die mittelalterliche Kabbala war der Versuch, diese beiden so verschiedenen Geistesbeschäftigungen der Menschen miteinander zu verbinden, das heißt den philosophischen Rationalismus mit der emotional-spirituellen religiösen Aktivität (Performanz).

  4. Das Entstehen der Kabbala ab dem 12. Jahrhundert war eine Reaktion auf einen konsequenten philosophischen Monotheismus der Philosophie, der die Gottheit aus dem konkreten Menschenleben in abstrakte Fernen verbannte. Die Kabbala wollte Gott in den Gefühlshaushalt des Menschen zurückholen, ohne der philosophischen Vernunft ihr Recht zu bestreiten.

Die Kabbala hat die monotheistischen Ergebnisse der Philosophie anerkannt und übernommen und diese mit den Bedürfnissen der Religion und ihren verschiedenen Äußerungsformen verbunden. Sie wollte die emotionale Sprachlosigkeit der philosophischen Logik mit der emotionalen Fülle des Welterlebens verbinden.

Die Rede und das Nachdenken über Gott, geschieht auch im Mittelalter nach unterschiedlichen Kategorien, von denen eine jede ihren eigenen Ort im menschlichen Leben hat, und die sich untereinander nicht austauschen lassen. Jede Form der Rede von Gott, des Umgangs mit dem Göttlichen hat seine eigene Zielsetzung, seine eigene Funktion im menschlichen Leben und Denken, die nicht aneinander gemessen werden können. Man kann allenfalls fragen, wie diese verschiedenen Formen des Umgangs mit dem Göttlichen nebeneinander zu stellen sind, ob man eine Beziehung zwischen ihnen herstellen kann. Ein solcher Versuch der Verbindung verschiedener Sprachebenen ist die Kabbala.

Bevor ich dies weiterverfolge kann muss wenigstens in ein paar wenigen Strichen nachgezeichnet werden, was diese Philosophie und was diese Kabbala denn waren, die sich zunächst gegenüberstanden.

2.2 Der Monotheismus der mittelalterlichen Philosophie

2.2.1 Gott als erste Ursache – er ist unerkennbar und ohne Beziehung zur Welt

Der Glaube, dass es nur einen einzigen Gott gibt, ist wie oben kurz skizziert, erst spät in der biblischen Zeit entstanden – da war er der Herr aller Geschichte und der einen Schöpfung. Im rabbinischen Judentum richtete sich der Eingottglaube vor allem gegen einen himmlischen Herrschafts-Dualismus, der sich an der Gestalt des Engels Metatron festmachte. Aber dieser Glaube an nur einen Gott hat erst in der mittelalterlichen Philosophie durch den philosophischen Rationalismus seine konsequente Klärung und Zuspitzung erfahren – erst jetzt kann man wahrhaft von Monotheismus sprechen. Die mittelalterliche Philosophie hatte den Menschen ein systematisches kausales Denken verordnet. Alles Existierende hatte demnach eine Ursache, von der es verursacht wurde. Der Tisch hat als materiale Ursache das Holz, das Holz hatte seine materiale Ursache in den Bäumen und diese in den Mineralen der Erde und in den Strahlen der Sonne. Außerdem hat der Tisch formale und Handlungs-Ursachen: Da ist der Tischler, der den Tisch baute und die Idee, wie er ihn gestaltet. Das Bauen selbst hatte seine Ursache in einem Auftrag, dieser im Bedürfnis der Menschen, Dinge abzulegen und so weiter und so weiter.

Wie schon dieses Beispiel des Tisches zeigt, galt alles Existierende als zusammengesetzt aus einer Materie und aus einer Form, der Tisch aus Holz und der Idee der Tischform. Und alles was so zusammengesetzt ist, hat natürlich eine Ursache, die es zusammenfügte. Und alles, was eine Form hat, ist auch begrenzt.[6]

Was folgt aus alledem für Gott? Wenn Gott der Erste und die Ursache von allem Seienden sein soll, darf er selbst nicht verursacht sein. Das heißt, er darf auch nicht zusammengesetzt sein, denn alles Zusammengesetzte ist ja verursacht, Gott ist auch grenzenlos, denn das Begrenzte wurde von einer Ursache begrenzt.

Wenn Gott nach diesen Vorgaben in keinerlei Weise zusammengesetzt sein darf, kann er keinerlei Attribute haben, die sein vollkommen einheitliches Wesen ergänzen würden. Er hat also keine Attribute wie Güte oder Strenge, er ist nicht Vater und nicht König und dergleichen. Gott ist Eins ohne zusätzliche Eigenschaften, er ist unveränderlich, darum kann er auch nicht hören, er kann nicht handeln und kann mit den Menschen nicht kommunizieren, denn dies bedeutet Veränderung und Verursachung. Die Folge aus alledem ist: Gott ist unerkennbar, er ist unansprechbar, er kann in keiner Beziehung zu etwas Körperlichem oder Begrenztem stehen – denn all dies würde auf ihn einwirken und verändern und das heißt ihn verursachen – dann ist er nicht mehr der eine Gott. Dies ist konsequenter philosophischer Monotheismus des Mittelalters.[7]

Diese philosophische Gottesvorstellung wurde auch entsprechend auf die Interpretation des Schmaʽ Jisrael angewandt. So zum Beispiel in der Originalversion der 13 Glaubenssätze des Maimonides in seinem Kommentar zur Mischna:

Der erste Glaubensgrundsatz ist:

An die Existenz des Schöpfers, Er sei gesegnet, zu glauben, das heißt dass es ein in jeder Hinsicht der Existenz vollkommenes Existierendes gibt, dies ist die Ursache alles Existierenden […]

Der zweite Glaubensgrundsatz ist:

Die Einzigkeit / Einheit Gottes, Er sei gesegnet. Das heißt wir sollen glauben, dass der, welcher die Ursache von allem ist, Einer ist und zwar nicht Einer wie einer aus Einer Art oder Einer aus einer Gattung oder wie eine einzelne Person, die in viele Teile unterteilt ist, und nicht Einer wie ein einfacher Körper, welcher der Zahl nach einer ist aber doch in unendliche Teile zerteilt werden kann. Vielmehr ist Gott, Er sei gesegnet, Einer mit einer Ein-heit, deren es keine zweite gibt. Und diesen zweiten Grundsatz lehren die Worte: »Höre Israel, JHWH unser Gott ist ein JHWH.«

Der dritte Glaubensgrundsatz ist:

Dass er kein Körper ist, das heißt, dass der Eine, den wir hier genannt haben, kein Körper ist, auch keine Kraft in einem Körper, auch dass die Veränderungen und Eigenschaften der Körper auf ihn nicht zutreffen, also etwa die Bewegung, die Ruhe oder das Wohnen, weder hinsichtlich seines Wesens noch hinsichtlich von Akzidenzien. Darum haben ihm die Weisen, seligen Angedenkens, die Verbindung und Trennung [mit anderem] abgesprochen. Oben gibt es weder Sitzen noch Stehen, vorne noch hinten […][8]

Die Einheit Gottes bedeutet demnach, dass der Mensch als begrenztes und körperliches Wesen keinerlei Kontakt zu dieser Gottheit haben kann, außer – so unter anderen Maimonides – mittelbar über das Engelwesen des himmlischen Aktiven Intellekts.[9]

Ich will noch hinzufügen. Die Denker des Mittelalters waren der Überzeugung, dass alles, was sie mit den Gesetzen ihrer Logik erkannten und erschlossen, auch tatsächlich so existieren müsse. Nach Ihrer Auffassung waren also die Erkenntnis und die Ontologie eins – die Realität entspricht den Gesetzen der Logik. So wie sie Gott mit ihrer Logik dachten, so musste er auch sein!

2.2.2 Mittelinstanzen

Die mittelalterlichen Philosophen haben sehr wohl begriffen, dass mit einem solchen abgehobenen vom jeglicher Beziehung ausgeschlossenen Gott die Entstehung der Welt nicht erklärt werden kann. Darum haben sie nach Lösungen für dieses logische Problem gesucht. Die klassische Lösung für die Überwindung der Kluft zwischen dem Grenzenlosen und dem Begrenzten, zwischen dem Einen und dem Vielen war die Formel von den stufenweisen Übergängen, von Zwischeninstanzen, welche den Übergang vom Unbegrenzten zum Begrenzten und vom Einen zum Vielen logisch denkbar machte. Dafür gab es zwei Denkmuster, ein platonisches und ein aristotelisches.

Nach dem platonische System ist die Kluft zwischen der Gottheit und dem, was nachher Welt wurde, durch eine Emanation überbrückt worden. Das heißt, aus der Gottheit floss ein göttlicher Lichtstrom hervor, der Stufe nach Stufe immer konkreter und materieller wurde und so entstand die Welt. Das bedeutet zugleich, die Welt ist in einer einzigen Kette des göttlichen Lichtes verbunden – eine Art Pantheismus.[10]

Ein weiterer wichtiger Gedanke dieses platonischen Systems, der auch für die Kabbalisten zentral wurde, ist der: Das erste aus der Gottheit emanierte Wesen ist der Weltintellekt – und in ihm war der Bauplan der ganzen Welt enthalten. Die gesamte Welt hat ihr Urbild in diesem Weltintellekt. Nach dem Weltintellekt floss die Weltseele hervor – bis hier erstreckt sich die unsichtbare Welt, der intelligible Kosmos, die über der sichtbaren Welt thronte.[11]

Nach dem System der Aristoteliker hingegen war Gott die Erste Ursache, von der eine Kette von Zwischenursachen ausging, bis herab in diese Welt. Nach der Gottheit folgten als Zwischenursachen zunächst zehn unsichtbare Intellekte, an deren letzter Stelle der soeben schon genannte Aktive Intellekt rangierte, und nach ihnen die sichtbare Welt.

2.2.3 Die Zwischenstufen der Kabbalisten

Die Kabbalisten haben dieses rationalistische Weltbild der Philosophen im Grunde übernommen, die einen nach dem platonischen, die anderen nach dem aristotelischen Modell, meist haben sie beide Modelle miteinander verschmolzen. Das heißt die Kabbalisten akzeptierten die rationalistische Lehre des Monotheismus – diesen unerkennbaren und unerreichbaren Gott nannten sie das En Sof, das Unendliche. Dies stand wie für die Philosophen jenseits aller Welt. Auch den Kabbalisten galt dieser Gott, nach dem Modell der Philosophen als Ursache oder Quelle der Welt. Damit war die Weltentstehung erklärt.

Aber das eigentliche religiöse Problem war damit noch nicht gelöst, nämlich die Möglichkeit des Menschen mit Gott Kontakt aufzunehmen, ihn mit den spirituell-emotionalen Bedürfnissen zu erfassen, denn das »Unendliche« – das En Sof der Kabbalisten blieb der Gott der Philosophen, es blieb der philosophische Monotheismus.

Das mit diesem Monotheismus ungelöste Problem der gelebten Religion haben die Kabbalisten durch eine neue Formel zu lösen gesucht. Sie fügten zwischen die unendliche und unerkennbare Gottheit und die oberste platonische Emanationsstufe eine weitere Zwischenstufe ein, welche die Philosophen so nicht kannten. Diese zusätzliche Zwischenstufe war für die Kabbala die sich selbst offenbarende Gottheit. Die erste Emanationsstufe war der Gott, der aus seiner Verborgenheit heraustrat und sich als erfahrbaren Gestalt offenbarte. Damit war der philosophische Monotheismus – zumindest auf den ersten Blick schon zerbrochen. Ich sagte auf den ersten Blick, denn tatsächlich wurde dieser offenbarte Gott nicht[12] mit den rational-logischen Methoden der Philosophie erschlossen und verkündet. Dieser kabbalistische Gott gehörte folglich einer anderen Erkenntniskategorie als der philosophisch-rationalen an. Der offenbare Gott entsprang nicht der logischen Deduktion und kann folglich dem logischen Monotheismus nicht widersprechen. Der Monotheismus ist ein Ergebnis der Philosophie – der offenbare Gott der Kabbalisten ein Ergebnis der religiösen Erfahrung. Der von den Kabbalisten in die Emanationskette eingefügte offenbarte Gott entsprang der von den Menschen erlebten Vielfalt der Welt, in welcher sie das Göttliche erkannten. Dazu wird später noch weiteres zu sagen sein.

Mit dieser Formel bewahrten die Kabbalisten also den monotheistischen Gottesbegriff der Philosophen und verbanden ihn mit einem neuen Element, mit einem Gott der religiösen Erfahrung. Diese Konstruktion hat für die Kabbalisten ein für die Religion zentrales Element wiedergewonnen. Es gibt nun wieder einen Gott der aus der verborgenen unerreichbaren Unendlichkeit herausgetreten ist. Damit ist die Verbindung zwischen Gott und Mensch wieder möglich und zwar in beide Richtungen. Dieser offenbare Gott ist für die Kabbalisten der Gott, von dem die Bibel spricht. Über das Unendliche, En Sof, steht in der Bibel nichts, denn es ist ja unerkennbar und man kann nichts über es sagen.

Diese Einfügung einer göttlichen Zwischenstufe in das mittelalterlich-philosophische Emanationsmodell ist jedoch noch nicht das Ende der kabbalistischen Konstruktion. Das, was noch viel größere Probleme verursachen konnte, war, dass die Kabbalisten auch diese Selbstoffenbarung der Gottheit als hierarchische Zehnfaltigkeit darstellten. Danach hat sich Gott in einer Zehnfaltigkeit von zehn sogenannten Sefirot, von zehn Gotteskräften, offenbart, die hierarchisch übereinander angeordnet waren. Die offenbare Gottheit selbst entspricht also in ihrer Binnenstruktur wiederum der philosophischen Struktur der Zwischeninstanzen. Und gerade dagegen erhob sich schon im Mittelalter Widerspruch. Mit dieser Struktur der Zehnfaltigkeit schien nun der Monotheismus tatsächlich verlassen zu sein. So sah es zumindest ein Kabbalist des 13. Jahrhunderts, nämlich Abraham Abulafija, der die Sefirot ablehnte. Abulafja attackierte die Lehre von den Sefirot mit folgenden Worten:

Ich will dir kundtun, dass die Kabbalisten gedachten, mittels der Sefirot die Einheit Gottes auszurufen und [zugleich] dem Glauben an die Trinität entrinnen zu können, indem sie ihn als Zehnfaltigkeit darstellen. Und so wie die Völker (Gojim) sagen, er sei dreifaltig und die drei seien eins, so glauben und verbreiten einige Kabbalisten, die Gottheit bestehe aus zehn Sefirot und diese zehn seien eins! So haben sie eine Vielzahl aus ihm gemacht […][13]

Dieser Autor ist also dezidiert der Meinung, die Kabbalisten hätten mit der Sefirotlehre den Monotheismus zerbrochen – nicht schon mit der Konzeption des offenbaren Gottes. Die Mehrheit der Kabbalisten und später eine Mehrheit frommer Juden waren jedoch anderer Auffassung und so wurde die Lehre der Sefirot ohne weitere Bedenken rezipiert als eine Lehre, die dem Monotheismus nicht widerspricht. Wie ist dies möglich?

2.3 Gründe für die Akzeptanz der kabbalistischen Sefirotlehre

Man darf es als einen Glücksfall betrachten, dass wir von einem modernen orthodoxen Juden eine ausdrückliche Entscheidung zwischen dem klassischen Monotheismus und den Lehren der Kabbala besitzen. Der Mann ist kein geringerer als der erste aschkenasische Oberrabbiner des damals noch zionistischen Palästina, nämlich Abraham Jizchak Kuk (1865–1935). Abraham Kuk fragt sich in seinen Tagebüchern einmal ausdrücklich, wie man als frommer Jude zwischen einem traditionellen Monotheismus und der neoplatonisch eingefärbten Emanationslehre der Kabbala entscheiden könne, dies sogar auf die Gefahr hin, dass dadurch die göttliche Schöpfung aus dem Nichts ins Wanken gerät. Das Resultat, zu dem Rav Kuk kommt ist verblüffend und entspricht dem, was ich in meiner oben aufgestellten These schon formuliert habe. Der Rav Kuk meint, die Entscheidung zwischen Monotheismus und Kabbala müsse danach getroffen werden, was dem Menschen mehr zusagt, was seinen Bedürfnissen mehr entspricht. Es ist nach diesen Überlegungen Kuks nicht die philosophische Logik, die hier ausschlaggebend ist, sondern es ist das religiöse und emotionale Bedürfnis des Menschen. Kuk notiert:

Die Auffassung, dass Gott ein Wesen völlig außerhalb des Seins der Welt ist, birgt große Schwierigkeiten, sich ihn und seine Beziehung zur Welt und zu allen Geschöpfen vorzustellen. […] Darum neigt die Seele des Menschen zu der Vorstellung von der allumfassenden Einheit, die nur Gott [als einziges wirklich existierendes Wesen] kennt, […], dass das wahre Sein die Gottheit ist und alles Sein, das tiefer als der höchste Gott ist, nichts anderes ist als der herabgestiegene Wille [Gottes] [– dies sind die 10 Sefirot –] […] Aber schließlich wird alle Unreinheit zuende gehen und der Wille wird aus seiner eigenen [Unvollkommenheit] […] wieder zum absolut Guten aufsteigen, dann wird Gott und sein Name eins sein. Und das Sein, wenn alles in die Gottheit zurückkehrt, ist die höchste Vollkommenheit des Seins, was man nicht zu bergreifen vermag.[14]

Diese Worte von Rav Kuk zeigen, dass es die religiöse Motivation ist oder das religiöse Bedürfnis der Menschen, die nach seiner Auffassung das Gottes- und Weltbild bestimmen müssen. Das heißt, die Genugtuung oder die Freude, die ein Mensch von einem theologischen Gedanken gewinnt, ist die Evidenz für dessen Wahrheit. Mithin ist hier nicht die Logik der Vernunft, auch nicht die Schrift und die Tradition der Bürge für die Wahrheit eines theologisch-kosmologischen Satzes. Die Wahrheit hat einen anthropologischen Beweis, es ist der Mensch, seine Seele oder sein Herz, welche die religiöse Wahrheit verbürgen müssen, weil er sie so will und sie ihm so zusagt.

Das bedeutet für die Frage nach der Stellung des Eingottglaubens: Für die Wahrheit gibt es nach Rav Kuk unterschiedliche Maßstäbe. Da gibt es den Maßstab der Philosophie, für den die Wahrheit aufgrund der Logik ausschließlich im Monotheismus liegen kann. Demgegenüber kennt die Religion den Maßstab des menschlichen Glücks, der menschlichen Zufriedenheit. Der Mensch braucht für sein Glück die Nähe Gottes. Und für diesen persönlichen Glücks-Maßstab ist die kabbalistisch-platonische Emanationslehre mit ihren Sefirot die bessere Wahrheit. Der Mensch ist demnach das Maß der Gotteslehre. Ist er Philosoph, neigt er zum Monotheismus der strengen Form, ist er religiös praktizierend, neigt er zu Gottesvorstellungen, die seiner religiösen Praxis entsprechen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu schaffen. Es geht Kuk bei der Entscheidung für das Konzept der Kabbala nicht um Existenzaussagen, nicht um Gottes Existenz als Einer oder zweie, sondern es geht um das religiöse Leben, um das Streben nach persönlichem Glück.

Es war allerdings nicht erst dieser palästinische Oberrabbiner, der so dachte. Auch die mittelalterlichen Pietisten und Kabbalisten setzten sich mit der monotheistischen philosophischen Gotteskonzeption auseinander und haben ein religiöses Bedürfnis formuliert, das mit einem abgehobenen philosophischen Gott nichts wirklich anzufangen wusste. Die Gelehrten der Ḥaside Aschkenas – eine Frühform der Kabbala – haben mit den Philosophen die absolute Unerkennbarkeit und Unzugänglichkeit des Einen Gottes proklamiert und doch zugleich das religiöse Problem dieses philosophischen Konzeptes erkannt. Elʽasar aus Worms (13. Jh.) beschrieb das Problem so:

Siehe, der Jichud (die Einheit Gottes) hat kein Ende, er ist alles. Und wäre in der Hand der Propheten nicht etwas Vorstellbares, indem Er ihnen etwas wie einen auf einem Thron sitzenden König zeigt, wüssten sie nicht, zu wem sie beten sollten.[15]

Elʽasar erkannte das Problem des abstrakten Monotheismus, der dem Gebet und der Frömmigkeit keinen Orientierungspunkt geben kann. Selbst die Propheten mussten etwas sehen, damit Gott mit ihnen reden konnte und sie respondieren konnten. Darum, so war Elʽasars Meinung, hat Gott eigens etwas Sichtbares aus sich herausgesetzt, um der menschlichen Auffassungsgabe entgegenzukommen, ihnen einen Ort zu zeigen wohin sie ihr Gebet ausrichten konnten.

Dasselbe Anliegen findet man im ersten kabbalistischen Buch, dem Sefer ha-Bahir. Dort fragen die Schüler ihren Meister: »Zu wem erhebt man die Hände?« um zu beten?[16] Wieder geht es also um ein menschlich religiöses Bedürfnis, die Ausrichtung des Gebets. Auch hier lautet die Antwort nicht, dass man zum Unendlichen beten solle – dies funktioniert offenbar nicht. Die Antwort für die Orientierung des Gebets lautet: Man richte sich auf die Zehn Sefirot aus, sie sind der Orientierungspunkt für das Gebet.

Derselbe Autor fragt außerdem, weshalb die Priester beim Segnen ihre Hände nach oben heben? Die Antwort lautet:

Und warum [geschieht das Segnen] durch Handaufheben? […] Dies geschieht, weil zehn Finger an den Händen sind, ein Hinweis auf die zehn Sefirot, mit denen Himmel und Erde versiegelt sind, und diese entsprechen den zehn Worten (Geboten) […].[17]

Die zehn Finger an den betenden Händen sind also sichtbares Orientierungszeichen für das Ziel des Gebetes. Es geht diesen Kabbalisten um die innere Ausrichtung der Frömmigkeit, nicht um philosophische Seinsaussagen. Es gab also innerhalb der Kabbalistenkreise sehr wohl das Bewusstsein, dass sie mit Ihren Lehren andere Ziele als die Philosophen verfolgten. Die Philosophen brauchen in ihrem Denken den Monotheismus, die frommen Kabbalisten brauchen etwas für ihr religiöses Denken, Sprechen und Handeln – einen offenbaren Ort, auf den sie ihr Denken und Handeln ausrichten konnten – wie man einst in altbiblischer Zeit das Gebet nach Jerusalem ausrichtete, wo Gott im Tempel wohnte.

2.4 Die kabbalistische Realisierung der religiösen Rede von Gott

Die Kabbalisten wollen mit ihrem Reden über Gott, wie ich dies bisher darlegte, keine Existenz- und Wesensaussagen im Sinne der Philosophen machen, sondern sie sprechen über Gott wie es ihren religiösen Bedürfnissen entspricht. Mit diesem religiösen Reden bewegen sie sich auf einer völlig anderen Eben als die Philosophen. Hier geht es nicht um Existenzfragen, sondern um Relationsfragen. Es ging den Kabbalisten darum festzustellen, dass es trotz des philosophischen Monotheismus eine Kontaktmöglichkeit zum Erzeuger und Lenker der Welt gibt und dass man ihn auch wahrnehmen und erleben konnte.

Die Kabbalisten waren aber genügend philosophisch gebildet, weshalb sie sehr wohl wussten, dass ihre Art über Gott zu reden nicht dieselbe Redeweise ist, wie man über konkret existierende Dinge spricht, auch wenn dieser Eindruck entstehen könnte. Sie wussten, dass man über ihren offenbarten Gott, der nach platonischem Vorgang das Urbild dieser Welt ist, nur uneigentlich sprechen kann. Aber aus Ermangelung an Sprachmöglichkeiten verwendet man dennoch die bekannte menschliche Sprache, wohl wissend, dass sie nicht wirklich das beschreibt, was in der offenbaren Gottheit existiert.

Schon die Philosophen, etwa Moses Maimonides sagten ja, dass man über den Gott der Philosophen nichts sagen kann, weil er keine Eigenschaften und keine Attribute hat. Und wenn man Gott trotzdem als König, Vater, als gut oder streng bezeichnet, habe dies nichts mit Gottes wahrhaftem Wesen zu tun. Sondern die Menschen sagen nur was sie empfinden: Wenn sie Freude trifft sprechen sie vom guten Gott, wenn ein Unglück dann vom strengen Gott und so weiter. Dies hat aber alles nichts mit Gottes wahrem Wesen zu tun, das eine völlige Einheit ist. Maimonides nannte diese Art der Rede von Gott, dass man Gott Wirkattribute zuschreibt – man sagt nichts über Gott selbst, nichts über sein Wesen, sondern darüber, was uns hier auf Erden trifft, was wir erleben. Dies tangiert die Einheit Gottes nicht.[18]

Ganz ähnlich machen es die Kabbalisten, wenn sie von ihrem offenbarten Gott reden. Allerdings verleihen sie den erlebten Wirkattributen eine den menschlichen Bedürfnissen entsprechende Substanz, die mehr Anschaulichkeit besitzt. Und dies sind die zehn Sefirot. Aber, auch über diese Sefirot kann man nicht real etwas sagen, man kann nur in Symbolen von ihnen sprechen. Einer der frühen und bedeutenden Kabbalisten hat dies einmal so beschrieben:

[§ 1] Wisse diesen wichtigen Grundsatz: Das wahrhafte Wesen des Schöpfers E. s. g., kann von keinem außer Ihm selbst, erfasst werden, auch kennt keiner von den Scharen der Höhe seinen Ort, um wieviel weniger sein wahres Wesen […]. Und dies ist bei den Oberen so, um wieviel mehr bei den Unteren!

[§ 2] Und wenn dem so ist, was sind dann all die Dinge, über die wir in der Tora lesen, wie [Gottes] Hand, Fuß, Ohr, Auge und dergleichen mehr? Wisse und glaube, dass all diese Dinge, wiewohl sie Gottes wahre Größe aussagen und bezeugen, von keinem Geschöpf […], erkannt und darüber nachgesonnen werden kann. Und wenn [die Schrift sagt, dass] wir im Ebenbild und in der Ähnlichkeit (be-Zelem u-Demut) gemacht sind, so möge es dir nicht in den Sinn kommen, dass [in der Gottheit] ein Auge wirklich in der Form eines Auges existiert, oder eine Hand in der Form einer wirklichen Hand. Dies sind vielmehr allerinnerste Dinge der wahrhaften Existenz von JHWH, E. s. g., […] Wisse und verstehe, dass es zwischen Ihm und uns keine Ähnlichkeit von Seiten des Wesens und der Gestalt gibt. Vielmehr sind die Formen der Glieder an unserem Körper in der Absicht gemacht, die Ähnlichkeit von verborgenen hohen Symbolen (Simanim) zu besitzen, welche die Erkenntnis nicht erfassen kann, […].[19]

Statt von Wirkattributen sprechen die Kabbalisten von Symbolen, die nichts Beschreibendes über das Wesen Gottes sagen. Aber diese Symbole bewahren das Mysterium der Kontaktmöglichkeit zur Gottheit. Diese Symbole sind es auch, mit deren Hilfe der Mensch auf die offenbare Gottheit einwirken kann – man nennt dies die Theurgie. Statt des Sprechens und Hörens zwischen Mensch und Gott im Gebet steht nun die Kontaktaufnahme mittels der Symbole.

Da die offenbare Gottheit auch für die Kabbalisten – wie bei den Philosophen der Weltintellekt – das Urbild und der Quell alles Existierenden ist, kann man alles in der Welt Existierende als Symbol für die Rede von Gott verwenden. Man kann also alle menschlichen Wörter unserer Umwelt nehmen und sie als Symbole für die Rede von Gott verwenden, Wörter und Namen aus der Bibel, Begriffe aus der Menschenwelt wie Vater, Sohn, Mutter Tochter, aus der Geographie und Kosmologie, Sonne und Mond, Meere und Flüsse und so weiter. Dies alles sind Symbole für eine Gottheit die so vielfältig in der Welt wirkt, dass man all diese Wirkungen als Symbole für die nicht näher qualifizierbare Gottheit verwenden kann. Die gesamte erlebte Welt ist Symbol für den Urheber dieser Welt.[20]

Auch die Zehnzahl der Sefirot ist aus diesem Welt-Inventar genommen. Aus der Bibel: Mit zehn Worten hat sich Gott am Sinai vorgestellt, mit zehn Worten hat er die Welt erschaffen, aus der kosmologischen Mathematik der Pythagoräer: Die Zehnzahl ist das Grundelement aller berechenbaren Welt – vorher haben wir ja schon von den zehn Fingern gehört, welche man im Gebet zum Himmel streckt.[21]

Die Verwendung einer Vielzahl von Symbolen sagt demnach nichts über das Wesen des einen offenbaren Gottes aus. Sie sagt nur, dass die uns sichtbaren Dinge und Geschehnisse auf Gott zurückgeführt werden. Dies ist kein logischer und kein physikalischer Beweis, dies ist, wie es Rav Kuk gesagt hat, eine Redeweise, die dem Menschen Glück beschert, die seinen Bedürfnissen entgegenkommt. Nur darum geht es, nicht um ontologische Seinsaussagen, die wir schlechterdings nicht machen können. Worauf es ankommt, ist, was der Mensch damit anfangen kann, nicht darauf was vielleicht logisch ist. Die Wahrheit wird am Menschen gemessen, daran, wie er mithilfe dieser Sprech- und Handlungsweise seinen Bedürfnissen nach Glück am nächsten kommt.

Ich will hier ein weiteres Beispiel anfügen, welches zeigt, was das eigentliche Anliegen dieser Gottesrede und Gotteshandhabung ist. Der Mensch soll aktiv an seinem Glück arbeiten und dafür braucht er die richtigen Symbole, die richtigen Worte und die richtigen Handlungen, von denen er glaubt, dass sie in der einen offenbaren Gottheit eine Resonanz auslösen, ohne dass die Vielfalt der Begriffe und Namen seine Einheit tangieren – denn alles was der Mensch sagen kann, ist das, was er hier erfährt, und das er in der Symbolsprache als Wirkung Gottes bekennt und erhofft. Entsprechend lautet die Gebetsanweisung des Kabbalisten Josef Gikatilla, das uns vielleicht fremd anmuten mag:

Alle Seine heiligen Namen die in der Tora genannt werden, sind im Tetragrammaton enthalten […] und er ist der Stamm des Baumes [d. h. der 10 Sefirot] und der Rest der Namen sind Äste und Wurzeln und Schätze und Schatzkammern und jeder von ihnen hat eine andere Wirkung als der andere.

Das gleicht einem Schatzhaus, in dem es mehrere Kammern gibt. Jede Kammer ist ausgesondert für eine besondere Sache. In der einen Kammer Edelsteine und Perlen, in der anderen Speisen, in einer anderen Getränke und in einer anderen Kleidungsstücke. Und wenn der Mensch Speise braucht, und nicht jenes Zimmer kennt, in dem die Speisen sind, so kann es geschehen, dass er Hungers stirbt, obwohl die Kammern voll allen Guten sind. Und nicht, dass man ihm seine Bitte verwehrt hätte, sondern weil er nicht wusste, in welchem Zimmer die Sache ist, deren er bedarf. Und auf eben diese Weise ist auch das Erfassen Seiner heiligen Namen, E. s. g.: Es gibt Namen, die sind über das Gebet, das Erbarmen und Verzeihen gesetzt, andere über die Tränen, andere über die Ernährung und das Einkommen, andere über die Strenge, andere über die Liebe und andere über die Huld, andere über das Leben, andere über die Heilung, andere über den Wunsch nach Söhnen und Töchtern. Und wenn man beim Gebet sich nicht auf jenen Namen auszurichten versteht, welcher der Schlüssel für sein Bedürfnis ist, wer hat ihm da verursacht, dass er seinen Wunsch nicht erlangt? Seine Torheit und sein Mangel an Erkenntnis![22]

Das Symbol für das Göttliche ist ein Schatzhaus voller Lebensgüter, die der Mensch braucht. Noch mehr scheint er allerdings solcher Symbole zu bedürfen, die er in seinem Gebet und Denken einsetzen kann.

In diesem Sinne der soeben vorgestellten Theurgie deuten die Kabbalisten nun auch das Schmaʽ Jisraʼel. Denn sie glauben ja, dass nicht nur die unendliche Gottheit eins ist, sondern auch die offenbarte Gottheit trotz ihrer Auffaltung in zehn Sefirot. Diese Einheit der Sefirot, die auch als Einheit einer Vielzahl von Gottesnamen verstanden werden kann, hat jedoch die Besonderheit, dass diese Einheit gleichsam nicht von selbst gegeben ist, sondern durch das theurgische Handeln der Menschen erst und immer wieder neu hergestellt wird. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, dass der kabbalistische Zugang oder der Umgang mit Gott und gerade auch mit der Einheit Gottes einer anderen Kategorie angehört als der philosophisch-logischen Deduktion. Dieser kabbalistische Umgang mit der Einheit Gottes ist performativ, sakramental und liturgisch und da bedeutet der Satz »Es ist ein Gott« etwas anderes als in der Philosophie. Für den Kabbalisten können beide Redeweisen nebeneinander bestehen, sie dürfen aber nicht miteinander verwechselt oder gar aneinander gemessen werden mit dem Ziel sie in Übereinstimmung zu bringen. Die folgende Meditationsanleitung für die Rezitation des jüdischen Bekenntnisses zur Einheit und Einzigkeit Gottes leitet dazu an, wie die divergierenden Gotteskräfte, die sich in verschiedenen Gottesnamen ausdrücken, meditativ miteinander verbunden werden. Im Zentrum steht der Gottesname JHWH, der nach Josef Gikatilla, dem Autor dieser Meditation, die zehn Sefirot als Gesamtheit repräsentiert wie dies schon am Anfang des vorangegangenen Textes zu lesen war. Diese nun folgende Meditation hat zwei Ebenen. Die erste Meditationsebene ist laut Gikatilla diese:

Dieser Name, nämlich JHWH umfasst alle zehn Sefirot innerhalb seiner vier Buchstaben und zwar mitsamt all seinen aus der Tora bekannten Heiligen Namen. Alles hängt an diesem Namen. In ihm wird alles Eins. Es gibt nichts in der Welt, das nicht aus ihm hervorginge. Und wenn ein Mensch das Schmaʽ Jisrael rezitiert und die Worte spricht »JHWH ist Einer«, dann soll er seine Intention auf diese vier Buchstaben mit allergrößter Hingabe ausrichten und durch sie die zehn Namen [der zehn Sefirot] vereinen in eine vollkommene Einheit […][23]

Während die vier Buchstaben JHWH auf vier Repräsentationspunkte der zehn Sefirot verteilt sind[24] und so unterschiedliche Gotteskräfte repräsentieren, werden sie in der Ausrufung des Einheitsbekenntnisses meditativ in Eins zusammengeführt.

Die zweite Meditationsebene verbindet die vier Wörter des Bekenntnisses, die ja gleichermaßen Gottesnamen sind, JHWH, Elohenu, JHWH, Echad, ebenfalls mit den vier Buchstaben des Tetragrammaton, sodass auch diese vier Namen in die Einheit des Gottesnamens JHWH aufgenommen sind:

Wir müssen dir mitteilen, dass wir schon die geheime Überlieferung (Kabbala) bezüglich der Schmaʽ-Rezitation erhalten haben. Wenn ein Mensch das Schmaʽ rezitiert, richte er sein Augenmerk folgendermaßen auf die vier Buchstaben des Namens JHWH im Schmaʽ Jisrael. Und wenn er den Namen JHWH ausspricht, verbinde er in Gedanken diesen Namen [JHWH] mit dessen erstem Buchstaben, nämlich mit dem Jod. Beim Aussprechen des Gottesnamens Elohenu verbinde er diesen meditativ mit dem zweiten Buchstaben des Gottesnamens JHWH, das heißt, d. h. dem He. Beim Aussprechens von JHWH verbinde er diesen Namen mit dem dritten Buchstaben von JHWH, das heißt mit dem Waw und beim Aussprechen des Wortes Echad verbinde er dieses mit dem vierten Buchstaben von JHWH, das heißt mit dem zweiten He des Namens (JHWH).

Da lernst du, dass der Mensch während er das Schma rezitiert, seine Konzentration (Kawwana) auf zweierlei Dinge im Jichud (Einung) des Namens, E. s. g., ausrichten kann: Das eine ist, die zehn Sefirot und die zehn heiligen Namen in die vier Buchstaben hineinzunehmen, wie beschrieben,[25] und außerdem die vier Buchstaben des Namens mit den vier Gottesnamen [d. h. den im Schmaʽ genannten Gottesnamen:] JHWH, Elohenu, JHWH und Echad zu verbinden.[26]

Die Rezitation des Schmaʽ Jisrael, in dem die Einheit Gottes formuliert wir, wird hier zu einer performativen Meditation, in welcher die Einheit des einen Gottes auf doppelte Weise vollzogen wird. Alle möglichen Auffaltungen der Gottesmacht, zum Beispiel in zehn Sefirot oder in zehn Gottesnamen, welche diesen Sefirot zugeordnet sind, so auch die vier Gottesnamen im Schmaʽ Jisrael, werden durch die Schmaʽ Rezitation performativ-meditativ in eins zusammengeführt. Man könnte also sagen: Will man hier von Monotheismus sprechen, so ist dies keine philosophische Existenzaussage, sondern meint ein liturgisch-sakramentales Handeln. Philosophie und theurgische Kabbala sind folglich völlig verschiedene Weisen mit dem göttlichen umzugehen, insbesondere mit der göttlichen Einheit.

3 Resümee

Was man aus all dem Vorgetragenen erkennen kann, ist dies: Die Rede vom Monotheismus gehört – im Mittelalter – einer bestimmten Wissenschaft oder einem bestimmten kulturellen Ausdruckskontext zu – sprich der Philosophie. Es gibt daneben aber noch andere sehr unterschiedliche Ausdrucksweisen, um über Gott zu reden, die alle ihre je eigene Wahrheit haben. Wahrheit bedeutet dabei Lebenstauglichkeit und Lebensbezug. Wo die Wahrheit nach dem Grad bemessen wird, in welchem eine Wirkung auf den Menschen stattfindet, spielt der Gedanke an einen Monotheismus als philosophischer Existenzaussage keine Rolle. Die Frage nach der Existenz nur eines Gottes hat für das Wohlergehen des Menschen keine existenzielle Bedeutung, hingegen die Zugänglichkeit, die Kommunikationsmöglichkeit zum Heiligen sehr wohl. Es gibt also sehr verschiedene Erörterungskontexte der theologischen Wahrheit. Die Frage nach dem philosophischen Monotheismus ist nur einer dieser Kontexte – und wer weiß, vielleicht der am wenigsten wichtige, wenn es um das religiöse Leben und Gebaren geht.

Diese Sicht der Dinge war auch den Kabbalisten selbst schon bekannt. Denn es waren nicht umsonst sie, welche die Lehre vom vierfachen Schriftsinn – unter dem Stichwort PaRDeS – in das jüdische Denken einführten. Damit wollten sie sagen, dass man über Gott in ganz unterschiedlichen Sprachen sprechen muss, auch wenn diese einander widersprechen mögen. Nur eine einzige Redeweise zu verwenden trifft die unendliche Vielfalt des Göttlichen nicht. Es bedarf also nach dieser Formel vom vierfachen Schriftsinn der Rede von Gott in vierfältiger Weise: im Wortsinn, im philosophischen Sinn, im ethisch-moralischen Sinn und im Sinne der kabbalistischen Mysterien. Erst wer alle diese Redeweisen nacheinander und nebeneinander verwendet, kommt der göttlichen Wahrheit nahe – vermischen sollte man sie aber nicht.[27]

Online erschienen: 2016-6-20
Erschienen im Druck: 2016-6-20

© De Gruyter 2016

Downloaded on 13.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/asch-2016-0003/html
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