Porträt der Woche

Der Psalmenleser

Karl Neuwirth ist Experte für jüdische Lyrik und unterrichtet Hebräisch

von Katrin Diehl  05.09.2016 18:25 Uhr

»Im Moment bereite ich mich auf die Ausstellung ›Der Haidholzener Psalter‹ vor«: Karl Neuwirth (73) lebt in München. Foto: Christian Rudnik

Karl Neuwirth ist Experte für jüdische Lyrik und unterrichtet Hebräisch

von Katrin Diehl  05.09.2016 18:25 Uhr

Ich weiß auch nicht warum, aber ich hatte lange Zeit das fast sichere Gefühl, dass ich irgendwann so zwischen 40 und 50 Jahren sterben würde. Das bedeutete, dass ich mir weder über das Altern noch über das Altsein groß Gedanken zu machen brauchte. Als fleißiger Psalmenleser und -sager – und die Psalmen sind tatsächlich so etwas wie ein roter Faden, der sich durch mein Leben zieht – war mir natürlich immer der Vers »Unser Leben währet 70 Jahr’, und wenn es hochkommt, so sind es 80 Jahr’« fest im Bewusstsein.

Trotzdem war ich der Überzeugung: 70 Jahre? Nicht für mich. Ich lebe kurz, dafür intensiv und damit gut. Und dann? Ich wurde älter und musste, weil ich Familie hatte, lernen, langfristig zu denken, vorauszuplanen. Für Kinder sollte man schon ein bisschen länger da sein können, sie nicht als Halbwüchsige einfach sich selbst überlassen. Und nachdem ich fünf Kinder hatte und diese Kinder auch selbst großgezogen habe, weil ihre Mutter – was damals noch nicht üblich war – eine Universitätskarriere gemacht hat, sah ich tatsächlich die Notwendigkeit, älter zu werden.

schreibtisch Die Mutter meiner Kinder hat in Jerusalem einen Magister gemacht, in Göttingen promoviert, sich in München habilitiert, war dort Privatdozentin, bekam in Bamberg ein Forschungsstipendium mit Verbeamtung, sodass ich mich also zu Hause am Schreibtisch als arbeitender »Privatgelehrter« um die fünf Kinder gekümmert habe. Ich sehe das bis heute als einen großen Gewinn an, den ich nicht missen möchte, konnte dadurch aber natürlich andere Möglichkeiten, die sich mir geboten haben, nicht wahrnehmen.

Dennoch kann ich sagen, dass ich mein Leben lang lernte und lehrte, ganz gleich, in welcher Lage ich mich befand. Auch mein Zimmer hier in München im Saul-Eisenberg-Seniorenheim, in dem ich seit vergangenem August wohne, nenne ich »meine Studierstube«. Auch hier wird gelernt und gelehrt.

kindheit Geboren wurde ich 1943 in Böhmen. Meine Kindheit verbrachte ich jedoch in Salzburg. Das Gymnasium, das ich besuchte, stand damals genau gegenüber vom Festspielhaus, zu dem wir bei Premieren auch immer hingelaufen sind, um uns die großen Limousinen anzuschauen, denen die Herren im Frack und die Damen mit den Dekolletés entstiegen: Schlag auf, Schlag zu, nächste Limousine. Etwa 20 Minuten hat dieses Spektakel gedauert. Danach haben wir gesagt: »Das war es also«, und sind wieder nach Hause gegangen.

Das könnte man meine ersten Opernerfahrungen nennen, etwas, das fest zu meiner schönen Salzburger Kindheit gehörte. Wir sind dann aber trotzdem nach Bayern umgezogen, und zwar, weil die Österreicher sich schlichtweg geweigert haben, uns einen Pass zu geben. In meinem ersten Zeugnis stand »Staatsangehörigkeit: ungeklärt«. Damit wollten die Österreicher vermeiden, Kindergeld zu zahlen. Die Deutschen haben uns mit Pässen ausgestattet, und deshalb sind wir, meine Mutter und meine Geschwister, nach Bayern umgezogen. Ab der Mittelstufe war ich dann also ein wissbegieriger Münchner Gymnasiast des »Max«, des humanistischen Maximiliansgymnasiums mitten in Schwabing.

kulturhunger Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Deutschlehrer, der ein wohlwollendes Verständnis für meinen Kulturhunger hatte und es durchaus nachvollziehen konnte, wenn ich mich an einem Vormittag zum Beispiel lieber unters Publikum in der Akademie der Schönen Künste mischen wollte, als in die Schule zu gehen. Ich sagte: »Da hält heute jemand einen interessanten Vortrag über Gottfried Benn.« Und er und der Direktor gaben mir frei.

Später, in der Akademie der Schönen Künste, traf ich dann unter den Gästen auch den Deutschlehrer an. Er blinzelte mir zu und sagte: »War a guter Tipp.« In München habe ich später auch angefangen zu studieren. Im Einschreibebüro gab ich an, dass ich gerne Vergleichende Literaturwissenschaften wählen wollte, worauf der Pedell erst gar nicht hochgesehen, sondern nur »Hamma ned« in seine Papiere gebrummt hat. Weil ich aber das Bedürfnis hatte, aus den deutschen Verhältnissen herauszukommen, habe ich begonnen, Sinologie zu studieren. Man hat mir dort nahegelegt, Japanisch zu lernen, da die meiste Sekundärliteratur über die alte klassische Chinesische Literatur eben damals auf Japanisch war.

Nach den Anfangssemestern bin ich nach Jerusalem gegangen, um weiter zu studieren. Ich habe mich da einfach von den großen Namen, die an der Jerusalemer Universität vertreten waren, leiten lassen.

Bei Professor Chaim Rabin, dem besten Grammatiker und Linguisten, habe ich Arabisch und Hebräisch gelernt, bei Gershom Scholem habe ich den Sohar studiert, bei David Flusser die Periode des Zweiten Tempels und die Entstehung des Rabbinertums, bei Shlomo Pines habe ich Maimonides gelesen, dreisprachig auf Arabisch, Hebräisch und Englisch, bei Nechama Leibowitz habe ich Chumasch, also die Fünf Bücher Mose, gelernt und hatte dabei das große Glück, dass sie bei meiner Ankunft gerade wieder bei Bereschit angelangt war.

koran Bei Professor Meir Jacob Kister, dem bedeutenden Arabisten, habe ich Arabistik studiert – frühen Koran und Islamwissenschaften, was mir dann später nach meiner Rückkehr aus Israel die Möglichkeit gab, hier in München an der Universität bei den Komparatisten als Lehrbeauftragter hebräische und arabische Poesie und eine »Einführung in den Koran« anzubieten.

Etwa zur gleichen Zeit wurde in München eine Buchhandlung namens »Lyrik Kabinett« gegründet, die sich ganz auf Gedichte konzentrierte. Das fand ich eine sinnvolle Sache, und ich beteiligte mich, indem ich dafür sorgte, dass auch hebräische und arabische Lyrik, alte wie moderne, vertreten war. Das »Lyrik Kabinett« gibt es bis heute.

Hebräisch und Arabisch habe ich als junger Mann nicht nur an der Universität gelernt, sondern auch auf den Straßen der Jerusalemer Altstadt, wo ich ein kleines Zimmer bezogen hatte. Ich sog alles auf. Als man allerdings im sinologischen Seminar von mir verlangte, etwas aus dem Chinesischen direkt ins Hebräische zu übersetzen, da habe ich dann doch gestreikt. Letztendlich bin ich dann ja auch beim Hebräischen hängengeblieben. An meine »chinesischen Ambitionen« von damals erinnert mich heute auf meinem Schreibtisch ein großer Pinselständer mit zwölf verschiedenen Pinseln, mit denen man kalligrafieren kann. Aber der ist nach 50 Jahren natürlich schon ein bissl eingestaubt.

schüler Mein Zimmer ist oben in der Ecke im dritten Stock. Dorthin ziehe ich mich immer gerne zurück. Es ist für mich sehr wichtig, dass man in diesem Altenheim doch sehr frei und selbstständig arbeiten kann. Wenn Altenheim, das stand für mich fest, dann nur das jüdische Seniorenheim, auch wenn ich mir manchmal ein bissl mehr Jüdischkeit wünsche. Ich weiß es zu schätzen, dass ich hier ein paar Menschen finde, die Hebräisch können und die sich auch sonst ein bisschen auskennen. Zudem liegt das Heim in der Nähe des Englischen Gartens, so habe ich es an Schabbes nicht allzu weit zur Georgenschul und zur Universität mit all ihren Bibliotheken.

Im Moment bereite ich mich auf eine Ausstellung mit dem Titel Der Haidholzener Psalter vor, in die ich, wenn sie Anfang September im Münchner Jüdischen Kulturzentrum gezeigt wird, einführe und die mir sehr am Herzen liegt. In den 70er-Jahren konnte ich Josua Reichert, einen Schüler Grieshabers, dafür gewinnen, die Psalmen in farbigen Einblattdrucken druckgrafisch darzulegen. Die Kunstwerke sind das Ergebnis tiefgründiger Gespräche zwischen mir und Josua. Fürs Eigenstudium dient mir auch meine private Bibliothek. Ich musste sie seit dem Umzug ins Heim stark reduzieren, aber meine Hebraica und Biblica umgeben mich weiterhin auf vier Regalen – früher waren es 22.

Ich habe jetzt übrigens auch wieder einen Schüler – einen 14-jährigen Burschen, der mich einmal pro Woche besucht, weil er aus eigenem Willen anständig Hebräisch lernen will. Wir machen eine Stunde Chumasch, und dafür hilft er mir ein bissl bei der Bibliothek und den schweren Folianten, die ich nicht mehr so wuchten kann: Er lernt von mir, und ich lerne von ihm.

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