ISBN:
3886804496
Sprache:
Deutsch
Seiten:
155 Seiten
Erscheinungsjahr:
1992
Schlagwort(e):
Sowjetunion
;
Juden
Kurzfassung:
Sonja Margolina widmet dies Büchlein ihrem Vater, der in der Sowjetunion Kommunist und Jude war. Der Untertitel des Buches nennt die russischen Juden Täter und Opfer zugleich - ein Wagnis in unserer Zeit. Das kleine Werk ist ein Versuch, diese Menschen, mit allen ihren guten und schlechten Eigenschaften, mit allen ihren Irrungen und Wirrungen in eine Reihe mit den vielen anderen zu stellen, die versucht haben, eine bessere Welt zu schaffen, koste es, was es wolle. Der Preis war immer zu hoch und sie scheiterten. Für die Autorin ist klar, dass viele Juden tatsächlich aktiv an der bolschewistischen Revolution und dem Aufbau Sowjetrußlands beteiligt waren, sie vermisst aber eine Auseinandersetzung damit seitens heutiger Historiker und bedauert deren Zurückhaltung, weil sie glaubt, dass Juden sich traditionell als unbeteiligte Opfer der Geschichte gesehen und möglicherweise gerade dadurch immer wieder Unglück heraufbeschworen haben. Sie sieht die Wurzeln der Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden, die sich im zaristischen Rußland entwickelten, in den wirtschaftlichen und geistig-religiösen Gegensätzen, die sich aus der unterschiedlichen örtlichen Verteilung des jüdischen Volkes und der anderen Völker des Zarenreichs ergaben; die daraus entstehenden unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten verschärften die Konflikte. Die demokratische Februarrevolution von 1917 hob zwar die wesentlichen Siedlungs- und Arbeitsbeschränkungen der Juden auf, dies hatte jedoch zur Folge, dass die Masse der Unzufriedenen nun in die Städte floss; dort drängten besonders die gut ausgebildeten jüdischen Intellektuellen in die öffentlichen Verbände und Berufsorganisationen. Als die bolschewistische Oktoberrevolution dann alle staatlichen Strukturen zerschlagen hatte und sich neue Organe schaffen musste, bot sich den Juden ein reiches Betätigungsfeld. Während die russischen Bauernkinder es vorzogen, in die Heimat zurückzukehren, um dort bei der Aufteilung der Ländereien dabeizusein, drückten die Juden häufig den neuen Ämtern ihren Stempel auf. Für die Autorin äußert sich dieses Phänomen speziell in der bolschewistischen Geheimpolizei und der Strafjustiz, und zwar weniger in den Taten der Beteiligten selbst, als in dem Schock, den das Land verspürte, als Juden erstmals als Teil der Staatsgewalt und nicht mehr als Opfer, sondern als Täter erschienen. Diejenigen Juden, die eher konservativ eingestellt waren - und das waren nicht wenige - erhoben schon zu Beginn der 20er Jahre ihre warnenden Stimmen, vor allem aus dem deutschen Exil. Diese Menschen, wie Landau oder Bikerman, kümmerten sich weniger um die Gründe, die den gewöhnlichen Juden zur Macht hindrängen, sie waren besorgt darüber, dass die jüdische Elite das bolschewistische Terrorregime nicht bekämpfte, sondern es stattdessen in aller Welt als Erfolg des Judentums bejubelte; sie sagten bedrohliche Reaktionen voraus. Für Sonja Margolina ist der Grund für den Jubel klar: die jüdische Welt im allgemeinen befürchtete zu Recht, dass ein Sturz der Bolschewisten zu einem Rückschlag und zur endgültigen Vertreibung der Juden aus Rußland führen würde. Außerdem: ohne die Hilfe der Juden wäre die angestrebte moderne Gesellschaft nicht erreichbar gewesen. So schmückte Gorki sein, wie die Verfasserin sagt, skandalöses Buch über den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals mit den Portraits der jüdischen Chefs dieses Zwangsarbeiter-KZs. Die Zwangsarbeit diente anfangs dazu, den Zusammenbruch der Wirtschaft aufzuhalten; später war ihre Grundlage die Annahme, dass sich die "soziale Natur" eines Bourgeois auf diese Weise zu einer proletarische Haltung umwandeln ließe. Körperliche Arbeit sollte gesellschaftliche Befreiung bringen. Dies stellte jedoch nur eine der vielen Verirrungen auf dem Wege zum Sozialismus dar; eine andere wurde etwa von dem später selbst ermordeten Regisseur Meyerhold skizziert, der dafür eintrat, "Feinde des Volkes" auf offener Theaterbühne zu erschießen, um so die revolutionäre Ästhetik in die Praxis umzusetzen. Auch religiöse Institutionen waren natürlich Ziele der Zerstörungen, wobei jüdische Aktivisten keineswegs etwa nur gegen christliche Kirchen vorgingen, sie machten auch vor Synagogen nicht halt. Bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Juden und Deutschen in der Zeit nach dem 2. WK sieht Sonja Margolina eine ungute Entwicklung in einem kompensatorischen Philosemitismus, der zu einer Tabuisierung jeder ernsthaften Kritik an jüdischen Handlungen geführt hat; sie kritisiert die romantische Idee, man könne die Dinge rückgängig machen und die 20er Jahre neu beleben und hält diese Träumereien für gefährlich, weil sie die Wirklichkeit vernebeln und zu Irrtümern führen können. In diesem Zusammenhang sieht sie besonders auch im Rußland unserer Tage eine ganze Reihe von nationalistischen Tendenzen, wobei allerdings die Interpretation der Autorin in sich nicht kohärent und sogar widersprüchlich erscheint. Bei ihrer abschließenden Betrachtung orientiert sich die Verfasserin an Hannah Arendt, welche den Ursprung des modernen westlichen Antisemitismus in der Anlehnung der modernen jüdischen Oberklasse an die jeweils herrschenden Schichten sah, gegen die sich natürlich die revolutionären Strömungen richteten; sie stellt dabei fest, dass eine solche Kritik an der jüdischen historischen Entwicklung heute für Deutsche schwer zu akzeptieren ist. Im Gegensatz zu Westeuropa waren die Juden Rußlands unterdrückt und konnten sich so ganz problemlos in den Kampf gegen den zaristischen Despotismus einreihen und später zur Elite des neuen, sowjetischen, Staates werden - bis sie dann jedoch ihrerseits in den Stalinschen Säuberungen zwischen 1936 und 1938 vollkommen vernichtet wurde, körperlich und geistig. Hierbei greift Sonja Margolina die interessante Frage auf, inwieweit diese führenden sowjetischen Juden überhaupt noch "echte" Juden waren. Die Tragik dieser Gruppe von Renegaten sieht sie darin, dass sie ihr Judentum abwerfen wollten, um eine neue und spannungsfreie Gesellschaft herbeizuführen - was jedoch platterdings nicht möglich war - dann aber durch die Schrecken, welche diese Umwälzungen begleiteten, der bolschewistischen Bewegung tatsächlich jüdische Züge verliehen. Die Autorin sieht erstaunliche grundsätzliche Parallelen zwischen dem nationalsozialistischen und dem bolschewistischen Programm der Eliminierung von Teilen der Bevölkerung. Für sie unterscheiden sich nur die jeweils zur Vernichtung bestimmten Menschengruppen und sie stellt fest, dass die Züchtung eines neuen Menschen in jener Zeit fester Bestandteil fast aller Visionen von einer besseren Welt war. Allen gemeinsam war die radikale Überschreitung aller Normen des Humanen. Der damals in Deutschland lebende Jude Josef Bikerman klagte, der russische Mensch käme angesichts der starken jüdischen Präsenz in der bolschewistischen Bewegung zu dem Schluss, die neue Macht sei jüdisch und gerade deswegen so bestialisch und Goebbels nutzte das aus. Hier verweist Sonja Margolina auf Auschwitz, aber auch auf den Bedeutungswandel, den dieser Begriff in den letzten Jahren durchgemacht hat - von einem überzeugenden Argument zu einem Instrument bei der Durchsetzung von Interessen. Das Ende der sowjetischen Ära brachte den russischen Juden die Möglichkeit einer Flucht aus der Verantwortung, aber unter Aufgabe der eigenen Vergangenheit. Die Autorin wendet sich ganz entschieden gegen eine solche Entwicklung und ermahnt die Juden, sich nun nicht mehr nur als Verfolgte, sondern als eigenständiges Volk zu sehen, sich mit der eigenen Geschichte und mit der Beziehung zur übrigen Welt auseinanderzusetzen und sich nicht mehr als unabhängiger Fremdkörper von ihr getrennt zu halten.
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